Alles endete mit Superga: Die Tragödie des Torino FC

Vor circa einem Jahr schockierte der Flugzeugabsturz des brasilianischen Teams AF Chapecoense nicht nur die Fußballwelt. Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts verunglückte der damalige italienische Serienmeister AC Turin auf dieselbe tragische Weise. Dies ist die Geschichte von Grande Torino.

von Rouven Ahl

Mannschaftsfoto aus der Saison 1948/49

Der Überlebende

Sauro Toma wandelt ziellos umher; er steht unter Schock: Gerade hat er erfahren, dass seine gesamte Mannschaft bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen ist. Um ihn herum weinende, geschockte und verzweifelte Menschen. Wie sie hat sich auch Toma direkt nach Erhalt der Nachricht auf den Weg hinauf zur Basilica della Natività di Maria Vergine gemacht, eine Wallfahrtskirche über den Dächern der Stadt Turin in Norditalien. Von den Einheimischen wird die Basilica nur Superga genannt. Dort stürzte die Mannschaft des AC Turin in den Tod; dort liegen die Überreste des Flugzeugwracks; dort pilgern auch heute noch zum Jahrestag des Unglücks unzählige Fans von Torino. Toma wird von einigen Trauernden erkannt. Kein Wunder, ist er doch einer der besten Verteidiger von Torino, oder wie die Mannschaft zum diesem Zeitpunkt – wir schreiben den 04. Mai 1949 – genannt wurde: Grande Torino.

Viele glauben nun an ein Wunder. „Toma hat überlebt!“, schallt es aus einigen Mündern. Doch trotz der göttlichen Aura der Umgebung hat Tomas Lebendigkeit einen viel profaneren Grund: Er konnte aufgrund einer Knieverletzung den Trip nach Lissabon nicht mitmachen; was ihn vor dem Tod bewahrte war einfach seine mangelnde Fitness. Man wollte kein Risiko eingehen – Toma befand sich erst seit einer Woche wieder im Training. Später sagt er, seine Jugend sei ebenfalls unter den Trümmern des Flugzeugs begraben – „Alles endete mit Superga.“

Toma war der einzige Spieler, der die Katastrophe überlebte. Neben ihm gehörte auch Präsident Novo zu den miracolati, den Geretteten. Er konnte den Flug nach Lissabon aufgrund einer Krankheit nicht antreten. Ein weiterer ist der Journalist Niccolo Carosio, der ebenfalls zum Tross gehören sollte, aber nicht teilnahm, da sein Sohn seine Konfirmation feierte. Alle drei hätten wohl zuvor viel dafür gegeben, mit der damals vielleicht besten Mannschaft Kontinentaleuropas nach Portugal zu reisen. Nun gehörten sie zu den traurigsten, aber wahrscheinlich auch glücklichsten Menschen der Welt.

Für Toma bedeutete das Unglück wirklich so etwas wie das Ende seiner Karriere. Er versuchte bei einigen Vereinen sportlich wieder in die Spur zu finden, was ihm aber nicht gelang.

Das Unglück – Superga

Das Team bei der Ankunft auf dem Flughafen Lissabon.

Der eigentliche Anlass für die Reise nach Lissabon war ein Freundschaftsspiel gegen Benfica. Am 03. Mai 1949 feierte Benfica-Kapitän Francisco Ferreira seinen Abschied von der großen Fußballbühne. Sein Wunsch war es, seinen Ausstand mit einem Match in einem ausverkauften Stadion gegen Grande Torino zu feiern. Zuvor hatte das Team um Superstar und Kapitän Valentino Mazzola in Italien ihre fünfte Meisterschaft in Folge mehr oder weniger unter Dach und Fach gebracht. Ferreiras Traum ging in Erfüllung – und wurde gleichzeitig zum Prolog eines Alptraums für alle Angehörigen und Fans von Torino.

Wie Dominic Bliss in seinem Buch über den damaligen Trainer von Torino, Ernö Egri Erbstein, schrieb, verließ der Tross Lissabon am nächsten Tag in guter Stimmung. Als das Flugzeug Anflug auf Turin nahm, war der Himmel gesät von Regenwolken und dichter Nebel breitete sich aus. Zudem brach die Dunkelheit an diesem Abend früher als gewohnt an. Letztlich ein Menetekel.

Der Pilot versuchte etwas tiefer zu fliegen, um so die Sichtverhältnisse zu verbessern und die Lage des Hügels besser einschätzen zu können, auf dem sich die Kirche (Superga) befindet. Alles schien nach Plan zu laufen. Dem Flughafen in Turin gab er durch, er sei bereit zur Landung. Doch der Nebel und Regen wurde stärker. Und Pierluigi Meroni, so der Name des Piloten, verlor allmählich die Kontrolle über die FIAT G-212. Er versuchte bei einer Geschwindigkeit von 270 Kilometer pro Stunde, die Maschine um Superga herum zu lenken. Doch eine Böschung beschädigte den linken Flügel und das Flugzeug krachte frontal in die Mauer, welche die Kirche umgibt.

Bliss schreibt: „Einige Mönche kamen mit schockgeweiteten Augen aus der Basilica. Überall verteilt lagen die Leichen der Opfer, die jenseits jeglicher Hilfe waren. Bemerkenswerterweise waren aber noch alle Koffer intakt. Sie öffneten einen davon und fanden einen Satz von granatfarbenen Trikots vor, die mit einem Wappen in den italienischen Landesfarben bestickt waren – der Scudetto, das Zeichen des italienischen Meisters.“

John Foot berichtet in seinem Buch „ Calcio – A History of Italian Football“, dass sich nachdem die tragischen Neuigkeiten in der Turiner Bevölkerung die Runde machten, tausende in einer Art stillen Prozession nach Superga pilgerten. „Um 17.12 Uhr am 04. Mai hielt ein Auto mit quietschenden Reifen vor einem Restaurant in der Nähe von Superga. Der Fahrer verlangte aufgeregt nach einem Telefon. Er rief die nationale Presse Agentur an, um als Augenzeuge die Nachricht des Flugzeugabsturzes zu überbringen. Der Journalist an anderen Ende der Leitung wollte ihm zunächst nicht glauben.“ Als sich die Neuigkeiten bestätigten machten sich auch einige Journalisten auf den Weg zur Basilica.

Die schreckliche Aufgabe, die Opfer zu identifizieren, fiel u.a. dem Journalisten und ehemaligen Trainer der italienischen Nationalmannschaft sowie von Torino, Vittorio Pozzo zu. Kein leichtes Unterfangen, viele waren bis zur Unkenntlichkeit verbracht. Foot schreibt: „Pozzo wanderte circa vier Stunden am Unglücksort umher; doch eine Vielzahl konnte nur anhand von Dokumenten in ihren Taschen oder von Ringen an ihren Fingern identifiziert werden“. Für die Tageszeitung La Stampa erzählte Pozzo folgendes über das Unglück: „Das Torino-Team ist nicht mehr. Es verschwand, es verbrannte, es explodierte… Das Team starb im Einsatz – wie Stoßtruppen in einem Krieg, die die Schützengräben verließen und nie wieder kehrten.“ Die Rhetorik Pozzos ist sicher etwas gewöhnungsbedürftig. Man merkt, dass der Zweite Weltkrieg erst seit zwei Jahren endgültig vorüber war.

In der damaligen Zeit waren vor allem die Tageszeitungen die Quelle der Information. Viele Sonderausgaben wurden gedruckt und Leute versammelten sich regelrecht vor den Kiosken, um die neusten Nachrichten bezüglich Superga zu erfahren. In den FIAT-Werken, dem Hauptarbeitgeber Turins, stand die Arbeit für eine Gedenkminute still und viele Geschäfte der Stadt blieben am nächsten Tag geschlossen. Foot schreibt weiter: „Eine Zeitung aus Mailand brachte die Schlagzeile: ‚Ganz Italien weint um seine Champions: Champions für immer!‘ Das Unglück einte kurzzeitig politische Linke und Rechte. In Rom setzte das Parlament seine Sitzung aus, sobald die Politiker die schreckliche Neuigkeiten zu hören bekamen.“ Kurzum: Ganz Italien befand sich in einem Schockzustand.

Wie aus dem AC Turin „Grande Torino“ wurde – die Protagonisten

Valentino Mazzola

Valentino Mazzola – der Spielmacher

Mit einem gewissen zeitlichen Abstand kommt nach so einem Unglück wie „Superga“ fast zwangsläufig die Frage auf: Was wäre gewesen wenn? Natürlich findet das Leben nicht im Konjunktiv statt – wie man so schön sagt – und seriös sind die Fragen nach dem Hätte, Wäre, Wenn nicht zu beantworten. Eins ist aber gewiss: Neben der menschlichen Tragödie, die über allem anderen stand, war dieses Unglück auch sportlich ein schwerer Schlag – von dem sich auch die italienische Nationalmannschaft so schnell nicht erholte, denn: Tragödienchronist und Nationaltrainer Vittorio Pozzo baute bei der Zusammenstellung seines Kaders auf nicht weniger als zehn Spieler vom damaligen italienischen Serienmeister. Bei den folgenden Weltmeisterschaften 1950 und 1954 schaffte es die Squadra Azzurra jeweils nicht über die Vorrunde hinaus. Und es stellt sich auch die Frage, was Grande Torino noch alles hätte erreichen können.

Ein Spieler der Italiens Nationalteam besonders fehlte, war der Kapitän von Torino, Valentino Mazzola. Welche Rolle Mazzola für sein Team einnahm, wie wichtig er war für diese Mannschaft, beschreibt Dominic Bliss wunderbar anhand eines Spiels gegen Alessandria, der gleichzeitig auch einen Eindruck darüber vermittelt, wie es bei Heimspielen von Grande Torino im Stadion zuging: „Auf den Tribünen des Stadio Filadelfia war Oreste Bolmida eine Ikone. Wenn der örtliche Bahnhofsvorsteher in sein Horn blies, war dies das Zeichen der Fans an die Mannschaft: ‚Wir wollen mehr von euch sehen!‘ Dann entfaltete das Stadion seine ganze Lautstärke. Mazzola krempelte daraufhin seine Ärmel hoch und trieb seine Mannschaft mit Volldampf an. Der Spielmacher forderte immer wieder den Ball, spielte in dieser Viertelstunde gegen Alessandria wie besessen.“ Wie Tommaso Maestrelli, der einige Male für u.a. die Roma selbst gegen Torino spielte, über diese besonderen Minuten während eines Spiels im Filadelfia berichtet, waren die Gegner oft „benommen, beeindruckt – sie sahen kaum mehr den Ball.“ Torino gewann an diesem 02. Mai 1948, also fast genau ein Jahr vor der Katastrophe, mit 10:0.

Mazzola steuerte einen Treffer zum höchsten Sieg der Geschichte des Vereins bei. Es gibt in Italien einige Experten, die Mazzola für den besten Fußballer aller Zeiten ihres Landes halten. So sagte Enzo Bearzot, der Trainer des italienischen Weltmeisterteams von 1982, über ihn: „Der größte italienische Spieler aller Zeiten war Valentino Mazzola.“ Kritiker dieser These entgegnen aber, dass Mazzola in der Squadra nie sonderlich auftrumpfen konnte. Das gelang ihm bei Torino dafür umso mehr: fünf Jahre spielte er dort, fünfmal holte er den Scudetto. Dabei schoss Mazzola insgesamt 102 Tore. Allein 29 davon erzielte der Vater einer weiteren italienischen Calcio-Legende, Sandro Mazzola, in der Saison 1946/47. Wie die Schilderung der Partie gegen Alessandria zeigt, umgab und umgibt Mazzola der Mythos, ein Kämpfer und Anführer gewesen zu sein, der seine Mannschaft an schlechten Tagen allein aus dem Morast ziehen konnte.

Mazzola wurde am 29. Januar 1919 in der kleinen Stadt Cassano d` Adda geboren, die ganz in der Nähe von Mailand liegt. Wie sein Sohn Sandro, verlor auch Valentino früh seinen Vater. Im Alter von elf Jahren brach er die Schule ab. Ende der 30er Jahre zog Mazzola nach Mailand und arbeitete dort in den örtlichen Fabriken des Autoherstellers Alfa Romeo. In der dortigen Werkmannschaft spielte er zum ersten Mal richtigen Fußball. Schnell wurde sein Talent offensichtlich. Er wechselte zum damaligen Erstligaklub AC Venedig, wo er den italienischen Pokal holte. Nach drei Jahren in Venedig wechselte er 1942 zu Torino, die eine für damalige Verhältnisse hohe Ablösesumme auf den Tisch legten. Eine Investition, die sich jedoch auszahlte.

Unbestritten war Mazzola der Mittelpunkt von Grande Torino. Er war beidfüßig und mit einer großartigen Athletik gesegnet. Manche behaupteten sogar, er könne höher springen als die Latte. Das waren sicherlich Gerüchte, jedoch war Mazzola trotz einer eher geringen Körpergröße ein exzellenter Kopfballspieler. Dies gab dem Offensivspiel Torinos eine zusätzliche Variante, war Mazzola doch ein beliebtes Ziel der Flanken der Flügelspieler. Neben diesen Fertigkeiten riss er zudem immer wieder Löcher für seine Mitspieler, da Mazzola stets die Aufmerksamkeit von mindestens zwei Bewachern auf sich zog; mit klugen Läufen abseits des Balles schaffte er immer wieder Platz, in die andere Spieler stoßen konnten.

Ohne die Fähigkeiten dieser „anderen Spieler“ hätte natürlich auch Mazzola auf verlorenem Posten gestanden. Gemeinsam mit Ezio Loik, Eusebio Castigliano und Guiseppe Grezar bildete er das vielleicht beste Mittelfeld dieser Zeit. Das „Quadrilatero“ (Viereck) galt als Hauptverantwortlich für die Stärke von Grande Torino, wie Trainer Erbstein, aber auch die Gegner bestätigten.

„Wenn Mazzola von der Leine gelassen wurde, zog er nicht nur sprichwörtlich die gesamte Mannschaft mit.“

berichtet die Juve-Legende Carlo Parola. Ein weiteres Beispiel hierfür war eine Partie zwischen Torino und Atalanta Bergamo. Nach 55 Minuten stand es 2:2 – Torino hatte mit einigen spielerischen Problemen zu kämpfen. Dann übernahm Mazzola: Nur zwei Minuten nach dem Ausgleichstreffer von Atalanta besorgte er die erneute Führung seiner Mannschaft, und ließ in nur wenigen Minuten zwei weitere folgen. Am Ende siegte Torino mit 5:2 – vor allem dank der Leaderfähigkeiten ihres Kapitäns.

Mazzola war kein einfacher Spieler. Er war einer der ersten Fußballer in Italien, die sich ihres Stellenwertes bewusst waren. Jedes Jahr aufs Neue forderte er ein höheres Gehalt, welches ihm auch jedes Jahr aufs Neue gewährt wurde – zu wichtig war Mazzola für dieses Team, als das Torino ihn aus finanziellen Gründen vergraulen wollte. Zudem war Mazzola auch für die Werbung interessant, was ebenfalls in den 40er Jahren noch nicht üblich war. Sogar einen eigenen Fußball hatte er – den „Mazzola“. Neben dem Platz sorgte er 1946 im erzkatholischen Italien für einen handfesten Skandal, als er sich von seiner damaligen Frau scheiden ließ und kurz darauf wieder heiratete. John Foot bezeichnet Mazzola als die „Ikone und eines der Symbole des Aufschwungs von Italien nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs.“

Feruccio Novo & Erno Egri Erbstein – zwei Pioniere und Seelenverwandte

Ernö Egri Erbstein – der Trainer

Der jüdische Ungar Erno Egri Erbstein galt Ende der 30er Jahre als einer der fortschrittlichsten Trainer in Italiens Fußball. Er setzte auf ein offensives System und war akribisch in seiner Vorbereitung auf die Partien. Als einer der ersten Fußballlehrer führte er etwas ein, dass wir heute als Trainingslager kennen: Er zog seine Mannschaft für mehrere Tage in einem Hotel zusammen, wobei natürlich viel trainiert, aber auch eine Form von Teambuilding betrieben wurde. Zudem setzte Erbstein auf einen anti-autoritären Stil, was im faschistischen Italien einem politischen Statement gleichkam. Er kommunizierte mit seinen Spielern auf Augenhöhe und ließ dabei auch viele psychologische Elemente in seine Arbeit mit einfließen. So forderte er seine Spieler auf, möglichst jede Aufgabe mit einem Lächeln anzugehen. Oder wie Dominic Bliss schreibt: „Lächelt in der Umkleidekabine und wenn ihr auf den Platz geht. Wenn der Schiedsrichter sich irrt: lächelt. Wenn er sich noch einmal irrt: lächelt. Wenn der Gegner trifft: lächelt. Und wenn wir treffen: lächelt.“ Erbstein wollte damit eine positive Atmosphäre innerhalb der Mannschaft schaffen. Dies sah er als essenziell für den Erfolg an.

Zu Torino kam Erbstein 1938. Zuvor hatte er den Verein US Lucchese Libertas innerhalb von drei Jahren von der dritten in die erste Liga geführt. Jedoch machte der Faschismus in Italien auch vor dem Fußball nicht halt. Die Vereinsführung von Lucchese begann Schritt für Schritt alle unerwünschten Elemente, wie z.B. Mitarbeiter mit einer antifaschistischen Grundhaltung, zu entfernen. Alles nicht-italienische war dabei ebenfalls nicht gern gesehen. So trat ein faschistischer Vereinsfunktionär an den Spieler Bruno Scher heran – Scher wurde in Slowenien geboren, besaß aber die italienische Staatsangehörigkeit. Der Funktionär schlug ihm vor, doch ein „i“ an seinen Namen zu hängen, was dieser aber ablehnte. Daraufhin gab Lucchese Scher schnell an einen Provinzverein ab.

Torino FC oder Torino AC?
Aus denselben Gründen, eben weil der Name nicht italienisch genug klang, musste sich Torino vor der Saison 1936/37 von Football Club (FC) in Associazione Calcio (AC) umbenennen. Aufgrund einer Insolvenz Mitte der 00er Jahre, musste sich der Verein neugründen und wählte dabei wieder den englischen Namen – FC Turin.

Zu diesen unerwünschten Elementen gehörten natürlich auch Menschen jüdischer Herkunft oder Glaubens. So musste Erbstein seinen Platz bald räumen. Jedoch wurde sein Abgang seitens des Vereins nicht mit seiner jüdischen Abstammung begründet: Erbstein litt zu dieser Zeit unter den Folgen einer Lungenentzündung, was als Ursache für seine Entlassung vorgeschoben wurde.

Doch schon bald darauf fand Erbstein bei Torino eine neue Anstellung. Der dortige Präsident, Feruccio Novo, war ebenfalls noch nicht lange im Amt und suchte nach einem Trainer, der ein erfolgreiches Teams zusammenstellt, ein modernes Spielsystem sowie innovative Trainingsmethoden einführt. Das alles traute er Erbstein zu. Daher statte er ihn mit weitreichenden Kompetenzen als Trainer, Sportdirektor und Manager aus. Nach Bliss wollte Novo einen Verein mit den folgenden Prinzipien aufbauen, welche im Gegensatz zur Herrschaft von Mussolini standen: Torino sollte respektiert und bewundert, aber nicht gefürchtet und ganz bestimmt nicht gehasst werden. Mit diesen Werten wollte er auch Einfluss auf politische Klima in Italien nehmen.

Novo spielte einst in der Jugend für Torino, war aber fußballerisch nicht zu höheren Weihen berufen. Seine Familie besaß eine Firma für Landwirtschaftsmaschinen, durch die man ein veritables Vermögen anhäufte. Bevor er selbst Präsident der Vereins wurde, arbeitete lange Zeit hinter den Kulissen bei Torino, u.a. als Teambetreuer. Durch seine soziale und loyale Art war er sehr geschätzt. Als Präsident verfolgte er das Ziel, Torino zu einem gutgeführten Unternehmen zu machen. Heute würde man vielleicht sagen, er versuchte eine Marke zu etablieren. Viele Positionen besetzte er mit jungen und innovativen Leuten. Wie sein Trainer, schien auch Novo dabei seiner Zeit voraus.

Valentino Mazzola und Präsident Novo

Im Gegensatz zu Novo war Erbstein in Ungarn und Italien als Profi aktiv. Nach seiner Tätigkeit bei Budapesti AK, wechselte er nach Rijeka – die Stadt gehörte damals noch zu Italien. Danach schloss er sich dem Zweitligisten AC Vincenza an. Aufgrund einer strengen Ausländerpolitik in Italiens Fußball – nichtitalienischstämmigen Spielern war der Einsatz untersagt – verließ er den Verein und das Land. Seine nächste Station führte in die USA bzw. trat er einem jüdischen Team bei, welches in den Vereinigten Staaten Werbung für die Maccabi-Bewegung – eine zionistische Gymnastik- und Sportorganisation – machen sollte. Eine Reise, die letztendlich sein Leben veränderte.

Trainer des Teams war Arpad Deutsch. Dieser spielte einst gemeinsam mit Erbstein bei Budapesti AK und hatte diesen für die Reise sozusagen rekrutiert. Aufgrund eines tragischen Vorfalls – Deutschs Frau verstarb während der Reise – sprang Erbstein in die Bresche. Er leistete dabei gute Arbeit, und was noch viel wichtiger war, er selbst entwickelte eine Leidenschaft für den Job. Nach dem Ende der Reise kehrte er nach Italien zurück und begann dort als Trainer zu arbeiten. Bevor er über Lucchese schließlich zu Torino kam, betreute er zunächst die unterklassigen Vereine aus Bari, Nocerina und Cagliari.

Wie aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs eine große Mannschaft hervortrat

Bevor Erbstein den Vertrag bei Torino unterschrieb, war er – trotz seiner jüdischen Herkunft – auch bei anderen Vereinen gefragt. Neben den sportlichen Gründen, entschied sich Erbstein wohl auch deswegen für einen Wechsel nach Turin, da dort der faschistische Einfluss noch nicht derart stark war, wie in anderen Regionen Italiens. Erbstein bekam bei der Kaderzusammenstellung freie Hand zugesichert. Diese nutzte er auch gleich für seine erste große Verpflichtung, den italienischen Weltmeistertorhüter Aldo Olivieri. Wie es der unkonventionellen Art Erbsteins entsprach, schickte er Olivieri gleichmal in eine Tanzschule. Dort sollte er seine Agilität verbessern. Auch auf den restlichen Kader hatte Erbstein schnell einen positiven Einfluss. Von Zeitzeugen wurde das Spiel von Torino später mit dem Voetbal total der niederländischen Nationalmannschaft der 70er Jahre verglichen. Erbstein setzte dabei auf einen offensiven Stil, war aber gleichzeitig auch um Kontrolle und Stabilität bemüht. Torino galt bereits nach den ersten Spielen als ernsthafter Anwärter auf die Meisterschaft. Vor allem ein 3:0-Erfolg über das damals beste Team in Italien, Bologna, beeindruckte die Experten.

Doch Erbstein beschlich trotz dieser Erfolge weiterhin ein ungutes Gefühl, was die politische Situation in Italien anging. Und leider sollte er recht behalten. Ende 1938 erkannte auch die Stadt Turin die rassistischen und antisemitischen Doktrin Mussolinis und seiner faschistischen Partei als bindend an: Erbstein und seiner Familie blieb nur die Flucht aus Italien.

Ihr Ziel war Budapest, die Stadt mit der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in ganz Europa. Doch auch dort hatte der Faschismus und Antisemitismus bereits ihren Siegeszug angetreten. Um sich und seine Familie durch die kommende schwere Zeit zu bringen, bedurfte es immer wieder des Einflusses von seinem ehemaligen Vorgesetzten Novo. Beide standen daher – sofern es die Umstände erlaubten – im regelmäßigen Austausch. Nach dem Abgang von Erbstein entwickelte sich die Mannschaft nicht im Sinne von Novo. Er hatte weiterhin eine hohe Meinung von Erbstein und dessen fußballerischem Sachverstand. Daher holte er sich auch in dieser Zeit immer wieder Rat bei Erbstein, was die Weiterentwicklung des Klubs anbelangte. Beide gingen für ihre Leidenschaft dabei ein hohes Risiko ein – vor allem all die Male in denen Erbstein sich mit Hilfe von Novo auf den Weg nach Italien machte und dort mit Novo persönlich die Blaupause für Grande Torino zu entwerfen, wie es Bliss formuliert. Die Treffen endeten dann mit der Besetzung Budapests durch die Nazis.

Ende September 1946 kehrte Erbstein zurück nach Turin. Zu diesem Zeitpunkt fand auch das erste persönliche Treffen zwischen ihm und Novo seit dem Beginn des Krieges statt. Letzterer hatte es geschafft, trotz des Krieges fast die gesamte Mannschaft zusammenzuhalten – ein enormer Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Er ging dabei einen Deal mit dem Automobilhersteller Fiat ein, der die Spieler bei sich als „unentbehrliche Arbeitskräfte“ anmeldete. Somit wurde keiner von ihnen an die Front geschickt.

Novo wollte Erbstein, der ja trotz seiner Abwesenheit einen großen Einfluss auf den Verein hatte, wieder zu Torino holen. Bliss schreibt:

„Nach Erbsteins Flucht saßen sechs verschiedene Trainer auf der Bank von Torino: Ignaz Molnar, Andras Kutik, Angelo Mattea, Tony Cargnelli, Antonio Janni und Luigi Ferrero. Alle trugen ihren Teil zur Entstehung von Grande Torino bei. Doch mit keinem verfügte Novo über eine solche Bindung, wie mit Erbstein.“

Und dass, obwohl Torino in der Zeit ohne Erbstein 1942/43 und 1945/46 – 1943/44 sowie 1944/45 fanden aufgrund des Krieges keine Spiele statt – die Meisterschaft holte. Der letzte Titel – und seine nun acht Jahre währende Profifußball-Abstinenz – waren die Gründe für den Entschluss, Erbstein zunächst als eine Art Technischen Direktor anzustellen.

Dabei war er mit einer großen Machtfülle ausgestattet. Erbstein war so ziemlich für alles verantwortlich, was das Sportliche betraf. Der in Italien legendäre Sportjournalist Gianni Brera berichtete, das Team von Torino habe über eine solch große Qualität, dass Erbstein über einen großen Spielraum für taktische Experimente verfügte. Während er qua seiner Position eher im Hintergrund werkte, füllte Trainer Luigi Ferrero seine Ideen auf dem Platz mit Leben. Gemeinsam trafen sie – der ebenfalls als Technischer Direktor fungierende Roberto Copernico war zusätzlich involviert – die Entscheidung, wer in der Startelf aufläuft. Bliss beschreibt die Rolle von Erbstein dabei als eine Art Ingenieur, der sich um die kleinen Dinge kümmerte – z.B. den Spielern detaillierte Informationen zukommen zu lassen, wie sie ihre Fähigkeiten auf ein neues Level heben können. Laut Bliss war das nicht selbstverständlich in den späten 40ern. Damit war man den reicheren Vereinen, wie Juventus oder Internationale, immer einen kleinen Schritt voraus.

Das Schicksalsspiel

Dank der individuellen Qualität der Spieler um Valentino Mazzola, und der mit innovativen Ansätzen gepaarten Akribie Erbsteins, holte Torino auch in der Saison 1946/47 die Meisterschaft. Trotz des Abgangs von Trainer Ferrero – er wurde durch Mario Sperone ersetzt – gelang in der folgenden Saison die Wiederholung des Erfolges. Vor der kommenden Saison kehrte Erbstein auf die Trainerbank von Torino zurück. Während der Saisonvorbereitung reiste die Mannschaft nach Brasilien, um dort Testspiele gegen u.a. Palmeiras zu bestreiten. Zwar waren diese von keinem sonderlich großen Erfolgs geprägt, trotzdem hinterließen Mazzola und Co. im Land des kommenden Gastgebers der Weltmeisterschaft ordentlich Eindruck. Der Kapitän erzählte nach der Rückkehr den italienischen Medien, dass viele brasilianische Fans die Squadra Azzurra als Topfavoriten auf den Gewinn der Weltmeisterschaft sahen. Mazzola sagte: „Wenn wir in der Nationalmannschaft so spielen bei Torino, können wir der nächste Weltmeister werden.“ In Kenntnis der folgenden Katastrophe eine fast tragische Aussage. Im Nachhinein mutet es zudem etwas gruselig an, dass die Mannschaft aufgrund eines Flugzeugabsturzes eine Nacht länger in Brasilien bleiben musste.

Die Anfrage für das Freundschaftsspiel In Lissabon erreichte Mazzola im Februar 1949. Seine Mannschaftskollegen konnte der Kapitän schnell für die Idee begeistern. Präsident Novo war angesichts der Tatsache, dass nach dem Trip nach Portugal noch vier Ligaspiele anstünden, weniger begeistert und wollte zunächst seine Zustimmung nicht geben. Doch nach einer gewissen Bearbeitungszeit durch Mazzola stimmte er schließlich unter einer Bedingung zu: Falls die Mannschaft das Spiel gegen Inter – zu diesem Zeitpunkt der größte Rivale im Titelkampf – im San Siro Ende April nicht verliert, dann würde er den Ausflug gutheißen.

Im Fußball ist immer wieder von sogenannten Schicksalsspielen die Rede, wenn es um die Vermeidung des Abstiegs oder den Gewinn einer Meisterschaft geht. Das 0:0 gegen Inter gibt dieser Bezeichnung im Licht der kommenden Ereignisse eine ganz neue Bedeutung. Die Mannschaft hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt. Man hatte gegen Inter nicht verloren – und damit den fünften Titel in Serie so gut wie perfekt gemacht. Nun war es an Novo seinen Teil einzuhalten: Noch am nächsten Morgen startete eine Maschine mit Grande Torino an Board Richtung Lissabon. Lebend zurückkehren sollten sie nicht.

Epilog

Mehr als 500.000 Menschen säumten beim Begräbnis zwei Tage nach dem Unglück die Straßen von Turin. Die Protagonisten von Grande Torino waren dabei im Palazzo Madama aufgebahrt; viele Anhänger versuchten noch einen letzten Blick auf ihre Idole zu erhaschen. Auf eben jenes Team, welches ihnen in den harten Nachkriegszeiten etwas Freude schenkte. Auch die Spieler und Funktionäre des großen Stadtrivalen Juventus waren bei der Trauerfeier zugegen und senkten ihre Häupter in leisem Respekt.

Die verbleibenden Spiele der Saison bestritt ein Jugendteam des Vereins, während sich die Gegner respektvoll verhielten und nicht auf Sieg spielten. Torino hatte am Ende der Saison fünf Punkte Vorsprung auf den Zweiten Inter. Die Mannschaft war damit erneut italienischer Meister.

Weiterführende Literatur

Dominic Bliss, Erbstein: The Triumph and Tragedy of football’s forgotten pioneer (Sunderland Blizzard Books, 2014); Eine Rezension zum Buch gibt es hier
John Foot, Calcio: A History of Italian Football (London: Harper Perennial, 2007).

Bildnachweis: Alle Bilder gemeinfrei via Wikimedia Commons

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