Am Ziel der Träume? Fußball und der Nationalsozialismus

Der Fußball in Deutschland hat es in seinen Anfangsjahren nicht leicht. Gesellschaftliche Vorbehalte, Konkurrenz durch die traditionsreiche Turnerschaft, das unsägliche Geschacher um das Amateurgebot. Unter der Regie des machtbewussten DFB hat sich der Fußball dennoch zum Spiel der Massen entwickelt, wie ich in meinem ersten geschichtlichen Überblick für 120minuten aufgezeigt habe. Ideale Voraussetzungen für die Nationalsozialisten, das Spiel für seine Zwecke zu ge- und missbrauchen? Welche Rolle spielte der DFB dabei? Wie hat der deutsche Fußball auf die verordnete „Gleichschaltung“ reagiert? Und wie ging es in Sachen Profitum weiter?

Autor: Benjamin Brumm, Tragisches Dreieck

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„Bildung eines Volksheeres“ – die Sportprogrammatik der NSDAP

Als Nervenbad mit Potential zur Massensuggestion sollte Reichspropagandaminister und Nazi-Hetzer Joseph Goebbels den Fußball nach einem Stadionbesuch in seinen Tagebüchern einst beschreiben. Dem Sport zugeneigt war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bereits in ihren Anfangsjahren. Als einzige der Weimarer Parteien forderten die Nationalsozialisten bereits frühzeitig die Einführung einer Sport- und Turnpflicht für Jugendliche. In den Worten von Adolf Hitler heißt es dazu in einem frühen Parteiprogramm, dass das Ziel die „Bildung eines Volksheeres“ sein müsse:

„Der Staat hat für die Hebung der Volksgesundheit zu sorgen durch […] Herbeiführung der körperlichen Ertüchtigung mittels gesetzlicher Festlegung einer Turn- und Sportpflicht, durch größere Unterstützung aller sich mit körperlicher Jugendausbildung beschäftigenden Vereine.“[1]

Ähnliches schrieb der inhaftierte spätere Führer bereits in seiner Hassschrift Mein Kampf. Dort nimmt er – für viele überraschend – auch Abstand von einer ausschließlich auf „militärisches Exerzieren“ ausgerichteten Militärausbildung und empfiehlt mit Bezug auf die körperliche Ertüchtigung „vielmehr auf sportliche Betätigung“ zu achten – auch wenn ihm dabei lediglich zwei Kampfsportarten einfallen:

„Boxen und Jiu-Jiutsu sind mir immer wichtiger erschienen als irgendeine schlechte, weil doch nur halbe Schießausbildung. Man gebe der deutschen Nation sechs Millionen sportlich tadellos trainierte Körper, alle von fanatischer Vaterlandsliebe durchglüht und zu höchstem Angriffsgeist erzogen, und ein nationaler Staat wird aus ihnen, wenn notwendig, in nicht einmal zwei Jahren, eine Armee geschaffen haben.“[2]

Was der Führer sagte, hatte Gewicht. Mehr als alles andere. Selbst wenn da ein Mann über den Wert des Sport philosophierte, der Forschern zufolge nie selbst Sport getrieben hat und dem angeblich schon ein Spaziergang zuwider war. Für die Nazis waren „die Befehle des Führers auch hier alleiniges Gesetz für die Neugestaltung der körperlichen Ertüchtigung.“[3]

In zeitgenössischen nationalsozialistischen Quellen ist viel zu lesen vom Dienst am Volk, der der Sport zu sein hatte. Mit dem Ziel, die Wehrhaftigkeit potentieller Soldaten sicherzustellen. Übrigens aber keine rein nationalsozialistische Sichtweise. Ähnlich argumentierten die frühen Fußballpioniere wie Walther Bensemann, ein ausgewiesener Kosmopolit. Selbst in vermeintlich konträr den Nazis gegenüber stehenden kommunistischen Schriften ist von „Kampfbereitschaft, Solidarität, Disziplin und Opferbereitschaft“[4] zu lesen.

NSDAP und DFB – spinnefeind?

Aus heutiger Sicht erscheint es nur logisch, dass die NSDAP zum Ende der Weimarer Republik die Nähe zur bürgerlichen Sportbewegung suchte. Mit geschätzten sechs Millionen Mitgliedern barg sie ein kaum zu unterschätzendes Wählerpotenzial. Wie ich bereits im ersten historischen Longread zu den fußballerischen Anfängen in Deutschland ausgeführt habe, haben auch die DFB-Verantwortlichen spätestens seit dem Ersten Weltkrieg den militärischen Zweck des kampfbetonten Fußballs hervorgehoben. Auch was den erzieherischen Nutzen des Sports angeht, waren Nationalsozialisten und Sportler um ähnliche Ziele bemüht. So sollte es auch Fußballern nicht mangeln an „Mut, Kraft und Entschlossenheit, den Kampf des Lebens, den Kampf der Nation zu bestehen.“[5] Und dennoch: In den Wochen und Monaten der Machtergreifung waren die Nazis dem Fußball zunächst nicht besonders zugetan. Die gängigen Propagandablätter kritisierten – nicht anders als die neutrale Fachpresse – die bisweilen unterirdischen Leistungen der Nationalmannschaft. Auch das Profitdenken des Verbandes schmeckt Angriff, Völkischer Beobachter und Co. nicht.

Eine sehr entschiedene Meinung vertritt der Ideologe Bruno Malitz in einer damals viel beachteten Schrift zur nationalsozialistischen Leibeserziehung. Demnach sei zu prüfen, ob die großen Sportverbände „in der gegenwärtigen Form Lebensberechtigung haben“ oder ob sie nicht viel mehr „ein zuweilen recht nutzloser, aufgeblähter Apparat“ seien. Und direkt auf den DFB gemünzt schreibt Malitz, dass er „beim allerbesten Willen nicht die Berechtigung eines Deutschen Fußballbundes einsehen“ könne, dessen Wirken nichts als „unwichtige Leerlaufarbeit“ sei.[6]

Auch in Sachen Berufsfußballverbot und Festhalten am reinen Amateurgebot lagen DFB und NSDAP nicht auf einer Linie. Städtische Parteirepräsentanten waren überzeugt von der wirtschaftlichen Rentabilität des Profifußballs. Sie gingen davon aus, dass durch einen veränderten Spielbetrieb Arbeitslose in Lohn Brot gebracht werden könnten (und dadurch nicht zuletzt die Gemeindekassen entlasteten). Der DFB war den politischen Einlassungen in der Zeit kurz vor der „Machtergreifung“ überdrüssig. Noch wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – in derselben Sitzung übrigens, in der die Frage nach der Zulassung des Profitums einmal mehr verschoben wurde – beschloss man den „häufiger gewordenen systematischen Angriffen gegen den Sport durch Angehörige parteipolitisch oder sonst gebundener Gemeinschaften künftig mit allem erforderlichen Nachdruck entgegenzutreten.“[7]

Der DFB sang also einmal mehr das Loblied der politischen Neutralität. Umso mehr nimmt es Wunder, dass sich Präsident Felix Linnemann nur wenige Wochen später im Kicker mit folgenden Worten zitieren lässt: „Wir können uns als Vorläufer der heutigen Bewegung ansehen. Wir brauchen uns nicht umzustellen.“ Was hatte in so kurzer Zeit dazu geführt, dass sich das relativ distanzierte Verhältnis zwischen bürgerlichem Fußball und nationalsozialistischem Regime derart rasch änderte?

Aus Sicht der NSDAP fällt die Antwort leichter: Sie konnte sich schlicht der Anziehungskraft und Beliebtheit des Volkssportes Nummer eins in der Bevölkerung nicht länger entziehen; zu verlockend erschien den neuen Machthabern die Wirkung des Fußballs auf die Massen. Komplizierter zu beantworten ist, warum der DFB von seiner Position so grundlegend abrückte. Immerhin drohte der DFB, seine hochgeschätzte zentrale Allmacht einzubüßen. Tatsächlich profitierten die Verantwortlichen des Fußballs von den politischen Umwälzungen; und zwar sowohl persönlich, als auch was den Status des Verbandes angeht.

Am Ziel der Träume?

Bis spätestens 1934 wollten die Nationalsozialisten alle Bereiche des öffentlichen Lebens von Politik über Gesellschaft bis zur Kultur restrukturieren – dazu gehörte auch der Sport. Die Nazis sprachen von „Gleichschaltung“. Direkt betroffen war davon der Deutsche Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA). Als erster Schritt wurden dabei im März 1933 die Arbeitersportverbände zerschlagen. Wenig später wurde Hans von Tschammer und Osten zum Reichskommissar für Turnen und Sport und wenig später zum Reichssportführer ernannt. Von Tschammer und Osten hatte übrigens keinerlei sportliche Affinität, wichtiger war es, dass er vollständig auf Linie der nationalsozialistischen Bewegung stand. Schließlich löste sich der DRA formal (selbst) auf. Eine Kommission sollte mit der Regierung Verhandlungen über die Zukunft der Organisation führen. Der Neuordnung der Leibesübungen nach nationalsozialistischem Gutdünken stand nichts mehr im Wege. Unter den Unterzeichnenden der Auflösung: DFB-Präsident Felix Linnemann. Kein Zufall, denn nicht nur der DFB war Nutznießer der sportpolitischen Umwälzungen und Linnemann profitierte in nicht unerheblichem Maße persönlich von ihnen.

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Standarte des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen (nach der Einverleibung durch die NSDAP)

Ab 1934 ersetzte der Deutsche Reichsbund für Leibesübungen (DRL) den DRA. Auch der DFB wurde eingegliedert. Ziele von Tschammer und Ostens waren unter anderem die Verkleinerung der Zahl von Verbänden und Organisationen, außerdem sollte das „Führerprinzip“ bei allen Verbänden durchzuführen sein. Für Linnemann bedeutete dies einen alleinigen Führungsanspruch als künftiger Führer der Reichsfachschaft Fußball. Bereits beim kurze Zeit später beraumten DFB-Bundestag betonte Linnemann die Unumgänglichkeit des Systemwandels. Er dürfte sich erhofft haben, einige Querelen der Vergangenheit – man denke an das Gezerre um die Einführung des Profi-Fußballs – könnten bald Geschichte sein:

„Es gibt keine Bücher und Satzungen mehr mit Hunderten von Paragraphen. Die jährlichen Versammlungen fallen fort und damit auch die unendlichen Debatten über neue Paragraphen. Kurz gehaltene Bestimmungen des Führers sind an die Stelle der Gesetzbücher getreten.“[8]

Manch Fußballhistoriker kommt angesichts dieser Euphorie zum Schluss, Linnemann habe damit antiliberale, antipluralistische, nationalistische und kulturpessimistische Ansichten übernommen[9]. Das mag zu Missverständnissen führen. Denn einerseits herrschte Anfang der 30er-Jahre ein ausgeprägter Demokratieverdruss über sämtliche Bevölkerungsschichten hinweg. Andererseits ist das „Führerprinzip“ keine explizit nationalsozialistische Erfindung, sondern – gerade im Sport – ein international verbreitetes System (bis heute übertragen Sportvereine übrigens ihre Sportgerichtsbarkeit auf ein zentrales Organ; ganz zu schweigen vom Gebaren von FIFA oder IOC).

Mit der Einführung des Führerprinzips ging auch die Beseitigung alter Strukturen einher: An die Stelle der sieben Landesfußballverbände traten 16 Gaue. Die einst starken regionalen Herrscher über den Fußball nahmen die Umstellung zähneknirschend hin – einzig der Westdeutsche Spiel-Verband wehrte sich, wenn auch erfolglos. Der Rest gab sich mehr oder weniger überzeugt, „an den neuen Zielen zum Wiederaufstieg unseres deutschen Volkes und damit auch unseres deutschen Vaterlandes“[10] mitzuarbeiten. Der DFB schien in Sachen Alleinvertretungsanspruch am Ziel seiner Träume angelangt. Da nimmt es nicht wunder, dass Felix Linnemann in einem Zeitungsinterview zufrieden feststellt:

„Sieben Verbände teilten sich seinerzeit die Verwaltung dieses Sportes, die in ihrer Art den verschiedensten Geschmacksrichtungen entsprachen. Es gab darunter protestantische, katholische und Arbeiter-Fußballverbände, wie auch noch viele andere mehr. Wenn man so weiter gemacht hätte, dann würde es bald auch noch Fußball-Verbände der Bäcker, der Köche, der Schüler und der Friseure gegeben haben. Heute gibt es nur noch einen einzigen, einheitlichen Verband.“[11]

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Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten (rechts) im Gespräch mit dem britischen Botschafter Nevile Henderson (Mitte) und Generalleutnant Friedrich Fromm während eines Länderspiels zwischen Deutschland und England im Mai 1938. Quelle: Bundesarchiv Berlin

„Immer noch die alten Gesichter…“

Die Euphorie der DFB-Verantwortlichen für die neuen Machthaber rührte nicht nur von der Beseitigung der lästigen konkurrierenden Sportverbände. Auch in Sachen Berufsspielerfrage bewegten sich die Nationalsozialisten auf die Verbandsansichten zu. Keinesfalls aber liquidierten sie den während der Weimarer Republik so ausgeprägt praktizierten Scheinamateurismus. Tatsächlich wurde die Praxis der Vorjahre munter fortgesetzt. Nach außen polterten die Nazis gegen die als liberalistisch bezeichneten Auswüchse des Professionalismus; man wolle „keine materialistischen Schweinehunde“.[12] Die reale Sportpolitik sah dagegen ganz anders aus, es entwickelte sich nichts anderes als ein Staatsamateurismus. In zahlreichen Sportarten – darunter Boxen, Radsport und Motorsport – wurden die professionellen Strukturen stillschweigend toleriert. Mutmaßlich nahm man es auch wegen der großen Popularität einzelner Stars – man denke an Max Schmeling – mit finanziellen Zuwendungen nicht allzu genau. Das Motto lautete: Öffentliches Vorgehen gegen den Berufssport bei Duldung von verdeckten Zahlungen.

Im Fußball sorgte der DFB dafür, dass Vereinen bei Unregelmäßigkeiten (beispielsweise dem Einsatz nicht spielberechtigter Spieler) Punktverluste und Geldstrafen drohten. Die Praxis von NSDAP und DFB gleicht sich – die Beweggründe unterscheiden sich dagegen. Für den DFB standen finanzielle Aspekte im Vordergrund, für die politischen Machthaber allenfalls ein Begleitumstand. Es zeigt sich vielmehr, dass sich die NSDAP lange Zeit nicht um ein sportpolitisches Konzept bemüht hatte und nun aus zweckdienlichen Gründen die Fußballer weiter Amateure sein lassen wollte. Denn: Anders als in anderen Sportarten hatten sie sich nicht schon während der Weimarer Republik in Richtung Profisport entwickelt. Die Prämisse lautete: Kontinuität bewahren und die Leistungsfähigkeit – sowohl sportlich als auch wirtschaftlich – zu erhalten.

Zudem hatte die NSDAP auf die Olympischen Spielen von 1936 Rücksicht zu nehmen. Das Land sollte der Welt in glänzendem Licht präsentiert werden, Berlin eine Demonstration deutscher Leistungskraft sein. Die olympischen Amateur-Vorgaben waren streng, der Ausschluss von Nationalspielern sollte unter allen Umständen vermieden werden. Der Schein von struktureller Kontinuität innerhalb der Verbände musste gewahrt werden, bei deren unverzüglicher Zerschlagung wäre das im Ausland nicht mehr möglich gewesen. Diese Argumentation lieferte Futter für den DFB-Präsidenten. Linnemann erinnerte, „dass bei der Schwächung der Amateurvereine mit dem Verlust einer sicheren Goldmedaille gerechnet werden“ müsse.[13] Die kühne Ankündigung von olympischem Edelmetall endete schließlich in einer einzigen Blamage: Deutschland schied bereits in der Zwischenrunde gegen Norwegen aus, dem einzigen Spiel der Nationalmannschaft, das nachweislich je von Hitler besucht wurde. Daraufhin musste Reichstrainer Otto Nerz übrigens den Hut nehmen und wurde von seinem bisherigen Assistenten Sepp Herberger abgelöst.

Man könnte annehmen, durch die Überführung ins neue Fachamt Fußball hätte sich ein personeller Wandel einstellen können. Weit gefehlt. Der DFB blieb als Verband weiterhin bestehen, sollte sich vor allem um die Verbindungen zum Ausland kümmern. Klar, mit der Gleichschaltung des Sports in den Jahren 1933/34 sollte sichergestellt werden, dass die „Gesinnung, persönliche Eignung und Untadeligkeit außer Zweifel steht“ (sprich: dem Gutdünken der Nazis entsprach), wie der Kicker berichtete. So die Weisung von Reichssportkommissar von Tschammer und Osten. Der entscheidende Satz folgt direkt im Anschluss: „Was jedoch nicht bedeutet, dass alle alten und bewährten Führer entfernt werden sollen.“[14] Auf diese Ankündigung hatten die Funktionäre des DFB gewartet. Statt der befürchteten Zerschlagung des vormals bürgerlichen Sports entstand der Eindruck eines enormen gestalterischen Freiraums.

Auch der Fußball war zentraler Bestandteil der Propaganda rund um die Olympischen Spiele 1936

Auch der Fußball war zentraler Bestandteil der Propaganda rund um die Olympischen Spiele 1936

Beim DFB war man regelrecht euphorisiert, schließlich gesellten sich die bereits erläuterten Vorteile – Zentralisierung der Kompetenzen, Zerschlagung der Konkurrenz und Bekämpfung des Professionalismus – noch hinzu. DFB-Präsident Linnemann bekannte sich rasch zum neuen System und kündigte an, dass der Fußball „im Sinne der von ihm seit langem erstrebten Volksgemeinschaft freudig zusammen mit dem Reichssportkommissar an den Zielen des neuen Staates mitarbeiten“ werde.[15] Das ist Unterwürfigkeit und Anbiederung, wie sie deutlicher nicht ausfallen könnten. Zurecht beschreiben viele (Fußball)historiker den DFB deshalb als anpassungsbereit, kooperationswillig und engagiert.

Was Linnemann und Co., geblendet von der Zufriedenheit über die entgegengebrachte Wertschätzung, nicht realisierten: Die personelle Kontinuität sollte nur ein vorübergehendes Phänomen sein. Ein Blick in von Tschammer und Ostens geheimen Situationsbericht über die Neugestaltung der Leibesübungen zeigt: Die Entscheidung des Reichssportführers, auf Behutsamkeit statt auf eine radikale Revolution zu setzen, war rein taktischer Natur. Von Tschammer und Osten war vielleicht dankbar dafür, dass er mangels eigener Sachkenntnis auf Fachleute zurückgreifen konnte – verbrieft ist das nicht und es dürfte wohl auch nur eine Nebensächlichkeit gewesen sein. Viel mehr hielt er die alten Verbandsfunktionäre „in ihrer Gesamtheit nur noch für ein retardierendes Moment“ und schloss demzufolge aus, dass sie „mit ihrer konservativen Verbandshaltung grundsätzlich irgendeinen politischen Schaden anrichten können.“ Er deutete bereits an, dass nach den olympischen Spielen auch personell „ein Wandel eintreten muss.“[16]

Rechtfertigte sich der Reichssportführer mit seinem Situationsbericht auch für das Festhalten am bewährten Personal? Zumindest schlug ihm einige Skepsis ob seiner Politik entgegen. Der stramme Nazi-Ideologe Bruno Malitz kommentierte jedenfalls: „Die deutschen Leibesübungen können und dürfen nur von SA-Männern als den echten Trägern nationalsozialistischer Weltanschauung geführt werden. Alles andere kann nur Übergang sein.“[17] Und beim DFB? War man dort derart verblendet, dass lediglich die positiven Folgen Beachtung fanden? Jedenfalls frohlockte der Präsident beim Anblick seiner geliebten Fußballgemeinde noch im Januar 1938: „Es sind ja immer noch die alten Gesichter, die wir stets und je an der Spitze ihrer Vereine und Sportkameraden sehen.“[18]

Zu jener Zeit befand sich der Verband bereits im Begriff des Machtverlustes. Hatte Linnemann auch nach Olympia 1936 die tatsächlichen Zustände, bewusst oder unbewusst, übersehen? Konnte der DFB auch nach 1936 noch auf den Erhalt seiner personellen Substanz bauen? Ließ sich der Fußball in der Folge politisch instrumentalisieren? Was veränderte sich für Vereine und Funktionäre und welche Rolle spielte die Nationalmannschaft in der NS-Propaganda? Diese Fragen gilt es im letzten Teil des historischen Überblicks zur Rolle des Massenphänomens Fußball während der Zeit des Nationalsozialismus zu beantworten.

Referenzen

[1]   Punkt 21 des 25-Punkte-Programms der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vom 24. Februar 1920.

[2]   Hitler, Adolf: Mein Kampf. 775.-779. Auflage, 1943. S. 611.

[3]   Bayer, Ernst: Leibesübungen als politische und wehrpolitische Aufgabe, in: Volk im Werden, Nr. 11, 1938. S. 513.

[4]   Wagner, Helmut: Sport und Arbeitersport, 1973. S. 170f. Überdies komme laut der selben Quelle der Arbeitersportbewegung als Aufgabe „die Übernahme eines Teils der Vorbereitung der proletarischen Wehrhaftigkeit“ zu.

[5]   Girulatis, R.: Fußball. Theorie, Technik, Taktik, 1923. S. 10.

[6]   Malitz, Bruno: Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee, 1933. S. 49.

[7]   Südwestdeutsches Sportblatt der Freiburger Zeitung, 23. Januar 1933. S. 1.

[8]   Linnemann, Felix: Deine Aufgabe, Bundesschrift, in: Deutscher Fußball-Sport Nr. 1, 1933. S. 3.

[9]   Dieser Meinung ist zum Beispiel: Heinrich, Arthur: Deutscher Fußball-Bund und Nationalsozialismus, in: Pfeiffer, Lorenz u.a.: Hakenkreuz und rundes Leder: Fußball im Nationalsozialismus, 2008. S. 58-80.

[10] Ohne Autor: Die 16 Gaue erhalten ihre Führer, in: Der Kicker Nr. 31, 1933. S. 1178.

[11] Das Interview ist nachzulesen bei Havemann, Nils: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, 2005. S. 118.

[12] Malitz, Bruno: Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee, 1933. S. 9. Weitere Beispiele finden sich auch auf S. 12 und S. 20.

[13] Denkschrift über die Notwendigkeit einer Bereinigung der Verhältnisse im deutschen Fußballsport durch Trennung von Amateur- und Berufssport. Nachzulesen im Stadtarchiv München (Amt für Leibesübungen 256).

[14] Ohne Autor: Der Neuaufbau des deutschen Sports. Die Richtlinien des Reichssportkommissars, in: Der Kicker Nr. 22, 1934. S. 845. Vgl. hierzu auch: Südwestdeutsches Sportblatt der Freiburger Zeitung (11. Juni 1935). S. 3.

[15] E. W.: Rede des Reichssport-Kommissars in Köln, in: Die Fußballwoche, Nr. 24, 1933. S. 3.

[16] Diese Aussagen sind nachzulesen im Bundesarchiv Berlin (auch Online-Recherche möglich): NS 8/177, von Tschammer und Osten: Die Neugestaltung der Leibesübungen in den Jahren 1933-1935 (Situationsbericht). Eine detaillierte Kommentierung des Dokuments hat Hajo Bernett in seinem Aufsatz „Die innenpolitische Taktik des nationalsozialistischen Reichssportführers (erschienen in: Stadion 1, 1975. S. 140-178) vorgenommen.

[17] Bruno Malitz: Die Leibesübungen in den herrschenden Weltanschauungen der Neuzeit. S. 260 , in: Friedrich Mildner (Hrsg.): Olympia 1936 und die Leibesübungen im nationalsozialistischen Staat, 1936.

[18] Zitiert nach Müllenbach: Wir vertrauen, in: Der Kicker, Nr. 3, 1938. S. 2

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei Ksayer1 für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von Ksayer1 gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-SA 2.0

1 Kommentare

  1. Moin;)
    Der Artikel hat mir sehr für mein mündliches Abitur mit dem Thema Fußball und Nationalsozialismus geholfen.
    Liebe Grüße
    Viv

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