Endreas Müller – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Tue, 31 Dec 2019 15:54:54 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Württembergische Revolution https://120minuten.github.io/wuerttembergische-revolution/ https://120minuten.github.io/wuerttembergische-revolution/#respond Tue, 31 Dec 2019 08:00:17 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6768 Weiterlesen]]> Im Jahr 1984 warfen die Amateure des SC Geislingen den großen Hamburger SV aus dem DFB-Pokal. 35 Jahre später gewann Deutschland das WM-Halbfinale gegen Brasilien mit 7:1. Was hat das miteinander zu tun? Sehr vieles, wenn man die Geschichte der Spielstrategie kennt. Die These, dass der Grundstein zum Weltmeisterschaftstitel unter der Schwäbischen Alb gelegt wurde, ist gar nicht so abwegig. Eine Spurensuche an fünf Schauplätzen.

Von Bernd Sautter, www.sauttersbücher.de 

Nur wenige Wochen nach der Weltmeisterschaft in Brasilien erscheint im ZEIT Magazin ein Artikel, in dem untersucht wird, warum so viele Bundesligatrainer schwäbisch reden. Tatsächlich starteten sechs Übungsleiter aus Baden-Württemberg als Cheftrainer in den ersten Spieltag der Spielzeit 2014/15: Jens Keller, Tayfun Korkut, Robin Dutt, Markus Gisdol und Jürgen Klopp aus dem Schwäbischen, dazu kam der Südbadener Christian Streich. Es mag vielleicht Zufall gewesen sein, dass plötzlich zum selben Zeitpunkt ein Drittel der Bundesligatrainer aus dem Südwesten stammten. Und trotzdem: Dass eine solche Vielzahl an guten Strategen in Württemberg ausgebildet wurde, das hatte durchaus Methode. Doch folgen wir dem Artikel in der ZEIT noch für einen kurzen Moment. Die Autorin Heike Faller wählte die Überschrift „Geislingen an der Steige“. Tatsächlich ein guter Ort, um die Spurensuche zu beginnen.

Schauplatz 1: Geislingen, 1984

DFB Pokal 1.9.1984 Geislingen – Hamburger SV (HSV) Jubel Geislingen Gerhard Helmer
copyright by Pressefoto Baumann

Gerade mal so passt das SC-Stadion ins enge Tal zwischen zwei Höhenzügen der Schwäbischen Alb. Die Fläche zwischen Eybach und den steilen Hängen reicht gerade aus, um ein Fußballfeld anzulegen. Hoch überm Stadion ragen die Felsen aus dem Wald. Die Szenerie schafft eine malerische Kulisse für einen kleinen Spaziergang, das Tal entlang. Das dachte sich auch SC-Trainer Jakob Baumann. Vor dem Spiel ging er mit der Mannschaft noch ein paar Schritte, um sie auf das kommende Pokalspiel einzustimmen. Baumann, Vater des 5000-Meter-Olympiasiegers Dieter Baumann, musste die Mannschaft im Grunde nur ins Laufen bringen. Wohin sie laufen sollten, das wussten die Spieler bereits von seinem Vorgänger Helmut Groß.

Stadion Geislingen

Dass der HSV gleich in der ersten Pokalrunde ausscheidet, mag heute keine Überraschung mehr sein. 1984 ist es noch eine. Schließlich gelten die Hamburger als europäische Extraklasse. Ihr legendärer Europapokaltriumph ist noch gar nicht lange her. Heute gehört der Geislinger Erstrundensieg gegen Hamburg in den klassischen Reigen legendärer Pokalsensationen. Allerdings lohnt es sich, genau hinzuschauen: denn für die Geislinger Spieler kommt der Sieg überhaupt nicht überraschend. SC-Stürmer Wolfang Haug erinnert sich: „Der Alex hat eigentlich gar nicht viel halten müssen.“ Damit ist der Torwart gemeint. Auch Felix Magath ist das aufgefallen: „Die eigentliche Katastrophe“, sagt er nach dem Spiel, „war, dass wir überhaupt keine Siegchance hatten.“

Tatsächlich ist der Triumph komplett verdient. Der Oberligist presst mit hoher Intensität. Die taktischen Grundlagen wurden von Helmut Groß gelegt. Groß, der den SC zuvor trainiert hatte, ist für die spieltaktische Entwicklung Deutschlands eine der wichtigen Figuren. Obwohl ihn bis heute nur die Insider kennen. Jahre später wird er mit einem gewissen Herrn Rangnick eine württembergische Revolution auslösen. Stichwort: Ballorientiertes Pressing. Die Grundzüge erkennt man beim SC Geislingen deutlich. SC-Verteidiger Bernd Breitenbach wundert sich hinterher, wie hilflos sich der große HSV anstellt: „Wir hatten uns schon während des Spiels gefragt, irgendwann müssen sie doch mal angefangen.“ Haben sie aber nicht. Wie stark die schwarz-weißen Geislinger sind, zeigen auch die folgenden Pokalrunden. Kickers Offenbach war in der zweiten Runde so chancenlos wie der HSV. Selbst beim Ausscheiden gegen den späteren DFB-Pokalsieger Bayer Uerdingen sind die perfekt eingespielten Geislinger total auf Ballhöhe. Über die merkwürdigen Entscheidungen des Schiedsrichters, die zur unverdienten Niederlage führt, wundern sich manche noch heute.

 

Warum in Württemberg so viele gute Trainer wachsen, könnte man mit den vorherrschenden Klischees leicht erklären: Fleiß, Erfindergeist, Beharrlichkeit und ein Hang zur Besserwisserei sind die Eigenschaften, die man den Menschen im Ländle gerne zuordnet. Alles sind prächtige Zutaten für die Grundqualifikation zum Fußballtrainer. Doch selbst wenn die Theorie der passenden Mentalität stimmt, kommt noch ein weiterer, wichtiger Punkt hinzu: Die Schwaben haben sehr genau gewusst, bei wem man sich Strategie und Trainingslehre am besten abschauen kann. Wir wechseln den Schauplatz und wagen einen Blick ins Außer-Württembergische.

Fußballheimat Württemberg - 100 Orte der Erinnerung

Im Oktober 2019 ist beim Arete Verlag “Fußballheimat Württemberg” von Bernd Sautter erschienen. Neben der in diesem Text beschriebenen taktischen Weiterentwicklung des Fußballs, arbeitet der Autor weitere Entwicklungen in der Region heraus, die den Fußball maßgeblich beeinflusst haben, aber auch kuriose Begebenheiten, die in dieser Form noch nicht erzählt wurden. Beim Arete Verlag findet sich eine Leseprobe.

Schauplatz 2: Ukraine

In der taktischen Geschichte des Weltfußballs kommt Deutschland kaum vor. Aufgeschrieben hat sie der Brite Jonathan Wilson. „Revolutionen auf dem Rasen“ heißt sein Standardwerk, etwa 500 Seiten dick. Wilson taxiert die Geburt der spieltaktischen Moderne auf die Sechziger Jahre. Das Zauberwort lautet Pressing. Wilson wundert sich: „Die Idee ist derart simpel, dass man sich fragt, warum sie nicht alle übernahmen, nachdem die erste Mannschaft erfolgreich Pressing gespielt hatte. Und doch verbreitete sich diese Spielweise erst nach und nach. In Deutschland konnte Pressing gar erst in den 1990er-Jahren Fuß fassen.“ Als Geburtsort der Moderne gibt Wilson Kiew an, wo Trainer Wiktor Maslow mit Dynamo als Erster mit Pressing erfolgreich war, übrigens lange vor dem Totaalvoetbal von Ajax Amsterdam oder dem AC Milan unter Arrigo Sacchi. Maslow, in Deutschland bis heute völlig unbekannt, gewann mit einem 4-4-2 unter ständigem Attackieren des Gegners drei sowjetische Meistertitel. Die Abwehr spielte im Raum, also ohne feste Zuteilung. „Durch Manndeckung“, urteilt Maslow, „werden die Spieler gedemütigt, beleidigt und sogar moralisch unterdrückt.“ Dies, wohlgemerkt, äußerte er bereits in den sechziger Jahren. Im Team von Maslow spielten viele begabte Talente unter anderem ein gewisser Walerij Lobanowskyi.

Rund 10 Jahre später sollte Lobanowskyi das Erbe Maslows weiterführen. Während Maslow seinem taktischen Instinkt folgte, arbeitete Lobanowskyi mit wissenschaftlicher Präzision. Schon in der Schule erhielt er für seine mathematischen Fähigkeiten Auszeichnungen. Er studierte am polytechnischen Institut und ging auch den Fußball systemtheoretisch an. Lobanowskyi achtete auf Verschieben der Abwehr und darauf, dass übers gesamte Spielfeld hinweg Überzahl in Ballnähe geschaffen wird. Im Spiel mit dem Ball übte er eine Vielzahl von Kombinationen, die der Mannschaft je nach Situation zur Verfügung standen. Auch die schonungslose Analyse der Einzelspieler war neu. Am Tag nach dem Spiel hing in der Umkleidekabine eine statistische Aufschlüsselung der Partie. Jeder Spieler wusste genau, wie viele Aktionen er auf dem Platz gezeigt hatte. Auf diese Weise gewann Lobanowskyi mit Dynamo Kiew acht sowjetische Meisterschaften.

Abwehrketten ohne Libero, Verschieben und ballorientierte Spielweise konnte man nicht nur in der Sowjetunion lernen. Die neue Flexibilität entstand zeitgleich an vielen Orten auf der Welt. Nur in Deutschland setzte sie sich zaghaft durch. Vielleicht lag es auch an einer Lichtgestalt, die hierzulande das Spiel prägte, und zwar aus einer Position heraus, die in modernen Systemen nicht mehr vorgesehen war. Libero Beckenbauer sollte sich dementsprechend täuschen als er nach der WM 1990 prophezeite, dass die deutsche Mannschaft auf Jahre hinaus unschlagbar sei.  Für die zukünftige Entwicklung des Spieles war der Schauplatz Ruit deutlich wichtiger als der heilige WM-Rasen in Rom. Ruit liegt nur wenige Kilometer südöstlich von Stuttgart. Die Sportschule des Württembergischen Fußballverbandes ist unser nächster Schauplatz.

Schauplatz 3: Ruit

Franz Bartholmes, Leiter der Sportschule Ruit, bemühte sich bereits zur U17-Europameisterschaft 1984 darum, die russische Jugend-Nationalmannschaft in seiner Schule zu beherbergen. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um die Spielstrategien. Der Schulleiter hatte einfach ein Faible für den Osten. Er war ein guter Gastgeber und bemühte sich den internationalen Ruf der Sportschule auszubauen. Trotzdem war sein erster Anlauf noch nicht von Erfolg gekrönt. Die russische Jugendauswahl entschied sich für ein anderes Quartier. Aber Bartholmes blieb dran, und pflegte den Kontakt zu den russischen Verantwortlichen. Prompt wurde er im folgenden Jahr von Dynamo Kiew angefragt. Dort wusste man, dass an der Sportschule ein beheizter Kunstrasenplatz wartete – und ein freundlicher Gastgeber ohne jede ideologische Scheuklappe. Dafür fuhr Dynamo Kiew sogar 2.000 km quer durch Europa – mit einem klapprigen Bus, der schon auf der Hinfahrt dreimal seinen Geist aufgab. Lobanowskyi fand trotzdem Gefallen an der Reise. Vielleicht auch, weil sich zwischen ihm und Bartholmes eine typische Männerfreundschaft entwickelte. So besuchte Bartholmes seinen Freund von Zeit zu Zeit auch in Kiew. Dabei wunderte er sich manchmal, wie unkompliziert die Einreise war. „Wahrscheinlich gab es beim KGB eine Akte mit meinem Namen, aber viel Schlimmes kann nicht darin gestanden haben“, vermutet er. Von Lobanowskyi erfuhr er auch, dass dieser wegen seiner Besuche in Ruit sogar in Moskau antanzen musste. Warum er denn dauernd zum Klassenfeind gehe, wollte man dort wissen. „Ich gehe nicht zum Klassenfeind“, antwortete der Trainer patzig, „ich gehe zu meinem Freund Franz in die Sportschule.“ Lobanowskyi hatte sich bereits das notwendige Renommee für Eigenmächtigkeiten erarbeitet. Es war sowieso nicht seine Art, lange Erklärungen abzugeben – selbst wenn die Prawda oder andere staatliche Medien um ein Interview baten, blieb er wortkarg. Auch in Deutschland verweigerte er sich den Interviewwünschen. In der Öffentlichkeit sprach er wenig. Mit Journalisten noch weniger. Und Deutsch schon gar nicht. Nur auf das Trainingslager in Ruit bestand er, auch wenn er in den folgenden Jahren den Flieger bevorzugen sollte.

Sportschule Ruit

Im Laufe des ersten Ruiter Trainingslagers absolvierte Dynamo ein Spiel gegen Viktoria Backnang, das zu diesem Zeitpunkt vom 28-jährigen Ralf Rangnick trainiert wurde. Für den angehenden Fußball-Professor war es ein Schlüsselerlebnis. Rangnick verstand die Welt nicht mehr: „Ich habe während der Partie angefangen, die Kiew-Spieler zu zählen. Ich dachte, die hätten zwei Mann mehr auf dem Platz. Wir hatten zwar schon gegen Profis gespielt, aber so was hatten wir noch nicht erlebt: Man hatte ständig zwei, drei Gegenspieler. In unserem Fußball gab es das nicht. Wir spielten in Manndeckung – ein Mann gegen den anderen.“ Fortan pilgerte Rangnick nach Ruit, um genau zu studieren, wie es Dynamo seinen Spielern beibrachte, den Raum so verdammt eng zuzustellen. Dort, am Rande des Trainingsplatzes, traf Rangnick auf Helmut Groß, damals Trainer des VfL Kirchheim. Die Beiden studierten ausdauernd die Übungen der russischen Mannschaft. Lobanowskyi stand dabei schweigend am Spielfeldrand. Etwa so regungslos, wie er auch die Spiele seiner Mannschaft verfolgte. Absolut regungslos. Dagegen besaß jede Wachsfigur ein lebendiges Minenspiel. Auf diese Weise bis zur völligen Erstarrung konzentriert ließ der russische Großmeister der Taktik seinen fünfköpfigen Trainerstab arbeiten. Erst in der zweistündigen Besprechung am Abend wurde der Schweiger lebhaft. Dann definierte er sehr präzise das Programm für den nächsten Tag, und zwar bis ins feinste Detail.

Bis dato gab es in Deutschland kein Lehrmaterial zur ballorientierten Raumdeckung. Warum auch? Hierzulande deckte man den Mann – und das war auch gut so. Bei den Versuchen ein ballorientiertes System einzuführen sollten Groß und Rangnick bemerken, wie beharrlich man hierzulande dem Gegenspieler hinterher laufen wollte. Rangnick und Groß unternahmen die ersten Schritte, dies zu ändern. Sie legten den Grundstein zu einer neuen Spielphilosophie. Darin steckte eine Menge Lobanowskyi – und manch eigene Gedanken. Helmut Groß, der mit seinen Analytikern viel zum neuen System beitrug, erklärte es in einem Interview wie folgt: „Meine Vorstellung war, dass man den Ball so schnell es geht erobern sollte. So entstand die Idee der ballorientierten Raumdeckung. Sprich: Beim gegnerischen Angriff müssen sich die Spieler so verschieben, dass sie in Überzahl den ballführenden Gegenspieler angreifen und ihm so den Raum und die Zeit nehmen für eine vernünftige Aktion.“ Jährlich im Januar nutzen Rangnick und Groß die Möglichkeit, in Ruit Anschauungsunterricht zu nehmen.

Als Lobanowskyi dann die sowjetische Nationalmannschaft übernahm und zur Europameisterschaft in Deutschland führte, war das Domizil von vornherein klar. Natürlich Ruit. Bei der Euro 88 sollte die UdSSR bzw. Russland sein bis heute bestes Turnier spielen. Spieltaktisch waren sie den anderen Mannschaften eine Nasenlänge voraus. Das wollten jedoch nicht alle ohne Weiteres erkennen: „Fußball wie vor zwanzig Jahren“, attestierte Franz Beckenbauer. Die Diagnose des Kaisers steht beispielhaft für das Unverständnis, auf das man in Deutschland stößt, wenn man alte Systeme aufbricht. Ein paar Tage später sollten sich die Russen für das Finale qualifizieren. Zuvor waren sie über Italien hinweggefegt – nach allen Regeln der ballorientierten Kunst. Danach brach sogar Lobanowskyi sein Schweigen. Er habe in Ruit am „universellen System“ des Fußballs gebastelt, teilte er den staunenden Journalisten mit. Und das war nicht einmal gelogen. Lobanowskyi arbeitete schon seit Jahrzehnten daran, auch wenn er es selten so bezeichnete. Seine Auswahl kam einem großen Titel niemals näher als in diesem Turnier. Das Problem bestand vor allem in der zweiten gelben Karte für Oleg Kusnetsow, dem Taktgeber der Russen. Ohne den Schlüsselspieler des Systems Lobanowskyi verlor Russland das Finale mit 0:2 gegen die Niederlande. Auch das Spielglück trug an diesem Tag oranje. Marco van Bastens wahnsinniger Volley und ein verschossener Elfmeter der Russen verhinderten den verdienten Titel des Kult-Trainers.

FC PlayFair! e.V.

 

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit dem FC PlayFair! e.V. entstanden. Autor Bernd Sautter engagiert sich im weit verzweigten Netzwerk des Vereins. PlayFair setzt sich für Fußballkultur und die Nutzung der integrativen und sozialen Kraft des Fußball zum Wohl unserer Gesellschaft ein. Der Verein hat bereits mehrere beachtenswerte Initiativen in die Tat umgesetzt und engagiert sich, passend zum Text von Bernd Sautter, im Nachwuchsfußball.

In Zusammenarbeit mit dem Nachwuchsleistungszentrum des FSV Frankfurt, bringt PlayFair Nachwuchsfußballer*innen und -trainer*innen den Fairplay-Gedanken näher. Im Rahmen einer Veranstaltung mit den FSV-Nachwuchsteams, sprachen PlayFair-Vertreter im Oktober nicht nur über Fairplay auf dem Platz sondern auch über Aspekte abseits des Rasens: Umwelt, Integration und die Vorbildfunktion von Sportler*innen und Trainer*innen.

Beim Halbfinale in Stuttgart saß der komplette Trainerlehrstab des Württembergischen Fußballverbandes auf der Tribüne. Das Spiel erbrachte den endgültigen Beweis: Dieses System war einfach überlegen. Also machte man sich an die Arbeit, es seinen Trainern an die Hand zu geben. Ein halbes Jahr später waren die theoretischen Grundlagen gelegt. Im Sommer wurden die praktischen Übungen präsentiert. Im Spiel gegen den Ball etablierte der Verband Pressing und ballorientiertes Verteidigen. Im Spiel mit dem Ball wurden neue Prinzipen erarbeitet. Mit dem Ball ging es vor allem darum, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Onetouch-Fußball, schnelles Umschaltspiel, Blickrichtung Tor nach Balleroberung – das waren für deutsche Verhältnisse innovative Ansätze. Rangnick selbst machte den ersten Praxistest. Als Trainer des Landesligisten TSV Korb stellte er schon in der Winterpause auf Raumdeckung um. Korb verlor anschließend nur noch zwei Mal. Rangnick war klar: „Wenn es mit den Amateuren geht, funktioniert das mit jeder Mannschaft.“ Auch der Verband machte zielstrebig weiter. In den Auswahlmannschaften konnten die Württemberger die neue Strategie etablieren und anhand der praktischen Erfahrungen weiterentwickeln. Nur den großen DFB schien es nicht zu interessieren. Schließlich wurden die Deutschen unter Beckenbauer Weltmeister. Und warum Bitteschön, sollte sich ein Weltmeister nach russischen Ideen richten? Der Kaiser war sowieso davon überzeugt, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung auf Jahre hinaus unschlagbar wäre. Auf diese Art und Weise kassierte der deutsche Fußball einen spieltaktischen Rückstand, dem er mehr als ein Jahrzehnt hinterherlief. Oft waren gute Einzelspieler in der Lage, die taktischen Mängel zu überdecken. So war der Titelgewinn bei der Europameisterschaft 1996 Wasser auf die Mühlen der Manndecker. „Taktik ist eben nicht alles“, relativiert wfv-Trainer Wolfgang Kopp. „Was aber, wenn zwei Mannschaften aufeinandertreffen, die am Ball und in der Physis gleich stark sind? Dann entscheidet die Taktik!“

Kopp arbeitete als Mitglied des württembergischen Trainerlehrstabes beharrlich am neuen System weiter. „In den ersten Jahren hat man wenig bis nichts gesehen,“ räumt er ein. Viele Widerstände waren zu überwinden. So war es durchaus eine Herausforderung plausibel zu machen, dass es für die Verteidiger in bestimmten Situationen besser wäre, die Stürmer alleine zu lassen. „Des geht bei uns net,“ sagten die schwäbischen Trainer. Aber mit der Zeit funktionierte es eben doch. Langsam setzten sich die neuen Prinzipien durch. In den Länderpokal-Turnieren, der Jugendverbandsauswahlen belegten die Württemberger plötzlich reihenweise die ersten Plätze. Auch beim DFB fanden sich offene Ohren. Tina Theune-Meyer, Trainerin der Damen-Nationalmannschaft übernahm die neue Philosophie – und das mit großem Erfolg. Die Ausnahmestellung der Nationalmannschaft in den Neunziger Jahren ist fraglos ihr Verdienst – und das Resultat eines besseren Systems.

„Vieles haben wir bei Lobanowskyi gelernt“, resümiert Kopp. „Er hat oft 11 gegen 11 spielen lassen. Diese Spiele hat er immer wieder unterbrochen, um die Positionen zu verbessern. Außerdem hat er in seinen Trainingsformen Taktik und Kondition immer gemeinsam entwickelt. Das haben wir uns zum Vorbild genommen.“ Von den Innovationen sollten die Württembergischen Trainer noch lange profitieren. Die Liste ist lang: Tayfun Korkut, Jürgen Klopp, Peter Zeitler, Michael Feichtenbeiner, Robin Dutt, Thomas Schneider, Markus Gisdol, Marc Kienle, Alexander Zorniger und viele andere – von all diesen Trainern lässt sich eine Linie ziehen, die schlussendlich auf den zurückgeht, der am liebsten gar nicht darüber reden wollte: auf Walerij Lobanowskyi.

Bleiben wir noch einen kurzen Moment in den achtziger Jahren und folgen dem großen Spieltüftler Helmut Groß. Der Mann im Hintergrund trainierte damals den VfL Kirchheim/Teck. Wir sind im Mittelbau der großen Fußballpyramide: an unserem vierten von fünf Schauplätzen der württembergischen Revolution.

Schauplatz 4: Kirchheim/Teck

Helmut Groß liebte die Sicherheit. Trainer im Profi-Fußball? Das war dem bodenständigen Ingenieur bei weitem zu abenteuerlich. Der Schwabe Groß mochte die Sicherheit, die ein guter Ingenieur hatte, der im Regierungspräsidium in der Abteilung Brückenbau angestellt war. Groß trainierte auf Amateurniveau, unter anderem einige Spielzeiten in Kirchheim/Teck. Mit dem Aufstieg in die Oberliga Baden-Württemberg begann im Jahr 1986 die beste Phase unter der Burg Teck. Ein Aufstieg in die dritthöchste Spielklasse ist zwar kein großes Ding – und trotzdem bemerkenswert. Der Grund: Auch auf diesem überschaubaren Niveau bewährte sich bereits das ballorientierte System.

Stadion Kirchheim

Auch bei der Videoanalyse war Groß weit vorne. Er profitierte von einem frühen TV-Kabelprojekt, kaufte sich zwei Videorekorder und studierte Begegnungen ausländischer Ligen. Mit diesen Ideen übernahm Helmut Groß den VfL Kirchheim/Teck im Jahr 1985. Bereits in der ersten Saison stiegen die Blauen auf. Der Gegner hatte bereits die Aufstiegsparty organisiert. Ein Kirchheimer Spieler sagte später, es wäre schon fast unfair gewesen, weil die Südbadener nichts wußten vom neuartigen Spielsystem. Nach seiner Zeit in Kirchheim wurde Groß Jugendkoordinator beim VfB Stuttgart. Später folgte er seinem Kumpel Rangnick zu vielen Stationen – unter anderem nach Hoffenheim und Leipzig.

Nicht wenige Bundesligisten begannen in den Neunzigern mit dem ballorientierten Verschieben. Der Schweizer Ottmar Hitzfeld führte die Idee bei Borussia Dortmund ein. Auch als Hitzfeld zu den Bayern ging, entschied sich der BVB für eine Fortsetzung der Spielidee, in dem man in Nevio Scala den nächsten innovativen Trainer verpflichtete. Auch nahe der Schweizer Grenze, in Freiburg, wurde längst ballorientiert gespielt, angeleitet zwar vom Nordlicht Volker Finke, aber durchaus inspiriert von der Eidgenössischen Trainerschule, die damals weit voraus war, und irgendwie auf der selben Fährt wie die Kolleginnen und Kollegen aus Württemberg.

Nur beim VfB Stuttgart gingen die Experimente schief. Dort scheiterte der Schweizer Meistertrainer Rolf Fringer an den verkrusteten Strukturen der Mannschaft mit dem Brustring. Danach übernahm sein vormaliger Assistent, den Fringer vom FC Schaffhausen mit nach Stuttgart gebracht hatte, ein gewisser Joachim Löw. Etwa zur selben Zeit taucht im Osten von Württemberg ein Klub auf, der zuvor nie aufgefallen war. Willkommen an der Donau.

Schauplatz 5: Ulm

Die Mannschaft verstand nicht, was dieser Trainer wollte. Keine Manndeckung? Auf dem Platz verschieben, statt dem Gegenspieler bis in die Umkleidekabine zu folgen? Der Trainer verstand zumindest soviel: Sein neues Konzept einer Abwehrkette, die sich je nach Position des Balles verschob, würde er am besten schrittweise einführen. Also ließ Ralf Rangnick zu Beginn seiner Ulmer Zeit als Absicherung einen Libero hinter der variablen Dreierkette spielen. Andere revolutionäre Grundsätze galten vom Fleck weg mit radikaler Konsequenz: zum Beispiel hohes Verteidigen und aggressives Pressing. Weil dafür viel mehr Laufarbeit nötig war, trainierte der SSV Ulm intensiver als je zuvor. „Ich war nie im Leben so fit wie unter Ralf Rangnick“, gesteht Oliver Unsöld, der damals die linke Seite beackerte. Die Konditionsarbeit überließ Rangnick einem Experten: seinem Co-Trainer Rolf Baumann, Bruder des 5000-Meter-Olympiasiegers Dieter Baumann. Auch in punkto Ernährung wurden neue Regeln eingeführt. Rangnicks Ernährungsplan hing in allen Küchen – auch am Kühlschrank der Freundin von Oliver Unsöld. Dass dort noch gegen elf Uhr in der Nacht das Telefon klingelte – auch keine Überraschung. Das war dann der Trainer höchstpersönlich, der nur mal schauen wollte, ob sein Mittelfeldspieler schon im Bett war. Übrigens: Ulm spielte noch Regionalliga. Aber in dem, was Rangnick auf die Beine stellte, war er weiter als die meisten Bundesligaklubs.

Donaustadion Ulm

In der Saison 97/98 gönnte der Trainer seinem linken Mittelfeldspieler nur wenige Einsätze. Weil Unsöld seine Chancen auf einen Stammplatz schwinden sah, wollte er nach Aalen wechseln. Eigentlich war es bereits ausgemachte Sache. Aber dann passierte Zweierlei: Die Mannschaft belohnte sich mit dem Aufstieg in die zweite Liga. Und auf der linken Seite verletzte sich Offensivspieler Uwe Rösler. Die Chance wollte sich der gebürtige Ulmer Unsöld dann doch nicht entgehen lassen. Zähneknirschend stimmte der VfR Aalen zu, dass der Wechsel noch ein halbes Jahr auf Eis gelegt wurde. Stattdessen wollte Unsöld versuchen, einen Stammplatz bei den Ulmer Profis zu erkämpfen. Das erschien auch deshalb verlockend, weil Mannschaft und Trainer zusammen gewachsen waren. Rangnick war die unumstrittene Autorität. Die Spieler hielten zusammen wie Pech und Schwefel – so wie eben  Mannschaften funktionieren, wenn sie einen Lauf haben. Unsöld konnte nichts Besseres passieren, als wieder richtig dazu zu gehören. Beim SSV rannten alle für alle, sogar die Älteren. Bei Dauerläufer Janusz Gora war das sowieso keine Frage, der lief noch mit 35 Jahren – zuverlässig wie das Uhrwerk im Ulmer Münster. Einzig bei Stürmer Dragan Trkulja (36) gab es Aussetzer, aber die waren eingeplant. Trkulja war für die Tore zuständig – und die waren bitter notwendig. Mit seinem hohen Verteidigen nahm Rangnick in Kauf, dass hinten ein paar reingehen konnten. Doch die Mannschaft wusste genau: Spätestens ab Mitte der zweiten Halbzeit würde sich die gute Kondition bemerkbar machen. Je älter ein Spiel wurde, um so häufiger trafen die Ulmer. „Wir wussten immer, dass noch was geht“, sagt Unsöld. Und weil immer öfter noch was ging, konnte die namenlose Ulmer Mannschaft die 2. Bundesliga perfekt machen.

„Ulm? Wer bitteschön ist denn das? Die gehen doch sicherlich wieder runter!“ Für alle Experten war es klar: Vier gehen runter – Ulm und drei andere. Ein Vorbereitungsspiel gegen den Grazer AK schien diese Annahme zu unterstreichen. Ulm kam glatt mit 0:6 unter die Räder und GAK-Trainer Augenthaler wunderte sich: „Was wollt’ denn ihr in der zweiten Liga?“ Tatsächlich bot allein das Auftaktprogramm Grund zur Beunruhigung. Unter den ersten vier Gegnern befanden sich drei Bundesliga-Absteiger – Bielefeld, Karlsruhe und Köln. Am Tag vor dem Auftakt gegen Wattenscheid entdeckte Unsöld seinen Namen in Rangnicks Startformation. „Ich hatte Puls 200 und habe die ganze Nacht keine Auge zugetan.“ Jetzt war Unsöld Zweitligaspieler. Mit Ulm! Schnell sollte sich zeigen, dass die Rangnick’schen Mechanismen auch in dieser Liga funktionierten. Beim Premierenauftritt trug sich Unsöld als erster Torschütze ein. Er nagelte den Ball einfach ins Kreuzeck. Erstes Spiel, erstes Tor. Wahnsinn! Das hätte niemand erwartet – Unsöld nicht – und die 7.000 Zuschauer schon gar nicht. Der 2:0-Sieg gegen Wattenscheid 09 war am Ende völlig verdient. Der SSV war in allen Belangen überlegen. Möglicherweise die Anfangseuphorie, so vermuteten die Experten. Doch sie sollten bald ihre Meinung ändern. Nach einem 2:1-Auswärtssieg gegen den KSC, einem furiosen 6:2-Heimsieg gegen Arminia Bielefeld und einem 1:1-Unentschieden gegen den 1. FC Köln begannen die Kommentatoren genauer auf das zu schauen, was in Ulm vor sich ging. Inzwischen führte dieser turmhohe Außenseiter sogar die Tabelle an. Was auch so bleiben sollte, die gesamte Vorrunde zumindest. Die erste Niederlage setzte es erst im Dezember gegen die SpVgg Greuther Fürth. Der eigentliche Schock war allerdings ein anderer: der Abgang von Ralf Rangnick. Er war dem Ruf des VfB Stuttgart gefolgt. Der Schweizer Martin Andermatt übernahm zur Rückrunde. Gewiss ein guter Trainer, gewiss absolut auf der Höhe der Zeit – aber eben nicht so genial, nicht so visionär und nicht so akribisch wie der große „Professor“ Rangnick.

Sparen wir uns an dieser Stelle das Kasperltheater, das in Ulm zur Aufführung kam und dazu führte, dass der SSV auch postwendend wieder dort versank, wo er herkam. Vor dem Hintergrund der Trainergeschichte ist jedoch interessant, dass es mit Martin Andermatt wieder ein Schweizer war, der in Ulm fortführen sollte, was Rangnick begann. Schweizer und Württemberger waren damals in besonderer Weise offen für moderne Spielstrategien. Ganz im Gegensatz zum DFB.

Der deutsche Fußballverband produzierte bei der EM im Jahr 2000 ein eindrucksvolles Debakel, das man als Komplettversagen aller Systeme interpretieren konnte. Als die Dinge während des Turniers unter Traineropa Erich Ribbeck schief zu laufen drohten, wurde von allen Seiten beschworen, man solle bittschön den 39-jährigen Lothar Matthäus als Libero installieren, um der Abwehr Sicherheit zu geben. Matthäus kickte damals bereits als Fußballrentner bei den New York Metro Stars. So viel Retro musste schief gehen. Deutschland ging als letztes Team in die Geschichte der Sportart ein, das in einem großen Turnier mit einem Libero antrat. Das desaströse 0:3 gegen eine portugiesische B-Auswahl gilt noch heute als eine der schwärzesten Stunden deutschen Fußballschaffens.

Das EM-Debakel gilt heute als endgültiger Auslöser für eine komplette Neuausrichtung des Verbandes – von den Jugendauswahlen bis zur Nationalmannschaft. Rudi Völler übernahm. Deutschland wurde Vize-Weltmeister 2002. Doch anschließend wurde das EM-Turnier vor der Heim-WM vergurkt. Völler nahm seinen Hut. Plötzlich erschien der Württemberger Jürgen Klinsmann und der Badener Jogi Löw auf der Bildfläche. Apropos Baden-Württemberg. In fast 100 Jahren hat der DFB lediglich acht Bundestrainer und Teamchefs benötigt. Genau die Hälfte von ihnen stammen aus Baden-Württemberg. Vermutlich ist das kein Zufall.

Eine abschließende Bemerkung noch zu Ralf Rangnick. Nach seiner Zeit in Ulm scheiterte auch Rangnick beim VfB Stuttgart. Dort zu scheitern ist eine Auszeichnung für jeden ambitionierten Revoluzzer. Aus seiner Stuttgarter Zeit zog Rangnick die Schlussfolgerung, dass ihm Aufbauarbeit bei aufstrebenden Projekten besser liegt, als die Hauptverantwortung bei turbulenten Traditionsclubs. In der Folge führte der Fußballprofessor Hoffenheim, Salzburg und Leipzig zu erstaunlicher Größe. Dabei beschäftigte er viele ehemalige, aus Württemberg stammende Kollegen, die er an seine Wirkungsstätten delegierte. Darum wird bis heute in Leipzig breites Schwäbisch gesprochen. Andersrum fällt bei der Spurensuche in der Sportschule Ruit auf: In steter Regelmäßigkeit begegnet man Jugendmannschaften aus Leipzig. Die württembergische Trainerschule wurde jüngst großzügig ausgebaut. Die schwäbischen Bauherren sind nach wie vor emsige Taktiktüftler. Man weiß nie, ob sie gerade wieder etwas Neues aushecken.

 


Autoreninfo: Bernd Sautter wurde geboren, als das Wembley-Tor fiel. Seine Mutter berichtet, dass er im Alter von vier Jahren die Aufstellung von Uruguay auswendig aufsagen konnte. Mit Fußballheimat Württemberg legt der Fußballautor (Heimspiele Baden-Württemberg) und Blogger (www.propheten-der-liga.de) sein zweites Buch vor.

Bildnachweis: 

Beitragsbild: BAU // Fussball Herren DFB Pokal 1.9.1984 Geislingen – Hamburger SV (HSV), Jubel Geislingen Gerhard Helmer, copyright by Pressefoto Baumann, D-71638 Ludwigsburg, Königsallee 43, Telefon 07141 440087 Fax 07141 440088, KSK Ludwigsburg (60450050) Konto Nr. 58014, email: pressefotobaumann@gmx.de

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O wonnevolles Fußballspiel! https://120minuten.github.io/o-wonnevolles-fussballspiel/ https://120minuten.github.io/o-wonnevolles-fussballspiel/#respond Wed, 18 Dec 2019 07:50:06 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6722 Weiterlesen]]> Die Fußballberichterstattung und ihr Wandel in der Kultur- und Literaturzeitschrift Die Jugend.

Heutzutage ist Fußball omnipräsent in unserer Gesellschaft – es ließen sich ganze Buchhandlungen mit Büchern und Zeitschriften über Fußball und die ihm innewohnende Kultur füllen. Der Sport ist Teil unserer Alltagskultur geworden. Dass es ein langer Weg bis dorthin war, zeigt folgende Analyse.

Von Simeon Boveland, traditionellzweitklassig.de

Die Kultur- und Literaturzeitschrift Die Jugend, die 1896 in München gegründet wurde, hatte sich das erstrebenswerte und doch utopisch anmutende Ziel gesetzt, alle Genres, alle Themen und alle Textarten zu behandeln. Ihre Programmlosigkeit war ihr Programm und nicht selten wurde über ein Thema zugleich ernst und ironisch berichtet. Da alle Themen gleichermaßen besprochen werden sollten, fanden auch die Sportnachrichten ihren Weg in die Zeitschrift, was zu dieser Zeit noch äußerst ungewöhnlich war. Nachdem ab Mitte des 19. Jahrhunderts vereinzelt Ereignisse und Ergebnisse verschiedener Turn- oder Schützenvereine in Zeitschriften veröffentlicht wurden, gelangten zur Jahrhundertwende auch die Sportarten ins Licht der Öffentlichkeit, die heute als „Breitensport“ bekannt sind. Als bekennender Sportenthusiast möchte ich mich mit diesen Sportnachrichten in der Jugend beschäftigen und zeigen, wie sich die Sportberichterstattung im Laufe der Zeit in der Zeitschrift verändert hat. Sowohl die Aufbereitung und Darstellung dieser Nachrichten als auch die daraus resultierende Wirkung spielen dabei eine Rolle. Es scheint auch die Frage von Interesse, welchem Umstand es zu verdanken ist, dass in einer Kultur- und Literaturzeitschrift überhaupt eine Sportberichterstattung stattfand.

Die Jugend

Die 1896 gegründete Zeitschrift „Jugend – Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben“ setzte sich kein geringeres Ziel als das gesamte Spektrum zwischen Kunst und Leben abzudecken. Die Zielgruppe war das an Kunst, Literatur und Kultur interessierte liberale Bürgertum im Deutschen Reich. Mit dem Programm der Programmlosigkeit sollte alles von Interesse besprochen werden und somit rückte gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhundert zunehmend der Sport und ganz speziell der Fußball in den Mittelpunkt. 1940 wurde die Zeitschrift eingestellt.

Schon in der ersten Ausgabe der Jugend findet sich der erste Sportbericht, der die Stel­lung des Sports und die Ernsthaftigkeit, mit der die Herausgeber ihr „Programm“ und ihre Ziele für die Zeitschrift verfolgten, verdeutlicht. Der Sport und die Sportberichterstattung spielten in den meisten anderen literarischen Zeitschriften keine oder nur eine unterge­ordnete Rolle. Anders in der Jugend, weshalb meine Beobachtungen schon in den frühen Jahren dieser Zeitschrift, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ansetzen. In Bezug auf das Themengebiet Fußball, der sich zu Beginn des Jahrhunderts als Sportart in Deutschland etablierte, erscheint es sinnvoll, hierbei insbesondere die zwanziger Jahre intensiver zu betrachten. Die Fußballbewegung ist für eine Untersuchung der Sportberichterstattung besonders ergiebig, da anhand dieses Beispiels in besonderem Maße deutlich wird, welche Diskrepanz sich zwischen den eigentlichen Ansprüchen und inhaltlichen Maximen der Kultur- und Literaturzeitschrift auf der einen Seite und den intellektuell eher anspruchslos wirkenden Ereignissen und Berichten über körperliche Ertüchtigungen auf der anderen Seite eröffnet.

Die geistige und die körperliche Entwicklung stehen sich hier auf interessante Weise gegenüber. Darüber hinaus gewann der Fußball genau in jener Zeit gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland zunehmend an Popularität und entwickelte sich zu einem Volkssport, der heute der beliebteste im Land ist.

“Sport ist Mord”

Der Sport genoss aber nicht immer einen positive Wertschätzung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts existierten viele Turnvereine, welche die körperlichen, konditionellen und ko­ordinativen Fähigkeiten schulen sollten und den Menschen gleichsam die Möglichkeit bot, sich in Gruppen und Vereinen zusammenzuschließen. In dieser Zeit erwuchs je­doch auch eine große Rivalität zwischen den Turnvereinen und anderen existierenden Sportarten. Besonders jene, die aus dem Ausland nach Deutschland kamen, wurden ei­nerseits argwöhnisch beäugt, andererseits jedoch auch zunehmend beliebter. Hier sind vor allem die Sportarten Tennis, Golf und Fußball zu nennen, die auch neue soziale Ziel­gruppen ansprachen. Sowohl Golf als auch Tennis galten als vornehmere Sportarten und stellten damit einen Gegensatz zu den Turnvereinen dar. Gino von Finetti nimmt diesen sozialen Aspekt in seiner Zeichnung „Sportprotz“ auf, die 1903 in der Jugend ver­öffentlicht wird. Auf dem Bild sind zwei Sportler in sporttypischer Tracht zu sehen, die drei kräftige Turner in Aktion beäugen und feststellen: „Ein schöner, gesunder Sport, das Turnen; schade daß es so billig ist.“ (1903, Heft 48).

Neben Aspekten wie der Rivalität zwischen den verschiedenen Sportarten oder der Öffnung für weitere gesellschaftliche Schichten, wird in der damaligen Gesellschaft selbst die grundsätzliche Idee des Sports und der körperlichen Ertüchtigung in Frage gestellt. Die Idee, dass Kinder und Jugendliche am heiligen Sonntag Sport treiben, um ihre Körper zu stählen, wurde von vielen Seiten nicht gut geheißen und sogar als Torheit beschimpft. In „Sport ist Mord“ (1909, Heft 2) beschreibt der Autor Frido genau diese Situation. Er schildert darin, wie der Domkapitular von Mainz – der ganz nebenbei auch ein öffentlicher Gegner der Jugend war – den Sport und alle körperliche Ertüchtigung als verbrecherische Torheit geißelt. Der Herr nähme sich seiner Meinung nach nämlich nur den Kranken und Siechenden an, diese seien dem Himmelreich näher. Die Gesunden aber, und damit unter anderem auch jene, die sich sportlich betätigen, seien Knechte des Satans. Denn je stärker der Körper, desto mehr gebe er sich den fleischlichen Lüsten hin.

Diese ironische Zusammenfassung der Jugend stellt eine Positionierung auf der Seite des Sports dar. Dies darf aber nicht exemplarisch gesehen werden. Hier lieferte der kirchliche Gegner der Zeitschrift lediglich eine Steilvorlage, die mustergültig verwertet wurde. Doch an anderer Stelle wird immer wieder auch die Skepsis der Redaktion gegenüber der neuerlichen Bewegung deutlich. Besonders die Berichterstattung über den Fußball vollzieht sich überwiegend in bildlichen Darstellungen oder satirischer Lyrik, die weniger der Werbung für diesen Sport, als einer Charakterisierung als unnützer und gewalttätiger Zeitvertreib dient („Ein Kick daneben“ 1902, Heft 26).

O wonnevolles Fußballspiel!

Der erstmals 1874 nach Deutschland gebrachte Fußball breitete sich zuerst vorwiegend in bürgerlichen Kreisen aus und galt als Modesportart des Bürgertums. Viele Arbeiter ver­fügten anfangs weder über genügend Freizeit, noch über die finanziellen Mittel für die nöti­ge Ausrüstung. Erst in der Weimarer Republik erreichte der Fußball auch die Arbeiter­schichten und wurde damit zum Massenphänomen. Der Autor Bohemund beschreibt das Phänomen Fußball im Jahr 1900 in seinem Artikel „Die Fußballschlacht in Ofen-Pest“ sehr passend.

Nach einer kurzen Berichterstattung eines Spiels zwischen einer ungarischen und einer tschechischen Mannschaft, fasst er seine Einstellung zum Fußballsport noch einmal zusammen und stellt in seinem Gedicht fest: „Dass Fußballspiele häufig nicht/ Die Geisteskraft vermehren.“ Zwar stellt er jedem frei, sich an diesem Sport zu erfreuen, be­tont aber, dass es sich dabei nur um ein Spiel handelt. Der Autor bringt kein Verständnis dafür auf, dass die Männer nach einer Niederlage in Trauer versinken. Bei einem Spiel zu verlieren sei nicht schlimm, nur wer sich für eine Niederlage schäme, solle sich wirklich schämen (1900, Heft 19). Schon zu diesem frühen Zeitpunkt in der Geschichte des deutschen Fußballs wird deutlich, welchen Stellenwert die Sportart besitzt, aber auch welche Auffassung darüber in Teilen der Gesellschaft und in der Redaktion der Jugend vorherrscht.

Einerseits ist Fußball lediglich ein Spiel, andererseits wird die geistige Entwicklung durch den Sport in Frage gestellt. Diese kritische Stimme der Jugend wird auch in den folgenden Jahren nicht verstummen. Im Jahr 1936, als Fußball schon zahlreiche Anhänger hinter sich versammelt hat und in unzähligen Vereinen gespielt wird, stellt die Zeitschrift das Buch „Die Mannschaft. Roman eines Sportlebens“ von Friedrich Torberg vor (1936, Heft 3).

Der Rezensent Arnold Weiß-Rüthel findet zwar einige positive Worte für das Buch, jedoch fällt es ihm gleichzeitig schwer, ein objektives Urteil zu fällen, da er selbst kein großes Interesse an Fußball hegt und deshalb Probleme hat, die Thematik in einen künstlerisch-literarischen Kontext zu überführen. Sein Unverständnis dem Sport gegenüber wird in der Passage deutlich, welche die Bezahlung der Sportler im Vergleich zu Künstlern thematisiert. Er stellt hier eine Divergenz heraus, die ihm nicht verständlich werden möchte, was bei einem Sportgegner auch nicht verwundert. Er sieht den Sport als etwas Banales, Dreckiges und Barbarisches, fernab der Zivilisation. Der Kulturmensch, der um das „Wunder der Hygiene“ und weiterer zivilisatorischer Errungenschaften weiß, muss bei der Begeisterung um den Sport feststellen, wie schlecht es um die geistige Entwicklung bestellt ist.

Am härtesten trifft Weiß-Rüthel, dass „wertvollere“, kunstschaffende Menschen darben müssen. Deshalb kann er sich auch den Seitenhieb zum Ende der Rezension nicht verkneifen, in dem er zusammenfasst,, dass ein Kulturmensch mit diesem Buch nicht viel anfangen könne. “Wer sich dafür interessiert, wie es auf Sport- und der gleiche Tummelplätzen zugeht, wird das Buch mit Vergnügen lesen. Soll er!” (Weiß-Rüthel, Die Mannschaft, 1936, Heft 3, S. 47)

Hier eröffnen sich gleich mehrere interessante Perspektiven und Fragen. Auf der einen Seite wird die Verbindung zwischen Sport und Literatur verdeutlicht, die nicht vereinbar erscheint. Bizeps trifft auf geistige Entwicklung, die eine Zeitschrift wie die Jugend vertreten möchte. Auf der anderen Seite hat sich die Zeitschrift das Ziel gesetzt, eine thematische Universalität zu bieten, zu der auch der Sport gehört, besonders vertreten durch den ständig an Beliebtheit gewinnenden Fußball.

Durch die mit der Zeit wachsende Bedeutung des Fußballs in Deutschland verändert sich aber auch die Berichterstattung. Zwar wandelt sich die Grundhaltung der Zeitschrift gegenüber dem Sport nicht, aber immerhin würdigt die Jugend seinen Zuwachs an Anhängern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glich die Berichterstattung über Fußball einem Spiel auf Leben und Tod. Die körperliche Ertüchtigung war ein Nebeneffekt, den die meisten Spieler mit dem Leben bezahlen mussten („Was der Sportberichterstatter schreibt:“ 1903, Heft 8). Das Fußballspiel wurde in Zeichnungen dargestellt, auf denen sich die Spieler gegenseitig traten, unterschrieben mit einem oder zwei Sätzen. Oder aber, wie in dem Beispiel der Fußballschlacht in Ofen-Pest, in Form eines satirischen Gedichts. Die wachsende Begeisterung für den Fußball wurde in der Jugend ab 1913 wieder regelmäßig aufgenommen. Auch dann überwogen noch immer die Zeichnungen von martialischen Fußballkämpfen, doch gesellten sich wegen des wachsenden Interesses der Leser an diesem Sport vermehrt auch Spielberichte hinzu.

Auch auf politischer Ebene entstanden sinnbildliche Parallelen zum Fußballspiel. Die Kampfbereitschaft im Spiel bekam nun eine nationalistische Note, die im Einklang mit der politischen Gesinnung der Gesellschaft vor und während des 1. Weltkrieg stand. Nach dem Krieg und dem Versailler Vertrag veränderte sich nochmals die politische Bedeutung des Spiels. In­ternationale Konflikte konnten durch den Fußball verschärft oder abgemildert werden, wie in dem Gedicht „Schwarz-Weiß-Turnier“ (1922, Heft 10). Hier vertrat 1922 die Mannschaft aus der Schwarzwaldstadt Villingen die deutsche Ehre und den deutschen Ruhm, als sie gegen eine französische Auswahl spielte. Fußball wurde hier als Ventil der außenpolitischen Unterdrückung gesehen, die nach dem Ende des ersten Weltkriegs vorherrschte. Gleichzeitig hatte das Spiel den Charakter eines internationalen Länderspiels zwischen Deutschland und Frankreich. Fußball war in diesem Fall sowohl Sport als auch ein Instrument, um seinem Gegner eine Niederlage zuzufügen. Als bildliche Darstellung hiervon kann die Zeichnung „Fair Play“ von Erich Wilke dienen (1928, Heft 26).

Der vollständige Durchbruch des Fußballs in der kultur- und literaturinteressierten Gesell­schaft gelang schließlich im Jahr 1935, als die „Fußballspieler“ das Titelblatt der Jugend schmückten (1935, Heft 23).

Zusammenfassend waren die Sportnachrichten in der Jugend die ersten Berichterstattun­gen, die eine breite sportliche Vielfalt boten. Gleichwohl können sie nicht mit der heutigen Sportberichterstattung verglichen werden. Die Jugend, die sich eine Universalität zum Programm gemacht hatte und keine Themen oder Genres ausschließen wollte, sah sich gezwungen, sich auf künstlerische und literarische Art und Weise dem entfernten Gebiet des Sports anzunähern.

Einhergehend mit diesem Versprechen der Universalität konnte sich die Zeitschrift der wachsenden Popularität der Sportarten nicht verschließen und ver­suchte, in ihrem Rahmen und ohne ihre eigenen Prinzipien zu verraten, die Forderungen der Leser zu erfüllen. Am Beispiel des Fußballs lässt sich das Vorgehen gut veranschaulichen. Der Fußball erlebte, parallel zu der Jugend, einen beachtlichen Entwicklungssprung, der dem Leser nicht vorenthalten werden sollte und konnte. In Zeichnungen und satirischen Gedichten sollten die wichtigsten Ereignisse literarisch aufgearbeitet werden, um den Sport mit dem eigenen Programm der Zeitschrift in Einklang zu bringen.

Für die Redaktion war Fußball jedoch ein kämpferischer und unnötiger Zeitvertreib, der nicht mit dem eigenen geistigen Niveau zu vergleichen war, welches auch für die Leserschaft der Zeitschrift vorausgesetzt wurde. Deutlich – und das sollte sich über die Jahre auch nicht ändern – verfestigt sich das ambivalente Verhältnis der Zeitschrift zum Fußballsport. Angefangen mit dem „Fluch“ des eigenen Programms, alle Themen abdecken zu müssen, erkannte die Zeitschrift den Fußball zu Beginn nur als sinnfreien Zeitvertreib, dessen Spieler nach einer kämpferischen Niederlage trauern. Mit wachsender Popularität aber schenkt sie ihm die gebührende Anerkennung, ohne ihre grundsätzliche Einstellung zu verändern. Beispielhaft ist hierfür die Zeichnung „Zwei Minuten Schweigen“ von Friedrich Heuber. Hier versammelt, für das große Länderspiel, halten Vertreter aller sozialen Schichten inne, um gemeinsam die Hymne zu hören. Jung und Alt, Groß und Klein, Arm und Reich, Männer und Frauen sind hier vertreten. Der Fußball wird hier als gemeinschafts- und identifikationsstiftendes Element ohne ironischen Unterton gewürdigt (1930, Heft 23).

Es ist diese Gleichheit vor dem Fußball, die damals und heute die Massen fasziniert. Auch zum Schluss gelingt es der Jugend, den Fußball als Thema für eine literarische Verarbeitung zu sehen. Es soll keine bloße Vermittlung von Informationen über sportliche Ereignisse sein, sondern die Annäherung an ein entferntes Themengebiet auf einem literarischen und geistig anspruchsvollen Weg.

 


Autoreninfo: Simeon Boveland hat Geschichte und Germanistik in Freiburg studiert und sich im Rahmen seines Studiums auch mit den Anfängen der Sportberichterstattung auseinandergesetzt. Simeon schreibt auch auf traditionell zweitklassig. Zusammen mit Christoph Mack verfolgt er dort das ambitionierte Ziel dem Hamburger SV und VfB Stuttgart literarisch gerecht zu werden.

Bildnachweis: die Auszüge aus der Zeitschrift Die Jugend werden an dieser Stelle nur digital veröffentlicht und stammen zum Großteil aus den auf http://www.jugend-wochenschrift.de/ gemeinfrei veröffentlichten Ausgaben.

 

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Die 60 wichtigsten Episoden der deutschen Fußballgeschichte, Teil 3 https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-3/ https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-3/#respond Wed, 30 Oct 2019 08:00:22 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6590 Weiterlesen]]> Fußball wird seit etwa 150 Jahren in Deutschland gespielt, das heißt, in den Grenzen des damaligen Kaiserreiches. Zunächst waren es vor allem englische Händler, Studierende und Touristen, die das ihnen vertraute Spiel aus der Heimat auch hier gemeinsam spielten. Dort war die reglementierte Fassung des Spiels seit einem halben Jahrhundert bekannt. Diese Serie beschreibt die 60 wichtigsten Momente des Fußballspiels in Deutschland. Im dritten Teil geht es um die Jahre 1938 bis 1968.

von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de) unter Mitarbeit der 120minuten-Redaktion | Oktober 2019

1938
Annexion von Österreich und die Weltmeisterschaft

Im Vorfeld der Abstimmung zur Annexion Österreichs an Deutschland fand am 15. März 1938 in Wien ein Freundschaftsspiel zwischen beiden Ländern statt. Es sollte einen einenden Charakter vermitteln und deswegen mit einem Remis enden. Doch der österreichische Kapitän Matthias Sindelar widerstand dem politischen Druck, ließ sein Team in den österreichischen Farben auflaufen und führte es zum 2:0-Sieg. Sindelar selbst erzielte den ersten Treffer und jubelte demonstrativ vor der Ehrentribüne.

Wenige Monate später spielten österreichische Spieler für Deutschland bei der WM in Frankreich. Das Team scheiterte bereits in der ersten Runde an der Schweiz. In der Nachbetrachtung sah Nationaltrainer Sepp Herberger den Grund für das frühe Ausscheiden in der „Wiener Melange“ des Teams, das aus seiner Sicht lediglich einen „preußischen Einschlag“ gehabt hatte.

1949/1950
Wiedergründung des DFB und Aufnahme in die FIFA

Während des 2. Weltkrieges konnte man bis 1944 den Spielbetrieb in den Ligen aufrechterhalten, wenn auch mit starker Wettbewerbsverzerrung. Denn um zu verdeutlichen, dass niemand bevorzugt behandelt wird, wurden 1939 bewusst Nationalspieler eingezogen. Die Lücken wurden durch Jugendspieler und ehemalige Spieler geschlossen, das Leistungsgefälle war teils eklatant. Nach 1945 wurde Vereinsfußball von den Besatzungsbehörden bereits ab dem Jahresende nach und nach wieder genehmigt. Die Sportbeziehungen zwischen FIFA und Deutschland wurde aber zunächst im November 1945 abgebrochen. Der DFB war bereits seit 1940 aufgelöst. Im Juli 1949 fiel der Entschluss, den DFB wieder zu gründen. Die offizielle Wiedergründung fand am 21. Januar 1950 statt. Bereits wenige Monate später hatte der DFB weit über eine Million Mitglieder.

Nicht zum DFB gehörten das noch bis 1955 französisch besetzte Saarland, das mit dem Saarländischen Fußballverband einen eigenen Verband gründete, sowie der sowjetisch besetzte Teil (die spätere DDR), für den sich im Juli 1950 der Deutsche Fußball-Verband gründete. Acht Monate nach der offiziellen DFB-Wiedergründung wurde der Verband erneut Teil der FIFA und bestritt am 22. November 1950 sein erstes Länderspiel nach Ende des 2. Weltkriegs gegen die Schweiz. Deren Verband hatte zuvor die Wiederaufnahme des DFB in der FIFA beantragt.

1954
Die Nationalmannschaft der Herren wird erstmals Weltmeister

Über Jahrzehnte hinweg wurde der Sieg der deutschen Elf im Finale von Bern überhöht als das „Wunder von Bern“ bezeichnet. Das ist natürlich Quatsch. Deutschland hat einen Treffer mehr erzielt als der Favorit Ungarn – und das, obwohl es gar nicht so aussah, denn nach acht Minuten führte Ungarn bereits 2:0; nach 20 stand es 2:2.

Trotzdem wohnt dieser WM von 1954 ein gewisser Zauber inne: Es war die erste Teilnahme Deutschlands bei einer WM nach 1938, dazwischen lagen der Krieg, Leid und vor allem der Holocaust. Deutschland war besiegt und moralisch diskreditiert.

Dass die Mannschaft ins Finale kam, war schon außergewöhnlich. In der Vorrunde gab es eine 8:3-Klatsche gegen eben jene Ungarn, die nun im Finale standen. Was folgte war ein Spiel zweier Mannschaften auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Ungarn überzeugte durch technische Finesse, Deutschland durch Willen. Als es nach 80 Minuten immer noch 2:2 stand, vermuteten die meisten Zuschauer bereits, dass es ein Wiederholungsspiel geben würde. Dazu kam es nicht, denn in der 85. Minute schoss Helmut Rahn das 3:2. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

„Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern, keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder [. . . ] Schäfer nach innen geflankt . . . Kopfball . . . abgewehrt . . . aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen . . . Rahn schießt . . . Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tor für Deutschland!“ [. . . ] „Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit 3:2 Toren im Finale in Bern.“

Der Sieg wie auch der Radiokommentar von Herbert Zimmermann: einzigartig.

1955
Frauenfußball wird innerhalb des DFB verboten

Am 30. Juni 1955 beschloss der DFB auf seinem Verbandstag, Frauenfußball in den eigenen Reihen zu verbieten. Fanden dennoch Spiele bei im DFB organisierten Vereinen statt, wurden Spielfeld und Zuschauerränge zwangsweise geräumt. Konkret wurde den Vereinen verboten, Frauenfußballabteilungen zu führen oder zu gründen sowie eigene Plätze für Frauenfußball zur Verfügung zu stellen oder Frauenteams auf vorhandenen Plätzen trainieren und spielen zu lassen. Zudem war es Schiedsrichtern und ihren Assistenten verboten, Fußballspiele von Frauen zu leiten.

Begründet wurde das Verbot vorrangig mit vermeintlichen gesundheitlichen Folgen für die Frau sowie das Ansehen der Damen, das durch diese Bewegungen leide, auch, weil eine Frau nicht kämpfen könne. So bezeichnete der DFB das Fußballspiel von Frauen als „Zurschaustellen des Körpers“ und verbreitete beispielsweise, dass es sich negativ auf die Gebärfähigkeit der Frauen, auf die Seele und die „weibliche Anmut“ auswirken würde.

1955
Ein Länderspiel macht Bonn nervös

Am 21. August 1955 bestritt der DFB eines der brisantesten Länderspiele seiner Geschichte: Die Weltmeister-Elf spielte in Moskau: Im (eis)Kalten Krieg und noch vor Adenauers legendärer Reise in die sowjetische Hauptstadt, die 18 Tage später begann und die die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen ergab. Die UdSSR hatte zunächst den DFB eingeladen und als dieser sich von der unerwarteten Offerte überrumpeln ließ, lud sie den Bundeskanzler ein.

Adenauer war von der Länderspielreise nicht begeistert. Schon der innerdeutsche Sportverkehr fand unter systempolitischen Vorzeichen statt, wie sollte es dann erst in Moskau sein? Bonn und der Deutsche Sportbund befürchteten eine große Propagandaveranstaltung, die Adenauers Reise beeinflussen würde. Zudem machte es Bonn nervös, dass Bundesbürger aus der DDR Einladungen zum Länderspiel erreichten, dass diese gemeinsam mit Ostdeutschen in einem Zug nach Moskau fahren sollten, und dass westdeutsche Medien in Moskau der sowjetischen Agitation auf den Leim gehen würden. Folglich durfte sich der DFB-Präsident vom Außenminister anhören, wie der DFB-Tross in Moskau auftreten solle. Teile der (Sport)Presse wurden instruiert, die Verhältnisse in der Sowjetunion kritisch zu hinterfragen.

Letztlich waren die Sorgen unbegründet. Natürlich präsentierte sich Moskau gegenüber Spielern, Fans und Journalisten herausragend. Der DFB-Auswahl unterlief auf und abseits des Platzes kein Fauxpas. Auch die packende 2:3-Niederlage war aller Ehren wert. West- und ostdeutsche Fans interessierten sich primär für den Fußball und weniger für politische Sonntagsreden. Für Moskau war der Auftritt des Weltmeisters letztlich in zweierlei Hinsicht wichtig: Erstens, um sportlich zu zeigen, dass die Sbornaja Weltklasse verkörperte. Zweitens, um die eigene Bevölkerung über den Fußball auf die bevorstehende politische Annäherung an den ehemaligen Kriegsfeind vorzubereiten.

1956 bis 1958
Gründung von Frauenfußballverbänden und erste inoffizielle Länderspiele

Zwar hielten sich die Vereine im DFB ans Verbot ihres Verbandes in Sachen Frauenfußball, nicht verhindern konnte man aber die Gründung eigener regionaler Vereine. Zudem gründeten sich zwei Frauenfußballverbände, nämlich 1956 der Westdeutsche Damen-Fußballverband durch Willi Ruppert und 1957 die Deutsche Damen-Fußball-Vereinigung durch Josef Floritz. Beide stellten eine eigene Frauenfußballauswahl als Nationalmannschaft und spielten zusammen zwischen 1956 und 1965 circa 220 Länderspiele. Diese fanden vor allem gegen England, die Niederlande und Österreich statt, deren Frauennationalmannschaft auf dem gleichen guten Niveau wie die deutsche spielten.

Das erste dieser Länderspiele organisierte der Westdeutsche Damen Fußballverband für den 23. September 1956. Es fand im privaten Stadion der Mathias-Stinnes-Zeche in Essen statt – nach FIFA-Regeln, aber mit gekürzter Spielzeit. Vor 17.000 Zuschauer*innen gewannen die Spielerinnen, die alle aus dem Ruhrgebiet und dessen direkter Umgebung kamen und sich zum Teil kurz vor dem Spiel zum ersten Mal sahen, gegen die Niederländerinnen mit 2:1.

1957 wurde in Nürnberg auch das Gegenstück zur FIFA gegründet: die International Ladies Football Association (ILFA). Sie fasste Frauenfußballverbände aus England, Österreich, den Niederlanden und Deutschland zusammen und hatte ihren Sitz in Luxemburg.

Kaufmann Willi Ruppert wurde im August 1957 wegen Unregelmäßigkeiten in der Kasse des Westdeutschen Damen-Fußballverbandes als Vorsitzender entlassen. Er gründete kurz darauf einen neuen Frauenverband, den Deutschen Deutschen-Fußball-Bund, und organisierte mit Gert Bernarts eine Frauen-EM, an der die Mitglieder der ILFA teilnahmen. Doch nur ein Fünftel der vorab geschätzten Zuschauer*innen besuchte die Spiele am 2. und 3. November 1957 in Berlin, Hotelrechnungen der Spielerinnen konnten nicht bezahlt werden. Gegen die beiden Verantwortlichen wurde wegen dringendem Betrugsverdacht Haftbefehle erlassen.

Die EM-Spiele der deutschen Frauen waren weder spielerisch gut noch erfolgreich. Dennoch wurde überwiegend positiv über die Leistung der Spielerinnen berichtet und gefordert, der DFB solle sein Verbot aufheben und Frauenfußballteams als Mitglieder aufnehmen. Doch der dachte nicht daran und drohte der Stadt Berlin, dass kein wichtiges Männerfußballspiel mehr dort stattfinden würde, sollte man Frauenfußball weiterhin dulden. Dabei war es für den DFB nicht relevant, ob die Spiele auf Plätzen von Mitgliedern stattfanden oder nicht, er wollte Druck ausüben. Bereits ein Jahr zuvor hatte er die Stadt Frankfurt am Main auf die gleiche Weise versucht, einzuschüchtern. Doch Frankfurt wie Berlin boten dem DFB die Stirn und ließen weiterhin Frauen Fußball spielen. Tatsächliche Konsequenzen gab es wohl keine.

1963
Die Gründung der Bundesliga der Herren als Profiliga

Nach dem WM-Sieg 1954 gab es in Deutschland nur für kurze Zeit einen Fußballboom, bevor der Sport wieder stark an Bedeutung verlor. Denn die guten Fußballspieler blieben nicht, sondern wechselten in ausländische Profiligen, wo sie mit Fußball ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Nicht zuletzt deshalb wurde auf dem DFB-Bundestag 1962 beschlossen, auch in Deutschland mit der Bundesliga eine Liga für professionellen Fußball zu etablieren und Lizenzspieler einzuführen, die ein wesentlich höheres Gehalt als Amateurspieler und Vertragsspieler erhalten durften.

In der ersten Bundesligasaison 1963/64 gab es allerdings nur 34 Lizenzspieler, da der DFB mehr aus Not denn Überzeugung handelte und mit Restriktionen den Professionalismus und die Kommerzialisierung einzudämmen versuchte. So brauchten die Spieler einen guten Leumund, um ihren guten Lebenswandel zu bezeugen, durften nicht für ein Produkt werben und ihre monatlichen Gesamtbezüge durften 1.200 DM nicht überschreiten (das entspricht heute vergleichsweise einer Summe von rund 2600 Euro). Damit konnte man auch weiterhin nur mäßig vom Fußball leben. Für den DFB hingegen rechnete sich die Einführung der Bundesliga durchaus dank Gebühren für die TV-Übertragungen, Werbeeinnahmen und Sponsorengeldern.

1966
Das Wunder von Glasgow

Die Bundesliga wurde 1962 wie beschrieben auch ins Leben gerufen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Fußballs zu verbessern. Dass dies bereits innerhalb weniger Jahre Früchte tragen würde, konnte niemand ahnen. Das Jahr 1966 steht stellvertretend für den Erfolg, nach dem der DFB sich so sehr sehnte.

Auf dem Papier war die Paarung Liverpool – Dortmund im Endspiel um den Europa-Cup der Pokalsieger eine klare Sache: die Briten waren der Favorit; nach 90 umkämpften Minuten stand es 1:1. Verlängerung. Hier kam der Moment des Reinhard „Stan“ Libuda: Mitspieler Siggi Held ist frei vor dem Tor, Liverpools Torhüter geht dazwischen und räumt Held ab. Der Ball springt zu Libuda, der Held gefolgt ist. Er nimmt die Kugel direkt. Diese wird lang und länger und landet schließlich am Pfosten, von wo er an den Körper eines Verteidigers fliegt und von dort wiederum abprallt und im Tor landet. 2:1 für Dortmund.

Libuda über diesen Moment:

„Siggi lief durch und ich mit. Ich sah, wie der Ball abprallte. Ich sah ihn kommen. Ich sah mit dem linken Auge das leere Tor, da habe ich abgezogen. Ich dachte mir, jetzt oder nie. Und wie der Ball in der Luft war, spürte ich: der geht rein.“

Dass die Mannen von Trainer Multhaup Geschichte geschrieben haben, wird den Spielern erst in der Heimat klar, als sie von Zehntausenden begeistert empfangen werden.

1966
Das Wembley-Tor

Die Weltmeisterschaft von 1966 wurde nach England vergeben, um das 100-jährige Jubiläum der FA gebührend zu begehen. Selbstverständlich sollte diese Party mit einem Sieg Englands, dem Mutterland des modernen Fußballs, enden. Bevor die Party losgehen konnte, musste allerdings Deutschland bezwungen werden. Dazu bedurfte es der Hilfe eines Schweizer Schiedsrichters und Linienrichters aus Baku.

Das Finale einer WM ist der Höhepunkt eines Turniers und 1966 wurde diesen Ansprüchen gerecht. Es sollte eines der Spiele werden, über die auch Jahrzehnte später noch gesprochen werden würde. Zunächst sah es so aus, als wollte Deutschland die Party vermasseln, denn in der 12. Minute erzielte Haller das 1:0. Nur sechs Minuten später glich Geoff Hurst aus. England dominierte die zweite Hälfte, konnte aber erst in der 78. Minute das 2:1 durch Martin Peters bejubeln. Alles vorbei für Deutschland? Nein, in der 90. glich Wolfgang Weber erneut aus, erzwang so die Verlängerung und ebnete ungewollt den Weg für eine Debatte, die sich bis in die 1990er-Jahre zog.

In der 109. Minute traf Geoff Hurst nach einem Drehschuss die Latte, der Ball flog auf den Boden. Hatte er die Linie überquert? Roger Hunt, der dem „Tatort“ am nächsten stehende Engländer, riss sofort die Arme zum Jubel hoch. Weber köpfte den Ball über das Tor zur Ecke. Der Schiedsrichter, Gottfried Dienst, musste sich mit seinem Assistenten Tofik Bairamov kurz beraten und entschied auf Tor. Niemand weiß, was beide Männer einander in diesen Sekunden mitteilten. Am Ende stand das Tor und England führte 3:2. Der TV-Kommentator Rudi Michels urteilte sachlich nüchtern: „Das wird wieder Diskussionen geben.“ Wie Recht er damit hatte!

Hurst setzte noch einen drauf und erzielte in der 120. Minute, als bereits euphorische Fans auf das Spielfeld liefen, das 4:2. Es folgte pure Freude für England:

„Some people are on the pitch … they think it is all over. It is now! It’s four!“

Kenneth Wolstenholme, BBC TV Kommentator

1968
Gründung der ersten Frauenfußballmannschaft in der DDR

In der DDR spielten Frauen seit dem Ende der 1950er Jahre Fußball, jedoch nicht in Vereinen. Wie in der Bundesrepublik Deutschland waren auch hier die Funktionäre skeptisch oder ablehnend, wenn es um die Frage ging, ob Frauen Fußball spielen konnten und sollten.

1968 wurde im Verein BSG Empor Dresden-Mitte eine Frauenmannschaft gegründet, die nach anfänglichem Argwohn die Spielberechtigung erhielt. Es folgten weitere Gründungen von Frauenmannschaften noch im gleichen Jahr. So viele, dass der Fußballverband der DDR ebenfalls 1968 Wettbewerbe für Frauenfußballmannschaften lancierte – zunächst aber nur regionale Wettbewerbe auf Bezirksebene. Ein Verbot wie in der BRD gab es in der DDR also nicht.

 

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Anmerkung: Die Texte „Die Nationalmannschaft der Herren wird erstmals Weltmeister“, „Das Wunder von Glasgow“ und „Das Wembley-Tor“ stammen aus der Feder von 120-minuten-Redaktionsmitglied Christoph Wagner, der Text „Ein Länderspiel macht Bonn nervös“ wurde verfasst von Matthias Kneifl (Kickschuh.Blog).

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eSport – eine Möglichkeit, den Nachwuchsmangel im Amateurfußball zu bekämpfen? https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/ https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/#respond Fri, 18 Oct 2019 07:00:26 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6593 Weiterlesen]]> eSport sorgt in Deutschland aktuell für Diskussionsstoff: Soll das Zocken von Spielen wie FIFA 2019, League of Legends oder Counter Strike an der Konsole als Sport anerkannt werden? Während Wissenschaft, Politik und Verbände um eine Antwort auf diese Frage ringen, fangen an der Basis viele Fußballvereine an, eigene Erfahrungen mit dem Trend eSport zu machen. Sie hoffen, sich durch Gaming-Angebote für junge Menschen wieder attraktiver zu machen – denn in den letzten Jahren ging es mit dem Fußballnachwuchs stetig zurück.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Von Tim Frohwein

Der Amateurfußball hat Nachwuchssorgen. Nahmen laut DFB-Statistik im Jahr 2015 von der G- bis hoch zur A-Jugend noch 91.961 Juniorenmannschaften am verbandsmäßig organisierten Spielbetrieb teil, waren es 2019 nur noch 84.076. Das entspricht einem Rückgang von knapp neun Prozent binnen vier Jahren. Im Mädchenfußball ist die Situation noch dramatischer: Zwischen 2015 und 2019 sank die Zahl der gemeldeten Mannschaften mit Spielerinnen bis zu einer Altersgrenze von 16 Jahren von 6.702 um rund 28 Prozent auf 4.842.

Die populäre These, dass die Nachwuchsprobleme mit dem demografischen Wandel zu erklären sind – also damit, dass aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge schlichtweg immer weniger Jugendliche nachkommen – ist allerdings nicht haltbar: Wie Andreas Groll von der TU Dortmund in einer Analyse am Beispiel des Bundeslandes Bayern zeigen konnte, nahm dort die Zahl der männlichen Jugendfußballer zwischen 2014 und 2018 in allen Altersklassen kontinuierlich ab – bei zumeist im Vergleich deutlich weniger stark sinkenden, manchmal sogar steigenden Bevölkerungszahlen in den jeweiligen Alterskategorien.¹ Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Im bayerischen Fußballkreis Erlangen/Pegnitzgrund waren in der Saison 2014/15 im F-Jugendbereich noch 1.724 Spieler aktiv, vier Jahre später waren es nur noch 1.254. Das entspricht einem Rückgang von rund 27 Prozent. Parallel zu dieser Entwicklung veränderte sich im Fußballkreis die Anzahl der Jungen, die für die F-Jugend spielberechtigt wären: sie stieg um rund drei Prozent.

Der demografische Wandel kann also nicht immer als Ursache für den Nachwuchsmangel in Betracht gezogen werden. Bei der Suche nach alternativen Erklärungen sind Vereine und Verbände bislang noch nicht weit gekommen. Sind es veränderte Wertevorstellungen der jüngeren Generation, auf die eine feste Bindung an einen Verein einfach zu freiheitsbeschränkend wirkt? Laufen dem Fußball andere Sportarten angesichts einer nie dagewesenen Vielfalt an Sportangeboten den Rang ab? Oder treiben die Teenager von heute einfach weniger realen und stattdessen mehr virtuellen Sport – sprich: spielen sie Fußball lieber an der Playstation als auf dem Rasen?

Der Bayerische Fußball-Verband (BFV) ist überzeugt, dass mit Hilfe von Gaming eine Trendwende geschafft werden kann – und fordert deshalb als einer der ersten Fußball-Regionalverbände in Deutschland seine Mitgliedsvereine dazu auf, entsprechende Angebote bereitzustellen: „Gaming ist fester Bestandteil der heutigen Jugendkultur – ein breit aufgestelltes Vereinsprogramm, das neben dem traditionellen Fußballtraining auch eFootball beinhaltet, ist dabei besonders attraktiv“, schreibt der Verband in einer kürzlich veröffentlichten Broschüre.

eFootball, also das Spielen der FIFA- oder der Pro Evolution Soccer-Reihe an der Playstation oder XBOX, sei jener Bereich des Gamings, für den sich Amateurfußballvereine öffnen sollten, findet der BFV. Von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends ist in der Broschüre nicht die Rede. Anscheinend orientiert sich der Verband hier an der Haltung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Dieser gab nach einer Mitgliederversammlung Ende 2018 bekannt, dass er als sportliche Dachorganisation darauf hinwirken werde, „dass keine eGaming-Aktivitäten in Vereinen angeboten werden, die dem anerkannten Wertekanon des DOSB-Sportsystems nicht entsprechen“ – was sich zum Beispiel auf Spiele wie Counterstrike oder League of Legends bezieht.

„Gaming“, „eGaming“ und „eSport“

„Gaming“ oder „eGaming“ und „eSport“ werden in der öffentlichen Diskussion oft synonym verwendet. Unter allen drei Begriffen werden dabei häufig sowohl das Spielen von Sportsimulationen (z.B. FIFA 2019, NBA 2K19) als auch von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends zusammengefasst. Der DOSB, der sich prinzipiell gegen eine Anerkennung des „eSport“ als Sport ausspricht, sieht in Sportsimulationen – also z.B. auch im „eFootball“ – für „Vereine und Verbände Potenzial für eine Weiterentwicklung“. Ego-Shooter wie Counterstrike oder Strategiespiele wie League of Legends dagegen gehören für Deutschlands Sportdachorganisation zum Bereich des „eGaming“. Diese Spiele passten aufgrund ihrer oft gewaltsamen Inhalte nicht zu dem, „was den gemeinwohlorientierten organisierten Sport prägt“. Dieser Haltung folgen bis jetzt auch der DFB und seine Landesverbände und empfehlen Vereinen aktuell nur, Sportsimulationen, am besten Fußballsimulationen, anzubieten.

In den Fußball-Oberhäusern ist eFootball ohnehin längst angekommen: 22 Vereine aus der 1. und 2. Bundesliga schicken mittlerweile Mannschaften bei der „Virtual Bundesliga“ (VBL) an den Start. Dort duellieren sich ihre Teams, die sich aus mehreren Einzelspielern zusammensetzen, zunächst in einem geschlossenen Ligensystem. Die besten Spieler aus den jeweiligen Kadern sowie einige Nachrücker aus einer Playoff-Runde qualifizieren sich schließlich für die Endrunde, in der der Deutsche Meister ermittelt wird. 2019 setzte sich Michael „Megabit“ Bittner vom SV Werder Bremen im Endspiel gegen seinen Teamkollegen Mohammed „MoAuba“ Harkous durch.

Auch Schalke 04 ist Teil der VBL. Die Gelsenkirchener unterhalten allerdings zudem ein eigenes League of Legends-Team. Hinter dem Phänomen eSport steckt ein riesiges Geschäft, das wissen die Profivereine. Da eFootball nur einen Teil dieses Geschäfts abdeckt, bleibt abzuwarten, ob sie weiterhin der Linie des DOSB folgen – oder sich wie der FC Schalke 04 auch anderen eSport-Bereichen öffnen.

An der Basis machen Amateurfußballvereine in der Zwischenzeit ihre eigenen Erfahrungen mit dem Phänomen eSport. In Bayern sind bereits zahlreiche Vereine dem Appell des BFV gefolgt: Sie nehmen an einem vom Verband organisierten eFootball-Wettbewerb teil. Im angrenzenden Baden-Württemberg ist man da noch nicht so weit. Aber auch hier probieren Vereine sich aus. Bei der SG Lobbach im Odenwald hat die B-Jugend beispielsweise vor einigen Monaten in der eigenen Sporthalle ein eFootball-Turnier auf die Beine gestellt: Auf acht in der Halle verteilten Großbildschirmen trugen 32 Zweier-Teams zeitgleich FIFA 2019-Duelle gegeneinander aus. Den Turniergewinnern winkten als Prämien Einkaufsgutscheine für Elektronik im Wert von bis zu 100 Euro.

Trainer Patrick Münkel hat die Initiative seiner Spieler unterstützt, schließlich kam über Startgelder und den Einnahmen aus dem Verkauf von Speisen und Getränken auch was für die Mannschaftskasse dabei heraus. Trotz dieses Erfolgs, eine eigene eSport-Abteilung wolle man bei der SG Lobbach auf keinen Fall aufmachen, sagt Münkel. „Damit würden wir uns doch ein Eigentor schießen: Statt die Jungs raus auf den grünen Rasen zu schicken, würden wir sie dazu animieren, sich in geschlossenen Räumen vor Bildschirme zu setzen.“ Ein Problem, dass der BFV so nicht sieht, er argumentiert, mit eSport würden bereits vorhandene Mitglieder an den Verein gebunden und neue für alle Sparten gewonnen.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Ähnlich sieht das Sebastian Pleier vom württembergischen VfL Herrenberg, wo man ein mittlerweile „ländleweit“ bekanntes eSport-Projekt aufgesetzt hat: „Wir wollen die Jugendlichen durch Gaming nicht vom Sporttreiben abhalten – ganz im Gegenteil: Für unsere eSportler haben wir einen eigenen Trainingsplan entwickelt. Auch eSportler müssen körperlich wie geistig fit sein, um gut spielen zu können.“ Ähnlich wie bei der Formel 1, wo die Protagonisten ihren Sport auch im Sitzen ausüben, dabei aber topfit sind.

Tatsächlich gibt es Studien, die die körperliche Belastung von Profi-eSportlern untersucht und interessante Ergebnisse zu Tage gefördert haben: Die Pulsfrequenz während der wettkampfmäßigen Auseinandersetzung an der Konsole entspricht mit 160 bis 180 Schlägen pro Minute etwa der eines sehr schnellen Laufs. Außerdem verfügen eSportler über eine sehr gute Hand-Auge-Koordination und ein extrem gutes Reaktionsvermögen.

„eSport an sich hat mit Sport nichts zu tun“, sagt trotz dieser Befunde der Sportsoziologe Andreas Hoffmann von der Universität Stuttgart, wo man sich seit einiger Zeit kritisch mit dem Phänomen eSport auseinandersetzt. In einem Vortrag auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball“ hat er Mitte des Jahres seine Perspektive klargemacht. „Beim eSport gibt es zwar mit der Bedienung des Controllers eine körperbezogene Handlung. Aber diese motorische Aktivität reicht nicht aus, um eSport als Sport zu definieren. Denn Sinn bekommt diese Handlung erst durch das virtuelle Geschehen auf dem Bildschirm. Wenn man hier also von einer Sportart spricht, müsste man sie Mausklicken nennen“, erklärte Hoffmann. Mit dieser Sichtweise ist er auf einer Linie mit 80 renommierten deutschen Sportwissenschaftler*innen, die Ende September eine Stellungnahme zum eSport veröffentlicht haben. Darin machen sie sich dafür stark, „dass wettkampfmäßige Video- und Computerspiele nicht als Sport(art) zu bezeichnen und anzuerkennen sind.“

Von einer Integration des eSports in das eigene Angebot rät Hoffmann Vereinen folglich ab – auch weil man sich damit Konkurrenz ins Haus hole: „Es besteht durchaus die Gefahr, dass Kinder, die schon im Verein Fußball spielen, zum eSport wechseln, wenn sie merken, dass sie dort schneller Erfolge erzielen können.“ Genauso ist es übrigens bei der SG Lobbach gekommen: Dort hat ein Spieler mit dem Fußballspielen aufgehört und sich stattdessen der professionellen eSport-Abteilung des SV Sandhausen angeschlossen.

Sebastian Pleier glaubt trotzdem an den Erfolg des Projekts „eSport“, das er beim VfL Herrenberg verantwortet: „Ein Nebeneinander von realem und virtuellem Sport ist möglich – und bisher klappt das bei uns auch sehr gut.“ Man werde das Projekt deswegen weiter vorantreiben, Turniere und Boot Camps organisieren. „Wir wollen da Vorreiter sein und anderen Vereinen zeigen, dass man sich durch ein eSport-Angebot als Verein für junge Leute attraktiv machen kann.“ Immerhin: Drei der aktuell vier eSportler des VfL waren zuvor bei einem anderen Verein gemeldet oder vereinslos.

Während Wissenschaft, Politik und Verbände noch darüber streiten, wie mit dem Thema eSport umgegangen werden soll, werden an der Basis also bereits Fakten geschaffen: Fußballvereine im ganzen Land experimentieren mit dem Phänomen – teilweise auf Anregung durch Verbände, teilweise ganz unabhängig davon. Bei rund 29 Millionen Menschen, die laut Jahresreport der deutschen Games-Branche 2018 regelmäßig – also mindestens mehrmals im Monat – digitale Spiele spielen, ist klar, dass Vereine den eSport nicht ignorieren können. Er besitzt zweifellos das Potenzial, junge Mitglieder an den Verein zu binden oder neue zu gewinnen. Genauso zweifellos ist aber, dass eine massenhafte Integration von eSport ins Vereinsleben unser Verständnis von Sporttreiben verändern wird – mit ungewisser Zukunft.


1 – Erste Ergebnisse der Analyse wurden am 10. Mai 2019 auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball – (Sozio-)Demografischer Wandel im Amateurfußball“ in Fürth vorgestellt. Die finale Analyse, die auch alternative Erklärungsansätze für den Nachwuchsrückgang im Amateurfußball ausführlich diskutiert, wird demnächst in einem Sammelband erscheinen. Für nähere Infos gerne eine Mail an tim@frohwein.de.

Autoreninfo: Tim Frohwein setzt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich und journalistisch mit dem Amateurfußball auseinander. Seit 2018 organisiert er die Veranstaltungsreihe „Mikrokosmos Amateurfußball“, die die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs stärker in den Mittelpunkt rücken will.

Disclaimer: Eine Kurzfassung dieses Artikels ist bei unserem Partner „Zeitspiel – Magazin für Fußballzeitgeschichte“ erschienen.

Wir bedanken uns beim VfL Herrenberg für die Bereitstellung des Bildmaterials.

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Frauen in Schaltzentralen des Fußballs: Allein unter Männern https://120minuten.github.io/frauen-in-schaltzentralen-des-fussballs-allein-unter-maennern/ https://120minuten.github.io/frauen-in-schaltzentralen-des-fussballs-allein-unter-maennern/#respond Thu, 05 Sep 2019 07:00:40 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6486 Weiterlesen]]> Noch nie wurde im Fußball so intensiv über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen diskutiert wie in diesem Sommer während der Weltmeisterschaft in Frankreich. Jenseits der Lohnungleichheit sind in den Führungsetagen und Trainerteams des Fußballs kaum Frauen vertreten. In etlichen Ländern fehlen sogar grundlegende Strukturen für Mädchen- und Frauenfußball. Wie kann der beliebteste Sport weiblicher und damit demokratischer werden? Teil 12 und Abschluss der Themenreihe „Fußball und Menschenrechte.“

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Karen Espelund hatte schlaflose Nächte. Sie entwickelte Ideen, Themen, neue Ansätze, aber oft stieß sie auf Widerstände. Vor mehr als dreißig Jahren war Espelund die erste Frau im Vorstand des norwegischen Fußballverbandes. „Ich wollte nicht das Maskottchen der Männer sein“, sagt sie. „Leider müssen Frauen in Gremien immer wieder ihre Kompetenz unter Beweis stellen. Man muss ziemlich hart arbeiten und besser vorbereitet sein.“ Espelund setzte sich durch, erzeugte Sichtbarkeit für Frauen in Führungsriegen. 1999 wurde sie Generalsekretärin des norwegischen Verbandes. Zwischen 2012 und 2016 saß sie im Exekutivkomitee der Uefa.

Doch noch immer ist Karen Espelund eine von wenigen Ausnahmen. Nur 3,7 Prozent der Führungspositionen im europäischen Spitzenfußball werden von Frauen besetzt, so eine Studie des internationalen Netzwerkes Fare, Football Against Racism in Europe aus dem Jahr 2014. In den Klubs der Bundesliga, im DFB und in der Deutschen Fußball-Liga sitzen knapp 250 Personen in Aufsichtsräten, Präsidien, Vorständen. Mehr als 95 Prozent: Männer.

Karen Espelund war mehr als 20 Jahre in einer Führungsposition beim norwegischen Fußballverband tätig, Foto: Ronny Blaschke

Karen Espelund profitierte Ende der 1980er Jahre von einer neuen Frauenquote im norwegischen Verband. Inzwischen müssen mindestens zwei Frauen im Vorstand sitzen. Aktuell sind es vier Männer und vier Frauen. „Ob bei der Rekrutierung von Mitarbeitern, bei Ausschreibungen oder Wahlperioden: Häufig suchen wir nach Personen, die uns ähnlich sind“, sagt Karen Espelund. „Eine Quote kann traditionelle Strukturen brechen. Alle Forschungen zeigen: Diversität führt zu den besten Ergebnissen in jeder Organisation.“

Nur eine Frau im DFB-Präsidium

Auch dank Karen Espelund ist der norwegische Verband in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit weiter als andere Organisationen der Fußballindustrie. Die ehemalige Spielerin Lise Klaveness ist für sämtliche Nationalteams verantwortlich. Nationalspielerinnen erhalten seit 2017 die gleichen Prämien wie ihre männlichen Kollegen. Und dennoch wird die Debatte weiter intensiv geführt, etwa durch Weltfußballerin Ada Hegerberg, die wegen der „jahrelangen Benachteiligung“ gegenüber männlichen Spielern nicht mehr für das norwegische Nationalteam spielen möchte. Besonders intensiv wird die Debatte von den Weltmeisterinnen aus den USA mit ihrer Kapitänin Megan Rapinoe geführt, aber in den meisten anderen Ländern findet eine solche Debatte gar nicht erst statt.

Es dauerte lange, bis andere Verbände dem norwegischen Erfolgsmodell folgten. Die Fifa wünscht sich für ihr Führungsgremium mindestens sechs Frauen. Sie hält sich jedoch mit Forderungen und Empfehlungen gegenüber ihren mehr als 200 nationalen Mitgliedsverbänden zurück. Der DFB hat nur eine Frau in seinem Präsidium, Hannelore Ratzeburg, und die ist zuständig für Mädchen- und Frauenfußball.

Auch wegen der gesetzlichen Quote ist der Frauen-Anteil in Führungspositionen der Wirtschaft gestiegen: In Ostdeutschland auf 44 Prozent, im Westen auf 27 Prozent. Und im Fußball? Anfang 2018 kandidierte beim des FSV Mainz 05 die Juristin Eva-Maria Federhenn für den Vorstandsvorsitz. Etliche Fans sprachen ihr die Kompetenz ab, weil sie eine Frau ist. Solche Äußerungen seien keine Seltenheit, sagt Katharina Dahme. Die Aufsichtsratschefin des Regionalligisten SV Babelsberg wurde mal in einer VIP-Raum eines Stadions von einem Funktionär des gegnerischen Klubs kritisch gemustert. „Ich habe gesagt, dass ich Mitglied im Aufsichtsrat bin“, sagt Dahme. „Dann war er sehr erschrocken und hat deutlich gemacht, dass Frauen im Fußball nichts zu suchen hätten.“

In den ersten vier deutschen Ligen ist Katharina Dahme neben Sandra Schwedler beim FC St. Pauli die einzige Frau, die an der Spitze eines Aufsichtsrates steht. Der DFB hatte 2016 mit dem Deutschen Olympischen Sportbund ein Leadership-Programm gestartet. 24 Frauen wurden mit Führungsaufgaben vertraut gemacht. Einige der 21 Landesverbände im Fußball haben danach eigene Programme entwickelt. Katharina Dahme findet, dass sich auch die großen Klubs öffnen sollten. Noch haben engagierte Frauen in deren Gremien den Status von Exotinnen, und so geben sie den Druck manchmal auch untereinander weiter. „Manche Klubs geben sich vielleicht schon zufrieden mit einer Frau im Gremium“, sagt Dahme. „Aber wir sollten nach mehr Kandidatinnen suchen. Oft sind Frauen eher skeptisch und müssen anders ermuntert werden. Männer dagegen sind oft überzeugt, dass sie das können.“

Die erste Chefin eines israelischen Profiklubs

Seit September 2018 erzeugt eine Wanderausstellung Aufmerksamkeit für Frauen im Fußball, ihr Titel: „FanTastic Females. Football Her Story“. Die Fotos und Kurzfilme porträtieren mehr als achtzig Frauen aus 21 Ländern: Ultras, Aktivistinnen, Führungskräfte. „Das Projekt ist wunderbar, denn es nimmt unsere Leidenschaft in allen Facetten ernst“, sagt die Israelin Daphna Goldschmidt, einer der Porträtierten mit einer seltenen Biografie im Fußball.

Daphna Goldschmidt führt als erste Frau einen israelischen Profiverein, Foto: Ronny Blaschke

Mit Anfang zwanzig gehörte Daphna Goldschmidt 2007 zu den Gründerinnen ihres Vereins. Sie besuchte jedes Spiel von Hapoel Katamon Jerusalem. Sie sang, klatschte, hüpfte auf der Tribüne, wurde zu einem der einflussreichsten Vereinsmitglieder. Doch sie zögerte mehr als drei Jahre, um für den Vorstand zu kandidieren. „Das einzige, was mich davon abhielt, war die Angst, nicht gewählt zu werden und keinen Erfolg zu haben“, sagt Goldschmidt. Vor anderthalb Jahren wurde Daphna Goldschmidt zur Vorsitzenden von Hapoel Katamon Jerusalem gewählt. Als erste Frau führt sie einen Profiverein in Israel. „Das öffnet vielleicht auch anderen Frauen die Tür, die vielleicht gar nicht glauben, dass ein solcher Weg möglich ist.“

Hapoel Katamon hat sich in den vergangenen Jahren aus der fünften in die zweite Männerliga vorgearbeitet, aber Goldschmidt beschreibt lieber die sozialen Projekte: Sprachkurse für Einwanderer, Turniere für jüdische und muslimische Jugendliche. Goldschmidt hat es dabei nicht immer leicht, zum Beispiel bei Treffen mit Funktionären anderer Vereine. „Es ist immer noch seltsam, in einem Konferenzraum die einzige Frau zu sein“, erzählt sie. „Manchmal sagt mir jemand, ich hätte diese oder jene Entscheidung nur getroffen, weil ich eine Frau bin. Dann entgegne ich: Haben Sie ein Argument, das relevanter ist?“ Eine Antwort erhält sie darauf dann nicht mehr.

Kaum Trainerinnen in der Frauen-Bundesliga

Und wie sieht es an den Seitenlinien aus? Im deutschen Männerfußball hatten zuletzt zwei Trainerinnen für Schlagzeilen gesorgt: Imke Wübbenhorst übernahm 2018  vorübergehend den Fünftligisten BV Cloppenburg, die ehemalige Nationalspielerin Inka Grings den Viertligisten SV Straelen. Beide Beispiele täuschen darüber hinweg, dass Frauen im Trainingswesen eine Nebenrolle spielen. Bei der Weltmeisterschaft in Frankreich vor wenigen Wochen wurden neun der 24 Teams von einer Frau trainiert.

Deutlicher wird der Unterschied in Deutschland: In der Frauen-Bundesliga wurden zuletzt zwei der zwölf Teams von einer Frau trainiert. Eine von ihnen: Carmen Roth beim SV Werder Bremen. Der Verein wollte ihren Vertrag früh verlängern, doch Roth lehnte nach langem Bedenken ab. Sie kehrt zurück nach München, nimmt dort ihren unbefristeten Job bei einer Versicherung wieder auf. Ihr Arbeitgeber hatte sie für den Fußball zwei Jahre lang freigestellt. „Ich bin ein Sicherheitsmensch“, sagt Carmen Roth. „Man verdient zwar auch im Frauenfußball inzwischen ganz gut, aber man ist nicht dauerhaft abgesichert. Ich möchte nicht mit fünfzig dastehen und keinen Job zu haben.“

Carmen Roth hat fast 150 Bundesligapartien bestritten, die meisten für den FC Bayern. Schon als Spielerin arbeitete sie bei der Versicherung. Sie hatte den Wunsch, Bundesliga-Trainerin zu werden. Dafür benötigte sie drei Lizenzen: C, B und A. Carmen Roth nahm für die mehrwöchigen Kurse jeweils ihren Jahresurlaub. Ehemaligen Nationalspielerinnen wird der Einstieg ins Trainingswesen hingegen erleichtert, sie können den Grundlagenkurs überspringen. Carmen Roth plädiert dafür, dass auch ehemaligen Bundesliga-Spielerinnen ohne Länderspielerfahrung der Einstieg ins Trainingswesen erleichtert werden solle: „Eine Spielerin, die dreißig oder vierzig Stunden pro Woche arbeiten geht, leistet mehr als eine Spielerin, die sich nur auf den Fußball konzentrieren kann.“

Eine Frau führt ein Männerteam in Hongkong zur Meisterschaft

Noch höher sind die Anforderungen bei der mehrmonatigen Ausbildung zum „Fußball-Lehrer“ beim DFB. In der Regel war unter den 25 Teilnehmenden pro Jahrgang höchstens eine Frau. Die Ursachen dafür liegen bereits an der Basis: In den vergangenen Jahren haben sich mehr Frauen um die C-Lizenz bemüht, die unterste Kategorie, meist für Kinder- und Jugendfußball. Eine Stufe höher, an der Schwelle zum Leistungssport, sinkt der weibliche Anteil enorm. Das liege nicht an der fehlenden Bereitschaft der Frauen, sagt die Berliner Trainerin und Aktivistin Johanna Small: „Man ist als Frau in diesen Kursen schnell in einer Sonderrolle. Wir merken, wenn man einen Kurs nur für Frauen gibt, dass da wesentlich größeres Interesse ist.“

Beim DFB werden auch die Nationalteams der Juniorinnen von Frauen trainiert. In anderen Ländern ist das noch lange keine Selbstverständlichkeit. Bei der WM vor vier Jahren in Kanada wurden acht der 24 Teams von Frauen trainiert. Nun in Frankreich waren es neun. Im professionellen Männerfußball lassen sich Trainerinnen an einer Hand abzählen. Corinne Diacre betreute in Frankreich den Zweitligisten Clermont Foot. 2017 übernahm sie das Frauen-Nationalteam.

Chan Yuen Ting führte das Herren-Team des Eastern SC in Hongkong zur Meisterschaft, Foto: Ronny Blaschke

Internationale Aufmerksamkeit zog Chan Yuen Ting in Hongkong auf sich. Als Trainerin führte sie das Männerteam des Eastern SC zur Meisterstadt des Stadtstaates, im Alter von 27 Jahren. Für die BBC gehörte Chan Yuen Ting 2016 zu den 100 einflussreichsten Frauen der Welt. „In der asiatischen Champions League haben wir viele Spiele hoch verloren“, erzählt sie. „Die Kritik in den Medien war enorm. Doch ich wollte meine Linie beibehalten. Dabei ist es wichtig, gegenüber den Spielern die richtige Balance zu finden. Ich diskutiere mit jedem. Aber es gibt auch feste Regeln.“

Chan Yuen Ting ist eine zierliche Frau, etwa 1,60 Meter groß. In ihrem Team wurde sie von vier Assistenztrainern unterstützt, es gab noch eine Frau, eine Physiotherapeutin. Die Hälfte der Spieler war älter als Chan Yuen Ting. Bei Auswärtsspielen in der Champions League wurde sie als Vorbild gefeiert. Doch nach zwei Jahren gab die studierte Sport- und Gesundheitsmanagerin ihren Posten auf. Sie wollte die höchste Lizenz im asiatischen Trainingswesen erwerben. „Meine Eltern wollten nicht, dass ich im Fußball arbeite“, sagt Chan Yuen Ting. „Wir haben uns oft gestritten, denn wenn ich etwas unbedingt will, kann ich ziemlich stur sein. Nach einigen Jahren haben sie gemerkt, dass ich mich durch Fußball weiter entwickeln kann. Inzwischen kommen sie öfter ins Stadion uns schauen unsere Spiele.“

„Bei den meisten Verbänden ist Frauenfußball nur ein Häkchen“

Durch welche Strukturen können solche Karrieren wahrscheinlicher werden? Die Fifa schreibt bei der U17-WM der Frauen pro Team mindestens eine Trainerin und eine Medizinerin vor. Die Uefa fördert Einstiegskurse in Osteuropa. Aber reicht das? Wie lässt sich schon im Breiten- oder Schulsport das Interesse von Mädchen für ein späteres Engagement im Fußball wecken? Seit ihrer Premiere 1991 ist die WM der Frauen gewachsen: Erst 12, dann 16 und nun zum zweiten Mal 24 Teams. Doch das Wachstum täuscht darüber hinweg, dass Frauenfußball in etlichen Regionen noch keine langfristige Basis hat: auf dem Balkan, in der arabischen Welt, in vielen Ländern Afrikas.

Khalida Popal hat etliche Verbesserungsvorschläge. Sie ist in Kabul aufgewachsen, liebt den Fußball seit ihrer Kindheit. Nach der Schule kickte sie mit ihren Brüdern und anderen Jungen auf der Straße. Doch in Afghanistan empfinden viele Menschen Fußballerinnen als Provokation. So musste Khalida Popal früh das Improvisieren lernen. „Viele Leute sagten, ich solle in der Küche arbeiten und nicht an Fußball denken. Die Jungs wollten nicht mehr mit mir spielen. Ich habe mich in anderen Schulen umgehört und vielen Mädchen ging es wie mir.“ 2004 suchten Khalida Popal und ihre Freundinnen ein Trainingsgelände. Sie wurden beschimpft, bedroht, mit Müll beworfen. Einen sicheren Platz erhielten sie auf einem Nato-Gelände. 2007 formten sie ein afghanisches Nationalteam, Khalida Popal wurde Kapitänin, später Teammanagerin. Dem ersten Länderspiel in Pakistan folgte ein Turnier in Bangladesch.

Khalida Popal gründete ein afghanisches Frauen-Nationalteam, Foto: Ronny Blaschke

Doch Khalida Popal und ihre Mitstreiterinnen waren weitgehend auf sich gestellt. „Es ist die grundsätzliche Denkweise im Fußball, die uns das Leben schwer macht“, sagt Popal. „Bei der Fifa und den meisten Verbänden ist Frauenfußball nur ein Häkchen, eine lästige Verpflichtung. Für uns waren die Funktionäre gar nicht erreichbar, wir mussten immer wieder nachhaken. Frauenfußball ist für viele Verbandsleute eine Durchgangsstation in ihrer Karriere. Wenn es nach mir ginge, würden wir unsere eigene Fifa haben, mit Leuten, die sich tatsächlich für Frauenfußball interessieren.“

Mit Fußball gegen kulturelle Barrieren

Caitlin Fisher setzt sich für die Gleichbehandlung weiblicher Profi-Spielerinnen ein, Foto: Ronny Blaschke

2011 spielten in Afghanistan 1.000 Frauen Fußball. Khalida Popal erhielt Morddrohungen. Sie floh nach Dänemark, unterstützte aus der Ferne das Nationalteam. Ihre Erfahrungen sind keine Seltenheit, das zeigt ein Bericht von FIFPro von 2017. Die Profivereinigung hatte weltweit 3.600 Spielerinnen befragt. Fast die Hälfte von ihnen erhält von ihren Klubs keinen Lohn. Unter Nationalspielerinnen erhält ein Drittel keine Prämien. Von denjenigen mit Einkommen berichten fast vierzig Prozent von verspäteten Zahlungen, schriftliche Verträge gibt es oft gar nicht. „Wir haben im Frauenfußball eine lange Geschichte der Ungerechtigkeit“, sagt Caitlin Fisher von FIFPro. „Das drückt sich in den Ländern unterschiedlich aus. Durch ungleiche Bezahlung, aber auch durch schlechte Spielfelder, eine veraltete Ausstattung oder fehlende Wettbewerbe. Manche Nationalteams müssen für ihre Auswärtsspiele tagelang im Bus sitzen.“ Vieles von dem führt dazu, dass neunzig Prozent der Befragten ein vorzeitiges Ende ihrer Laufbahn in Erwägung ziehen.

Die mehr als 200 Mitgliedsverbände der Fifa sind verpflichtet, auch den Frauenfußball zu fördern. Doch im Jahr 2013 beispielsweise haben nur 97 von ihren ein Frauen-Länderspiel ausgetragen. Die Fifa hat ihre Entwicklungsprogramme zuletzt erweitert. Bestimmte Förderungen sind an Nachwuchsturniere oder Trainingscamps von Mädchen und Frauen gebunden. So können Kontinental- und Nationalverbände jährlich mehrere Millionen Dollar zusätzlich erhalten. Die langjährige Trainerin Monika Staab ist aktuell in Gambia in Westafrika aktiv und sagt: „Es gibt zu wenig Programme, um das auch zu fördern. Oft hat man das Gefühl, das Fördergeld kommt nicht an den richtigen Stellen an. Erst letztes Jahr hat der afrikanische Kontinentalverband ein Frauen-Komitee erstellt. Das ist schade, denn das Potenzial für Frauenfußball in Afrika ist groß.“

Monika Staab bildet Trainer*innen aus, Foto: Ronny Blaschke

Monika Staab war in den vergangenen zwölf Jahren in vielen Ländern unterwegs, auch als Trainerin in Bahrain und Katar. 2018 wurde sie nach Gambia entsandt, vom Auswärtigen Amt und vom Deutschen Olympischen Sportbund. Von den zwei Millionen Einwohnern in Gambia sind 44 Prozent jünger als 14. Monika Staab bildet Trainer und Sportlehrer fort, knüpft Kontakte zwischen Fußballverband und Schulministerium. „Meine Aufgabe ist, den Mädchen das Selbstvertrauen zu vermitteln. Dass sie sich ein bisschen gegen das Klischees und die kulturellen Barrieren auflehnen. Und dass sie dieses Selbstvertrauen dann auch mit in die Schule oder ins Studium nehmen.“

Etliche NGOs übernehmen Aufgaben der Verbände

Unabhängige Expertinnen für Frauenfußball sind in Entwicklungsländern selten. Auch deshalb bleiben gefährliche Netzwerke unerkannt. Seit Anfang des Jahres wurden in mindestens fünf Ländern Vorwürfe gegen Trainer und Betreuer geäußert, wegen Belästigung und sexualisierter Gewalt. In Afghanistan soll der Verbandspräsident Keramuddin Karim Jugendspielerinnen vergewaltigt haben. Die Aktivistin Khalida Popal machte das ganze öffentlich. Weltweite Medienberichte folgten, schließlich wurde Keramuddin Karim von der Fifa lebenslang gesperrt. Khalida Popal sagt: „Viele der Nationalverbände in unterentwickelten Ländern werden wie die Mafia geführt. Wir wollten die Vergewaltigungen früher öffentlich machen, aber viele E-Mails gingen verloren. Die Funktionäre schützen sich wie eine Bruderschaft. Frauen aus Afghanistan wurde lange nicht gehört. Im Gegenteil: Sie mussten sich rechtfertigen, als wären sie Beschuldigte.“

Laut der Studie der Profivereinigung FIFPro haben 18 Prozent der befragten Spielerinnen Sexismus erlebt. 3,5 Prozent berichteten von gewaltsamen Übergriffen. Die großen Fußballverbände haben bislang wenig Stellung dazu bezogen. Vielleicht sind auch deshalb etliche NGOs für Frauen im Fußball entstanden. „Discover Football“, „Women win“ oder „Right to play“. Khalida Popal hat in Dänemark eine Initiative für geflüchtete Frauen gegründet. Ihr Titel: „Girl Power“.


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


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Die Veröffentlichung dieses Beitrags wurde auch durch die Unterstützung des 120minuten-Lesekreises möglich. Stellvertretend für alle bedanken wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Ralf, einem Lesekreis-Mitglied. Du möchtest 120minuten ebenfalls aktiv unterstützen? Dann bitte hier entlang!

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Dürfen Vereine sterben? https://120minuten.github.io/duerfen-vereine-sterben/ https://120minuten.github.io/duerfen-vereine-sterben/#respond Fri, 30 Aug 2019 12:56:47 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6477 Weiterlesen]]> Widdewiddewitt, Tradition und Größe macht Anspruch, und Geld macht Erfolg!

von Hardy Grüne, dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 15 des Zeitspiel-Magazins, das Heft mit dem Schwerpunkt “Überleben im Turbokapitalismus” kann hier bezogen werden.

350.000 Euro via Crowdfunding in Wattenscheid. Deren 120.000 Euro in Wuppertal. Über eine Million bei einer Fananleihe zur Rückzahlung einer Fananleihe in Kaiserslautern. Angeschlagene Fußballklubs lassen sich reihenweise von ihren Fans die, sorry, Ärsche retten. Denn „Tradition darf nicht sterben“.

Dafür bin ich auch. Schon aus persönlichen Erfahrungen. Mein Verein, der 1. SC Göttingen 05, starb 2003, nachdem über lange Zeit alljährlich händeringend Geld akquiriert worden war, um von Halbserie zu Halbserie zu kommen. Auch von Fans, die trotz ehrenamtlicher Arbeit brav Eintritt zahlten, ihr Bier bevorzugt im Klubhaus tranken („dann bleibt das Geld im Verein“) und eine Menge Geld für ein Stück Stoff in den Vereinsfarben ausgaben.

Bei Geld hört die Liebe auf, heißt es. Im Fußball gilt das nicht. Da fängt die Liebe bei Geld erst richtig an. Wattenscheid, Wuppertal und Kaiserslautern stehen für ein Dilemma, das sattsam bekannt ist: Große Ambitionen und hohe Risikobereitschaft treffen auf eine Fangemeinde, die ein „Wir müssen wieder groß werden“-Mantra pflegt und sich mit dem Tunnelblick des Schwerverliebten die Welt schön malt wie dereinst Pippi Langstrumpf: „Tradition und Größe machen Anspruch, widdewiddewitt, und Geld macht Erfolg! Wir machen uns die Welt, widdewidde, wie sie uns gefällt…“

Von der Last der Tradition

Um keinen Zweifel zu lassen: Der Tod eines Fußballklubs mit 100 Jahren Tradition ist eine bittere Sache. Es stirbt ein Stück Stadtgeschichte. Auch in Göttingen trauerte man 2003 und erinnerte sich wehmütig an die goldenen Tage. Dann gingen alle zur Tagesordnung über. Göttingen ist – außerhalb von WM und EM – schon lange keine Fußballstadt mehr, sondern eine Basketballstadt. Da tragen die Gegner Namen wie ratiopharm Ulm oder s.Oliver Würzburg. Lediglich eine Handvoll Fußballfans kehrte die Trümmer des 1. SC 05 zusammen und setzte sie in Verbund mit dem Vorstadtverein RSV Geismar als RSV Göttingen 05 wieder zusammen. Baute mit eigenen Händen eine Stehtribüne, opferte zig Stunden ehrenamtlicher Arbeit und freute sich, als es wieder aufwärts ging. Die Reise führte von der achtklassigen Bezirksklasse zurück in die Oberliga, wo man wieder auf das alte Problem traf, das schon den 1. SC 05 gekillt hatte: zu hohe Kosten, zu geringe Einnahmen. Ohne externe Geldgeber war die Liga nicht zu wuppen. Der ersehnte Geldgeber kam und gab das Motto „one team, one dream“ aus. Ziel: Regionalliga. Tatsächlich aber ging es zurück in die Bezirksliga, hinterließ das Engagement des Geldgebers, der nach einem knappen halben Jahr die Brocken hinwarf, verbrannte Erde und eine gespaltene Tradition. Heute gibt es in Göttingen zweimal 05 – den RSV 05 in der Kreisliga und den 1. SC 05 in der Landesliga. Bei letzterem bauten Fans übrigens kürzlich mit eigenen Händen in ihrer Freizeit eine Bratwurstbude.

In der Liebe wirkt Geld oft toxisch auf die Beziehungschemie. Eine Crux, die auch im Fußball auftritt. Gerade bei den so genannten „Traditionsvereinen“. Ein Begriff, der einst als Qualitätssiegel galt und heute als Kampfschwert zwischen Traditionalisten und Modernisten dient. Ein Traditionsverein blickt auf eine schillernde Vergangenheit zurück, steht oft in einer schwierigen Gegenwart und sieht sich in der heiligen Verpflichtung, zu „alter Größe“ zurückzukehren. In der Regel steht eine mehr oder weniger große Fan- und Zuschauerszene dahinter, die sich wehmütig an „früher“ erinnert und fordert, man müsse dorthin zurückkommen – notfalls eben mit Gewalt. Sprich mit Geld. Als die Meldung vom drohenden Finanzcrash aus Wuppertal kam, schrieb ein Anhänger der Bergischen an den Red-Bull-Konzern und warb um Unterstützung. In Kaiserslautern hoffte man derweil auf den Einstieg des russischen Geldadeligen Michail Ponomarew – was wiederum in Krefeld-Uerdingen Ängste auslöste; denn dort weiß man, dass der KFC 05 nicht halb so sexy ist wie der FCK. Und Ponomarews Liebe zum KFC sollte besser nicht auf eine harte Probe gestellt werden.

Vernunft (und Moral?) scheinen ausgeschaltet, wenn es um den finanziell angeschlagenen eigenen Klub geht.

Dazu passt die Kritik an den Warnern, denen zugeblafft wird, man müsse „jetzt erstmal zusammenstehen und den Klub retten, analysieren können wir später“. Wobei „später“ häufig „nie“ heißt, weil nach der wie auch immer gelungenen Rettung sofort die Forderung auftaucht, dass nun, wo es doch „endlich wieder läuft“, aber auch wirklich „die Rückkehr zu alter Größe“ folgen müsse. Unterdessen ist der Keim für die nächste Krise schon gelegt – beispielsweise weil man externen Geldgebern die Kontrolle über seinen Verein übergab, die damit ihre eigene Interessen verfolgen.

„Alle wollen an die fetten Fleischtöpfe“

Wirtschaftlich angeschlagene Traditionsvereine wecken das Mitgefühl von Fans im ganzen Land. So wurde die SG Wattenscheid 09 als wichtiger Traditionsverein gefeiert, der unbedingt zu retten sei, alleine für seine treuen Fans. Nun will ich Wattenscheid 09 nicht das Label als Traditionsverein absprechen und schon gar nicht den Fans der Schwarz-Weißen zu nahe treten, möchte aber doch daran erinnern, dass der Aufstieg des Klubs in die Bundesliga 1990 vor allem einem Geldgeber zu verdanken war und dass die SG 09 seit Menschengedenken dafür steht, nicht sonderlich viel Publikum anzulocken. In seinen Erfolgsjahren war der Verein die graueste Maus, die man sich nur vorstellen konnte.

Bei Tradition verklärt sich der Blick, wird die Debatte unscharf. Und geht es nicht eigentlich auch vielmehr um eine „Erinnerung“ an Fußball? Als Klubs wie Wattenscheid 09 oder der Wuppertaler SV noch „oben“ mitspielten? Stehen sie nicht stellvertretend für jene „gute alte Zeit“, als das Kapital (angeblich) noch kein Interesse am Fußball hatte und von Fußball spielenden Unternehmen wie Red Bull nichts zu sehen war? Es gibt ein ganzes Bündel von Vereinen, die in diesem Kontext leuchtende Augen auslösen: Rot-Weiss Essen, Alemannia Aachen, Kickers Offenbach, Waldhof Mannheim, SpVgg Bayreuth, Schweinfurt 05, Chemnitzer FC, Rot-Weiß Erfurt, VfB Oldenburg oder VfB Lübeck, um nur eine Handvoll zu nennen. Für jene Klubs ist die Existenz im Schatten des Eventfußballs doppelt schwer. Denn ihre Vergangenheit ist auch Last und sorgt für Handlungsdruck nahe der Unvernunft. Die Zugkraft des traditionsreichen Namens hilft zwar bei der Sponsorensuche, lockt aber zugleich Finanzhasadeure an, die das Blaue vom Himmel versprechen. Und die treue Fanszene garantiert einerseits das Überleben und verleitet andererseits zu waghalsiger Finanzpolitik, weil die Ungeduld zu groß ist. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt?

Gejammert wird – gerne mit empörtem Verweis auf DFB, DFL oder überhaupt Kommerzfußball – über die Rahmenbedingungen. „Alle wollen an die fetten Fleischtöpfe“, sagte Christopher Fiori, Geschäftsführer von Kickers Offenbach, gegenüber „Sport1“. Während in der Regionalliga kümmerliche 90.000 Euro fließen, sind es in der 3. Liga gegenwärtig 1,1 Millionen und in der 2. Bundesliga gar zehn Millionen Euro. Fiori: „Das lässt den einen oder anderen in die Unvernunft abgleiten.“ Eine fatale Dynamik, denn die Klubpolitik wird einseitig an einer limitierten Zahl von Geldtöpfen ausgerichtet. Das war im Leistungsfußball natürlich schon immer so, doch derart unter Druck wie aktuell standen die Klubs selten. Zumal es kein Entrinnen gibt. Denn wer es durch das Nadelöhr Regionalliga tatsächlich in die 3. Liga schafft, kommt auch dort nicht zur Ruhe. Von 19 Drittligaklubs der Saison 2017/18 waren 15 mit durchschnittlich 662.000 Euro verschuldet. Ihre Hoffnung: der so genannten „Pleiteliga“ entgehen und in die 2. Bundesliga aufrücken, wo die wirklich üppigen TV-Gelder fließen. Dass die 3. Liga unter diesen Umständen zur Insolvenzmaschine wird (zuletzt VfR Aalen, FSV Frankfurt, Chemnitzer FC, Rot-Weiß Erfurt) darf nicht überraschen.

Zuspitzung der Ligapyramide

Nun ist unstrittig, dass die Rahmenbedingungen zwischen 3. Liga und den fünftklassigen Oberligen schwierig sind. Der ökonomische Druck aus dem Kommerzfußball kommt „unten“ an. Die vielen Tausend bestens ausgebildeten Fußballer, die im Profilager keinen Platz gefunden haben, sorgen für eine nie dagewesene spielerische Qualität, kosten aber auch ihren Preis. Die Infrastruktur ist teuer. Die Schnittstelle der Unvernunft liegt übrigens nicht in der 3. Liga, sondern in der Regionalliga, wo die unsägliche „Meister müssen aufsteigen“-Problematik erschwerend hinzukommt und dafür sorgt, dass sich Klubs erst mit hohem Risiko verschulden, um dann trotz Meisterschaft doch nicht aufzusteigen.

Dennoch ist die gebetsmühlenartige Wiederholung von Schlagwörtern wie „Überlebenskampf“, „Verantwortung des DFB“ oder „Wir brauchen mehr TV-Geld“ ermüdend. Denn schlussendlich ist es eine Systemfrage. Leistungsfußball ist ein kapitalistisches System, da macht man entweder mit und unterwirft sich den Regeln oder lässt es bleiben. Leider ist der Lerneffekt vor allem bei Traditionsvereinen (und auch deren Fans!) gering bis nicht existent. Tradition wird häufig als Berechtigungsschein für einen Platz im höherklassigen Fußball betrachtet. Doch höherklassiger Fußball hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Werfen wir mal einen kurzen Blick auf die Entwicklung der Ligapyramide. 1963 gab es in den beiden deutschen Staaten 100 Erst- und 200 Zweitligisten. 1981 schrumpften die Zahlen auf 32 Erst- und 56 Zweitligisten, seit 1994 sind es jeweils 18 Erst- bzw. Zweitligisten. Auf Drittligaebene sank die Zahl von 250 im Jahr 1981 auf aktuell 20, und selbst in der Viertklassigkeit sind heute nur noch 72 Teams vertreten. Es hat eine ungeheure Verdichtung des Leistungsfußballs in Deutschland gegeben.

Daraus ergibt sich die logische Konsequenz, dass eine Menge Vereine herausgefallen sind und auch nie zurückkehren werden. Die meisten wird man wohl nicht vermissen, oder weiß noch jemand, dass der SC Concordia Hamburg über Jahrzehnte zu den führenden Amateurvereinen in Norddeutschland zählte? Und selbst Traditionsklubs wie Schwarz-Weiß Essen fehlen wohl nur wenigen. Zur drastisch verschlankten Ligapyramide – noch einmal: von etwa 330 Erst- bis Drittligisten der späten 1980er-Jahre sind 2019 ganze 56 geblieben – gesellen sich neue Player wie RB Leipzig und Hoffenheim. Dazu kommen die üblichen Bewegungen innerhalb der Pyramide, drängten Klubs wie Mainz 05 oder FC Augsburg erfolgreich nach oben. Daraus ergibt sich ein Dominoeffekt, rutschten langjährige Bundesligisten wie VfL Bochum, 1. FC Kaiserslautern, MSV Duisburg und die Ostvereine (deren Schicksal freilich Spezialfälle sind) aus der Erstklassigkeit und kämpfen heute bisweilen in der 3. Liga ums Überleben.

Halten wir also fest: Das Geld ist knapp (war es immer), und die Ligapyramide ist schlanker geworden. Kosten für Spielergehälter, Infrastruktur und Umfeld explodierten im Zuge der Turbokapitalisierung des „großen“ Fußballs, dessen Effekte sich in sämtliche Nischen ausgedehnt hat. Ein traditionell am Sonntagnachmittag spielender Viertligist steht heute in Konkurrenz mit dem englischen Premier-League-Klassiker Liverpool gegen Manchester United, der für ein paar Cent im Klubhaus live verfolgt werden kann. Zugleich haben sich die großen Sponsoren vom kleinen Fußball abgewandt und konzentrieren sich auf die ganz großen Namen wie Cristiano Ronaldo oder Manchester City. Hinzu kommt der demografische Wandel. Mit den Ehrenamtlichen, die viele Vereine auch der alten dritten und vierten Ligen über Jahrzehnte zusammengehalten haben, verschwinden auch die typischen Kleinsponsoren aus dem Mittelstand, die mit ihren regelmäßigen Geldbeträgen zum Spielbetrieb beigetragen haben. Sie geben ihre Unternehmen auf oder versterben, und die Erbengeneration hat andere Interessen als den lokalen Fußballklub. Letzteres gilt auch für die Zuschauer, die sich längst nicht mehr mit einem Fingerschnipp aktivieren lassen, nur weil der Ball rollt und der Grill angeworfen wird. Alles in allem ein toxisches Gemisch, das bereits seit den 1980er-Jahren brodelt und immer größere Blasen bildet. Vor allem bei jenen Klubs, die innerhalb eines Systems, in dem quasi ausschließlich „viel Geld“ als Antrieb funktioniert, verzweifelt nach oben wollen.

Information
Dieser Text ist aus Ausgabe 15 des Zeitspiel-Magazins, welcher uns im Rahmen unserer Kooperation mit dem Magazin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.

Bildnachweis: 

“Wuppertal – Stadion am Zoo 2008” by Ies is licensed under CC BY-SA 3.0

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Ins Heft geschaut: ballesterer Nr. 144 https://120minuten.github.io/ins-heft-geschaut-ballesterer-nr-144/ https://120minuten.github.io/ins-heft-geschaut-ballesterer-nr-144/#respond Fri, 16 Aug 2019 11:24:21 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6446 Weiterlesen]]> „Werder Bremen – Warten auf das Wunder von der Weser“ – ballesterer, Ausgabe 144

Wer erinnert sich nicht an die magischen Nächte im Weserstadion? Wenn Johan Micoud oder Wynton Rufer und Co. eine nicht für möglich geglaubte Aufholjagd starteten? Ausgabe 144 des österreichischen Fußballkulturmagazins beschäftigt sich mit dem Warten auf die nächste unglaubliche grün-weiße Nacht. In leicht geänderter Struktur kommt das Heft daher und hat neben der Titelstory noch einiges mehr zu bieten.

15 Jahre ohne Meistertitel, zuletzt mehr Abstiegskampf als Europacup: Für Werder-Bremen-Fans der letzten 35 Jahre ist das durchaus eine ungewohnte Situation. Die Redaktion des ballesterer hat das zum Anlass genommen, auf die erfolgreichen Tage der Norddeutschen zurückzublicken. Auf insgesamt 16 Seiten kommen aber nicht nur Werder-Fans auf ihre Kosten. Es ist eine kleine Hommage an den Verein, sein besonderes Verhältnis zu den Fans und der Stadt.

In der Titelgeschichte beleuchtet Mareike Boysen, wie der Verein den chronischen Geldmangel von der Not zur Tugend machte und ab den 1980er Jahren immer erfolgreicher wurde. Denn der Verein verstand es damals wie kein zweiter, aus schwierigen Spielern mit großem Potenzial das Beste herauszuholen. An dieser Stelle sei an Ailton erinnert, der eigentlich nur in Bremen aufblühte. Gewann Otto Rehhagel mit Pragmatismus Titel um Titel, kam in der Ära von Thomas Schaaf und Klaus Allofs auch noch das schöne Spiel dazu. Während Schaaf in der Titelgeschichte „Chronisch bescheiden“ über die Identität des Klubs zu Wort kommt, spricht Allofs im vierseitigen und trotzdem kurzweiligen Interview über seine Spieler- und Managerzeit, über Geldsorgen, vermeintliche Problemspieler und eine Offensive ohne Alternative. „Lieber 3:3 als 0:0“ lautet der Titel des Gesprächs – wie passend.

Dass nun mit Florian Kohlfeldt ein Trainer an der Seitenlinie bei Werder Bremen steht, der auch für spektakulären Fußball spielen lässt, dürfte den einen oder anderen grün-weißen Fan von diesen guten alten Zeiten träumen lassen, wie im Heft richtig angemerkt wird.

Und was wäre eine Bremen-Geschichte ohne Willi Lemke? Nichts. Stimmt. Auch wenn die Zeit des SPD-Politikers beim Verein schon etwas zurückliegt, die Dauerfehde mit Uli Hoeneß in den 1980er- und 1990er-Jahren hat wohl jede*r noch vor Augen. Damals, als neben dem fußballerischen Konkurrenzkampf heftige politische Debatten entflammten – zwischen dem roten Willi und dem schwarzen Uli.

Apropos 1980er: Diego Maradonas Leben wurde verfilmt. Den Großteil des Dokumentarfilms mit faszinierenden Archivaufnahmen macht die Zeit in Neapel aus. Absolute Empfehlung für alle Fußball-Kulturellen – spätestens nach der Filmbesprechung im Heft.

Auch interessant ist der Blick nach Schweden. Dahin schaut nämlich Nicole Selmer, genauer gesagt in die Fankurven. Diese gelten dank gutem Kontakt zu Liga und Behörden als laut, lebendig und bunt. Doch das könnte sich ändern. Denn die Polizei scheint auf Konfrontationskurs mit unrealistischen Forderungen, so die stellvertretende Chefredakteurin.

Daneben gibt es natürlich noch weitere lesenswerte Geschichten, als da wären die persönliche Afrika-Cup Bilanz von Anthony Baffoe im Interview von Kurt Wachter. Der mittlerweile stellvertretende Generalsekretär des afrikanischen Verbands blickt sportlich und organisatorisch auf das Turnier in Ägypten und erklärt die Kriterien für eine erfolgreiche Bewerbung als Austragungsland.

Wo gibt’s das Ding!

Den ballesterer Nummer 144 findet ihr seit dem 16. August 2019 in Österreich im gut sortierten Zeitschriftenladen und kurze Zeit darauf in Deutschland im Bahnhofsbuchhandel. Wer nicht so lange warten will, kann das Heft auch bestellenOder gleich abonnieren.

Den ballesterer gibt es seit kurzer Zeit aber nicht nur zu lesen, sondern auch auf die Ohren. In Kooperation mit 120minuten erscheint zu jeder Ausgabe eine neue Podcast-Folge “ballesterer in 120minuten”. Es geht vielleicht nicht unbedingt über die volle Distanz der zwei Stunden, aber hörenswert ist es allemal. Denn die Autor*innen des Magazins, Expert*innen und Gäste vertiefen in diesem Gespräch das Titelthema. Der Podcast zu diesem Heft erscheint in Kürze. Alle bisher erschienenen Folgen könnt ihr hier nachhören.

(Transparenzhinweis: Der aktuelle „ballesterer“ wurde uns von der Chefredaktion unentgeltlich und vorab zur Besprechung zur Verfügung gestellt.)

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Meine Tour-de-France https://120minuten.github.io/meine-tour-de-france/ https://120minuten.github.io/meine-tour-de-france/#respond Fri, 19 Jul 2019 06:49:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6375 Weiterlesen]]> Die WM in Frankreich kann die Fifa als Erfolg verkaufen – gute Einschaltquoten sorgten für viel Aufmerksamkeit. Doch wie hat sich das Turnier vor Ort angefühlt und wie sah es hinter der Fassade der TV-Übertragungen aus. Tom hat Frankreich während der WM bereist und war bei vielen Spielen vor Ort. Uns hat er seine persönlichen Eindrücke geschildert.

Von Tom Seiss

„Le match, est termine? Qui a gagné?“ (Ist das Spiel aus? Wer hat gewonnen?) Es ist kurz vor Mitternacht, ich stehe müde und total verschwitzt nach einer halbstündigen Fahrt in einer überfüllten Straßenbahn, die einer fahrenden Sauna glich, in einem Späti in Lyon und kaufe ein Bier. Ich denke mir gerade, dass ich mich nach gut drei Wochen in einem Land, das unter einer Hitzewelle genauso stöhnt wie ich, eigentlich freue, nach Hause zu fahren. Der Verkäufer hat mein Niederlande-Trikot erkannt. Es ist das erste Mal, dass mich ein Franzose auf die Fußball-WM anspricht. Nach gut drei Wochen.

Und das beschreibt ganz gut das Problem, das ich mit dieser WM habe: Sie reißt mich als Fan des Frauenfußballs nicht vom Hocker. Weder das Programm um die Spiele, noch die Spiele an sich. Zu vorhersehbar ist der (verdiente) Sieg der Amerikanerinnen, die mit Abstand das auf allen Positionen am besten besetzte und durchschlagkräftigste Team der WM stellten. Zu bekannt ist das Rahmenprogramm mit seinem Fokus auf Familien und Kinder rund um die Spiele. Die WM wird als Erfolg verkauft – und trotzdem bin ich nicht zufrieden. Warum?

Das Turnier 2019 in Frankreich ist meine fünfte Großveranstaltung in ebenso vielen Ländern in sieben Jahren. Reingekippt bin ich in die familiäre Frauenfußballgemeinde Anfang der 2010er Jahre. Gekoppelt mit meiner Reiselust hat mich der Frauenfußball in Länder und Städte geführt, die ich so eher nicht bereist hätte. Die Olympischen Spiele 2012 in London wurden zu einer Rundreise durch Großbritannien, die Europameisterschaften 2013 und 2017 führten mich in diverse (Klein-)Städte Schwedens und der Niederlande. Die WM 2015 wurde zu einer Reise quer durch Kanada. Altersmäßig spricht mich der Fokus der Veranstalter („Wir müssen die nächste Generation junger Mädchen erreichen und inspirieren“) aber nicht an. Ich will als erwachsener Fußballfan angesprochen und ernst genommen werden, mit einem entsprechenden Rahmenprogramm. Frankreich war hier nicht innovativ.

Ja, es war alles gut organisiert im Stadion. Ja, die Einschaltquoten im Fernsehen waren die besten in der bisherigen Geschichte des Frauenfußballs, oft mit fantastischen Reichweiten.

Ja, das Medieninteresse war groß, vor allem der Journalistentross aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien beeindruckend. Das sind Fingerzeige, dass die Professionalisierung und Akzeptanz des Frauenfußballs voranschreiten. Aber es gibt Luft nach oben.

Gab es bei der EM in Schweden noch Podiumsdiskussionen, „Meet & Greets“ mit aktuellen und ehemaligen Spielerinnen und ähnlichem, so war davon 2019 nichts zu sehen. Alle Frauenfußball-Großveranstaltungen hatten Fanzonen, wie man sie von Weltmeisterschaften und Europameisterschaften der Männer auch kennt: eigene Eventzonen in der Stadt für die reisenden Fans, typischerweise ausgestattet mit Infoständen, Geschicklichkeitsstationen, oft mit Getränken und Imbissstationen. Zentral platziert, sind die Fanzonen ein wichtiger Aspekt, um die WM/EM als Event optisch für Einheimische wie auswärtige Fans greifbar zu machen. Sie sind auch erste Anlaufstationen für mitreisende Fans, wenn es um Informationen rund ums Turnier geht. Bei den Olympischen Spielen 2012 und der EM 2017 in Holland wurden in den Fanzonen alle Partien auf Großleinwänden übertragen. Nicht so in Frankreich. Alleine Copa90 hatte in seinen temporären Club Houses in Paris und Lyon ein tolles Programm mit Diskussionsveranstaltungen und Live-Übertragungen. Dort traf man gleichgesinnte Fans und auch einige Spielerinnen, konnte sich austauschen, feiern, bunt gemischt, unabhängig von den Teampräferenzen. Das ist ein Aspekt, der den Frauenfußball so besonders macht. Doch die Veranstalter haben diesen Aspekt diesmal zu wenig bedient. So war zum Beispiel die Fanzone in Reims gut versteckt, in anderen Städten musste man durch Sicherheitsschleusen. In Paris konnte es passieren, dass man im Stadtbild überhaupt nichts davon mitbekam, dass gerade eine Fußball-WM stattfand. Zum längeren Verweilen luden die Fanzonen nicht ein. Oft waren es die Spielübertragungen bei denen man Fans aus anderen Ländern traf und mit ihnen ins Gespräch kam.

Es gibt mit Megan Rapinoe einen Star, die es mit ihrer politischen Aussage „I’m not going to the fucking White House“ weltweit in die Schlagzeilen schaffte und den amerikanischen Präsidenten zu einer seiner Twitter-Tiraden veranlasste. Es ist auch die offen lesbische Megan Rapinoe die – gemeinsam mit einigen ihrer US-Teamkolleginnen – aufzeigt, was im Männerfußball immer noch als undenkbar gilt: Homosexualität ist kein Thema, sondern akzeptierter Bestandteil des Fußballs. Ihre erfrischende Antwort auf die Frage nach ihren zwei Toren im Viertelfinale, ob es etwas Besonderes sei, Tore im so genannten Pride Month Juni zu schießen: „Go gays! You can’t win a championship without gays on your team, it’s pretty much never been done before ever. Science, right there.”

Es sind diese Ecken und Kanten, die gelebte Diversität, die den Frauenfußball und das Fantum oftmals anders und offener machen als seinen Counterpart. Das dem aber noch nicht überall so ist, darauf weisen die Les Dégommeuses in ihrer Heimat Frankreich hin. Eine offen lesbische Spielerin im französischen Team scheint undenkbar, da vom Verband eine weich gebürstete Weiblichkeit (mit implizierter Heterosexualität) gewünscht ist.

Was positiv auffiel, war die durchweg gute Stimmung in den Stadien. Die WM mobilisierte Fanmassen, jedenfalls aus bestimmten Ländern. Mit der Ausnahme der beiden Städte im Süden (Montpellier und Nizza), war die Auslastung gut bis sehr gut. Jedes Spiel mit Beteiligung Frankreichs oder der USA war offiziell ausverkauft; trotzdem gab es immer wieder leere Sitze, da einige Ticketbesitzer nicht erschienen. Der günstige Preis und der hohe Prozentsatz an sogenannten complimentary tickets (Tickets an Sponsoren, VIPs, medizinische und technische Beobachter, etc.) mögen mit ein Grund dafür gewesen sein. Am auffälligsten waren zwei Fangruppen: die gutgelaunten niederländischen Fans mit ihren Partys und Fanmärschen, sowie die fünfstellige Fankolonie aus den Vereinigten Staaten, die das Land bereisten. Vor allem weiße, gutverdienende Mittelschichtfamilien nutzten das Turnier für eine Frankreichrundreise mit ihren Kindern im High-School- und College-Alter. Hotels waren, wo immer die US-Frauen spielten, monatelang vorher ausgebucht, Restaurants und Sehenswürdigkeiten um die Spieltage bestens besucht.

Vor Turnierbeginn wurden 130.905 Tickets an US-Amerikaner*innen verkauft, die damit die zweitgrößte Fangruppe nach den französischen stellten. Das überraschte die Veranstalter, die ihre Aufmerksamkeit auf die lokale Bevölkerung ausgelegt hatten und insofern relativ unvorbereitet waren, was Informationen und Infomaterial betraf: Die entsprechenden Stellen waren nur zu Spieltagen besetzt, Hinweisschilder Richtung Stadien musste man oft suchen, lokale Transportmöglichkeiten zum und vom Stadion waren rund um die Spiele mit zu geringen Kapazitäten ausgestattet. Entsprechend verlies ich die Begegnungen nach den ersten Erfahrungen meist kurz vor Schlusspfiff, um nicht zwei Stunden für die Shuttle-Transporte anstehen zu müssen. Und ich war mit dieser Strategie nicht allein.

Mit Frauenfußball sei kein Geld zu verdienen, hört man immer noch. Nun, das liegt auch an der mangelnden Bedienung und mangelnden Kenntnis der Fandemographie. Beispiel Merchandising und Teamtrikots: Nike und Adidas hatten beide spezifische Designs für ihre Teams, Nike sogar mit einem großen Launch-Event in Paris im März. Anfang Juli vermeldete Nike stolz, dass das Trikot der US-Frauen in den USA das meist verkaufte Fußballtrikot über den Onlineshop sei. Toll, klar. Nur ging das mit Lieferengpässen einher, die Auslieferung der Trikots erfolgte oft erst nach Turnierende. Der DFB und Adidas haben sich ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert: Lieferung rechtzeitig zum Turnierbeginn? Fehlanzeige. Dass diese Fehleinschätzung nicht nur die Ausrüster betrifft, zeigt auch das offizielle FIFA-Merchandising, wo sich lange Schlangen vor den wenigen Verkaufsstellen am Stadion bildeten. Außerhalb des Stadions oder in den Fanzonen gab es – mit Ausnahme von Lyon – keine Möglichkeit, offizielles Merchandising zu kaufen. Tolle Verkaufszahlen? Ja, aber es hätte noch besser sein können, wenn man entsprechend darauf vorbereitet gewesen wäre.

All das geht mir durch den Kopf, im Späti in Lyon. „Oui, Les Pays-Bas ont gagné. 1:0“, entgegne ich grinsend in meinem eingerosteten Schul-Französisch und beschließe noch in diesem Moment, trotz all der Kritikpunkte auch zum nächsten Frauenfußballturnier zu fahren. Tokio 2020? Japan? Tolles Land und Kultur, perfekt in der Organisation und mit einem spannenden Team. Außerdem: Asien fehlt mir noch in meiner Fußballreisekarte. Warum also nicht?

 

Beitragsbilder: Die Fotos wurden von Tom zur Verfügung gestellt.

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Fußball in Ägypten: Rebellische Ultras im Untergrund https://120minuten.github.io/fussball-in-aegypten-rebellische-ultras-im-untergrund/ https://120minuten.github.io/fussball-in-aegypten-rebellische-ultras-im-untergrund/#respond Thu, 20 Jun 2019 07:00:49 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6304 Weiterlesen]]> Am 21. Juni beginnt in Ägypten der Afrika-Cup. In wohl keinem anderen Land ist der Fußball so politisch aufgeladen wie in Ägypten. Seit mehr als hundert Jahren nutzen Autokraten in Kairo das Stadion für Propaganda. Im neuen Jahrtausend entwickelten dann die Ultras eine Protestkultur, die beim Arabischen Frühling 2011 eine beachtliche Rolle spielte. Mittlerweile sind Fußballfans jedoch ein Symbol für die unterdrückte Zivilgesellschaft. Kann der Afrika-Cup daran etwas ändern?

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

In Kairo sind viele staatliche Gebäude von Schutzmauern umgeben, davor patrouillieren Soldaten mit Maschinengewehren. Auf dem zentralen Tahir-Platz sind vor allem Männer unterwegs. Zwei von ihnen halten ein Banner in die Höhe. Darauf: Abdel Fattah al-Sisi, Ägyptens Präsident seit 2014. Er lächelt auf dem Bild, blickt ins Weite, als freue er sich auf die Zukunft. Doch in Ägypten hat nur eine kleine Elite Grund zur Freude. „Präsident Sisi betrachtet Menschenrechtsverteidiger als seine größten Feinde“, sagt der Ägypter Amr Magdi, der für Human Rights Watch in Berlin arbeitet. „Die Verfolgung der Zivilgesellschaft ist tiefgreifend, brutal und gnadenlos.“

Organisationen wie Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen gehen davon aus, dass rund 60.000 Menschen aus politischen Gründen in ägyptischen Gefängnissen sind. Mindestens 300 von ihnen sollen dort gestorben sein. Amr Magdi berichtet: „Tausende Bündnisse und NGOs wurden aufgelöst. Journalisten, Juristen und Menschenrechtler können jederzeit verhaftet werden. Oft erhalten sie Reiseverbote, ihre Bankguthaben werden gesperrt und ihre Familien eingeschüchtert.“

Millionen Ägypter sind 2011 auf die Straßen gegangen. Sie protestierten für freie Wahlen, unabhängige Medien, Demonstrationsrechte, vor allem aber: für ein Leben in Würde. Nichts davon ist Wirklichkeit geworden. Ägypten ist eine Militärdiktatur mit mächtigen Geheimdiensten. Mindestens 2.000 Menschen kamen nach 2011 bei Aufständen und Zusammenstößen mit dem Sicherheitsapparat ums Leben, darunter auch mindestens 150 aktive Fußballfans.

Ultras: In wohl keinem anderen Land steht dieser Begriff so sehr für die Politisierung einer Gesellschaft wie in Ägypten, für Hoffnung, Opferbereitschaft, sogar für Revolution. Doch der Begriff ist auch ein Symbol für Enttäuschung, Grabenkämpfe und Repression. Und so ist es der Fußball, der politische Entwicklungen zugespitzt zum Ausdruck bringt.

Das Stadion als letzter sozialer Freiraum

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Fans aus Kairo waren Anfang des Jahrtausends mit Ultras aus Europa in Kontakt gekommen. Junge Männer schlossen sich in Stadtvierteln der Megacity zu kleinen Bündnissen zusammen. Daraus erwuchsen 2007 die ersten offiziellen Ultra-Gruppen Ägyptens: „Ahlawy“ im Umfeld des Vereins Al Ahly und die „White Knights“ von Zamalek SC. Die Mitglieder, meist zwischen 16 und 30 Jahre alt, hatten unterschiedliche sozialen Hintergründe, unter ihnen waren Arbeiter und Studenten, auch Salafisten und Muslimbrüder. Bis 2011 entstanden in Ägypten etwa zehn Gruppen, mit mehreren zehntausend Mitgliedern.

„Die Grundmotivation der Ultras war am Anfang nicht politisch“, sagt Philip Malzahn. Der Islamwissenschaftler wertete arabische Quellen aus und forschte ein halbes Jahr in Kairo. Er verfasste seine Bachelor-Arbeit über ägyptische Ultras, immer wieder hält er Vorträge zum Thema. „Im Fußball wurden junge Männer quasi gezwungen, politisch zu werden. Denn der autoritäre Staat verweigerte ihnen jegliche Freiräume.“ Die Ultra-Bewegung entstand zu einer Zeit, in der sich Ägypten in einer Phase des Stillstands befand. Präsident Hosni Mubarak regierte seit 1981 mit Notstandsgesetzen, dadurch hatte er weitreichende Befugnisse.

Der Staat betrachtete die Ultras in ihrer Anfangszeit als Kleinkriminelle. Doch immer mehr junge Männer erkannten die Stadien als ihren vielleicht letzten öffentlichen Freiraum. „Die Ultras brachten gesellschaftliche Gruppen zusammen, die sich sonst nicht vertragen haben. Ihr gemeinsamer Nenner war der Fußball“, sagt Philip Malzahn.

„Mit ihrer antiautoritären Grundhaltung stellten sich die Ultras gegen den kommerziellen und korrupten Fußball, nicht zwangsläufig gegen den Staat. Allerdings sind Fußball und Staat in Ägypten nicht voneinander zu trennen.“

Philip Malzahn

Mit Al Ahly gegen die britische Fremdherrschaft

Hosni Mubarak hatte den Wert des Fußballs für seine Propaganda früh erkannt. In seiner dreißigjährigen Amtszeit gewann das ägyptische Nationalteam fünfmal die Afrikameisterschaft. Vor wichtigen Spielen traf sich Mubarak mit den Spielern, nach Titelgewinnen hängte er ihnen Medaillen um. Die Seilschaften zwischen Regierung, Sicherheitsorganen und Großkonzernen drangen tief in den Fußball vor, schreibt der Blogger und Wissenschaftler James M. Dorsey in „The Turbulent World of Middle East Soccer“. Als dieses Buch 2016 erschien, waren die Hälfte der 16 ägyptischen Erstligisten im Besitz von Innministerium, Polizei und Armee.

Den Kairoer Ultras des Vereins Al Ahly standen regelmäßig Vertretungen des Staates gegenüber. Al Ahly gewann vierzig Mal die ägyptische Meisterschaft und acht Mal die afrikanische Champions League. Mit keiner anderen Bewegung identifizieren sich so viele Ägypter wie mit Al Ahly. Die Ursachen reichen weit zurück in der Geschichte des Landes. „Es war der erste Klub von Ägyptern für Ägypter. Ein wesentliches Element der Emanzipation vom britischen Kolonialreich“, sagt der Politikwissenschaftler Jan Busse von der Universität der Bundeswehr in München. Al Ahly organisierte Versammlungen: für den Widerstand gegen die Briten, aber auch gegen die ägyptische Monarchie.

1952 stürzten die „Freien Offiziere“ die Monarchie. In der jungen und unabhängigen Republik Ägypten wandelten sich Politik, Kultur und Sport grundlegend. Der Staatschef Gamal Abdel Nasser wirkte auch als Ehrenpräsident von Al Ahly auf die Bevölkerung ein. Er besetzte zentrale Stellen der Fußballverbände mit Vertrauten des Militärs. Nassers Nachfolger folgten diesem Muster. Bis in die Gegenwart.

74 Tote beim Fußball – die Verantwortlichen werden kaum bestraft

Seit ihrer Gründung 2007 hatten sich die Ultras Ahlawy von Al Ahly und die White Knights von Zamalek viele Kämpfe mit der Polizei geliefert. „Das Stadion war lange ein Testfeld für Polizeitaktiken, die man später bei Gegnern einsetzen konnte, die man ernster nimmt“, sagt Jan Busse. Zur vielleicht größten Machtdemonstration kam es Anfang 2011 in Ägypten. Die Ultras warfen Steine, durchbrachen Polizeiketten, nutzten umgestürzte Autos als Schutzwall. „Die Ultras waren gut organisiert“, sagt Busse. „Sie waren wichtig, um den symbolisch wichtigen Tahir-Platz zu halten.“ Wie groß der Einfluss der Ultras am Sturz von Mubarak tatsächlich war, lässt sich schwer ermessen.

Die Zivilgesellschaft befand sich im Umbruch. Der gemeinsame Gegner Mubarak war Geschichte, nun schlossen sich Fraktionen unterschiedlichen Parteien an. In Gewerkschaften, Bündnissen und losen Gruppen bildeten sich neue Hierarchien. Das gilt auch für die Ultras. Ahlawy und die White Knights hatten großen Zulauf, dadurch wuchsen interne Spannungen. „Neue Mitglieder provozierten Gewaltakte, die nicht abgesprochen waren“, sagt Philip Malzahn. Rund um die Spiele verschärften die Gruppen ab Mitte 2011 den Ton gegen die Polizei. Regelmäßig kam es zu Straßenkämpfen und Demonstrationen mit Toten. Das Militär verbot alle Formen des Protests. Die Ultras galten nun als „Agenten, die Ägypten zerstören wollen“.

Das alles steht im Schatten des 1. Februar 2012, als Al Ahly in der Hafenstadt Port Said auf Gastgeber Al Masry traf, fast ein Jahr nach dem Sturz von Präsident Mubarak. Nach dem Schlusspfiff wurden Stadionlichter früh abgeschaltet. Hunderte Fans von Al Masry stürmten den Rasen und die gegnerische Tribüne. Sie warfen Brandsätze auf die Ultras von Al Ahly, attackierten sie mit Stöcken, Messern, Glasflaschen, die Polizei ließ sie gewähren. Die Gästefans flogen, es entstand Panik. Einige wurden von der Tribüne gestoßen, andere trafen auf verschlossene Tore. Am Ende waren 74 Menschen tot.

Einen Tag nach den Vorfällen in Port Said marschieren Ultras von Al Ahly zum Tahrir-Platz. Foto: Tori Aarseth, CC BY-NC-SA 2.0.

Wollte die Armee den rebellischen Ultras von Al Ahly eine Lektion erteilen? Planten Gefolgsleute von Mubarak die Destabilisierung des neuen Militärrats? Landesweit kam es zu Straßenschlachten. Die Aufarbeitung von Port Said verdeutlichte, wie sehr Politik und Justiz verflochten sind. Etliche der 73 Angeklagten beschwerten sich über willkürliche Festnahmen, einseitige Ermittlungen, unglaubwürdige Beweise. Am 26. Januar 2013, am zweiten Jahrestag des Revolutionsbeginns, wurden 21 Beschuldigte zum Tode verurteilt, die meisten von ihnen waren Ultras von Al Masry. „Hochrangige Militärs und Polizisten mussten sich nicht verantworten“, sagt Jan Busse. „Die Straflosigkeit für Sicherheitskräfte ist ein gängiges Phänomen in Ägypten.“

Die Ultras werden von den Geheimdiensten streng überwacht

Am 3. Juli 2013 putschte das Militär gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. Einer der Hauptverantwortlichen für den Staatsstreich war der General Abdel Fattah al-Sisi, der seit dem 8. Juni 2014 das Präsidentenamt bekleidet. Mehr als drei Jahre nach der Revolution war Ägypten von einer demokratischen Regierung weit entfernt, die Wirtschaft stagnierte, und Sisi verschärfte die Repression gegen die marginalisierte Zivilgesellschaft weiter.

Am 8. Februar 2015 wollte die Regierung die Stimmung testen und für ein Spiel wieder Fans zulassen. Das Innenministerium begrenzte die Zuschauerzahl für das Spiel zwischen Zamalek und ENPPI auf 10.000. Allerdings fanden sich weit mehr Menschen vor dem Stadion der Luftwaffe am Rande von Kairo ein. Tausende drängten sich vor dem schmalen Einlass. Die Atmosphäre wurde aggressiver, plötzlich schoss die Polizei Tränengas in die Menge. Massenpanik, Schlägereien, brennende Autos, am Ende waren zwanzig Menschen tot, die meisten von ihnen Mitglieder der White Knights.

Die Ligaspiele fanden weiter ohne Zuschauer statt, die Ultras wurden als terroristische Vereinigungen dämonisiert. Einige Mitglieder schauten sich seither Spiele im Basketball, Handball oder Volleyball an. Oder sie reisten mit ihren Klubs zu Auswärtsspielen der afrikanischen Champions League. „Die Ultra-Führer, die nicht im Gefängnis sitzen, werden von den Geheimdiensten beobachtet“, sagt der Ägypter Hussein Baoumi, der für Amnesty International in Tunis arbeitet. Es sei wahrscheinlich, dass Telefonate abgehört und Emails kontrolliert werden, daher halten sich Ultras in den sozialen Medien zurück. Baoumi sagt: „Die Regierung fürchtet sich vor organisierten Gruppen, also will sie jede Mobilisierung im Keim ersticken.“

Nationalhelden wie Aboutrika sind vor staatlicher Willkür nicht sicher

Diese Furcht reicht offenbar so weit, dass selbst an Nationalhelden Exempel statuiert werden. Mohamed Aboutrika gilt als einer der wichtigsten Spieler der ägyptischen Geschichte. 2006 und 2008 führte er das Nationalteam zum Gewinn des Afrika-Cups, in seinen 100 Länderspielen schoss er 38 Tore. Fast zehn Jahre spielte er für Al Ahly. Aber Aboutrika traf seine eigenen Entscheidungen: Er positionierte sich gegen ein Gehaltsgefälle im Fußball, sammelte Spenden für benachteiligte Menschen, sympathisierte offen mit der Bevölkerung im Gaza-Streifen.

Im September 2012 spielte Al Ahly im ägyptischen Supercup gegen ENPPI, es war das erste offizielle Spiel nach der Katastrophe von Port Said sieben Monate zuvor. Die Ultras boykottierten die Partie, auch als Zeichen gegen die schleppende Aufarbeitung. Mohamed Aboutrika tat es ihnen gleich und weigerte sich, gegen ENPPI aufzulaufen. Er wurde zwei Monate gesperrt. Monate später fühlten sich Mitglieder des Militärregimes brüskiert, denn Aboutrika wollte sich von ihnen keine Medaille umhängen lassen. Immer lauter wurde gemutmaßt, dass er den Muslimbrüdern nahestehe. Aboutrika bestreitet das. 2015 wurden seine Bankguthaben in Ägypten vorübergehend eingefroren, laut seinem Anwalt soll er seit 2017 auf einer Terrorliste der Regierung stehen.

Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi wählt für seine Fußballbühne andere Hauptdarsteller. Am 8. Oktober 2017 qualifizierte sich das ägyptische Nationalteam mit einem 2:1 gegen die Republik Kongo für die WM in Russland, den Siegtreffer schoss Mohamed Salah, die nationale Fußballikone in Diensten des FC Liverpool. Abdel Fattah al-Sisi empfing die Mannschaft bei der Eröffnung eines neuen Messezentrums. In seiner Rede verknüpfte er Sport, Wirtschaft und Politik. „Sisi wollte den Erfolg der Mannschaft als den Erfolg seiner Regierung verkaufen“, sagt Amr Magdi von Human Rights Watch. „Für ihn ist Fußball eine PR-Kampagne, um von negativen Themen abzulenken.“

Die Kritik aus den USA und der EU bleibt verhalten

Auch während der WM 2018 wurde die ägyptische Auswahl politisch beansprucht, vor allem in ihrem Quartier in Grosny in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Der autokratisch regierende Präsident Ramsan Kadyrow besuchte eine Trainingseinheit der Ägypter. Kadyrow, dem unter anderem Mord und Folter zur Last gelegt werden, ernannte Mo Salah zum Ehrenbürger Grosnys.

Salah soll darüber erbost gewesen sein, er wird längst auch in anderen arabischen Ländern als Idol wahrgenommen. Sein Konterfei ziert Werbebanner, Häuserwände, Fanartikel – und im April 2019 auch das Titelbild von „Time“. Das amerikanische Magazin ernannte ihn als eine der 100 weltweit einflussreichsten Personen. Bei den ägyptischen Präsidentschaftswahlen 2018 sollen eine Million Menschen für Salah gestimmt haben, obwohl dieser gar nicht kandidierte.

Abdel Fattah al-Sisi gewann die Wahl mit mehr als neunzig Prozent, potentielle Gegenkandidaten waren zuvor verhaftet oder zum Rückzug gedrängt worden. Aus den USA und der Europäischen Union blieb die Kritik verhalten. Die westlichen Industriestaaten beschreiben Ägypten als Partner gegen Terrorismus. „Wir fordern nicht das Ende der diplomatischen Beziehungen mit Ägypten“, sagt Amr Magdi. „Aber die USA und Europa können auf andere Weise Druck ausüben, zum Beispiel mit einer Einschränkung von Militärhilfen und Handelsbeziehungen.“

Ab dem 21. Juni wird in Ägypten der 32. Afrika Cup ausgetragen, erstmals mit 24 Teams. Wird Präsident Sisi seine Regierung als demokratisch inszenieren? Oder bringt das Turnier Themen an die Öffentlichkeit, die selten diskutiert werden? Osama Ismail, Mediendirektor des ägyptischen Fußballverbandes, sagte gegenüber dem WDR-Fernsehmagazin Sport Inside: „Wir garantieren, dass es keine Beschränkungen für die Anwesenheit von Zuschauern geben wird. Ägypten hat das Interesse, der Welt zu zeigen, dass wir den Terror im eigenen Land besiegen konnten. Die offenen Stadien sind ein Vorschuss an Liebe für die Zuschauer.“

In den dreißig Jahren unter Mubarak war die Menschenrechtslage nicht so dramatisch wie nun unter Sisi. Und das spiegelt sich auch im Fußball: Offiziell haben sich die Ultras aufgelöst. Frühere Mitglieder gehen zum Basketball oder Handball. Oder sie reisen mit ihren Klubs zu Auswärtsspielen der Champions League. Seit 2018 sind wieder wenige tausend Zuschauer bei Fußball-Ligaspielen zugelassen. Aber die ausgelassene Atmosphäre? Die sozialen Freiräume im Stadion? Vorerst Geschichte.

 


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


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Die Veröffentlichung dieses Beitrags wurde auch durch die Unterstützung des 120minuten-Lesekreises möglich. Stellvertretend für alle bedanken wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Ralf, unserem neuesten Lesekreis-Mitglied. Du möchtest 120minuten ebenfalls aktiv unterstützen? Dann bitte hier entlang!

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https://120minuten.github.io/fussball-in-aegypten-rebellische-ultras-im-untergrund/feed/ 0 6304
WM 2019 – 24 Spielerinnen, die die Welt verändern – Gruppe F https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-f/ https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-f/#respond Thu, 06 Jun 2019 07:00:54 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6055 Weiterlesen]]> Auf den ersten Blick sind die Rollen in der Gruppe F klar verteilt: Mit den USA als amtierenden Weltmeisterinnen und Schweden, die sich den Titel bei diesem Turnier selbstbewusst zutrauen, sind gleich zwei starke Gegner vertreten. Doch auch Chile möchte bei der ersten WM-Teilnahme überhaupt eine gute Rolle in dieser Gruppe spielen. Für Thailand geht es als Erstes darum, endlich einen Turniersieg zu erzielen – weitere Ziele anschließend nicht ausgeschlossen.

USA: Viel Druck für die amtierenden Weltmeisterinnen

Die Vereinigten Staaten von Amerika: „The land of the free and the home of the brave …“ – Mittlerweile steht diese Zeile aus der US-amerikanischen Nationalhymne für den Einsatz für Bürgerrechte und Demokratie. Werte, die momentan in Gefahr sind. Eine, die frei und tapfer für diese Werte einsteht, ist Megan Rapinoe. Und manchmal bedeutet, für etwas einzustehen, niederzuknien.

Dies tat Rapinoe 2016 beim Spiel der Seattle Reign gegen die Chicago Red Stars, als – wie vor jedem Spiel der National Women’s Soccer League (NWSL) – die Nationalhymne gespielt wurde. Nach dem Spiel kommentierte sie ihre Geste kurz und knapp: Es sei das Mindeste, was sie als Weiße tun könne, um den durch Quarterback Colin Kaepernick begonnenen Protest schwarzer Sportler*innen gegen Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze zu unterstützen.

Eine, die voran geht: Megan Rapinoe. (Foto: Tom Seiss)

Die amerikanische Nationalmannschaft hat viele Superstars. Alex Morgan und Carli Lloyd sind Namen, die selbst in Deutschland einigen Menschen geläufig sind. Begnadete Offensivspielerinnen, Idole, Fußballmillionärinnen. Auch Megan Rapinoe gehört in diese Kategorie. Und doch hat sie etwas an sich, das sie abhebt.

Rapinoe liest das Spiel, verteilt die Bälle und gehört gemeinsam mit Portlands Tobin Heath und Chelseas Magdalena Eriksson zu den drei besten Eckballkünstlerinnen der Welt. Ihre größte Stärke aber ist ihre Unausrechenbarkeit. Gegenspielerinnen verzweifeln regelmäßig an Rapinoes schlitzohrigen Pässen. Sie kann aus jeder Position aufs Tor schießen oder eine Mitspielerin bedienen. Mit 33 Jahren ist Megan Rapinoe aktuell in der Form ihres Lebens.

Sportbegeistert und vielseitig war die Kalifornierin schon immer. Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Rachael spielte sie von klein auf Fußball, vorwiegend in Mannschaften, die ihr Vater trainierte. Auch in Basketball und im Laufen brachten die Schwestern Rapinoe gute Leistungen.

Engagiert für LGBT-Rechte und Frauenfußball

Die NWSL wurde 2013 als Nachfolgerin der beiden ebenfalls professionellen Vorgängerligen WUSA (Women’s United Soccer Association, 2001-2003) und WPS (Women’s Professional Soccer, 2009-2011) ins Leben gerufen. Rapinoe spielte bis zur Schließung der WPS für drei verschiedene Franchises, wechselte 2011 für zwei Spiele zu Sydney FC und kehrte anschließend in die USA zurück, um sich auf die Olympischen Spiele 2012 vorzubereiten. Das im US-Sport gängige Draft-System, in dem Spieler*innen einem Team zugewiesen werden, brachte Rapinoe in der allerersten Saison der NWSL nach Seattle. Seitdem spielt sie für Reign FC, die bis letzte Saison noch Seattle Reign hießen.

2013 und 2014 lief sie außerdem für Olympique Lyon auf und stand unter anderem in dem Champions-League-Finale, das Lyon gegen den VfL Wolfsburg verlor. Der Spielmodus der NWSL ermöglicht es Spielerinnen, jedes Jahr für mehrere Monate ins Ausland zu wechseln. Neben der französischen und der schwedischen Liga – früher auch der Bundesliga – ist die australische W-League seit einigen Jahren das beliebteste Ziel vieler NWSL-Spielerinnen.

Megan Rapinoe gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten Seattles. Sie engagiert sich seit Jahren für LGBT-Rechte und Frauensport in Seattle. Und mit Basketballstar Sue Bird hat sie eine Lebenspartnerin, die ihr in ihren Kämpfen um Gleichberechtigung kompromisslos zur Seite steht. Der aktuellste dieser Kämpfe hat jüngst erneut weltweit Schlagzeilen gemacht: Bereits vor den Olympischen Spielen 2016 legten Megan Rapinoe, Alex Morgan, Carli Lloyd, Becky Sauerbrunn und Hope Solo (Karriere beendet) bei der Equal Employment Opportunity Commission (Bundesbehörde zur Durchsetzung von Bürgerrechtsgesetzen gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz) offiziell Beschwerde wegen Lohndiskriminierung ein. Sie verdienten oft nur die Hälfte oder weniger als die Hälfte als die Spieler der Männernationalmannschaft.

So würden das Team um Megan Rapinoe gerne wieder jubeln. (Foto: Tom Seiss)

Eine Kommission erteilte den Spielerinnen im Februar 2019 das Recht, zu klagen. Am 8. März 2019 reichten dann alle aktuellen Nationalspielerinnen der USA eine Sammelklage gegen die United States Soccer Federation, den US-amerikanischen Fußballverband, ein. Rapinoe und ihre 27 Teamkolleginnen machen den Verband für systematische Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verantwortlich. Im Vergleich mit der in den USA weniger erfolgreichen Männerfußballnationalmannschaft hätten die Frauen erheblich schlechtere Reise- und Trainingsbedingungen. Außerdem erhielten sie geringere Prämien, obwohl sie höhere Einnahmen und Zuschauerzahlen generierten. Eine Entscheidung über die Klage steht noch aus. Sie wird vermutlich erst nach der Weltmeisterschaft in Frankreich fallen.

Das Turnier in Frankreich wird Rapinoes dritte und wahrscheinlich letzte Weltmeisterschaft sein. Als amtierende Weltmeisterinnen und Weltranglistenerste sind die Amerikanerinnen der klare Titelfavorit. Nach den französischen Fans haben sich amerikanische Fans mit Abstand die meisten WM-Tickets gesichert – das Gruppenspiel USA gegen Schweden war als eine der ersten Begegnungen ausverkauft. Viel Druck für die Frauen von Trainerin Jill Ellis. Nach einer mühelosen WM-Qualifikation, bei der bis auf Kanada kein Gegner eine ernsthafte Herausforderung war, gerieten die dreimaligen Weltmeisterinnen Anfang des Jahres bei einem Testspiel gegen Frankreich ins Straucheln.

Auch der heimische „SheBelievesCup“ – einem aus vier Nationalteams bestehenden Einladungsturnier – konnte nicht gewonnen werden. Angesichts der individuellen Stärke der Spielerinnen zeigten die USA erstaunliche Abwehrschwächen. Der Offensive fehlte häufig die gewohnte Durchschlagskraft. Megan Rapinoe ist tapfer und sie ist frei. Es steht außer Frage, dass sie dazu in der Lage ist, gleichzeitig Vorkämpferin für sozialen Wandel zu sein und den Titel zurück in die USA zu holen.


Zur Person: Ellen Hanisch schreibt als Journalistin über den nationalen und internationalen Fußball. Sie gehört zum Podcast-Kollektiv FRÜF und betreibt die Seite Fußballthesen.

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Thailand: Mit einem Sieg das Minimalziel erreichen

Thailand, das Land des Lächelns. Thailand, das Land, das zum zweiten Mal in Folge seine Frauen-Nationalmannschaft zu einer Fußball-WM schickt. Was das miteinander zu tun hat? Beides spiegelt nicht die Realität und die eigentlichen Verhältnisse wider. Nicht jede*r Thai wird einem auf den Straßen Bangkoks mit einem echten Lächeln begegnen. Und nur, weil das Team sich zweimal nacheinander für eine WM qualifizieren konnte, heißt es nicht, dass sich im Land des Asienmeisters von 1983 sportlich etwas tut.

Aufgrund der Kräfteverhältnisse im asiatischen Frauenfußball war klar, dass man es 2015 nur über ein Spiel um Platz 5 gegen den Erzrivalen aus Vietnam nach Kanada schaffen könnte. Vier Jahre später hatte Thailand viel leichteres Spiel – und Losglück. Vor den Philippinen und Jordanien sicherte man sich Platz 2 in der Vorrunde der Asienmeisterschaft und hatte sich damit schon für Frankreich qualifiziert. Wären die Thais an der Stelle Vietnams in der anderen Gruppe mit Japan, Australien und Südkorea gewesen, hätten sie diesen Sommer wohl allenfalls eine Urlaubsreise nach Europa buchen können.

International erfahrenes Team

Hoffte man nach 2015 im Zuge der erstmaligen Teilnahme an einer WM auf einen Schub im eigenen Land, so muss man konstatieren, dass dieser ausblieb. Es regiert Stillstand statt Fortschritt. Das Interesse am Frauenfußball ist fast nicht existent und der Verband tut wenig bis nichts, um dies zu ändern. Eine nationale Liga findet nur sporadisch statt und hat eher Alibicharakter, um zum Beispiel die FIFA als Geldgeber zufriedenzustellen.

Das macht sich auch am Team von Trainerin Nuengruethai Sathongwien, welches im Großen und Ganzen fast noch das gleiche ist wie in Kanada, bemerkbar. Ohnehin besteht es im Kern aus Spielerinnen, die so schon seit den frühen 2000er Jahren zusammenspielen. Entsprechend international erfahren ist die Mannschaft um Kapitänin Sunisa Srangthaisong, die mit über 100 Länderspielen hervorsticht.

Das thailändische Nationalteam im Jahr 2015. (Foto: Sven Beyrich)

Erstmals bei der WM dabei sein wird Pitsamai Sornsai. Die inzwischen 30-Jährige galt einst als eines der größten Sturmtalente und ist mit über 45 Toren die erfolgreichste Torschützin Thailands. 2013 wechselte sie nach Japan und zog sich dort gleich in einer der ersten Saisonspiele eine schwere Knieverletzung zu. Nachdem sie sich zurückgekämpft hatte, erlitt sie das gleiche Schicksal erneut, was ihre Hoffnung auf eine Teilnahme an der WM 2015 zunichtemachte. Der Australier Spencer Prior, Trainer der Nationalmannschaft von 2016 bis 2017, formte aus der einstigen Stürmerin eine Verteidigerin mit Drang für die Offensive. Unter der alten-neuen Cheftrainerin Sathongwien wird Sornsai inzwischen sowohl im Mittelfeld als auch wieder im Sturm eingesetzt. Neu im Team ist unter anderem die Thai-Amerikanerin Miranda Nild die mit ihrer großen und wuchtigen Statur eine neue physische Komponente in das Angriffsspiel der Thailänderinnen bringt.

Die Elf definiert sich über Kampfgeist und mannschaftliche Geschlossenheit. Vor allem, wenn es gegen überlegene Gegner geht. An guten Tagen bringen sie dann schon mal Australien an den Rand einer Niederlage, wie zuletzt im Halbfinale der Asienmeisterschaft. Gegen gleichwertige oder schwächere Gegner zeigt Thailand gerne sein spielerisches Potenzial, welches von vielen Ballstafetten und Kurzpassspiel geprägt ist, solange sie nicht dabei gestört werden. Im Mittelfeld zieht Silawan Intamee die Fäden, die ihre Stärken auch und vor allem bei Standards hat. Bei Kontern sollte man auf Kanjana Sungngoen achten. Inzwischen 32 Jahre alt, hat sie von ihrer Schnelligkeit auf dem Flügel im Vergleich zu 2015 nur wenig eingebüßt.

In Sachen Gegnerinnen kann einem die Nationalmannschaft Thailands fast ein wenig leidtun: Zwar gelang vor vier Jahren der erste historische Sieg bei einer WM, man traf aber bei der Premiere gleich auf den damaligen Weltranglistenbesten – Deutschland. Dazu gesellten sich Norwegen und die Elfenbeinküste. Ganz schön hart für einen Neuling. Dass es noch einmal eine Spur härter geht, zeigte die Auslosung zur WM 2019. Abermals ist es an Thailand, sich mit der Nummer 1 der Welt zu messen – diesmal werden es die USA sein. Und sowohl Schweden als auch Chile sind, was die Schwierigkeit angeht, erneut eine Steigerung zu 2015.

Die gute Nachricht für Thailand bei dieser WM lautet, dass man das Turnier nach den beiden harten Spielen und zu erwartenden Niederlagen gegen die USA und Schweden mit einem positiven Abschluss verlassen könnte, in dem man den letzten Gruppengegner, Chile, bezwingt. Wie schon 2015 hätte man so das Minimalziel erreicht und könnte Frankreich mit einem Lächeln verlassen. Das Traumziel Achtelfinale wird aber mindestens noch weitere vier Jahre auf sich warten müssen. Dann aber mit einer neuen Generation an Spielerinnen.



Zur Person: Sven Beyrich ist Experte in Sachen asiatischem und Frauen-Fußball und eine Hälfte des Podcasts Lottes Erbinnen.

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Chile: Heimvorteil für die Torhüterin Christiane Endler

Der chilenische Fußball fiel in der jüngeren Vergangenheit durch Überraschungssiege bei der Copa America gegen den Favoriten Argentinien auf. Blickt man etwas weiter zurück in die 1990er Jahre, kommen Erinnerungen an Ivan „der Schreckliche“ Zamorano hoch, der beim FC Sevilla, bei Real Madrid sowie Inter Mailand vor allem per Kopf für Torgefahr sorgte. Und das bei 1,78m Körpergröße.

Bei den chilenischen Frauen sucht man vergebens eine Nachfolgerin für Zamorano. Zumindest im Sturm. Im Tor steht dagegen mit Christiane Endler eine Weltklasse-Spielerin. Die chilenische Nationaltorhüterin hat eine illustre Reise hinter sich, hat sie doch bereits für Everton und Colo-Colo in ihrem Heimatland Chile gespielt, bevor sie im Dienste von Chelsea den europäischen Fußball hautnah erlebte. Nach erneut Colo-Colo, dann Valencia in Spanien, trägt sie nun seit 2017 die Nummer 16 im Tor der Frauen von Paris Saint-Germain.

Ihr Name klingt sehr deutsch: Endlers Vater ist Deutscher, ihre Mutter Chilenin. Schon früh zeigte sich ihr sportliches Talent und sie entschied sich letztlich für den Fußball. Einer ihrer früheren Trainer entschied sich, sie als Torhüterin aufzustellen. Es zahlte sich aus, denn 2008, als 17-Jährige, spielte Endler bei der U-20 WM im eigenen Land. Damals musste ihre Mannschaft mächtig Lehrgeld zahlen: Alle drei Vorrundenspiele gingen verloren. England, Neuseeland und Nigeria waren zu stark. Im Spiel gegen England stand 2008 auch eine gewisse Steph Houghton auf dem Platz, die ihre Mannschaft 2019 in Frankreich als Kapitänin aufs Feld führen wird.

Hält bei PSG und in der Nationalmannschaft den Kasten sauber: Christiane Endler. (Foto: Tom Seiss)

Die Pariser stehen währenddessen vor einem Luxusproblem, denn mit Christiane Endler und der Polin Katarzyna Kiedrzynek stehen zwei der besten Torhüterinnen im Dienste von PSG. Natürlich belebt Konkurrenz das Geschäft – und ganz unzufrieden ist Endler nicht mit der Situation, denn nur so kann sie sich weiterentwickeln. Es herrscht eine gesunde Rivalität und beide Spielerinnen arbeiten zusammen, um sich zu verbessern, so Endler. Bevor sie nach Paris zog, wurde sie in Spanien für Valencia spielend zur besten Torhüterin gewählt. Dort hatte sie die beste Gegentore-pro-Spiel-Quote während der Saison 2016/17: Nur neun Tore kassierte sie, in 23 Spielen.

Zuversicht trotz Mangels an Erfahrung

Auch in diesem Jahr wurde sie von ihren Kolleginnen und Trainern zur besten Torhüterin der Saison gewählt. Zuvor wurde sie zwischen 2008 und 2017 zur besten chilenischen Spielerin gekürt. Zudem hat Endler mehrfach die Meisterschaft in Chile gewonnen, sowie auch die Copa Libertadores mit ihrem Heimatverein Colo-Colo. Ganz in der Tradition ihrer deutschen Vorfahren wird ihr Spiel mit dem von Manuel Neuer verglichen und obendrein ist Oliver Kahn ihr Vorbild.

Für sie ist PSG einer der größten Clubs der Welt, und somit war der Wechsel nur logisch. Aber wie sieht es aus mit PSG? Im Fußball zählen nur Titel; davon hat PSG außer einem Pokalsieg 2018 wenig vorzuweisen. Auch in der abgelaufenen Spielzeit war Lyon in der Meisterschaft einfach stärker und deklassierte PSG um fünf Punkte im Titelrennen. In der Champions League war im Viertelfinale gegen Chelsea Schluss. Das Ausscheiden war besonders bitter, da Chelsea erst in der Nachspielzeit zum 1:2 verkürzen konnte und somit über die Auswärtstorregel weiterkam. Trotzdem gehört Paris Saint-Germain zu einer der Top-Adressen im Fußball, auch bei den Frauen. Weshalb es für Endler klar war, nach Frankreich zu wechseln.

Chile wird zum ersten Mal bei einer WM dabei sein und Endler ist zuversichtlich, dass die Mannschaft sich gut schlagen wird, trotz des Mangels an Erfahrung. Sie spricht in einem Interview davon, dass ihr Team sich auf das Turnier freue, fügt aber auch hinzu, dass die Gruppe mit den USA, Thailand und Schweden keine einfache sei. Endler selbst wird beim Turnier einen Heimvorteil haben, spielt sie doch in Paris und kennt demzufolge die Stadien und die Atmosphäre.

Zur Person: Christoph Wagner forscht, schreibt über Fußball und gehört zur Redaktion von 120minuten.

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Schweden: Die Welt verbessern, den Titel gewinnen

Die schwedische Frauenfußball-Nationalmannschaft möchte bei dieser Weltmeisterschaft endlich wieder zu den Top-Teams gehören. Unterlag man bei der letzten WM in Kanada 2015 im Achtelfinale mit 1:4 ausgerechnet Deutschland, so soll dieses Jahr der Titel her. Dabei wird Nilla Fischer vom Bundesligisten VfL Wolfsburg eine wichtige Rolle spielen. Die 34-Jährige ist eine, die vorangeht – auf und neben dem Platz. 2001 debütierte das gerade einmal 16 Jahre junge Talent während eines Wintertrainingslagers gegen Norwegen in der schwedischen A-Nationalmannschaft. Insgesamt kommt die Innenverteidigerin seitdem auf 175 Einsätze für die A-Nationalmannschaft. Ihren größten Erfolg mit der „Natio“ feierte sie bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro, als sie im Schweden-Dress die Silbermedaille gewann – auch damals unterlag man im Finale den Deutschen mit 1:2.

Über Verums GOIF und Vittsjö GIK gelang ihr 2000 der Wechsel zum Kristianstad DFF, bei dem sie erstmals in Schwedens höchster Frauen-Spielklasse auflief. Nur drei Jahre später schaffte sie den Sprung zu Malmö FF, jetzt bekannt als FC Rosengård. 2010 gewann sie mit dem Klub ihre erste schwedische Meisterschaft und verteidigte den Titel prompt im Jahr darauf, 2012 folgte der Wechsel zu Linköpings FC. Fischer, die sich zu einer gestandenen Innenverteidigerin entwickelte, machte mit tollen Leistungen auf sich aufmerksam und wurde zur Saison 2013/2014 vom damaligen Wolfsburg-Trainer Ralf Kellermann, der gleichzeitig als sportlicher Leiter agierte, ablösefrei in die Autostadt gelotst – für beide Seiten ein wahrer Glücksgriff. Fischer etablierte sich unmittelbar als Führungsspielerin und war jahrelang Kapitänin der „Wölfinnen“. Mit dem VfL holte sie in sechs Jahren satte zehn Titel: einmal die Champions League, viermal die Deutsche Meisterschaft und stolze fünfmal den DFB-Pokal.

Starke Performance auf und neben dem Platz: Nilla Fischer. (Foto: Tom Seiss)

Während die schwedische Liga zwischen 2002 und 2008 lange zu einer der besten der Welt zählte – Umeå IK stand in der Zeit fünf Mal im Finale Women’s Cup – und Spielerinnen wie Marta ausbildete, muss sich die „Damallsvenskan“ (Dam = Frauen und Allsvenskan = Name der Herren-Liga) mittlerweile hintenanstellen. Länder wie Deutschland, England, Spanien und Frankreich haben wirtschaftlich aufgeholt und locken mit ihren attraktiven Gesamtpaketen die Top-Talente der schwedischen Liga. Infolge der Abwanderung prominenter schwedischer Spielerinnen aus der geringer budgetierten Damallsvenskan, bauen die Teams nun vermehrt auf die Ausbildung und Förderung ihrer eigenen Jung-Talente. Die Spannung in der Liga ist jedoch auch ohne prominente schwedische Weltklassespielerinnen garantiert: So schaffte es beispielsweise ein gesetzter Abstiegskandidat wie Limhamn Bunkeflo die vermeintlich „Großen“ des FC Rosengård zu Hause mit 3:2 zu schlagen. 2018 wurde mit Piteå IF eine Mannschaft Meister, deren Spielerinnen parallel zum Sport arbeiten beziehungsweise studieren.

Engagement über das Spiel hinaus

Auch wenn es sich bei Fußball um eine Berufung handelt, so gibt es Momente, in denen der Sport in den Hintergrund gerät. Und so ist Fußball nicht mehr alles im Leben der Nummer 4 des VfL Wolfsburg. Die Prioritäten der Abwehrspielerin änderten sich am 25. Dezember 2017, als Ehefrau Maria Michaela, die sie 2013 heiratete, Söhnchen Neo zur Welt brachte. „Neo rules the world“, sagte sie damals in einem Interview. Daraus resultierte auch der Entschluss, nach der laufenden Saison nach Schweden zurückzukehren. Bei den Wolfsburgerinnen lief ihr Vertrag ursprünglich regulär noch bis 2020, die Innenverteidigerin machte aber von der Ausstiegsklausel Gebrauch, die ihr eine vorzeitige Rückkehr nach Schweden zur Saison 2019/2020 ermöglichte. Sie unterschrieb einen Zwei-Jahres-Kontrakt bei Linköpings FC. „Ich habe sonst immer meine Entscheidungen als Fußballerin getroffen, dieses Mal habe ich mich aber als Mutter zu diesem Schritt entschlossen, weil es für uns wichtig ist, dass unser Sohn im familiären Umfeld aufwächst“, begründete die 34-Jährige den vorzeitigen Wechsel zurück in die Damallsvenskan.

Fischer wird nicht nur spielerisch eine große Lücke hinterlassen. Auch menschlich hat sie viel bewegt – in Wolfsburg und ganz Deutschland, in Teilen sogar auf der ganzen Welt: Seit dieser Saison laufen alle Spielführer*innen des VfL Wolfsburg mit einer Regenbogen-Kapitänsbinde auf. Der Verein will damit ein klares Zeichen gegen Ausgrenzung und Homophobie und für die Vielfalt im Fußball setzen. Initiiert hat das ganze Fischer, die sich seit Jahren für die Rechte und die Anerkennung Homosexueller einsetzt. Im März 2017 trat die Fußballerin im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ an ihren Verein heran und bat darum, eine Regenbogen-Kapitänsbinde tragen zu dürfen. „Der Regenbogen symbolisiert Stolz, Vielfalt und Respekt füreinander. Im Fußball machen wir uns oft gegen Rassismus stark, was großartig ist. Aber mir ist es wichtig, das große Ganze zu betrachten, und da müssen wir auch Homophobie und Sexismus ins Blickfeld nehmen“, sagte sie damals.

„Hört niemals auf, Fußball zu spielen und hört niemals auf, für Gleichberechtigung zu kämpfen.“ (Foto: Tom Seiss)

Als sie 2018 zu Schwedens Fußballerin des Jahres und zur besten Verteidigerin Schwedens gekürt wurde, hielt sie bei der Gala des schwedischen Fußball-Verbandes eine bewegende Rede und sprach über die ungleiche Bezahlung im Männer- und Frauensport: „Ungerechtigkeit tut weh! Würde ich heute hier als Mann stehen, mit der Karriere, die ich gehabt habe, bräuchte ich mir keine ökonomischen Sorgen mehr machen, auch meine Kinder nicht. Wir spielen, weil wir den Sport lieben. Deshalb möchte ich euch Mädchen sagen: Hört niemals auf, Fußball zu spielen und hört niemals auf, für Gleichberechtigung zu kämpfen.“

Fischer hat die Ansichten einer ganzen Stadt nachhaltig verändert. Sie hat etwas bewegt. Sie hat unermüdlich gekämpft und sich eingesetzt. Sie hat eine Verbindung hergestellt, denn der Regenbogen, ein starkes Zeichen für Akzeptanz, ist aus Wolfsburg nicht mehr wegzudenken. Diese Werte verkörpert sie auch als eine der Leistungsträgerinnen der schwedischen Frauenfußball-Nationalmannschaft. Es ist davon auszugehen, dass die Innenverteidigerin auch bei der nun anstehenden Weltmeisterschaft in Frankreich, die wohl gleichzeitig ihr letztes großes Turnier sein wird, ein weiteres (Ausrufe-) Zeichen setzen wird. Sie wird alles dafür geben, mit ihrem Team in diesem Jahr endlich den lange ersehnten ersten Weltmeistertitel zu gewinnen – und ihre internationale Karriere noch ein (letztes) Mal zu krönen.


Zur Person: Jasmina Schweimler schreibt als Journalistin unter anderen für die WAZ und den Sportbuzzer über Frauenfußballer und gehört zum Podcast-Kollektiv-FRÜF.

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