gastautor – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 02 Jan 2019 11:39:22 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Der FC Bayern München und die Strategie der Kulturschule https://120minuten.github.io/der-fc-bayern-muenchen-und-die-strategie-der-kulturschule/ https://120minuten.github.io/der-fc-bayern-muenchen-und-die-strategie-der-kulturschule/#comments Mon, 16 Oct 2017 07:00:04 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3705 Weiterlesen]]> Der FC Bayern München ist unbestreitbar der größte und wichtigste Fußballclub in Deutschland. Doch nicht nur seine großen sportlichen Erfolge machen ihn zu einem hochinteressanten Verein, sondern auch seine hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Der Umsatz der ausgegliederten Aktiengesellschaft lag im Geschäftsjahr 2014/2015 bei 523,7 Millionen Euro. In diesem Text möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern der Erfolg und vor allem die dafür verantwortliche Strategiebildung sich mit dem Konzept der Kulturschule nach Henry Mintzberg erklären lassen.

Autor: Luca Schepers, prettylittlemovies.blogspot.de

Die Kulturschule

In seinem Buch „Strategy Safari“ beschäftigt sich der kanadische Wirtschaftswissenschaftler Henry Mintzberg gemeinsam mit seinen Kollegen Bruce Ahlstrand und Joseph Lampel mit verschiedenen Möglichkeiten eines Unternehmens, seine Strategie zu wählen. Er teilt diese Möglichkeiten u.a. in die Lernschule, die Positionierungsschule oder eben die Kulturschule ein. Schauen wir uns zunächst die wichtigsten Eigenschaften der Kulturschule an, deren Grundsatz es ist, die Entwicklung einer Strategie als kollektiven Prozess zu begreifen.

Mintzberg und seine Kollegen[1] verstehen Kultur als eine Eigenschaft, die die Art und Weise einer Personengruppe, Handlungen auszuführen, einzigartig macht und ihr einen Wiedererkennungswert verleiht. Dabei kommt eine wichtige Dichotomie der Kultur zum Tragen: Sie durchdringt jede Faser einer Organisation und bleibt dennoch immer einzigartig. Bezogen auf die Welt des Fußballs wäre “Kultur” in diesem Verständnis also gewissermaßen das Lebensgefühl, das die Fans in der Kurve, aber auch die Mitarbeitenden auf der Geschäftsstelle mit ihrem Verein verbinden und das Sponsoren mit ihren Marken assoziiert sehen möchten. Mintzberg beschreibt weiterhin, dass die Kultur die „Lebenskraft der Organisation“[2] sei (oder das, “was uns zusammenschweißt”[3]), deren Beschaffenheit der eines menschlichen Körpers mit verschiedenen Organen ähneln würde. Allerdings ist sich die Organisation selbst kaum bewusst, dass sie so funktioniert. ‘Kultur’ läuft also eher unter der Oberfläche ab[4]. Mintzberg stellt im weiteren Verlauf fünf wichtige Prämissen der Kulturschule dar:

Als erstes geht es dabei darum, dass die Entwicklung einer Strategie als hochgradig interaktiver Prozess verstanden wird, der seinen Ursprung im gemeinsamen Wertesystem der Mitglieder hat. Im (Profi-)Fußball werden diese Werte von Vereinen in der Regel explizit benannt und/oder in einem andauernden Prozess zwischen Verein und Fans diskutiert und weiterentwickelt[5]. Dieses gemeinsame Wertesystem eignen sich die Individuen unbewusst an[6] – bezogen auf den Fußball also ganz im Sinne von Nick Hornby und seinem berühmten Zitat, dass man sich seinen Verein nicht aussucht, sondern dass das in der Regel genau umgekehrt läuft. Als dritte Prämisse wird aufgeführt, dass die Individuen diese Überzeugungen nur schwer beschreiben können. Daraus ergibt sich die Tatsache, dass Strategie nicht als bestimmte Position verstanden wird, sondern als Perspektive, durch die Überzeugungen des Unternehmens (bzw. hier: des Clubs) bewahrt werden. Als letzte Prämisse wird dargestellt, dass die Kultur eher den Status Quo befördert und nur marginale Änderungen zulässt[7].

Weiterhin zählt die Kulturschule zu den sogenannten „deskriptiven“ Strategieschulen. Diese versuchen nicht eine einzige richtige Strategie darzustellen, sondern zu verdeutlichen, wie Strategien entwickelt werden. Die Betonung liegt eher auf schwer messbaren Faktoren, wie z.B. der emotionalen Bindung an das Unternehmen (oder eben den Verein) und dem zielgerichteten Einsatz selbiger.

Das ständige Betonen der eigenen Überzeugungen fördert prinzipiell den langfristigen Erfolg. Problematisch kann dies jedoch werden, sobald Veränderungen kommen müssen, da sich die starken Überzeugungen nur schwierig ändern lassen. Das (Fußball-)Unternehmen fusioniert mit seiner Kultur: „Ein Unternehmen ist eine Kultur“[8]. Daraus leitet sich dann der nächste Punkt ab, nämlich, dass Flexibilität ein Teil der eigenen Identität werden muss und bestehende Überzeugungen hinterfragt werden müssen. Außerdem wird um die Kultur herum ein Netz aufgebaut, das u.a. Strategie, Belegschaft usw. enthält. Als letzten Punkt stellen die Autoren dann fest, dass es z.B. bei Unternehmensfusionen zu einem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen kommt und dies zu Problemen führen kann[9]. Bezieht man diese Aussage z.B. auf den Amateurfußball, wird deutlich, was hier gemeint ist: Wie viele wirtschaftlich und sportlich sinnvolle Vereinsfusionen sind schon daran gescheitert, dass die Mitglieder von Club A “auf gar keinen Fall mit denen da” zusammen gehen wollten, weil “die da” eben so ganz anders sind als man selbst?

Als eine der entscheidenden Feststellungen kann man die These bezeichnen, dass die Kultur eines Unternehmens als Schlüsselressource betrachtet werden kann. Dabei werden dann nicht mehr die schwer messbaren Faktoren betrachtet, sondern die rationalen und wirtschaftlichen.

Es ist festzustellen, dass Organisationen – und dazu zählen natürlich auch Fußballvereine – bestimmte Maßnahmen ergreifen müssen, um ihren Ressourcenvorteil zu verteidigen. Dazu gehört die Verhinderung von Nachahmern und das Aufbauen eines unangreifbaren Netzes aus verschiedenen Faktoren, sprich: eine Kultur. Diese fungiert als Hindernis für Nachahmer, da sie die Entstehung einzigartiger Ergebnisse befördert. Außerdem ist die Kultur selbst für die einzelnen Teile schwer nachzuvollziehen und zu reproduzieren. Das verschafft der Organisation einen unschätzbaren strategischen Vorteil[10].

Als letztes sollen an dieser Stelle die Gefahr der Zerstörung einer Unternehmens-, Organisations- oder Vereinskultur dargelegt werden. Sobald keine Spontanität mehr vorhanden ist und Managern nur das rein rational orientierte Handeln beigebracht wird, kann dies schnell zum Scheitern führen. Ein weiterer Grund wäre der Verlust des persönlichen Verhältnisses zwischen Mitarbeitern (oder Fans) und Unternehmen (oder Fußballclubs), „Mitarbeiter als Objekte behandeln“ (oder Anhänger*innen als Kunden), sowie ein ausschließliches Managen des Geldes[11] – der Bezug zur Diskussion um die fortschreitende Kommerzialisierung des Fußballs liegt sicherlich auf der Hand.

Alles in allem kann man also sagen, dass die Kulturschule sich an einer interaktiven Strategieentwicklung orientiert und den Fokus dabei vor allem auf eine enge persönliche Bindung des Individuums an die Organisation legt. Diese ist nach Mintzberg der wichtigste Faktor für den Erfolg. Schauen wir uns im nächsten Schritt einmal an, wie sich das Konzept der Kulturschule auf den FC Bayern München übertragen lässt.

Der FC Bayern München e.V.
Der FC Bayern München e.V. wurde am 27. Februar 1900 gegründet und spielt seit dem Jahr 1965 ununterbrochen in der 1. Fußball-Bundesliga. Bereits in dieser Gründungsphase umgab sich der Verein eher mit einem intellektuelleren Umfeld. Er ist der mitgliederstärkste Sportverein der Welt und liegt laut Zahlen der Firma Brand Finance auf Platz fünf der weltweit wertvollsten Fußballmarken. 2002 erfolgte die Ausgliederung der Profiabteilung Fußball vom Verein und die FC Bayern München AG entstand. Strukturell besteht sie aus einem Vorstand, dessen Vorsitz Karl-Heinz Rummenigge führt und einem Aufsichtsrat mit Karl Hopfner als Vorsitzendem. Die AG gehört zu 75,01% dem FC Bayern München e.V. und zu je 8,33% den Hauptsponsoren Adidas, Allianz und Audi[12]. In der modernen Fußballwelt agiert ein Profi-Verein in erster Linie als Unternehmen. Um einen langfristigen Unternehmenserfolg zu garantieren, sind vor allem Alleinstellungsmerkmale extrem wichtig für den Verein. Beim FC Bayern München (wie auch bei anderen Clubs) funktioniert dies über seine Vereinskultur.

(Scheinbare) Verbundenheit mit der Region

Seit seiner Gründung vor über 100 Jahren lebt der FC Bayern bestimmte Werte vor, durch die er sowohl Mitarbeiter als auch Kunden („Fans“) an sich bindet. Dazu gehört zunächst das Image des arroganten Erfolgsklubs, der seine Zuschauer aus einem gutbürgerlichen Milieu rekrutiert. Weiterhin die Tatsache, dass der Verein seit vielen Jahren beständig Erfolge feiert und zu einem immer größer werdenden Unternehmen geworden ist[13]. Ein Teil davon ist selbstverständlich auch, wie später zu sehen sein wird, das Clubmotto „Mia san Mia“. Aber es ist durchaus interessant, dass sich das öffentliche Image des FC Bayern München nicht ausschließlich aus dessen derzeitigem Erfolg generiert, sondern bereits in den Anfängen des Vereins zu erkennen ist.

Mintzberg ging davon aus, dass ein großer Teil der Kultur unbewusst existiere und bestimmte Dinge innerhalb der Kultur als gegeben angesehen werden. Dazu gehören beim FC Bayern vor allem die Siegermentalität, die gesamte Vereinskultur ist auf Erfolg ausgerichtet. Was jedoch unbewusst geschieht, ist, dass der Verein trotz seines hohen Umsatzes (2014/15: 523,7 Millionen €), seiner globalen Ausbreitung und seiner Börsennotierung immer noch als Familienunternehmen gilt. Dies hängt vor allem mit der Tatsache zusammen, dass viele ehemalige Spieler sich inzwischen in hohen Positionen befinden und den Verein leiten, so z.B. Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge u.a.[14]

Auf seiner Homepage beschreibt der Verein die Werte, nach denen er sich richten möchte. Sie sind Teil der Strategie und stellen vor allem die Überzeugungen der Mitglieder der Organisation dar. Ziel der Strategie muss es sein, Menschen an den Verein zu binden, sowohl „einfache“ Mitarbeiter, als auch Profi-Fußballer. Werte wie z.B. Tradition, Verantwortung, Respekt, aber auch Erfolgsbewusstsein sorgen für eine starke, unbewusste Bindung der Menschen an den Verein[15]. Selbst bei einem Misserfolg werden sie sich nicht vom FC Bayern abwenden, da für sie andere Dinge entscheidend sind als der pure Erfolg.

Weiterhin beeinflussen vor allem die Fans die Entstehung der Strategie und der Marke. Durch das Verhalten der Fans wird der Verein geprägt, beim FC Bayern München fühlt man sich erst als Fan und dann als Kunde. Dies ist der große Vorteil eines Fußballvereins: Er hat schon Fans und muss diese dann nur zum Konsumieren bringen[16]. Andere Unternehmen versuchen, aus ihren Kunden Fans zu machen. Besonders wichtig ist dabei das Vereinsmotto „Mia san mia“ (Bayrisch für: Wir sind wir.) Damit bringt der Verein seine Nähe zu seiner bayrischen Heimat zum Ausdruck, die er, trotz seiner fortschreitenden Globaliserung, immer noch hat. Damit kommt man zu einer weiteren Prämisse der Kulturschule, nämlich der unbewussten Aneignung der Überzeugungen.

Fankultur

Wie bereits ausgeführt, spielt die Fankultur bei FC Bayern München eine entscheidende Rolle. Laut der vereinseigenen Homepage gibt es 4.197 verschiedene Fanclubs. Diese Fankultur ist genau das, was Mintzberg als etwas beschrieb, dass die Mitglieder der Organisation nur schwer beschreiben können[17]. Als Mitarbeiter, aber vor allem als Fan eines Fußballclubs fällt es einem sehr schwer zu sagen, was genau einem eigentlich an gerade diesem Club so gefällt. Häufig verfallen die Befragten dabei in Anekdoten, nach denen z.B. ihre Eltern sie damals mit ins Stadion genommen haben und ihre Zuneigung daher rührt[18].

Interessant ist in dieser Hinsicht auch das Vereinslogo. Vereinslogos dienen häufig der Darstellung der wichtigsten Werte und Eigenschaften des Vereins und seiner (Fan-)Kultur. Hier sind innen die Fahnen des Bundeslandes Bayern zu sehen, was die Verbundenheit mit dem Bundesland und der Region symbolisiert. Außen ist ein Schriftzug mit dem Vereinsnamen in den Vereinsfarben rot-weiß zu finden. Die Trikots des Vereins haben ebenfalls diese Farben, was vor allem der Wiedererkennung und Identifikation mit dem Verein dient[19].

Nach der Kulturschule wird das Handeln und die Denkweise eines Unternehmens von der Unternehmenskultur beeinflusst. Auch das kann man beim FC Bayern München erkennen.

Kommerzialisiert und bodenständig?

Zunächst einmal gilt der Verein trotz seiner kompletten Kommerzialisierung und seines hohen Jahresumsatzes als bodenständiger und solide wirtschaftend. Dabei spielt vor allem die bereits beschriebene Nähe zur Region und zu den Fans eine entscheidende Rolle. Gerade deshalb gelingt es dem FC Bayern trotz seines leicht arroganten Images durch alle Bevölkerungsschichten hinweg, Fans bzw. Kunden zu gewinnen[20].

Weiterhin bestätigt sich hier die These, dass Organisationen in der gleichen Umwelt durch ihre Kultur verschiedene Wahrnehmungen entwickeln. In der Fußball-Bundesliga spielen 18 verschiedene Vereine, denen allen ein eigenes Image, eine eigene Kultur zugeschrieben wird. Man würde z.B. Werder Bremen Bescheidenheit und eine hanseatische Denkweise zuschreiben, dem FC Bayern eher den absoluten Siegeswillen, Kampfgeist und bayerische Traditionen. Zu diesem Punkt kommt vor allem dazu, dass Bayern München seit Jahren Spieler aus der Region ausbildet und zu Identifikationsfiguren macht, wie z.B. Thomas Müller, der durch seinen bayrischen Dialekt, seine Volksnähe und seinen sportlichen Erfolg ideal in dieses Bild passt.[21]

Sportliche Maßnahmen

Wie wir bisher gesehen haben, setzt der FC Bayern in seiner Unternehmenskultur auf Dominanz und Siegeswillen. Im Marketing und innerhalb des Unternehmens tun sie dies bereits seit vielen Jahren. Doch auf dem Spielfeld war dies bis vor wenigen Jahren nicht zu erkennen.

In der Fußballtaktik unterscheidet man grob zwischen einem konterorientierten und einem ballbesitzorientierten Spiel. Bei ersterem agiert die Mannschaft eher abwartend, überlässt dem Gegner den Ball, um nach den Ballverlusten des Gegners sehr schnell mit vielen Spielern in Überzahl vor das gegnerische Tor zu kommen. Das ballbesitzorientierte Spiel ist auf das Gegenteil ausgelegt. Man versucht möglichst lange den Ball zu besitzen und den Gegner auseinanderzuspielen und zu dominieren[22].

Als der FC Bayern am Abend des 9. April 2009 mit 0:4 beim FC Barcelona unterging, wünschten sich die Verantwortlichen des Vereins, ebenfalls einen solch dominanten Spielstil zu entwickeln. Es ging vor allem darum, ein Alleinstellungsmerkmal in der Spielweise zu bekommen und das Dominanz-Image auch auf dem Platz umzusetzen:

„Die Bayern wollten ein neues Spiel, eine neue Fußballidentität“[23].

Diese Fußballidentität, die z.B. Borussia Dortmund mit ihrem konterorientierten, sehr laufintensiven Spiel unter Jürgen Klopp entwickelt hatte, ist elementar wichtig für einen Fußballverein, da er sowohl v.a. Spieler und Trainer als auch Fans an sich bindet[24]. Im Zuge dessen verpflichtete Bayern München 2009 einen der Wegbereiter des modernen, ballbesitzorientierten Spiels: Louis van Gaal. Er begann den Weg, den Pep Guardiola von 2013-2016 fortführte und der zur absoluten Dominanz des Vereins in Deutschland führte. Guardiolas Biograph Marti Perarnau bezeichnete die Verpflichtung Guardiolas als einen brillanten Schachzug, da der Verein sich nicht in einem Krisenmoment weiterentwickeln wollte, sondern nach dem Gewinn des Triples auf dem Höhepunkt eine neue Kultur anstrebte.

Der Widerstand gegen Veränderungen

Eine Gefahr der Kulturschule stellt der Widerstand gegen Veränderungen dar. Dabei fusioniert das Unternehmen so sehr mit seiner Kultur, dass sich dann tief verwurzelte Überzeugungen kaum noch ändern lassen.

Den Trainer eines Fußballvereins kann man mit einem Manager in einer hohen Position in einem konventionelleren Unternehmen vergleichen. Als der FC Bayern im Jahr 2013 Pep Guardiola verpflichtete, wirkte er auf viele Menschen innerhalb des Vereins wie ein Heilsbringer. Doch Guardiola brachte ein anderes Kulturverständnis mit. Er hatte jahrelang in Barcelona trainiert und war dort in einer vollkommen anderen Vereinskultur aufgewachsen. Weiterhin war sein Fußballverständnis dem Ideal, das der FC Bayern darstellen möchte, nur bedingt zuträglich. Er galt eher als Intellektueller, als jemand, der die als typisch deutsch und bayrisch konnotierten Attribute wie z.B. „Kämpfen“ oder „Wille“ nicht vertrat[25]. Folgerichtig verließ er den Verein nach drei Jahren wieder.

Der Einwand, dass Guardiola den Club wahrscheinlich auch verlassen hätte, wenn die Stimmung einwandfrei gewesen wäre, ist sicherlich berechtigt. Allerdings stellt sich die Frage, was danach kam. Mit der Verpflichtung von Carlo Ancelotti ist der FC Bayern einen Schritt zurück in Richtung Vereinsfamilie gegangen. Ohne sein Lebenswerk und seine Erfolge kleinzureden, gehört er sicherlich nicht zu den modernsten Trainern, die es derzeit auf der Welt gibt. Er kann sich aber sehr gut unterordnen und gilt, ganz im Gegensatz zu Guardiola, als relativ nahbarer Typ. Er hat etwas von einem Großvater, den eigentlich alle mögen, der sich aber niemals gegen die Familien-/Vereinsführung, v.a. Uli Hoeneß, stellen würde. Dass dies in dieser Situation sicherlich nicht die richtige Entscheidung gewesen ist, musste die Vereinsführung in der Saison 2017/2018 sehr schnell feststellen.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass dieser Widerstand gegen Strategieveränderungen sehr gefährlich sein kann. Der große Vorteil eines Fußballvereins gegenüber anderen Unternehmen ist zwar, dass er wirkliche Fans hat, die sich für ihn engagieren. Allerdings ist dabei die Problematik gegeben, dass dies sehr weiche Faktoren sind und sich die Veränderung der Unternehmenskultur negativ auf die Fans auswirken könnte.

Dazu kommt, dass die Kulturschule stets vor einer Unternehmensfusion warnte. In Bezug auf den FC Bayern kann man dies nicht direkt übertragen, aber die in den letzten Jahren intensivierte Zusammenarbeit mit dem Emirat Katar in Form von Trainingslagern und einer Fluglinie als Ärmelsponsor sorgt für einigen Unmut unter den Fans. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Internationalisierung und die Loslösung von der bayrischen Heimat hier offen zu Tage treten, sondern selbstverständlich mit einem moralischen und politischen Bewusstsein für das, was in solchen Ländern ge- schieht, ganz zu schweigen davon, welche Geschichte der FC Bayern u.a. mit Kurt Landauer als Präsident hat. Es überrascht allerdings nicht weiter, da diese Geschichte in erster Linie von Fans aufgearbeitet wurde und nicht vom Verein selbst. Hier zeigt sich die Wichtigkeit der Fans. Sie stellen einen Gegenpol, eine kritische Öffentlichkeit dar. Im Gegensatz zu herkömmlichen Großkonzernen hat ein Fußballverein die Möglichkeit, sehr schnelles Feedback zu bekommen und den „Kunden“ die Möglichkeit zu geben, ihre Veränderungsideen einzubringen.

Die Unternehmenskultur gilt in der Kulturschule als Schlüsselressource für den Unternehmenserfolg[26]. Durch die bereits erläuterten Punkte baut der FC Bayern eine unnachahmliche Unternehmenskultur auf, die es ihm ermöglicht, über Jahre hinweg Marktführer im deutschen Fußball zu sein. Durch ihre Mischung aus extrem erfolgreichem Fußball und dem Schaffen einer einzigartigen Unternehmenskultur, die sehr viele potentielle Kunden auf der ganzen Welt anspricht, macht sich der Verein nicht nur interessant für andere Unternehmen, die als Sponsor einsteigen können. Er baut dadurch vor allem Hindernisse zur Nachahmung auf. Durch seinen regionalen Bezug zur bayrischen Region, dem ständigen Hinweis auf die eigene Geschichte und die Selbstdarstellung als Familienunternehmen nimmt der Verein einzigartige Eigenschaften in seine Strategie auf.

Der zentrale Punkt der Strategie des FC Bayern ist seine Vereinskultur. Wie bereits erläutert, entstehen viele Aktionen aus der fast schon organischen Struktur, Fanclubs sind nur ein Beispiel dafür. Dabei spielt vor allem die Kollektivität der Kultur eine wichtige Rolle, hier gibt es nicht nur eine Unternehmenskultur, das ganze Unternehmen ist eine Kultur. Die Entwicklung des FC Bayern steht schon fast symptomatisch für die Entwicklung des gesamten Fußballs. Er schiebt ein regionales Image vor, ist dabei vollkommen internationalisiert und trifft ethisch sehr schwer vertretbare Entscheidungen. Und doch ist es den Fans, die eine sehr kritische Öffentlichkeit bilden, weiterhin wichtig, ihren Verein zu unterstützen. Es gibt doch ein richtiges Leben im Falschen. Die Fans wollen ihre emotionale Bindung nutzen, um einen Verein zu bekommen, den sie bedenkenlos anfeuern können. Sollte sich dies jedoch nicht einstellen, so könnte auch ein solch‘ großes Unternehmen eines Tages ein Problem bekommen.

Aktuelle Entwicklungen

Was seit der Rückkehr von Uli Hoeneß zum FC Bayern München geschehen ist, schließt an das an, was oben bereits erläutert wurde. Hatte sich der Verein gerade unter Matthias Sammer von einem Familienunternehmen gelöst, scheint der Club nun auf das eben erläuterte Problem zuzusteuern. Mit Carlo Ancelotti ist ein Trainer gekommen, der für Ruhe und Zurückhaltung steht und sich nicht in die Vereinsgeschäfte einmischt. Mit dem Widerstand gegen eine Berufung von Phillip Lahm und der damit verbundenen Einstellung von Hasan Salihamidzic als Sportdirektor zeigt der Verein eine gefährliche Nähe zur Vetternwirtschaft.

Nach der Entlassung von Ancelotti und der damit verbundenen Rückkehr von Jupp Heynckes ins Traineramt zeigt sich nun exemplarisch, was geschieht, wenn ein Unternehmen zu stark von der eigenen Kultur beeinflusst wird. Unabhängig davon, ob Heynckes nun Erfolg haben wird, scheint sich der Club weiterhin im Kreis zu drehen. Er setzt so sehr auf ein altbewährtes Fundament, dass er sich gar nicht mehr bewusst zu sein scheint, dass es in der (Unternehmens-) Welt des Fußballs immer rasanter vorangeht und man sich alle paar Jahre neu erfinden müsste. Aus den erwähnten Eigenschaften der Kulturschule, die den Unternehmenserfolg gefährden können, dürfen nicht zu viele offen zu Tage treten, ansonsten bröckelt das einst so starke Fundament, auf dem diese Strategie basiert. Wie man jedoch auch unter Bayern-Fans merkt: Die Stimmung kippt.

Bereits die Tatsache, dass Hoeneß direkt nach seinem Gefängnisaufenthalt mit überwältigender Mehrheit wieder zum Präsidenten gewählt wurde, spricht für eine Vereinskultur, die den Bogen längst überspannt hat. Die Warnung an ein Unternehmen, nicht zu sehr mit seiner Kultur zu verschmelzen, wurde offenkundig ignoriert. Die Sehnsucht vieler Mitglieder und Fans des FC Bayern München scheint die altmodisch anmutende Arbeitsweise von Hoeneß und Co. zu sein. Der Abgang von Kaderplaner Michael Reschke scheint ein weiterer Baustein dieser Entwicklung zu sein. Der FC Bayern macht sich nicht nur seinen Standort in Bayern zunutze, sondern baut weiter an seinem Mythos. Begründete sich dieser in den letzten Jahren vor allem durch eine schiere Unbesiegbarkeit in sportlichen Wettbewerben, konstruiert sie sich nun vor allem um wenige Personen herum. Es ist fraglich, ob dieser eingeschlagene Weg eines Familienunternehmens auf lange Sicht gesehen den ganz großen sportlichen Erfolg zulassen wird. Welch‘ seltsame Pointe es wäre, wenn die Fans des FC Bayern, gemeinhin abschätzig als „Erfolgsfans“ bezeichnet, ihrem Verein nicht wegen eines Champions Leauge-Siegs, sondern der familiären Atmosphäre die Treue halten würden.

Fußnoten

[1] Anm.: Im weiteren Verlauf des Textes wird der Übersichtlichkeit halber nur noch von Mintzberg, dem Hauptautor der Buches, gesprochen.

[2] Mintzberg, Henry/Ahlstrand, Bruce/Lampel, Joseph (2005): Strategy Safari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements. Wien: Ueberreuter, S. 302ff.

[3] So der Titel des ersten Nachhaltigkeitsberichts des 1. FC Magdeburg [PDF]

[4] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 301f

[5] Vgl. Peters, Hans (2017): Leitbilder. In: Der Tödliche Pass (85), S. 32ff.

[6] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 302

[7] Ebd., S. 302ff.

[8] Ebd., S. 305

[9] Ungericht, Bernhard (2012): Strategiebewusstes Management. Konzepte und Instrumente für nachhaltiges Handeln. München: Pearson, S. 35

[10] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 35

[11] Ebd., S. 319

[12] fcbayern.com: Meilensteine seit 1900.

[13] Hagen, Rudolph (2002): Management der ersten Liga. Mit den Strategien des FC Bayern München zum Erfolg. Haufe-Verlag, S. 9f.

[14] Ebd., S. 12f.

[15] Biermann, Christoph (2014): Wenn wir vom Fußball träumen. Eine Heimreise. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 216f.

[16] Ebd., S. 222

[17] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 8

[18] Biermann, Christoph (2014): a.a.O., S.9f., S.207f.

[19] Müller, Marion (2009): Fußball als Paradoxon der Moderne. Zur Bedeutung ethnischer, nationaler und geschlechtlicher Differenzen im Profifußball. Wiesbaden: Springer, S. 99

[20] Steinkirchner, Peter (2010): Lukrativstes Fußball-Imperium. Die Erfolgsstrategie vom Geldmeister FC Bayern. Online verfügbar unter: http://www.wiwo.de/unternehmen/lukrativstes-fussball-imperium-die-erfolgsstrategie-von-geldmeister-fc-bayern/5232664-all.html, zuletzt geprüft: 14.09.2017.

[21] Perarnau, Marti (2014): Herr Guardiola. Das erste Jahr mit Bayern München. München: Verlag Antje Kunstmann, S. 22

[22] Escher, Tobias (2016): Vom Libero zur Doppelsechs. Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Reinbek: Rowohlt, S. 11.

[23] Ebd., S. 272

[24] Rafelt, Martin (2016): Vollgasfußball. Die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp, Göttingen, Verlag Die Werkstatt, S. 10ff.

[25] Fritsch, Oliver (2015): Der FC Bayern ließ sich nie ganz auf ihn ein. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/sport/2015-12/pep-guardiola-fc-bayern-muenchen, zuletzt geprüft: 14.09.2017.

[26] Mintzberg et al., a.a.O., S. 315


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(Hinweis: Ergänzend zum Text finden sich am Ende der Seite Auszüge aus der Rechts- und Verfahrensordnung des Deutschen Fußball-Bundes sowie ein Interview mit Dr. Andreas Hüttl, einem Anwalt für Strafrecht aus Hannover)

Autor: Lennart Birth, 120minuten

“Fans im Visier” / SurfGuard via Flickr | CC-BY-NC-SA 2.0

Der Besuch eines Fußballspiels gehört für tausende Deutsche zu einem normalen Wochenende dazu. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten pilgern regelmäßig in die Stadien; soziale Disparitäten, Sorgen und Nöte sind für die Dauer des Spiels vergessen, der Fußball als Volkssport Nummer eins verbindet uns nachhaltig. Der gemeine Fan fährt zu Heimspielen, lässt sich mit der Familie auf der Gegengerade nieder und verbindet den Besuch im Stadion vielleicht noch mit einem gemeinsamen Mittagessen an der Bratwurstbude. Der „Allesfahrer“ ist jedes Wochenende auf Achse, reist quer durch die Republik seiner Mannschaft und den eigenen Farben hinterher. Er scheut weder Strecke noch Wetter und versucht, so viele Spiele wie möglich live in einer glänzenden Arena oder einem kultigen und zugigen Stadion mitzuerleben. Der betagte Fan schwelgt derweil in Erinnerungen und nimmt kein Blatt vor den Mund, er hat viel erlebt und weiß viel zu erzählen. Und zuletzt der Ultra, er lebt und liebt seinen Verein und investiert Stunden an ehrenamtlicher Arbeit, um den Verein und die Fanszene voranzubringen. Auch er scheut es nicht, den Mund aufzumachen und teilt gegen Gegner, Vorstände, andere Fans oder die Verbände aus.

Auf den ersten Blick könnten die Charaktere, die hier grob gezeichnet wurden, unterschiedlicher nicht sein, wenn man mal von dem offensichtlichen Aspekt absieht, dass es sich bei jeder der stereotypisierten Persönlichkeiten um einen Fußballfan handelt. Eine bedeutende Sache sollte man in der Betrachtung dieser Menschen jedoch nicht außer Acht lassen, zwei große Gemeinsamkeiten weisen alle auf, auch wenn diese im ersten Moment nicht sofort ersichtlich scheinen:

  1. Eine Stimme, im Sinne der Möglichkeit und Fähigkeit, sich verbal im Stadion zu äußern und zu kritisieren, zu loben oder zu appellieren und sich somit lautstark oder leise in das Geschehen neben dem Fußballplatz einzumischen und mit anderen Stadionbesuchern zu interagieren und zu kommunizieren.
  2. Eine freie Meinung, die laut Artikel fünf unseres Grundgesetzes jedem zusteht und die man jederzeit kundtun kann, ohne Konsequenzen für Leib und Leben fürchten zu müssen.

Artikel 5 (1) GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“

Der Stadionbesucher oder auch die Stadionbesucherin, egal, welcher der oben angeführten Kategorien nun angehörig, hat das Recht, rund um das Geschehen auf dem Platz die eigene Meinung zu äußern und diese verbal oder schriftlich, zum Beispiel in Form eines Banners oder Spruchbandes, zu kommunizieren. In der Theorie hat er oder sie keine Konsequenzen zu befürchten; das Gesagte, Gerufene oder Geschimpfte bleibt nach Abpfiff im sich leerenden Rund zurück. Die üble Beleidigung, die vor wenigen Minuten noch Gegenspieler oder Schiedsrichter zugerufen wurde, ist schnell vergessen.

Und in der Praxis? Da ist das alles nicht ganz so einfach, denn das Recht eines jeden Fans auf freie Meinungsäußerung besteht zwar faktisch, nur leider nicht, ohne dass diese von einer Instanz kontrolliert und eingeschränkt wird. Die Rede ist vom Deutschen Fußball-Bund (DFB), der in den letzten Jahren zu wachsender Besorgnis von Fans, Fangruppen und Fanhilfen systematisch damit begonnen hat, ebenjenes eigentlich unveräußerliche Grundrecht im Stadion massiv einzuschränken. Der Trend geht hin zur absoluten Kontrolle, zur Abschaffung des Meinungspluralismus rund um den Ballsport und zu einem Fußballereignis, in dem aneckende Kritik immer mehr an Einfluss zu verlieren droht.

„Ein düsteres Bild“, mag sich der Leser dieser Zeilen jetzt denken und dabei den Verdacht äußern, der Autor nähere sich der Problematik auf einer einseitigen und sturen Ebene mit einer festgesetzten Haltung, die weder von Vernunft noch Verstand beeinflussbar ist. Doch so ist es nicht, ich versuche, mich dem Thema so differenziert wie möglich zu nähern und dabei eine kontroverse Debatte anzustoßen, die Fans und Funktionäre gleichermaßen anregen soll, das Geschehen in den deutschen Stadien kritisch zu hinterfragen und hinter die Kulissen zu schauen. Die Frage, die sich durch diesen Debattenbeitrag ziehen soll: Wie ist es um unsere Meinungsfreiheit im Stadion bestellt?

Beginnen sollte man etwas theoretisch, denn erst einmal sollte sich der Leser im Klaren darüber sein, was denn unter einer Meinungsäußerung rund um ein Spiel zu verstehen ist und welche Akteure dabei eine wichtige Rolle spielen. Es gibt eine Vielzahl an Wegen, seine Haltung zu einem bestimmten Thema, ob nun sportlich, gesellschaftlich oder politisch, im Stadion kundzutun.

Die wohl offensichtlichste dieser sich bietenden Möglichkeiten ist der Gesang.
In verschiedenen Liedern, Hymnen oder anderen fußballspezifischen Textmelodien können einzelne Fans oder ganze Fangruppen ein lautstarkes Sprachrohr nutzen, um ihre Meinung mit den anderen Besuchern im Stadion, Spielern, aber auch den Menschen an den Fernsehern zu teilen. Der wohl üblichste Fangesang ist dieser, in dem die eigene Mannschaft vorangetrieben und motiviert wird, um einen positiven Einfluss auf das Spielgeschehen zu nehmen. Er ist durch keinerlei Zensur gekennzeichnet und soll deswegen einmal außen vor gelassen werden. Problematischer wird es, wenn der verbale Ausdruck dazu genutzt wird, andere zu beleidigen oder zu attackieren. Gegenspieler oder gegnerische Fans, jeder bekommt im Stadion wohl mal sein Fett weg und manche dieser Schmähgesänge sind einfach nur trauriges Indiz dafür, wie ignorant und intolerant einige Fußballfans teilweise auftreten. Klar ist, dass insbesondere geschmacklose Schmähgesänge, in denen gezielt Minderheiten diffamiert werden („Jude“, „Zigeuner“), nichts auf den Traversen unserer Fußballstadien zu suchen haben, denn mit unserer Meinungsfreiheit sind diese Hassbotschaften garantiert nicht vereinbar. Regelmäßig werden jedoch auch Gesänge im Stadion durch den Deutschen Fußball-Bund bestraft, die fälschlich in diese Kategorie eingeordnet werden. Hierbei verbietet sich jedoch nicht, die Verbandsurteile kritisch zu hinterfragen: Begriffe wie „Arschloch“ oder „blinde Sau“ fallen keinesfalls in das Subgenre Schmähkritik und sind wohl in Anbetracht der oft erhitzten Gemüter auf Platz und Rang irgendwie verständlich und entschuldbar. Trotzdem werden sie immer wieder mit vorher genannten Schmähungen gleichgesetzt. Ist dies sinnvoll? Nein, denn es muss klar zwischen offenem Antisemitismus, offener Islamfeindlichkeit oder jeder anderen Form der rassistischen Äußerung und den anderen Gesängen unterschieden werden. Diese mögen teilweise sicherlich den einen oder anderen verbal provozieren, sind jedoch keinesfalls mit Hasstexten gleichzusetzen. Für solche Liedtext-Einordnungen ist Weitsicht notwendig, die leider nicht immer vom Deutschen Fußball-Bund an den Tag gelegt wird.

Der 1. FC Köln, bekannt für seine lautstarken und kreativen Fans, musste 2017 diese leidliche Erfahrung machen. Die kritische Auseinandersetzung mit Dietmar Hopp, Mäzen der TSG 1899 Hoffenheim, sorgte bei dem Verein aus Sinsheim für Entrüstung, eine DFB-Strafe droht. Die Kölner Fans haben schon eine Weile vorher die Konsequenzen „beleidigender Gesänge“ erfahren müssen und befürchten nun, dass sich die Sanktionierung dieser Fälle in Zukunft häufen wird. Damals ließ die Reaktion aus dem DFB-Hauptquartier nicht lange auf sich warten, ein Vorfall wurde zusammen mit anderen Vergehen satt bestraft, eine Rechnung in Höhe von 34.000€ flatterte in den Kölner Briefkasten. Auffällig dabei ist, wie fehlende Transparenz von Seiten des DFB dafür sorgt, dass man keine genauen Aussagen dazu treffen kann, mit welchem Anteil am gesamten Strafgeld „beleidigenden Gesänge“ zu Buche schlagen. Dass der DFB enormen Druck auf die Vereine auszuüben scheint, die sich lieber von den eigenen Fans distanzieren, um etwaige Strafen abzumildern, anstatt sich ebenfalls kritisch mit Problemen auseinanderzusetzen, ist auch ein erheblicher Faktor für das sorgenvolle Stirnrunzeln bei den Anhängern des Clubs vom Rhein. Mittlerweile fordert der Verein sogar, dass sich Verantwortliche für Choreografien melden müssen und bei DFB-Strafen die Haftung übernehmen.

„Wie solche Urteile zustande kommen, lässt sich dabei nur erahnen. Es gibt weder eine transparente Definition, welche konkreten Tatbestände zu einer Sanktionierung führen noch wonach sich die Höhe der Strafe bemisst. Dass die Akzeptanz eines solchen Urteils dazu dient, einer Verurteilung in anderen Sachverhalten zu entgehen, kann nur noch als Klüngelei bezeichnet werden. Wäre die Tatsache allein, dass beleidigende Gesänge oder Spruchbänder durch eine Instanz wie den DFB bestraft werden, nicht schon absurd genug, spätestens der Prozess der Sanktionierung ist inakzeptabel. Es werden in diesem Zusammenhang weder gefährliche oder sachbeschädigende Aktionen, sondern Inhalte sanktioniert. In anderen Fällen wurden Vereine bereits für Doppelhalter („Scheiss Red Bull“ [Chemnitzer FC, Anmerkung der Redaktion]) oder Spruchbänder („Alles aus Frankfurt ist scheiße“) ihrer Fans zu Strafen verurteilt. Der DFB versucht auf diese Weise, die Meinungsfreiheit der Zuschauer im Stadien massiv einzuschränken. […] Diesen Versuchen der Zensur muss entschieden entgegen getreten werden. Deutlich zeigt sich auch, dass es bei den Urteilen schon lange nicht mehr um die Sicherheit in den Stadien geht.“

Südkurve Köln e.V. in einer Stellungnahme

 

Auch andere Vereine wurden schon für das vage definierte Vergehen des „beleidigenden Gesanges“ zur Kasse gebeten. Oft werden die Gesänge im gleichen Zusammenhang mit anderen Vorfällen sanktioniert. Eine DFB-Strafe zum Thema Meinungsäußerung summiert sich somit meistens mit weiteren Vergehen, wie der Nutzung von Pyrotechnik – Fans und Medien ist es folglich kaum möglich, den Durchblick zu behalten, was genau mit wie viel Euro bestraft wurde.

Zudem stimmten Hannoveraner Zuschauer mehrmals beleidigende Gesänge an.“

DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 48.000€ Strafgeld für Hannover 96

Darüber hinaus skandierten Dortmunder Zuschauer während des Bundesligaspiels bei der TSG 1899 Hoffenheim am 16. Dezember 2016 mehrmals Schmähgesänge.“

DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 100.000€ Strafgeld und der Sperrung der Südtribüne für Borussia Dortmund

 

Eine weitere Kategorie des Gesanges ist besonders in der Ultrabewegung sehr beliebt und erfreut sich einer regelmäßigen Verwendung: gesungene Kritik gegenüber den meist verhassten Fußballverbänden und ihren Funktionären. „Schweine-DFB“ oder auch „Schieber“ hallt es regelmäßig durch die Kurven der Republik, kritisiert werden Strafen gegenüber dem Verein oder auch strittige Entscheidungen des vom Verband eingesetzten Schiedsrichtergespanns. Wie ist mit solcher verbalen Kritik umzugehen? Sie fällt eindeutig in den Bereich der Meinungsfreiheit, sofern auf eine konstruktive Art und Weise geäußert, und ist meist nicht gegen einzelne Personen, sondern eher das große Ganze, also den Verband und seinen Funktionärsapparat gerichtet und kann somit in der Regel nicht als Angriff auf einzelne Personen verstanden werden. Trotzdem lässt es sich hier in Deutschland insbesondere der DFB nicht nehmen, kritische Töne gegen die eigene Institution zu sanktionieren und dabei das Recht der freien Meinungsäußerung einzuschränken.

Anti-DFB-Aufkleber: Kritik oder Schmähung?

Würde man dieses fragwürdige Rechtssystem auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen, würden wohl bei vielen Journalisten hohe Abmahnungen wegen angeblicher Diffamierung der Staatsgewalten in die Postkästen flattern, denn Kritik wäre unerwünscht. In einer Demokratie unvorstellbar, im Fußball für Fans und Vereine jedoch traurige Realität. Womit wir schon beim nächsten Punkt angelangt wären, denn Kritik wird im Stadion nicht nur verbal geäußert, sondern häufig auch in schriftlicher Form geübt. Besonders Banner und Spruchbänder sind ein beliebtes Mittel, um sich gegenüber gegnerischen Vereinen, Fans oder den Verbänden zu positionieren. Darüber hinaus nutzen viele Fanszenen den schriftlichen Weg, um Kritik in einem konstruktiven und sachlichen Maß anzubringen und versuchen dabei, Debatten über bestimmte Probleme anzustoßen.

Ein gutes Beispiel liefert der 1. FC Magdeburg. Nach einer hohen Strafe von 40.000€ für verschiedene Vergehen reagierten Teile der Fanszene des Drittligisten und zeigten am 13.02.2016 eine Reihe von Spruchbändern, die das Strafmaß und den Umgang des DFB mit Fanszenen kritisierten.

Magdeburger Fans kritisieren den DFB: “Summe: 40 000 € – Verwendungszweck: Sommermärchen 2006 / DFB – wenn Korrupte über andere urteilen! / DFB-Sportgericht – ein Fall für die Justiz“
Bild: @olliMD

Die Fans legten dabei den Finger in eine Wunde. Der DFB stand zum damaligen Zeitpunkt selbst wegen der WM-Vergabe in der Kritik und hatte mit negativen Schlagzeilen zu kämpfen. Trotzdem nahm es sich der Verband nicht, über Fans zu urteilen und sich trotz des eigenen Fehlverhaltens zum gerechten Richter und Wahrer der Sportlichkeit zu stilisieren, Ergebnis bekannt. Doch anstatt es dabei zu belassen und die durchaus berechtigte Kritik zu akzeptieren, konnte es der Verband nicht lassen und musste unbedingt nachtreten, um es in einer gewissen Sportmetaphorik auszudrücken. In einem weiteren Urteil (4.000€) prangerte der DFB die Banner an und sanktionierte die geübte Kritik.

„Vor dem Meisterschaftsspiel gegen den SC Fortuna Köln am 13. Februar 2016 wurden im Magdeburger Zuschauerblock drei Banner mit verunglimpfenden Aufschriften gezeigt.“

DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 4.000€ Strafe für den 1. FC Magdeburg

 

Der Duden definiert den Begriff „verunglimpfen“ als „schmähen, beleidigen; mit Worten herabsetzen; diffamieren, verächtlich machen“, aber ist dies in obigem Beispiel tatsächlich gegeben? Nein, denn die Banner sind nicht beleidigend, sondern kritisieren lediglich die Verbandsgerichtsbarkeit des Deutschen Fußball-Bundes im Zusammenhang mit der WM-Vergabe 2006, die unter dubiosen Umständen erfolgt sein soll. Offensichtlich versucht der Verband, medienwirksame Kritik an der eigenen Institution zu bestrafen und einzuschränken. Ein Bruch mit der Meinungsfreiheit?

„[…] Mit welchem Recht will der DFB oder die DFL einem Klub untersagen, sich politisch zu äußern? Mit welchem Recht kann jemand sagen: Hier im Stadion dürfen bestimmte Plakate nicht aufgehängt werden? Es ist offensichtlich, dass dies nur aus Eigenschutz geschieht, um die wirtschaftliche Ausbeutung nicht zu gefährden. […]“

Ewald Lienen (Trainer des FC St. Pauli) gegenüber der FAZ

 

Im Frühjahr 2017 sorgte das Aufeinandertreffen von Borussia Dortmund und RasenBallsport Leipzig, einem Verein, der in wenigen Jahren dank Red Bull-Millionen in die Bundesliga katapultiert wurde, im Dortmunder „Signal Iduna Park“ für reichlich Gesprächs- und Zündstoff. Nachdem schon zahlreiche Fanszenen Kritik am Verein aus der Messestadt geübt hatten, trieben Dortmunder Anhänger auf der Südtribüne die Auseinandersetzung auf ein neues Niveau. Dutzende Spruchbänder dienten den Fans und Verfechtern des Traditionsfußballs dazu, ihre Kritik am Konstrukt aus Sachsen zu kanalisieren. Der Verband reagierte: neben einer hohen Geldstrafe von 100.000€ sperrte der Deutsche Fußball-Bund die Südtribüne für das folgende Ligaheimspiel und sprach somit eine Kollektivstrafe aus. Ein Urteil, das zeigt, wie sehr die Meinungsfreiheit im Stadion in Gefahr ist. In Anbetracht durchaus makabrer Statements (zum Beispiel „Burnout Ralle: Häng dich auf“) mag eine solche Konsequenz erst einmal plausibel und gerechtfertigt erscheinen und ja, einige der gezeigten Spruchbänder gingen eindeutig zu weit. Trotzdem möchte ich darauf verweisen, dass der DFB auch in diesem augenscheinlich klaren Fall die falschen Schlüsse gezogen hat. Statt es bei der Geldstrafe für Borussia Dortmund zu belassen, beschloss der Fußball-Bund, alle Fans, die auf der Südtribüne ihre Mannschaft unterstützten, unter Generalverdacht zu stellen. Ergebnis: die größte Stehplatztribüne Europas wurde in der Ligapartie gegen den VfL Wolfsburg geschlossen und somit eine Kollektivstrafe verhängt. Ein falsches Zeichen, das auch unbeteiligte Fans und harmlose Plakate zu Unrecht bestrafte (zum Beispiel „Geboren auf Vorstadtwiesen mit nem Traum, nicht aus Geldgier in nem Vorstandsraum“). Wieder also ein Schritt in die falsche Richtung und ein Akt der Verzweiflung ob der Machtlosigkeit gegenüber den kritischen Stimmen aus den Fanblöcken der Republik.

“Eine derartige Verunglimpfung und Diffamierung von einzelnen Personen und Vereinen durch Transparente und Schmähgesänge ist nicht hinnehmbar und muss konsequent sanktioniert werden. Dasselbe gilt auch für den Einsatz von Pyrotechnik. In beiden Punkten gab es gravierendes Fehlverhalten von Teilen der Dortmunder Zuschauer, das ein massiveres Eingreifen der DFB-Organe erfordert.”

Dr. Anton Nachreiner, Vorsitzender des DFB-Kontrollausschusses (Quelle: Focus Online)

 

Der Aussage von Seiten des DFB könnte man nun folgendes Zitat entgegen halten und dabei die freundliche Bitte anfügen, der Verband möchte doch erst einmal vor der eigenen Tür kehren, wie es so schön heißt, bevor derlei Pauschalverurteilungen getätigt werden.

„Ein Verband, der weder ein Interesse daran hat seine eigenen Verwicklungen in Schwarz- und Schmiergeldaffären aufzudecken, den Vorwürfen von Wettbetrug und Doping systematisch nachzugehen und ein mafiöses System wie das der FIFA mitträgt und unterstützt, schwingt sich zum Kläger und Richter über Fans und Vereine in Personalunion auf. Diesem Gebaren muss endlich Einhalt geboten sein. Das willkürliche Vorgehen der Verbandsfunktionäre schädigt diesen Sport nachhaltig.“

Südkurve Köln e.V. in einer Stellungnahme

 

Auch Braunschweiger Fans wurden für ein Transparent verurteilt, in dem sie RB Leipzig kritisierten. 3.000€ Strafe, die wohl auch bei der Polizei Braunschweig mit zufriedenem Nicken zur Kenntnis genommen wurden. „Scheiss Bullen“, so argumentierte man bei der Staatsgewalt zuvor, sei schließlich an die Beamten gerichtet; auch dass die Farbgebung des Banners eher an den Verein aus Leipzig erinnerte, wollte man nicht einsehen. Inwiefern diese verhältnismäßig harmlose Aussage nun Grenzen der Meinungsfreiheit überschritt, ist unklar und wird wohl auch immer unklar bleiben.

„Scheiss Bullen“ plakatierten BTSV-Fans gegen Aue
Bild: Braunschweig1895.de

Beispiele wie diese lassen sich schier endlos fortsetzen und zeigen: der DFB bemüht sich, aus dem Ereignis Fußballspiel ein bestmöglich zu vermarktendes Produkt zu schaffen. Alles, was dem sauberen Image des Volkssports schaden könnte, soll aus den Stadien verbannt werden. Schmähgesänge und Kritik am Verband oder seinen Entscheidungen gehören ebenso dazu, wie politische Statements von Fans. Weiterhin ist man in der Frankfurter Zentrale darum bemüht, die Kontrolle über die Stadionbesucher zu behalten, welche Missstände häufig in einem öffentlichkeitswirksamen Maß anzuprangern wissen. Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Reaktionen der Verbandsfunktionäre noch mit unserem Grundgesetz und dem darin verankerten Recht auf Meinungsfreiheit vereinbar sind. Ist es wirklich gerecht, den Vereinen Unsummen an Geld dafür abzuknöpfen, dass einige Fans den Mut besessen haben, den DFB anzuprangern? Ist es wirklich gerechtfertigt, für Beleidigungen Einzelner Kollektivstrafen auszusprechen? Oder steckt dahinter einfach der ökonomische Gedanke einer zuverlässigen und nie versiegenden Geldquelle? Die letzte Frage muss der Leser wohl für sich selbst beantworten.

Was bleibt, ist die Sorge, dass diese Kontrolle und Einschränkungen in den kommenden Jahren weiter wachsen und die freie Meinungsäußerung im Stadion stetig eingeengt werden wird. Ein Erfolgsrezept gegen diese Entwicklungen ist schwer zu liefern, doch eines sollten Fans aller Vereine tun: weitermachen. Weiter kritisieren, weiter anecken und weiter den Finger in die Wunde legen. Denn nur so bleibt uns der Meinungspluralismus im Stadion auf Dauer erhalten. Und das ist etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Rechtliche Grundlagen der Verbandsjustiz

„Verbandsgerichtsbarkeit ist die den Verbänden eingeräumte Möglichkeit, Verstöße ihrer Mitglieder oder Vertragspartner gegen Verbandsrecht zu ahnden und über verbandsinterne Streitigkeiten zu entscheiden. Sie beruht auf der Selbstverwaltungsautonomie der Vereine und Verbände.“ –DFB

Auszüge aus der Rechts- und Verfahrensordnung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB)

§ 9a Verantwortung der Vereine

  1.  Vereine und Tochtergesellschaften sind für das Verhalten ihrer Spieler, Offiziellen, Mitarbeiter, Erfüllungsgehilfen, Mitglieder, Anhänger, Zuschauer und weiterer Personen, die im Auftrag des Vereins eine Funktion während des Spiels ausüben, verantwortlich.
  2. Der gastgebende Verein und der Gastverein bzw. ihre Tochtergesellschaften haften im Stadionbereich vor, während und nach dem Spiel für Zwischenfälle jeglicher Art.

§ 34 Verwendung der Geldstrafen

Die verhängten Geldstrafen werden für gemeinnützige Zwecke des DFB oder seiner Mitgliedsverbände verwendet.

§ 37 Kosten

  1. Die Kosten eines Verfahrens trägt in der Regel die bestrafte oder unterliegende Partei.

Der DFB hat als Verband das Recht, über die Vereine (Mitglieder der Mitgliedsverbände) zu urteilen und Strafen zu verhängen. Zwei Rechtsinstanzen (Sportgericht und Bundesgericht) werden im Falle von Verstößen gegen das Verbandsrecht eingesetzt, der sogenannte DFB-Kontrollausschuss übernimmt eine staatsanwaltschaftliche Funktion. Ein neutrales Schiedsgericht kann die Rechtmäßigkeit von Verbandsentscheidungen überprüfen. Zwar können die Vereine gegen Urteile Berufung einlegen, jedoch ist dies immer mit juristischem Aufwand und finanziellen Aufwendungen verbunden. Kurzum: für die Vereine ist es manchmal billiger, Strafen zu akzeptieren, als sie vor dem Bundesgericht des DFB anzufechten.

Durch die sogenannte „verschuldensunabhängige Haftung“ (fixiert in § 9 der Rechts- und Verfahrensordnung) werden Vereine vom DFB zur Kasse gebeten und haften somit für das Verhalten der eigenen Anhänger und Stadionbesucher. Das heißt im Klartext, dass eine Meinungsäußerung von Fans im Stadion dazu führen kann, dass der DFB den betreffenden Verein mit einer Geldstrafe oder anderen Sanktion konfrontiert, auch wenn dieser wenig bis keinen Einfluss auf Äußerungen der Stadionbesucher hat. Diese Regelung wird umso problematischer, wenn Vereine entscheiden, die Strafen auf einzelne „Täter“ umzulegen und sich somit selbst zu entlasten. Ein Urteil des Bundesgerichtshof (BGH) eröffnet Vereinen seit 2016 diese Möglichkeit der Strafumwälzung. Mittlerweile wird diese immer häufiger genutzt, viele Clubs wollen durch Regressforderungen an überführte Täter die eigenen Verluste durch Strafen des Verbandes kompensieren oder sogar egalisieren. Immense Strafsummen des DFB werden dabei auf Einzeltäter abgerollt und leider die mangelnde Verhältnismäßigkeit völlig außer Acht gelassen.

„Der DFB hat keinen transparenten Sanktionskatalog. Wäre man gemein, könnte man sagen, er würfelt die [Strafen] aus. Das Strafmaß des DFB reicht von wenigen hundert Euro bis zu hohen fünfstelligen Beträgen.“ – Matthias Düllberg (Fachanwalt für Strafrecht) gegenüber ZEIT Online

Interview mit Dr. Andreas Hüttl, Anwalt für Fanrecht

Dr. Andreas Hüttl, Bild: @Dr_Huettl

Lennart Birth (LB): Herr Dr. Hüttl, als Strafverteidiger in Hannover befassen Sie sich unter anderem mit Fanrecht und unterstützen Fußballfans in rechtlichen Fragen. Hatten Sie je einen Fall, in dem ein Fan beziehungsweise eine Fanhilfe gegen den Deutschen Fußball-Bund vorgegangen ist, weil es unterschiedliche Auffassungen von Meinungsfreiheit im Stadion gab?

Dr. Andreas Hüttl (AH): Ein direktes Vorgehen eines Fans gegen den DFB im eigentlichen Sinne kann es gar nicht geben. Die Vereine, oder besser die Spielbetriebsveranstalter, unterwerfen sich im Lizensierungsverfahren der Sportgerichtsbarkeit des DFB. Die DFB-Urteile treffen daher zunächst alleine die Spielbetriebsveranstalter. Der DFB kann durch die Sportgerichtsbarkeit nur Sanktionen gegen diese verhängen. Die Spielbetriebsveranstalter können dann versuchen, die Strafen (evtl. wegen beleidigenden Tapeten oder nun neu, wegen beleidigenden Gesängen (sogenannten Schmähgesängen)) an die „Verursacher“, also die Fans, weiterzuleiten. Ich hatte aber bereits Verfahren zwischen Fans und Spielbetriebsveranstaltern, in denen es um die Genehmigung von Choreografien ging und man auch unterschiedlicher Meinung war, ob der Inhalt der Choreos noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, oder eben ehrverletzenden Charakter hat. Auch Stadionverbote wegen solcher Streitigkeiten habe ich bereits bearbeitet.

LB: Wie beurteilen Sie, dass der DFB verbandsrechtlich Schritte gegen Fußballvereine und deren Fans einleiten kann, die durch Ihre Meinungsäußerung im Stadion Kritik am Verband geäußert haben? Sind hohe Geldstrafen für vermeintliche Verunglimpfung des DFB oder beleidigende Gesänge wirklich gerechtfertigt?

AH: Dass der DFB im Zuge der Sportgerichtsbarkeit eine „eigene Justiz“ aufgebaut hat und nutzt, ist im Grundsatz nicht zu kritisieren. Man stelle sich vor, dass sämtliche Streitigkeiten (z.B. wie lang die Sperre für eine rote Karte sein soll) vor den ordentlichen Gerichten ausgetragen würden. Das wäre natürlich unsinnig. Die Sportgerichtsbarkeit ist Ausfluss der grundgesetzlich verankerten Vereinigungsfreiheit. Das heißt, jeder Verein kann sich seine Regeln selbst schaffen und nach eigenem Gutdünken richten. Wer sich dem nicht unterwerfen will, muss ja nicht mitmachen. Kritisch wird es jedoch, wenn die dort ausgesprochen Strafen an Dritte, die Fans/Verursacher weitergereicht werden dürfen. Wie gesagt, gegen die Fans selbst hat der DFB keine Möglichkeit, denn so weit reicht seine Strafgewalt nicht. Man kann zwar manchmal diesen Eindruck bekommen, zum Beispiel, wenn es heißt, die Sperrung der Südtribüne in Dortmund sei ausgesprochen worden, weil etwas vor dem Stadion passiert sei, das ist aber einfach eine falsche Darstellung in den Medien. Und natürlich sind solch hohe Strafen wegen „Verunglimpfung“ nicht gerechtfertigt. Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Bahnhof von Magdeburg und halten ein Transparent „Scheiß DFB“ oder „DFB – Mafia“ in die Höhe. Wenn es da überhaupt ein Verfahren wegen Beleidigung geben würde, wäre es eine Strafe von nicht mal 500,- €. Nun halten Sie dieses Transparent im Stadion und sollen auf einmal 10.000,- € dafür als Strafe zahlen. Absurd.

LB: Wie beurteilen Sie gegen Fans ausgesprochene Kollektivstrafen in Anbetracht der häufig geringen Täterzahl? Sehen Sie Tendenzen, dass in den letzten Jahren Kollektivstrafen (Zuschauerteilausschlüsse, Geisterspiele) vermehrt vom DFB ausgesprochen wurden?

AH: Die Tendenz, die Repressionsschraube immer fester und schneller zu drehen, ist offensichtlich. Natürlich kann man feststellen, dass die Strafen immer höher und umfassender werden. Auch, dass die Anlässe für Strafen immer niederschwelliger angesetzt werden. Was gestern noch toleriert wurde, wird heute bestraft. Was gestern noch 1.000,- € gekostet hat, bringt heute eine Blocksperre. Dass dann die weitaus erheblichere Anzahl von Fans, die keine Verfehlung begangen haben (wie die ca. 29.600 friedlichen Zuschauer auf der Südtribüne in Dortmund) für den Unsinn einiger mitbestraft werden, kann nur für Kopfschütteln sorgen.

LB: Wo sehen Sie eine Grenze der freien Meinungsäußerung im Stadion? Wie weit dürfen Kritik und Schmähungen Ihrer Ansicht nach gehen, um noch unter den Deckmantel der Meinungsfreiheit zu fallen?

AH: Wir müssen zunächst realisieren, dass es sich bei einem Fußballspiel um eine hoch emotionale Angelegenheit handelt. Das ist so und wird von den Verbänden und Spielbetriebsveranstaltern ja auch so initiiert und gewollt. Gleichwohl ist sicher nicht alles zu tolerieren, was man sich als Beleidigung vorstellen kann. Grundsätzlich ist die Meinungsfreiheit ein herausragendes Gut in unserer Rechtsordnung. Diese findet ihre Schranken alleine in den Rechten anderer. Der Schutz geht also sehr weit. Im Zusammenhang mit Fußball sei auf das kürzlich ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu „ACAB“ hingewiesen. Dies sei freie Meinungsäußerung, wurde geurteilt. Und dann gibt es immer noch das sogenannte „sozialadäquate Verhalten“. Was heißt das? Nun ja, wenn bei Altweiberfastnacht eine Dame meinen Schlips abschneidet, ist das eigentlich ein Raub mit Waffen, Mindeststrafe drei Jahre. Das wird natürlich nicht so verfolgt, weil es ein „sozialadäquates Verhalten“ ist, als etwas, was die Rechtsordnung toleriert. Oder das „Stehlen“ eines Maibaumes. Eindeutig ein Diebstahl, aber eben auch „sozialadäquates Verhalten“, also nicht zu bestrafen. Wie ist es nun, wenn im Stadion von Hannover 96 „Tod und Hass dem BTSV“ gesungen wird oder auf einem Banner steht? Ich meine, das muss man tolerieren. Das „sozialadäquate Verhalten“ ist aber eben auslegungsbedürftig. Es kommt darauf an, welches Handeln ein Richter darunter fasst.

LB: Fanvertreter kritisieren häufig, dass die Strafen willkürlich seien, Ihr Kollege Matthias Düllberg sprach gegenüber der ZEIT sogar von ausgewürfelten Strafen. Wie schätzen Sie die Transparenz des DFB im Zusammenhang mit der Höhe von Strafgeldern für Vereine ein, deren Fans durch ein Fehlverhalten aufgefallen sind?

AH: Es gibt keine Transparenz bei den Strafen. Auswürfeln trifft es ganz gut.

LB: Artikel 5 (1) GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“ Wieso darf der Deutsche Fußball-Bund trotz Artikel 5 unseres Grundgesetzes Strafen für kritische Äußerungen oder unsportliche Beleidigungen verhängen, sehen Sie einen Konflikt mit der deutschen Rechtsprechung?

AH: Der DFB kann nach seinem Strafsystem alles bestrafen, was er für sanktionswürdig hält. Problematisch wird es erst dann, wenn diese Strafen weitergegeben werden können. Dass dies grundsätzlich so möglich ist, hat der Bundesgerichtshof erst kürzlich in dem Kölner Fall bejaht. Ob dieses Urteil entsprechend ausgefallen wäre, wenn es nicht um einen Böllerwurf mit tatsächlich Verletzten, sondern um einen Schmähgesang gegangen wäre, kann man bezweifeln.

LB: Welche Möglichkeiten können Vereine nutzen, die aufgrund von Äußerungen ihrer Fans während des Spiels Strafen durch den DFB erhalten haben? Wäre es möglich, Prozesse aus der Verbandsgerichtsbarkeit auszulagern und vor einem ordentlichen Gericht auszutragen?

AH: Nach den Verfahren „Pechstein“ und „SV Wilhelmshaven“ muss man wohl anerkennen, dass auch nach Abschluss der Sportgerichtsverfahren in den dortigen Instanzen, der Weg zu den ordentlichen Gerichten gegeben ist. Ich bezweifele aber, dass es alsbald dazu kommen wird. Keiner will der Erste sein, der dies so durchführt. Die „Rache des DFB“ würde sicher zu einem Ausschluss führen.

LB: Was können Fans und Vereine in Zukunft tun, um Strafen des DFB für Kritik vorzubeugen?

AH: Ins Stadion gehen, hinsetzen, nichts sagen. Entschuldigen Sie meinen Sarkasmus.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

Weiterlesen:

Bildrechte

Sämtliche Rechte an den Fotografien liegen bei den angeführten Bildrechteinhabern.
Die Verwendung der im Text eingebauten Bilder geschah mit ausdrücklicher Genehmigung der betreffenden Personen bzw. Institutionen, wofür wir uns herzlich bedanken möchten!

Beitragsbild: “Fans im Visier” / SurfGuard via Flickr | CC-BY-NC-SA 2.0

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https://120minuten.github.io/bekaempft-der-dfb-die-meinungsfreiheit/feed/ 3 3361
Der Fußball und das Fernsehen https://120minuten.github.io/der-fussball-und-das-fernsehen/ https://120minuten.github.io/der-fussball-und-das-fernsehen/#comments Tue, 31 Jan 2017 08:00:22 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3035 Weiterlesen]]> Über die mediale Inszenierung der schönsten Nebensache der Welt

Das erste in Deutschland live ausgestrahlte Fußballspiel fand am 24. August 1952 in Hamburg zwischen dem Hamburger SV und Altona 93 statt. Das Fernsehversuchsprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks, kurz: NWDR war für die Übertragung verantwortlich. Seit dieser ersten Liveübertragung sind viele Jahre ins Land gegangen und nicht nur der Hamburger SV hat sich verändert, sondern auch die Fernsehübertragungen. Mittlerweile befindet sich der Fußball in Bezug auf seine mediale Übertragung an einem Scheideweg. Die Europa-Liga scheint nicht mehr komplett unrealistisch, die Schere zwischen kleinen und großen Klubs wird immer größer und die Preise für die Übertragungsrechte an der Bundesliga oder der WM steigen jedes Jahr aufs Neue in schwindelerregende Höhen.

Zeit für eine nüchterne Analyse der grundlegenden Zusammenhänge der medialen Inszenierung des Fußballs. Wie wird eine Fußballübertragung inszeniert? Warum generieren Fußballspiele solch hohe Einschaltquoten? Und: Was sagt das eigentlich über das Verhältnis zwischen uns als Rezipienten und der Fußballwelt aus?

Autor: Luca Schepers (prettylittlemovies.blogspot.de)

Abhängigkeitsverhältnisse

Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Fußball seine heutige globale Ausdehnung und die riesigen Geldbeträge, um die es inzwischen geht, niemals ohne die mediale Verbreitung vor allem durch das Fernsehen hätte erreichen können. Gerade deshalb mutet die „Medienkritik“ mancher (nicht aller) Mitglieder der Fußball-Welt etwas seltsam an, da es in letzter Konsequenz diese Medien sind, die dafür sorgen, dass sie ihren gut bezahlten Job behalten können. Die Massenmedien und der Fußball befinden sich also in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Der Fußball ist darauf angewiesen, dass in den Massenmedien über ihn berichtet wird, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Für selbige ist es wichtig, einen guten Draht zu den Verantwortlichen zu haben, um sich in Zeiten von Twitter, Facebook u.ä. ihre Aktualität zu bewahren (u.a. zu diesem Thema hat Georg Seeßlen in der Jungle World 02/17 einen brillanten Text geschrieben.) Außerdem interessiert Fußball extrem viele Menschen, sodass er als stets sicheres Mittel zur Quotensteigerung gesehen werden darf. Man schaue sich bloß einmal Rupert Murdoch und den Fernsehsender TM3 im Jahr 1999 an. Damit sich jedoch der Kauf des wahrscheinlich teuersten Programmpunkts für einen Fernsehsender lohnt, müssen die Quoten stimmen. Tun sie das nicht, können die Fußballrechte sehr schnell zu einem existenzbedrohenden Risiko werden. Es stellt sich also die Frage, wie ein Fernsehsender eine Fußballübertragung inszenieren muss, um möglichst viele Zuschauer vor den Bildschirm zu ziehen. 

Fußball als Medienereignis

Jedes Medienereignis hat seine eigene Choreographie, sei es eine Nachrichtensendung, eine Königshochzeit oder eben ein Fußballspiel. Das Fernsehen begreift diese Medienereignisse als geschlossene Erzählungen, die eines klaren narrativen Rahmens bedürfen, der für jeden Zuschauer verständlich ist. Es ist wichtig, in ein Medienereignis einzuführen und es nicht abrupt zu beenden. Es versucht, Integrität zu schaffen, indem es die Komplexität reduziert bzw. pauschale Aussagen trifft. Das Fernsehen verarbeitet bei seiner Übertragung das, was in der Realität geschieht, in konsumierbare Bilder, die den Zuschauer auf einer visuellen Ebene ansprechen. Damit geht eine Vereinheitlichung aller Zuschauer einher. Jeder, der über ein Fernsehgerät verfügt, kann sich die Sendung ansehen, unabhängig von Einkommen, Lebensverhältnissen etc.[1]

Frei nach Walter Benjamin[2] verändert sich durch das Fernsehen die Aura des Ereignisses, nur derjenige, der vor Ort ist, kann sie wirklich originär erleben. Und hier setzt die Entwicklung einer der wichtigsten Figuren des Fernsehens ein: Der Korrespondent. Er dient dazu, die Stimmungen vor Ort einzufangen, dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, er sei in diesem Moment „mittendrin statt nur dabei“. Wie wir später noch sehen werden, ist der Korrespondent vor allem in der Fußballberichterstattung eine immens wichtige Figur. Die Fußballübertragung ist ein eben solches Medienereignis. Jede Übertragung, egal ob sie von ARD, ZDF, RTL, Kabel 1 etc. durchgeführt wird, folgt der Logik des Medienereignisses (mal abgesehen von Sport1-Übertragungen, die zuweilen einen fast schon experimentellen Charakter haben).

Eine Fußballübertragung beginnt häufig mit einem kleinen Trailer zum Spiel und der Begrüßung der Zuschauer durch den Moderator. Dabei ist erst einmal interessant, dass die Übertragung lange vor Anpfiff des eigentlichen Fußballspiels beginnt. Es gibt meist einen Moderator und einen „Experten“, also jemanden, der auf Nachfragen hin dem Zuschauer komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar erläutert.

Der „Experte“

Bereits die Rolle des „Experten“ ist interessant, vor allem, wenn man sich die Besetzung anschaut. In der ARD ist es Mehmet Scholl, im ZDF Oliver Kahn, bei RTL Jens Lehmann oder bei Sky Lothar Matthäus. Alle sind ehemalige Fußballspieler, die große Erfolge gefeiert haben. Im Prinzip ist dies ihre einzige wirkliche Legitimation, diese Rolle des „Experten“ ausfüllen zu dürfen. Als wirklicher „Experte“ wäre eigentlich eher z.B. ein Trainer (für spieltaktische Fragen) oder ein Vereinsfunktionär (für Geschäftsfragen) geeignet. Sie sind letztlich diejenigen, die den Fußball verstehen bzw. verstehen müssen und daher eigentlich auch als Experten gelten sollten. Nun kommen wir aber zu dem Punkt, dass das Fernsehen den Zuschauer unabhängig von seinem Hintergrund in sein Programm einbinden muss und die Komplexität reduziert. Würde man regelmäßig jemanden von spielverlagerung.de oder einen Scout des DFB dort hinschicken, bestünde die Gefahr, dass dieser die Komplexität des Fußballs nicht weit genug reduziert und einen Teil der Zuschauer dadurch aus der Übertragung ausschließt. Durch den Fakt, dass Scholl, Kahn oder Lehmann erfolgreiche Fußballspieler gewesen und dem Zuschauer bekannt sind, bauen sie eine engere Bindung zu ihm auf. Der Zuschauer glaubt, dass jemand, der diesen Beruf ausgeübt hat, sich auch am besten dazu äußern kann. Meiner Ansicht nach enthält diese Sichtweise einen kleinen, aber nicht unerheblichen Denkfehler, aber dazu später mehr.

Der „Moderator“

Die Figur, die verhindern soll, dass der „Experte“ zu komplex und unverständlich erzählt, ist der „Moderator“. Seine wichtigste Funktion ist es jedoch, durch das Medienereignis hindurchzuleiten und dem Zuschauer das narrative Gerüst zu geben, welches er sehen möchte. Er moderiert lange vor dem Beginn des eigentlichen Ereignisses die Sendung an, kündigt Berichte an und bereitet den Zuschauer im Dialog darauf vor, was ihn erwarten wird. Der Moderator nimmt die Rolle desjenigen ein, der mit den Zuschauern in einen Dialog tritt. Er schaut direkt in die Kamera, er spricht sie an und vermittelt damit zwischen dem Wohnzimmer und dem Fußballstadion. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann gab es vor Jahren einmal ein UEFA-Cup-Spiel auf Kabel 1 zu sehen, bei welchem zu lange in der Werbung geblieben wurde und man die ersten Sekunden der zweiten Halbzeit nicht sehen konnte. Dies sorgt für einen völlig ungewohnten Effekt: Auf einmal befindet man sich direkt im Spiel, man hat keinerlei Möglichkeit, sich darauf einzustellen und der Kommentator beginnt sofort mit dem Reden. Das ist eine Unmittelbarkeit, die man als Fußballzuschauer nicht gewohnt ist und die so auch nicht akzeptiert wird. Dies ist das Symptom einer generellen Haltung des Fernsehpublikums: Es denkt in traditionellen Erzählmustern.

Exkurs: Umberto Eco und die Live-Übertragung

Man darf nicht vergessen, dass das Kino weit vor dem Fernsehen erfunden und von dessen Narration maßgeblich beeinflusst wurde, ebenso wie von den Strukturen des klassischen Romans. Wenn man so möchte, dann soll eine Fernsehübertragung zwei Dinge erfüllen:

  1. den Erzählmustern des klassischen (Hollywood-) Spielfilms folgen
  2. informieren

In seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ erläutert Umberto Eco im Abschnitt „Zufall und Handlung. Fernseherfahrung und Ästhetik“, dass diese Erwartungen des Publikums an eine Live-Übertragung den Regisseur v.a. bei einem Fußballspiel relativ stark einschränken. Fußball ist ein Spiel, das letztlich sehr ballfokussiert übertragen wird, man wird selten über einen längeren Zeitraum Bilder sehen, in denen nicht der Ball zu sehen ist. Einzig beim Tor, so Eco, könne der Regisseur auswählen, was er zeigt. Was man jedoch nie sehen werde, sei ein Bild der nebenliegenden leeren Straße oder des am Stadion vorbeifließenden Flusses (eine ähnliche Differenz lässt sich zwischen Spiel- und Experimentalfilm ausmachen). Dies interessiert den Zuschauer nicht, er möchte Informationen bekommen. Eco formuliert meiner Ansicht nach zwei sehr entscheidende Gedanken für den Diskurs über Inszenierungen des Fußballs:

„Die Live-Sendung ist niemals eine bloße Wiedergabe, sondern stets […] eine Interpretation.“

und:

„Auch, wenn sein Werk sich auf der untersten künstlerischen Stufe befindet, erlebt der Fernsehregisseur ein Gestaltungsabenteuer, das derart ungewöhnlich ist, dass es ein künstlerisches Phänomen von höchstem ästhetischen Interesse bildet.“[3]

Wir haben es bei aller Informationsweitergabe also immer noch mit einer Interpretation verschiedener Kamerabilder zu tun, die ein Regisseur montiert, die Inszenierung ist niemals rein objektiv, sie folgt einem bestimmten, an den Gewohnheiten des Zuschauers orientierten Narrativ. Die Tatsache, dass die Bilder des Fernsehens montiert werden und nicht einfach so zusammengestellt sind, gibt Sky jedes Wochenende preis, indem man kurz vor der Schalte in die Werbung einen kurzen Blick in den Regieraum wirft, die „Regie-Cam“. Es ist also für jeden Zuschauer transparent, dass das Fernsehen die Fußballspiele inszeniert, dass jemand dort die Bilder steuert.

Nach dem Ende des Spiels gibt es noch eine lange Phase, in der der Moderator Interviews führen lässt, das Spiel noch einmal Revue passieren lässt, sogar noch Zusammenfassungen von anderen Medienereignissen bzw. Fußballspielen zeigt und damit stets mit selbstreflexiven Verweisen arbeitet. Selten einmal wird man es sehen, dass der Moderator nach Abpfiff des Spiels den Zuschauern einen schönen Abend wünscht und die nächste Sendung beginnt.

Anders als z.B. bei DAZN möchte der Zuschauer im klassischen Fernsehformat sanft aus dem Ereignis befördert werden.

DAZN
Während sich die bisherigen Ausführungen auf den ‘klassischen’ Fußball-Fernsehabend oder den allwochenendlichen Sky-Marathon beziehen, verfolgt DAZN ein anderes Konzept. Gern auch mal als “Netflix des Sports” bezeichnet, bietet der Streaming-Dienst genau das, was man unter diesem Label erwarten würde: Jede Menge Live-Spiele unterschiedlichster Ligen (die Bundesliga ist nicht im Angebot, dafür aber die spanische, französische und englische Beletage ebenso wie beispielsweise der kroatische oder australische Fußball), dazu Re-Live-Optionen mit der Möglichkeit, sich das Spiel der Wahl ‘on demand’ anzuschauen. Die Präsentation und ‘Zuschauerführung’ weichen von den bisher im Beitrag dargestellten Merkmalen deutlich ab: man ist häufig direkt im Spiel, Zusatzinformationen zu den entsprechenden Begegnungen bewegen sich eher auf einem minimalistischen Level, der Sport als solcher steht im Vordergrund. Ist die Begegnung vorbei, verabschieden sich Kommentator und Experte (hier ehemalige Spieler, die nicht in einem Studio, sondern als Co-Kommentatoren agieren) recht bald vom Zuschauer vor dem Fernsehgerät, dem Rechner oder dem Tablet, eine ausführliche Auswertung der Partie mit Interviews und Taktikanalysen entfällt. Auffällig auch, dass sich die Co-Moderation auf einem fußballfachlich höheren Niveau bewegt, als man es von ‘klassischen’ Fernsehübertragungen gewohnt ist – was aber nicht weiter verwundern kann, dürfte sich DAZN doch eher explizit an ausgewiesene Fans des Sports und weniger an ein Publikum richten, das sich von einer Fußballübertragung mit allem Drumherum in erster Linie umfänglich unterhalten lassen möchte.

Interessant ist außerdem, wo und wann die Interviews stattfinden. Doch dazu muss man sich erstmal die Frage stellen: Von wo wird eigentlich moderiert?

Der Standort der Moderation: Studio oder Spielfeld?

Moderationen von Fußballspielen finden entweder in einem Studio im Stadion statt oder es stehen „Moderator“ und „Experte“ am Spielfeldrand mitten im lauten Getöse des Innenraums. Wenn aus dem Studio moderiert wird, dann gibt es häufig noch einen Reporter, der am Spielfeldrand steht, der „Field-Reporter“, der Korrespondent. Warum also versucht das Fernsehen, dem Spielfeld so nahe zu sein? Es geht darum, die große Entfernung zwischen Fernsehzuschauer und Stadion aufzulösen. Der Zuschauer soll durch den großen Lärm und die im Hintergrund herumfliegenden Bälle suggeriert bekommen, er sei ganz nah dabei, er könne die Stimmung fühlen. Polemisch gesagt: Es gibt nichts Besseres für eine Fernsehübertragung, als ein Stadion, welches das Gespräch der Moderatoren übertönt.

Das Narrativ, welches der Privatsender „Sky“ vor allem bei den 18:30-Spielen der Bundesliga anwendet, ist eine Modifikation der beiden vorgestellten Varianten. Hier sitzen mehrere Experten an einem Tisch und reden in einem teilweise recht flapsigen Ton miteinander. Hier wird der Zuschauer in der Kneipe angesprochen. Die halbkreisförmige Form des Tisches und die Debatten ähneln fast einer Theke in einer Fußballkneipe. Es wird versucht, dem Zuschauer v.a. in der Kneipe, aber auch zuhause, das Gefühl zu vermitteln, er sei dem Ereignis nicht nur sehr nahe, sondern er sitze mit am Tisch. (Anmerkung: Das prototypische Beispiel dafür sind die Liveübertragungen von Hochzeiten v.a. im Schweizer Fernsehen.)

Die Kulturtechnik des Interviews wird unmittelbar nach dem Spiel ad absurdum geführt: Nach 90 Minuten+X Adrenalin und schwerster körperlicher Betätigung ist es extrem unwahrscheinlich, von einem Spieler eine wirklich interessante Aussage über das Spiel zu bekommen, viel zu sehr sind die Spieler noch von Emotionen geprägt. Aber um den Inhalt dieser Aussagen geht es auch gar nicht. Viel wichtiger ist, dass es direkt auf dem Spielfeld stattfindet, der Spieler soll kaputt sein, man muss ihm die physischen Anstrengungen ansehen. So entsteht ein neuer Realitätseindruck und die Interviews runden in der Nachbetrachtung das ganze Ereignis ab. Dies jedoch als generellen Vorwurf an den Fußball zu betrachten, wäre fehlgeleitet, da u.a. im Tennis oder bei Schach-Turnieren Spieler ebenfalls unmittelbar nach dem Spiel interviewt werden. Beim Fußball geht es mehr um den eben genannten Realitätseindruck, allerdings eint alle drei Sportarten, dass es stets um Aktualität geht. Man möchte Sekunden nach Ende des Spiels bereits wissen, was der Spieler zu sagen hat. An einer inhaltlich interessanten Antwort kann dabei kein Interesse bestehen. Man könnte an dieser Stelle fast schon von einem „Regime der Aktualität“ sprechen.

(Bei der Schach-WM 2016 war es z.B. so, dass die Spieler direkt nach dem Spiel kurz befragt wurden. Der Weltmeister Magnus Carlsen gab die einzig richtige Antwort auf ein solches Vorgehen. Zugegebenermaßen hatte er gerade ein Spiel sehr tragisch verloren.)

Pressekonferenz mit Magnus Carlsen und Sergey Karjakin

Das Zielpublikum

Warum findet dies nun statt? Man könnte begründen, dass Fernsehen immer eine Inszenierung ist, jeder darüber Bescheid wisse und man das so hinnehmen könne. Doch ich bin der Ansicht, dass das eine recht oberflächliche Betrachtung darstellt.

Fußball ist bekanntermaßen die beliebteste Sportart der Welt. Jeder könne eben irgendwie ein bisschen Fußball spielen, heißt es dann oft. Bereits diese Aussage ist doch interessant. Sie suggeriert, dass der Sport für jeden zugänglich sei, da er doch eigentlich überhaupt nicht kompliziert ist. 22 Leute, ein Ball und zwei Tore. Genau diese Haltung schlägt sich in den Fernsehübertragungen nieder. Wenn ein Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft übertragen wird, dann wird die Komplexität des Spiels soweit heruntergebrochen, dass selbst jemand, der niemals Fußball schaut, dem Ganzen folgen kann. Ob das nun sinnvoll ist oder nicht, haben klügere Menschen als ich schon besser erläutert. Man befindet sich dabei eben stets in einem Spannungsfeld einer Demokratisierung des Sports (jeder Besitzer eines Fernsehgeräts kann Fußball schauen) und der Simplifizierung einer Sportart, die nicht simpel ist. Mag man als regelmäßiger Fußballzuschauer irritiert von derlei Simplifizierungen sein, erklären lassen sie sich recht einfach. Ich bin allerdings der Ansicht, dass man komplexe Dinge auch durchaus als komplex darstellen sollte. Wenn ich mir Gedanken über Gravitation mache, würde ich jederzeit anerkennen, dass dies ein hochkomplexes Thema ist. Da man aber niemals alle Dinge in ihrer gesamten Komplexität erkennen kann, muss ich mich damit begnügen, dass ein Gegenstand, den ich in die Luft werfe, herunterfällt. Ich darf deswegen aber nicht von einem Physiker verlangen, das Thema genauso herunterzubrechen. Verständlich sollte er sich natürlich schon ausdrücken, aber niemals unterkomplex. Ein Interview direkt nach dem Spiel ist aus nachvollziehbaren Gründen genau das. Einmal mehr siegt die Vermittlung eines Realitätseindrucks, des „Mittendrin statt nur dabei“-Gedankens, über eine inhaltliche Auseinandersetzung.

Theoretiker vs. Praktiker

Wir kommen nun zu einem Punkt, den ich bereits zu Beginn kurz erwähnt habe, nämlich der Frage, warum der „Experte“ in der Sportübertragung in den allermeisten Fällen ein ehemaliger Spieler ist. Das führt zu einem sehr tiefliegenden Konflikt, den es im Sport, aber auch in der Kunst oder in allen möglichen anderen Lebensbereichen gibt: Muss man selbst einmal aktiv in diesem Bereich gewesen sein, um sich fundiert darüber äußern zu können, bzw. muss man selbst Fußball gespielt haben, um vernünftig über Fußball reden zu können? Die Logik dahinter ist, dass jemand, der sich über das Anschauen von Fußballspielen und das Lesen von Theoriewerken mit dem Sport auseinandersetzt, den wahren Kern des Spiels nicht verstehen würde. Etwas Ähnliches geschieht häufig in der Kunst, dem Filmkritiker wird z.B. vorgeworfen, er könne den Film doch gar nicht beurteilen, da er nie selbst so etwas gemacht habe. Ich halte das für sehr einfach gedacht. Selbstverständlich ist es interessant zu hören, was ein ehemaliger Aktiver, der einen anderen Blick auf die Dinge hat, zu sagen hat. Nichtsdestotrotz ist es ebenso interessant, was ein Fußball-Analyst dazu sagt. Was wir hier vorfinden, ist eine versteckte Intellektuellenfeindlichkeit. Der schöne Arbeitersport Fußball soll nicht „verwissenschaftlicht“ werden, alles soll möglichst einfach bleiben. Eine absurde Vorstellung, wenn man bedenkt, wie viel Geld mit Fußball umgesetzt wird. (Gerade deswegen ist der RB-Leipzig-Hass auch einigermaßen bizarr, aber das soll hier nicht das Thema sein.) Außerdem widerspricht es vollkommen dem aktuellen Zeitgeist. Die meisten Profi-Vereine setzen auf moderne, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Trainingssteuerung o.ä. und nutzen alle möglichen „modernen“ Möglichkeiten. Nur bei den Zuschauern scheint immer noch der Geist der Vergangenheit in den Köpfen zu spuken.

Die bereits erwähnten Fußballsendungen auf Sport 1 führen diesen Gedanken ad absurdum und überziehen alles, was das Fußballfernsehen ausmacht, auf eine solch extreme Art und Weise, dass man nicht umhinkommt, über diese Form des Fernsehens zu schmunzeln bzw. ihr mit zunehmender Faszination zuzusehen. Alleine der „Mobilat Fantalk“ ist eine hochinteressante Sendung. Nur der Vollständigkeit halber: In der „11 Freunde Bar“ in Essen sitzen rund um einen Kneipentisch zwei Moderatoren und verschiedene Gäste. Direkt hinter ihnen steht ein Pulk aus Fußballfans, wie sie typischer nicht aussehen könnten. Die Gäste sind größtenteils ehemalige Fußballspieler oder Trainer. Besonders beliebte Gäste sind Leute wie z.B. Peter Neururer oder Mario Basler. Unvergessen bleiben Baslers verbale Ausfälle gegenüber anwesenden Zuschauern.

'Basler unleashed'

In diesem Video wird alles vereint, was diese Sendung ausmacht: Die Leute trinken Bier, polemisieren und bringen Stammtischparolen in Reinform. Am Ende ruft Basler noch etwas Frauenfeindliches und schon ist die Begeisterung groß. Das ist das, was sich viele Zuschauer wünschen und was die anderen Sender in professionellerer und gemäßigter Form präsentieren. Das bizarrste am „Mobilat Fantalk“ ist auch gleichzeitig das Symbol für das inexistente Interesse der Zuschauer am Fußball: An den Spieltagen der Champions Leauge wurden dort die Spiele in der Kneipe übertragen, ohne, dass der Fernsehzuschauer sie sehen konnte. (Anmerkung: Die Sendung zum CL-Halbfinale zwischen Borussia Dortmund und Real Madrid hatte die höchste Einschaltquote in der Geschichte des Fantalks.)

Die einzige Rechtfertigung dafür, dass Basler in einer Sendung sitzt, ist sein Status als ehemaliger Fußballprofi. Und hier sind wir wieder beim Kernproblem angekommen. Weiß ein Ex-Profi wirklich immer besser über das Spiel Bescheid? Ist er einem „Theoretiker“ wirklich immer vorzuziehen? Ziel des Fernsehens sollte es eigentlich sein, einen Diskurs darüber zu beginnen und vor allem: kluge und meinungsstarke Menschen ins Fernsehen zu bringen. Punktuell beginnt Sky immer mehr damit, das zu forcieren, ihre Zusammenarbeit mit den ehemaligen Bundesligaschiedsrichtern oder auch Leuten wie z.B. Tobias Escher von spielverlagerung.de lässt eigentlich Gutes erhoffen. Doch solange kein generelles Umdenken im Verhältnis zwischen Zuschauer und Fernsehen entsteht, wird sich an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern.

Öffentlich-Rechtliches- und Privatfernsehen

Es scheint mir an dieser Stelle angemessen, eine Unterscheidung zwischen Öffentlich- Rechtlichen- und Privatsendern zu machen.

Die Öffentlich-Rechtlichen Fernsehsender haben, ihrer ursprünglichen Aufgabe folgend, einen Bildungsauftrag. Dadurch, dass sie an keinerlei Quoten gebunden sind, haben sie die Möglichkeit, kreativen und innovativen Konzepten den Raum zu geben, den diese im Privatfernsehen nicht bekommen würden. Eben deshalb hätte die ARD die Möglichkeit, bei einer Fußballübertragung vom hochgradig ritualisierten Charakter der Fußballübertragungen abzuweichen, einen neuen Weg zu gehen. Sky hat diese Möglichkeit in wesentlich geringerem Maße. Für sie ist das Argument der Demokratisierung und der damit einhergehenden Simplifizierung jedoch nicht gültig, im Gegenteil: Wenn jemand einen Sportsender abonniert, ist davon auszugehen, dass er sich dafür interessiert und eine gewisse Grundkenntnis besitzt. Dennoch ähneln sich beide Programme relativ stark. Sie halten sich beide an den Grundzügen des Medienereignisses fest und wollen den Zuschauer dabei auf keinen Fall aus seinen Gewohnheiten herausbringen. Wer jemals eine Vorberichterstattung zu einem Abendspiel auf Sky gesehen hat, wird dies bestätigen. Es ist vor allem leeres Gerede über Themen, die dem Zuschauer kaum etwas über das Spiel sagen. Theodor W. Adorno schrieb in seiner Arbeit zum Radio und zur Popmusik von einem „Nicht-Zuhören, bei dem man nichts verpasst“. Die Vorberichte zu vielen Fußballspielen sind genau das. Die Moderatoren, die Vorberichte, die Experten, der Korrespondent, sie alle dienen selten einem wirklich inhaltlichen Zweck. Sie sind symbolisch aufgeladene Figuren, die dem Zuschauer das Gefühl des Medienereignisses vermitteln soll.

Eine Durchbrechung des Rituals

Ich möchte mich an dieser Stelle einmal sehr lobend über die Berichterstattung des ZDF zur Europameisterschaft 2016 äußern. Selbstverständlich blieben auch sie im Ritual der Fußballübertragung (was zeigt, dass dies nicht genuin negativ zu sehen ist), aber es gelang ihnen doch, einige Neuerungen einzubringen. Zunächst einmal gehört Oliver Kahn zu den wenigen Fernsehexperten, die sich konsequent fortgebildet haben, sich sehr ruhig und gut ausdrücken können und gleichzeitig immer noch die Aura des ehemaligen Profis behalten. Somit ist Oliver Kahn ein Symbol dafür, dass ein Experte den Zuschauer zwar dort abholten sollte, wo er sich befindet, ihn aber auch durchaus weiterbringen sollte. Gemeinsam mit Oliver Welke bildet er ein eingespieltes Duo. Interessant ist die Besetzung von Welke insofern, da er zwar eigentlich Sportmoderator ist, aber in den letzten Jahren eher für seine Satire-Sendung bekannt wurde. So hat man zwei Leute, die ein weites Feld an Erfahrungen mitbringen und ein wirkliches Interesse daran zeigen, dem Zuschauer etwas Inhaltliches zu vermitteln. Die wechselnden Gäste in der Runde stellen sich gegen das eigentliche Ritual der Wiedererkennung. Dadurch wird das vorher adynamische Ritual aufgebrochen und es kommen immer wieder neue Positionen ins Spiel. Mit Stanislawski an der Taktiktafel fügt man einen weiteren Baustein hinzu. So hat man verschiedene, fachlich fundierte Meinungen, die ein harmonisiertes Bild ergeben. In diesem Studio wurde nicht versucht, das Wohnzimmer des Zuschauers nachzustellen, sondern eine wirkliche Differenz zu schaffen. Fernsehen diente hier nicht als Inszenierung von Nähe oder Realität, sondern als Möglichkeit der Fortbildung und Herausforderung des Zuschauers.

Und nun?

„Nur noch selten ist im Fernsehen der Mensch ein Ereignis. Die Formate sind zu tot geritten, die Rituale zu steif, die Protagonisten zu besessen vom eigenen Bild.“ So drückte es Roger Willemsen in seiner (berechtigten) Lobeshymne auf das Dschungelcamp aus.

Die häufig zitierte Aussage, dass der Zuschauer das alles genauso wollen und man von daher nichts daran ändern sollte, ist eine fehlgeleitete. Ja, es gibt Dinge, die genuin für das Fernsehen sind und sich sehr schwer verändern lassen. Dieser Text ist als Anstoß zu einer weitaus größeren und komplexeren Debatte gedacht. Journalismus im Allgemeinen und die Fußballübertragungen im Speziellen müssen sich wesentlich mehr mit Inhalten beschäftigen, sich aus festgefahrenen Denkmustern lösen und aufhören, den Zuschauer zu unterschätzen. Es darf nicht weiterhin darum gehen, den Zuschauern nur das zu liefern, was sie (scheinbar) sehen möchten. Es muss eine Debatte darüber geführt werden. Fernsehzuschauer aller (Bundes-)länder, vereinigt euch. Es muss mehr darüber gesprochen werden, wie Fußball dargestellt wird, was wir als Zuschauer wollen. Wollen wir, dass alles so weitergeht, dass sich nichts verändert? Möchten wir immer das Gleiche sehen? Oder wollen wir uns überraschen lassen? Leute im Fernsehen sehen, die Mut haben, einen neuen Weg einzuschlagen? Man muss auch Fußballfernsehen als Kunst betrachten. Und damit stimmt es dann einmal mehr:

„Jede Epoche hat die Kunst, die sie verdient.“

Fußnoten

[1] Siehe dazu den hochinteressanten Text „Medienereignisse“ von Daniel Dayan und Elihu Katz (2001) im Buch „Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft“. Die beiden kritisieren interessanterweise, dass „im Hinblick auf die Medienereignisse […] das journalistische Paradigma von Objektivität und Neutralität schlichtweg irrelevant“ (S.431) ist.

[2] s. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935).

[3] Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk, S.189-199

Beitragsbild: WDR Kamera / Meid, Maik via Flickr | CC-BY-SA 2.0

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Die Fußball-WM 2014 in Brasilien bot einen Einblick in das Land, welches für das schöne Spiel – jogo bonito – bekannt ist. Dass dabei nicht Alles glänzt, was Gold ist, versucht Rouven Ahl anhand zweier grundsätzlich verschiedener Fußballikonen Brasiliens darzustellen. Zum Einen Pelé, der Strahlemann und dreifacher Weltmeister 1958, 1962 und 1970, der das Gesicht des Turniers war. Zum Anderen Sócrates, der mit Corinthians versuchte, einen Gegenentwurf zur Militärdiktatur vorzuleben.

Autor: Rouven Ahl

Eigentlich sollte die Weltmeisterschaft 2014 ein Fest für alle Brasilianer werden. Arme und Reiche, Schwarze und Weiße: dem Fußball wurde dabei schon im Vorfeld eine Rolle zugeschrieben und mit Erwartungshaltungen überfrachtet, die er wohl unmöglich erfüllen konnte; nämlich das Überdecken der sozioökonomischen Spaltung des Schwellenlandes. Letztendlich vertiefte die WM im eigenen Land jedoch nur die bereits vorhandenen Gräben zwischen den verschiedenen Schichten und Kulturen. Und wäre es für die Ärmsten der Armen nicht schon schlimm genug gewesen, dass die Tickets für sie praktisch unbezahlbar waren oder ganze Siedlungen vom Militär zwangsgeräumt wurden, erlitt die Seleção obendrein noch diese epochale 1:7-Niederlage im Halbfinale gegen Deutschland. Wenn schon nicht die Rahmenbedingungen, hätten zumindest die sportlichen Ziele erfüllt werden müssen, um in Brasilien so etwas wie Aufbruch und Euphorie zu erzeugen, nimmt der Fußball innerhalb der Gesellschaft des Landes doch eine gewichtige Stellung ein. Dieser Beitrag betrachtet daher die Rolle des Fußballs, u.a. anhand des Verhaltens zweier brasilianischer Legenden dieses Sports, während eines besonders düsteren Kapitels der brasilianischen Geschichte: der Militärdiktatur von 1964 bis 1985.

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Sócrates 1984 als Redner bei einer Veranstaltung für mehr Demokratie, By Jorge Henrique Singh (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Die Niederlage gegen Deutschland, diese Demütigung, traf die brasilianische Seele schwer, steht doch wohl kein Land auf dieser Welt so für das „jogo bonito“, das schöne Spiel, wie der südamerikanische Riese. Frei nach dem Motto: Denk ich an Brasilien, denk ich an schönen Fußball. Aus einer stereotypischen Sichtweise betrachtet, hat man Bilder von am Strand kickenden Menschen im Kopf oder kleinen Kindern, die auf den Straßen barfuß spielen und dabei ihren Träumen von einer großen Karriere nachhängen. Dass diese Kinder einfach kein Geld für Schuhe haben, auf den Straßen der bettelarmen Favelas spielen, der Beruf des Profifußballers meist der einzige Ausweg aus dem Elend ist, darüber möchte man lieber nicht nachdenken.

Fußball und Diktatur

Natürlich steht trotz alledem außer Frage, wie sehr dieses Land den Fußball liebt, ihn atmet, ihn schmeckt. Wie sehr er auch Teil des Selbstverständnisses der brasilianischen Kultur ist, wie er in diesem zerrissenen Land eine Kraft entfalten kann, die Menschen der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Hintergründe, sei es Hautfarbe, Einkommen oder politische Gesinnung, zu verbinden vermag. Diese Kraft wurde in der Geschichte Brasiliens jedoch nicht nur für gute Zwecke eingesetzt, sondern auch für dunkle Machenschaften missbraucht. Gerade in Zeiten der Militärdiktatur musste das Spiel zur Einigung der Bevölkerung hinter einem korrupten und brutalen Regime herhalten, zur Identitätsstiftung in einem Land, dem die Identität jenseits von Gewalt, Folter und Verfolgung längst abhandengekommen war.

Bei der Betrachtung dieser Zeit muss man sich von einigen Brasilien-Stereotypen verabschieden. Auch im Hinblick auf das Aushängeschild in Sachen brasilianischer Fußball: dem ewigen Strahlemann Pelé, dessen Rolle während dieser Periode euphemistisch als zweifelhaft bezeichnet werden kann.

Nachdem das Militär 1964 den als zu linksgerichtet empfundenen Staatspräsidenten Joao Goulart mit Hilfe der USA unter Lyndon B. Johnson entmachtete, wurden viele Oppositionelle (Journalisten, katholische Geistliche etc.) verhaftet und verschleppt. Die Unterstützung der USA konnten sich die Putschisten vor allem durch die Behauptung sichern, unter Goulart würde das Land dem Kommunismus anheimfallen. In Zeiten des Kalten Krieges ein absolutes Totschlagargument.[1]

Zu Beginn sollte das Militär nur als Übergangsregierung auf dem Weg zu demokratischen Strukturen fungieren. Lange hielt diese Zielsetzung jedoch nicht vor: bereits 1969 wurde aufgrund der Massenproteste gegen das Regime im vorherigen Jahr die Verfassung verschärft und eine Verantwortung jedes Bürgers für die nationale Sicherheit festgeschrieben. „Dieses Gesetz zeichnete sich vornehmlich durch die Unbestimmtheit der Tatbestände aus und öffnete der willkürlichen Verhaftung Andersdenkender und Oppositioneller Tür und Tor“ so Jürg Ackermann in „Fußball und nationale Identität in Diktaturen“. Verdächtige konnten ohne jegliche Rechtsgrundlage festgenommen, gefoltert oder ermordet werden. Es begannen die sogenannten „anos de chumbo“, die bleiernen Jahre der Diktatur.[2]

Besonderes Augenmerk richtete das neue Regime natürlich auf den Fußball. „Diktaturen benützen den Fußball, weil er ein Wir-Gefühl erzeugt und als Kulturform gilt, in der Widerstand schwer darstellbar ist“, schreiben Ursula Putsch und Enrique Rodrigues-Moura in ihrem Buch „Brasilien. Eine Kulturgeschichte“. Die Militärs wussten um die kulturelle Kraft des Fußballs, die dafür sorgte, dass sogar Regimegegner Siege der Seleção und somit auch Siege für das Regime, frenetisch bejubelten.[3]

Das schlechte Abschneiden Brasiliens während der Weltmeisterschaft 1966 in England war diesem Zweck daher natürlich nicht förderlich. Ganz im Gegenteil: nach dem Superstar Pelé das Turnier verletzungsbedingt beenden musste, hatte die überalterte Mannschaft keine Chance mehr und schied bereits in der Gruppenphase sang- und klanglos aus. Diese heftige Enttäuschung schlug schwer auf das nationale Gemüt. Besonders betroffen zeigten sich die Menschen, die bereits eh unter dem Regime zu leiden hatten. Selbstmorde, Nervenzusammenbrüche, Fahnen auf Halbmast, Trauerflors an Türen waren die stärksten Ausdrucksformen des Leidens der Nation.[4]

Die Reaktion auf die sportliche Enttäuschung beinhaltet einen wichtigen Aspekt, wenn es um die Rolle des Fußballs innerhalb einer Gesellschaft geht. Der Sport Fußball transzendiert praktisch zu etwas Höherem, wird mit mehr Bedeutung aufgeladen, als eigentlich vorhanden sein dürfte. Dabei nicht vergessen werden darf die Tatsache, dass der Fußball an sich nichts weiter ist als ein Spiel. Es sind die Menschen, die ihm diese Bedeutung verleihen. Das Spiel Fußball steht Recht, wie Unrecht neutral oder besser gesagt gleichgültig gegenüber. Somit kann man sich praktisch von allen Seiten aus, den Sport zu nutzen machen. Menschen benutzen ihn als Mittel zum Trost in schwierigen Zeiten, der aber, wie beschrieben, auch als Trigger wirken kann, um die schweren Zeiten als noch hoffnungsloser zu empfinden, vor allem dann, wenn der gewünschte sportliche Erfolg ausbleibt. Menschen können ihn als „Opium für das Volk“ missbrauchen, um ihre Interessen durchzusetzen. Der Fußball als Spiel lässt alles mit sich machen. Es sind die Menschen, die diesem Fakt gleichgültig oder kritisch gegenüber stehen können. Womit wir bei einem wunden Punkt wären: wie gehen Fußballer mit ihrer spezifischen Rolle in der Gesellschaft um? Wie beurteilen sie es, wenn der Sport den sie betreiben, innerhalb eines Unrechtsstaates missbraucht wird?

Ein Spiel der Gegensätze: Pelé und Sócrates

Werfen wir daher einen Blick auf das Verhalten zweier brasilianischer Legenden während der Militärdiktatur, welches unterschiedlicher nicht hätte sein können: Pelé und Sócrates. Der letzte von Pelés drei WM-Titeln fiel mit der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko in die Zeit der Militärregierung. Diese überließ im Vorfeld des Turniers nichts dem Zufall. Sie wollten den WM-Titel unbedingt, denn sie erkannten rasch die stabilisierende Funktion des Fußballs innerhalb der Gesellschaft. Im Gegensatz zu vergleichbaren Diktaturen, nahmen die Militärs in Brasilien sehr direkten Einfluss auf das sportliche Geschehen. So verlangte Staatschef General Medici von Nationaltrainer Joao Saldanha die Nominierung seines Lieblingsspielers Dario (Dada). Der politisch eher linksgerichtete Saldanha weigerte sich aber, diesem Befehl nachzukommen. Im Kreis seiner Mannschaft fand er dafür viele Unterstützer. Nur einer schlug sich auf die Seite des Regimes und schwächte damit drastisch die Position seines Trainers in der Öffentlichkeit: Volksheld Pelé. Daraufhin konnte sich Saldanha nicht mehr lange im Amt halten und wurde kurz vor dem Turnier durch Mario Zagallo ersetzt.[5]

Zum Dilemma der Linken und anderer Regimegegner während der WM 1970 schreibt Thomas Fatheuer in „Fußball und Brasilien: Widerstand und Utopie“ folgendes:

„Den Gegner_innen des Regimes fiel es offensichtlich nicht leicht, eine eindeutige Haltung zur Nationalmannschaft zu entwickeln. Viele linke Gruppen hatten die Devise ausgegeben, gegen Brasilien zu halten. Nach übereinstimmenden Aussagen aller Beteiligten hielt dies nur bis zum ersten Tor Rivelinos im Spiel gegen die Tschechoslowakei. Einen gespenstischen Moment lang jubelten Folterer und Gefolterte gleichzeitig für die Nationalmannschaft. Der Fußball – und in der tief gespaltenen Gesellschaft von 1970 wohl nur er – konnte zwar einen solchen Augenblick erzeugen, aber er produzierte keine Einheit oder Versöhnung. Die Folter ging ebenso weiter wie der Widerstand gegen das Regime. Es zeigte sich damit auch, dass die Nationalmannschaft etwas anderes und Größeres repräsentierte als die politische Macht. Der Fußball ist eben nicht die Nation, auch wenn ein Regime sich des Fußballs für seine Ideologie bediente. Und so konnte auch ein Gegennarrativ zur Vereinnahmung der WM 1970 durch die Militärs Bestand haben: dass es ein Kommunist war, der diese Mannschaft aufgebaut und zum Erfolg geführt hatte. In Mexiko konnten die Militärdiktatur und der Kommunismus gleichzeitig siegen.“[6]

Die Weltmeisterschaft wurde aber eben auch zum Triumph des Regimes, das sich dank des Fußballs kurzzeitig sogar an einer der seltenen Momente der Popularität erfreuen konnte. Brasiliens Offensivfußball begeisterte nicht nur das eigene Volk, das durch das rechtzeitig neueingeführte Farbfernsehen hautnah dabei war, sondern die ganze Welt. Nach einem rauschenden 4:1 – Sieg im Finale gegen ein chancenloses Italien, empfing General Medici die Mannschaft in der Hauptstadt Brasilia. Mediengerecht köpfte der Despot einen Ball vor laufender Kamera, erklärte obendrein die Hymne der Seleção zur neuen brasilianischen Nationalhymne. Und Pelé warb damit, dass niemand mehr Brasilien aufhalten könne. Der Superstar musste nun auch keine Steuern mehr zahlen. 1972 wurde Pelé von einem Journalisten der uruguayischen Tageszeitung „La Opinion“ über die Politik seines Landes befragt. Es gebe keine Diktatur, war die Replik von dem vermeintlichen Volkshelden. Brasilien sei ein liberales Land mit einem freien Volk, dessen Politiker wüssten, was für das Volk das Beste sei:

„Unsere Führer wissen, was das Beste für uns ist. Sie regieren uns im Geiste der Toleranz und des Patriotismus.“

Pelé apologetisierte mit diesen Aussagen ein System, das nach der Machtergreifung ca. 50.000 Menschen internierte, wobei ca. 300 Menschen den Tod fanden, viele gefoltert wurden oder ins Exil flohen.[7]

Den Hang, sich auf die Seite der Machthaber und gegen das Volk zu stellen, hat sich Pelé bis heute beibehalten. Im Zuge der Proteste gegen die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien, die gesellschaftliche Missstände und gravierende Ungerechtigkeiten anprangerten, kritisierte Pelé die Demonstranten und meinte, es sei nun genug protestiert: „Vergessen wir das ganze Chaos, das in Brasilien geschieht, und denken wir daran, dass das brasilianische Team unser Land, unser Blut ist.“ Man sollte also lieber die Mannschaft unterstützen, anstatt sich für Belanglosigkeiten, wie soziale Gerechtigkeit etc. einzusetzen. Ob dieses Verhalten nur von krasser Naivität, die regelrecht an Dummheit grenzt, zeugt oder vielmehr eine zutiefst opportunistische Haltung offenbart, muss wohl jeder für sich entscheiden.[8]

Vielleicht abschließend noch eine Anekdote zu Pelé: 2014 agierte die brasilianische Ikone in seinem Land als Werbebotschafter des Autokonzerns VW. Der Geschäftsführer des Dachverbandes der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, Markus Dufner, äußerte sich sehr kritisch über diese Zusammenarbeit: „Der Volkswagen–Konzern sollte sich genau überlegen, wen er als Werbepartner anheuert. Markenbotschafter, die sich mit demokratischen Rechten nicht identifizieren, schädigen das Image von VW.“ Dufner weiter:

„Pelé war ein begnadeter Fußballer, aber was Menschenrechte anbelangt, ist er so sensibel wie Franz Beckenbauer.“[9]

Zum Glück gab und gibt es auch Fußballer, die um ihre Position in der Gesellschaft wissen und diese nutzen, um Dinge zum Positiven zu verändern. Bestes Beispiel hierfür ist einer der brasilianischen Stars der 80er Jahre, Sócrates. Der ehemalige Regisseur der Seleção und von Corinthians São Paulo stellt in Sachen Engagement für den gesellschaftlichen Wandel so etwas wie die Antithese zu Pelés Duckmäusertum da. Gleichzeitig ist Sócrates, aufgrund seiner Alkoholsucht und seines frühen Todes, eine der tragischen Figuren des Fußballs; nicht nur des brasilianischen, sondern des Fußballs allgemein.

Im Jahre 1982 befand sich Brasilien nach Jahren der Unterdrückung endlich im Aufschwung. Die blutige Militärjunta lag in den letzten Zügen. Dies wirkte sich auch auf den Fußball aus. Der damalige Präsident von Corinthians São Paulo Vicente Matheus, ein Anhänger des Regimes, wurde durch den linken Soziologen Adilson Alves ersetzt. Unter ihm und dem Superstar des Teams, Sócrates, begann ein einmaliges Experiment im brasilianischen Fußball: die komplett basisdemokratische Organisation – die „Democracia Corinthiana“. Der Begriff bzw. Slogan wurde dabei von dem jungen Werbefachmann Washington Olivetto entworfen.[10]

„Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Vereinsführung beteiligt“, so beschrieb es Sócrates.

„Der einfachste Angestellte hatte das gleiche Gewicht wie der Repräsentant des Vereins, seine Stimme hatte den gleichen Wert. Es war alles sehr demokratisch.“

Corinthians etablierte sich schnell als ein Sprachrohr der Opposition. Auf den Trikots der Spieler prangten immer wieder Anti-Regime Botschaften, die dadurch in der Öffentlichkeit maximale Aufmerksamkeit erhielten. Der Leitspruch lautete: „Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie.“ Neben dem jungen Stürmer Walter Casagrande, sowie Linksverteidiger und Kommunist Wladimir war es Sócrates, der dieses einmalige Kapitel der brasilianischen Fußballgeschichte prägte. Der Kinderarzt, wegen seines Berufs bekam er den Spitznamen „Doktor“, unterstützte als bekennender Linker zusätzlich ab 1983/84 die „Direitas ja“ – Kampagne für die Direktwahl des Präsidenten, die das Land mobilisierte und Demokratie forderte.[11]

Die „Democracia Corinthiana“ und das Engagement für mehr Demokratie blieb im brasilianischen Fußball leider einzigartig. Sie war weder Teil, noch Anstoß einer größeren Bewegung. So endete sie 1984 vor allem durch den Wechsel ihres Sprachrohrs Sócrates, der enttäuscht vom Scheitern der Direktwahlkampagne (für die entsprechende Gesetzesänderung kam im Parlament keine Mehrheit zustande), nach Italien, zum AC Florenz wechselte.[12]

1985 wurde die Direktwahl des Präsidenten jedoch durchgesetzt. Aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs durch das Ende des sogenannten brasilianischen Wirtschaftswunders, verloren die Militärs immer mehr an Ansehen und Legitimationsgrundlage innerhalb der Bevölkerung. Dementsprechend konnte sich ihr Kandidat bei der Direktwahl nicht mehr durchsetzen. Nach 21 Jahren kam es in Brasilien zum Systemwechsel. Drei Jahre später erhielt das Land eine neue, demokratische Verfassung.[13]

Sócrates kehrte nach nur einem Jahr in Italien 1985 nach Brasilien zurück und spielte fortan für Flamengo. Nach dem Ende seiner Karriere 1989, verdingte er sich als Arzt, Maler, Sänger und blieb vor allem ein politischer, sowie kultureller Quergeist. Seinen Ansichten verlieh er auch weiterhin als Kolumnist und Autor der linken Wochenzeitung „Carta Capital“ Ansehen.[14]

Am 4. Dezember 2011 verstarb Sócrates an den Folgen eines septischen Schocks. Er litt aufgrund seiner Alkoholsucht seit längerer Zeit an Leberzirrhose. Sein Einsatz für mehr Demokratie und gegen Unterdrückung wird, genau wie sein fußballerisches Können, in Brasilien nie vergessen werden.

Pelé ließ sich während seiner aktiven Zeit vom Militärregime und 2014 von der Politik für die Unterstützung einer, aus sozialer Richtung betrachtet, höchst fragwürdigen Weltmeisterschaft instrumentalisieren. Während er die Demonstranten für ihr politisches Engagement kritisierte, hätte Sócrates sie wohl unterstützt. Er setzte sich nicht nur während, sondern auch nach seiner Karriere für soziale Belange und Gerechtigkeit ein. Pelé verkörpert den politisch unkritischen Prototyp eines Fußballers, dessen zahlreiche Epigonen aktuell das Geschäft bevölkern. Sócrates hingegen für den eher seltenen Typ Sportler, der sich seiner Umwelt und deren Missstände gewahr ist und vor allem aktiv versucht gegen diese anzugehen. Pelé ist so gut wie jedem Menschen auf diesem Planeten ein Begriff. Sócrates kennen außerhalb Brasiliens wohl nur die Wenigsten. Was sagt das über den Fußball und vor allem unsere Gesellschaft aus?

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By Sergio Goncalves Chicago [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons

Fußnoten

[1]Prutsch, U., Brasilien 1889 – 1985: Die Militärdiktatur 1964 -1985: http://www.lateinamerika-studien.at/content/geschichtepolitik/brasilien/brasilien-81.html; Letzter Zugriff am 29. November 2016
[2]Ackermann, J., Fußball und nationale Identitäten in Diktaturen (Berlin: Lit-Verlag, 2011) S. 220-269.
[3]Prutsch, U.; Rodrigues – Moura, E., Fußball, TV und Telenovela: Kultur in der Diktatur, Prutsch, U.; Rodrigues – Moura, E.,(Hrsg.), Brasilien: eine Kulturgeschichte (Bielefeld: Transcript-Verlag, 2013) S. 186 – 191.
[4]Ibid.
[5]Ackermann, S. 220-269; Fatheuer, T., Jogo Bonito – Das Schöne Spiel: Brasilien vom Fußball aus denken. In: Dilger, G.; Fatheuer, T.; Russau, C.; Thimmel, S., (Hrsg.) Fußball und Brasilien: Widerstand und Utopie. Von Mythen und Helden, von Massenkultur und Protest. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hamburg: VSA-Verlag, 2014) S. 48-81; Fatheuer, T., Fußball und nationale Identität. In: Widerständigkeiten im Land der Zukunft: Andere Blicke auf und aus Brasilien (Münster: Unrast-Verlag, 2013)
[6]Fatheuer, Fußball und nationale Identität.
[7]Ackermann, Fußball und nationale Identitäten in Diktaturen, 220-269; Fatheuer, Brasilien vom Fußball aus denken, S. 48-81; Prutsch; Rodrigues – Moura, Fußball, TV und Telenovela: Kultur in der Diktatur, 186 – 191.
[8]Ibid.
[9]Forschungs – und Dokumentationszentrum Chile – Lateinamerika e.V.: Kritische Aktionäre, KoBra und FCDL verlangen von VW fairplay in Brasilien: https://www.fdcl.org/pressrelease/2014-05-12-kritische-aktionaere-kobra-und-fdcl-verlangen-von-vw-fairplay-in-brasilien/; Letzter Zugriff am 29. November 2016
[10]Fatheuer, Thomas: Fußball und nationale Identität, in: Widerständigkeiten im Land der Zukunft: Andere Blicke auf und aus Brasilien. 2013; Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html; Letzter Zugriff am 29. November 2016
[11]Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html
[12]Fatheuer, Brasilien vom Fußball aus denken, S. 48-81; Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html; Letzter Zugriff am 30. November 2016
[13]Klein, N. M., Die brasilianische Wirtschaft (Hamburg: Diplomica-Verlag,2014) S. 6-11.
[14]Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html; Der Spiegel: http://www.spiegel.de/sport/fussball/zum-tode-socrates-doktor-demokratie-geht-vom-platz-a-801608.html, letzter Zugriff am 30. November

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Was hat Profifußball eigentlich mit Propaganda zu tun? Sind wir als Konsument*innen individuell verantwortlich für die Korruption im Sport? Und muss schließlich das Nachdenken über die Mechanismen des Profigeschäfts notwendiger- und konsequenterweise dazu führen, sich von der Glitzerwelt des bezahlten Fußballs abzuwenden? Der folgende Text versucht, sich diesen Fragen aus philosophischer Perspektive zu nähern.

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Vor etwas mehr als einem Jahr stand ich in einer Küche in Canberra und unterhielt mich mit meinen Mitbewohnern über die Gründe, die einige von uns dazu bewegt hatten, Vegetarier zu werden. Während ich sagte, dass ich im Prinzip davon überzeugt sei, dass kein Fleisch zu essen moralisch geboten sei, bemerkte ich, dass mir zu dem ‘aber’, das mein Carnivorendasein rechtfertigen sollte, nichts einfiel. Also bekannte ich mich stattdessen dazu, mein Handeln  meinen Überzeugungen von nun an folgen zu lassen. 

Warum ziehe ich ähnliche Konsequenzen nicht für meinen Konsum von (Profi)Fußball – und werde angesichts von Stadionwurst an der Alten Försterei gelegentlich rückfällig? Sollte ich mich von ihm ebenso lossagen? Schließlich gilt wohl für das Fußballgeschäft wie für Wurst, dass man, um das Produkt genießen zu können, nicht zu genau in Erfahrung bringen möchte, wie es entsteht. Die Erkenntnis, dass die Sportverbände, die Profifußball organisieren, korrupt sind, ist alles andere als neu. Genauso offensichtlich ist, dass große Vereine im besten Fall erfolgreiche Vertreter der Unterhaltungsindustrie sind, in weniger guten Fällen Steuerhinterzieher (Barcelona), das Privatvergnügen von -Menschen- Männern mit Vermögen zweifelhafter Provenienz (Chelsea) oder Imagekampagnen weniger-als-demokratischer Regimes (Manchester City). Ist also auch Profifußball ethisch in einer Weise bedenklich, die uns bewegen sollte, ihm abzuschwören?

Da diese Frage konkrete individuelle moralische Verpflichtungen betrifft, sollten wir sie wie folgt konkretisieren: Wie tragen wir, trage ich, durch unsere Anteilnahme am Fußballgeschehen zu dessen Pathologien bei; und machen wir uns für sie verantwortlich?

Um diese Frage zu beantworten, will ich mich hier auf zwei problematische Aspekte des Fußballgeschäftes konzentrieren, die aber bei weitem nicht die einzigen sind: die Korruption der Verbände und die Vereinnahmung des Fußballs für Zwecke, die ihn als Sport und als zivilgesellschaftliche Institution unterminieren, kurz, seine propagandistische Nutzung (was damit gemeint ist, werde ich weiter unten ausführen). Die Antwort auf die Frage der individuellen Verantwortung fällt für die verschiedenen Gebrechen unterschiedlich aus; wir stehen in einem anderen Verhältnis zu der grassierenden institutionellen Korruption als zu dem zweiten Haupt-Problem des Fußballs, seiner Überfrachtung mit Propaganda.

Korrupter Sport

Dieser Text ist nicht der Ort, um die komplizierten Verwicklungen der Korruption im Fußball auszubreiten. Diese Aufgabe haben eine Reihe hervorragender investigativer Journalisten geleistet (man denke beispielsweise nur an die Arbeiten von CORRECTIV oder Jens Weinreich). Wir müssen die korrupten Verstrickungen aber soweit analysieren, wie notwendig ist, um die Verantwortlichkeit für sie zu klären.

Die Korruptionsskandale der Fifa und ihrer Kontinentalverbände sowie einiger Clubs verlaufen etwa in den folgenden Bahnen: Kleine Gremien von Funktionären bestimmen direkt oder indirekt über die Verteilung von Geld und Prestige. Die Entscheidungsprozesse sind intransparent und Verantwortlichkeit für kompetentes Handeln und Integrität ist nicht vorgesehen. Diese Strukturen setzen sich auf allen Organisationsebenen fort und sind nie inklusiv genug, um es unmöglich zu machen, dass (Macht-)Positionen durch gegenseitige Abhängigkeiten gesichert werden. Diese Strukturen sind die erste Voraussetzung für das andauernde Bestehen von Korruption.

Die zweite ist, dass es in diesen Strukturen fortwährend etwas zu verteilen gibt. Dafür sorgen die Popularität und Strahlkraft des Fußballs. Weil das sportliche Geschehen als getrennt von den Funktionärsstrukturen wahrgenommen wird, leidet das Interesse an den ersteren nicht unter den Enthüllungen über die Machenschaften des letzteren – und folglich sinkt damit auch nicht die Attraktivität der Produkte für diejenigen, die Geld in den Kreislauf bringen, also neben Rechtevermarktern und -käufern vor allem Sponsoren.

Außerdem sind manche Finanziers des Systems auf intransparente und undemokratische Entscheidungsprozesse angewiesen, da sich ihre Interessen – etwa, eine Weltmeisterschaft in ihrem Emirat auszurichten – im Publikum des Sports keiner nennenswerten Beliebtheit erfreuen.

Aus dieser Gemengelage, zu der noch gehört, dass es staatlichen Stellen an Mitteln und Willen fehlt, gegen Korruption vorzugehen, ergibt sich die Gelegenheit zu skandalträchtigem Verhalten im Fußball.

Konsumenten sind für die Korruption in den Institutionen nur indirekt verantwortlich (wenn man nicht gerade die Gelegenheit hat, einen der Verantwortlichen nicht zum Präsidenten seines Vereins zu wählen). Durch das öffentliche Interesse am Fußball gibt es dort mehr Geld zu veruntreuen. Das eigentliche Problem ist aber eben das Fehlverhalten selbst.

In dieser Konstellation stellen sich ähnliche Probleme wie etwa in der ethischen Diskussion über den Klimawandel und die moralischen Pflichten, die angesichts dieser Katastrophe erwachsen. Philosophen tun sich in dieser Frage notorisch schwer, auf einer individuellen Ebene Pflichten zu anderem Handeln oder die Falschheit emittierender Akte nachzuweisen, da diese nicht in sich katastrophal sind, sondern nur Teil, Ausdruck oder weitere Instanz kollektiven Versagens.

In unserem Fall ist die Lage noch schwieriger, weil der Konsum korrumpierten Fußballs nicht selbst schädlich ist, sondern nur die Bedingungen für falsches Handeln schafft – das aber auf allen Organisationsebenen stattzufinden scheint. Einige der einfacheren Lösungen des genannten Problems stehen also nicht zur Verfügung. Diese wären etwa, Schwellenwerte ausfindig zu machen, ab denen sich die Lage merklich verschlechtert: Damit, das Risiko, denjenigen Beitrag zu leisten, der diesen Schwellenwert überschreitet, auf das eigene Handeln zu beziehen, ließe sich die unspezifische kollektive Verpflichtung auf individuelle Vorgaben herunterbrechen. Oder zu behaupten, dass unabhängig von den Folgen der Fakt, etwas prinzipiell falsches zu tun, Grund genug ist, das eigene Verhalten zu ändern. Darüber hinaus sind konsequentialistische Wasser vielleicht zu trübe, um in ihnen nach klaren Antworten zu fischen; insofern etwa unklar ist, ob und wie nach einer durch moralisch-bewusstes Desinteresse ausgelösten Krise bessere Strukturen entstehen würden.

Diese Unsicherheit sollte uns aber nicht daran hindern, es trotzdem zu versuchen. Und das nicht zuletzt, weil schwache und korrupte Verbände das zweite Problem, um das es hier gehen soll, verschärfen. Aus diesem wiederum ergeben sich sehr wohl persönliche Folgen.

Es gibt kein Recht auf Fußballpropaganda

Auch die zweite hier untersuchte Malaise des Fußballs ist nicht neu, und der Vorwurf, dass sie grassiere, schwingt immer dann mit, wenn in Bezug auf Fußball vom Motto panem et circenses (“Brot und Spiele”) gesprochen wird. Bei diesem Problem handelt es sich um die Nutzung von Fußball zu Propaganda-Zwecken.

Propaganda?

Der Philosoph Jason Stanley unterscheidet in seinem Buch How Propaganda Works zwischen verschiedenen Arten von Propaganda, deren geteiltes Merkmal ist, dass in derartigen Beiträgen zum öffentlichen Diskurs Ideale in den Dienst konkreter Ziele gestellt werden. Die konkreteren Arten von Propaganda, die in unserem Interesse stehen, sind die unterminierender Propaganda und von Werbung als Propaganda. Akte von unterminierender Propaganda werden definiert als “Behauptungen im öffentlichen Raum, die Anliegen als Ausdruck von Ideal darstellen, die eben jene Ideale unterlaufen” [S. 53]

Werbung kann ein Fall unterminierender Propaganda sein, wird aber unabhängig von dieser Subkategorie als “Beitrag zum öffentlichen Diskurs [definiert], der vorgibt, Prinzipien zu dienen, tatsächlich aber auf Ziele gerichtet ist, die für diese Prinzipien irrelevant sind.” [S. 56]

Diese Definitionen lassen sich auf die Vereinnahmung des Fußballs anwenden. Dabei zeigt sich, dass fast aller Profifußball mindestens eine dieser Formen von Propaganda verkörpert. Er wird genutzt, um als fairer sportlicher Wettkampf die Beteiligten als angemessene Teilnehmer eines solchen darzustellen. Doch wenn die Identität der involvierten Parteien genau diesen Status konterkariert, unterläuft dies auch die Integrität des Spiels.

Recht offenkundig unter diese Rubrik fällt das Handeln von Arabischen Staaten – das heißt, deren Feudalherrschern, – die Vereine wie Paris Saint Germain und Manchester | Melbourne | New York City FC  kaufen und als ihre Aushängeschilder auf einer globalen Bühne auftreten lassen. Diese ‘Vereine’ werden von undemokratischen Staaten kontrolliert und dienen dazu, deren Bild in der globalen Wahrnehmung positiv zu stimmen (und die narzisstischen Triebe ihrer Besitzer zu befriedigen).

Aber was ich mit Propaganda meine, endet nicht mit diesen Clubs, und nicht bloß, weil auch andere, wie Bayern oder Barcelona, sich mit den selben Staaten gemein machen. Soweit hier relevant können Konzerne ebenso gut Propaganda verbreiten wie Staaten. In Fällen wie Газпром ist der Unterschied ohnehin gering. Und auch ‘normale’ Unternehmen nutzen Fußball in einer Weise, die genügend falsches Bewusstsein produziert, um als Propaganda gelten zu können. Man muss nicht die Argentinische Militärdiktatur 1978 sein, um Fußball propagandistisch zu gebrauchen.

Das ist der Fall, weil Werbung im Umfeld von Fußball darauf beruht, beworbene Produkte und Firmen mit dem sportlichen Geschehen und den daran gebundenen Emotionen in Verbindung zu bringen. Je enger diese Verbindung ist, je näher die fußballerischen Räume des Spielfeldes, die sozialen Räume der Ränge und die kommunikativen Räume der Werbung aneinander rücken, desto stärker die (angestrebte) propagandistische Wirkung. Diese Einschätzung bringt offenbar die meisten Vereine auf das propagandistische Spektrum, einige am entfernteren Ende (ja, RB), andere kaum merklich. Für diese Warte steht tatsächlich, und nicht bloß qua Klischee, Union Berlin, wo sich ernsthaft darum bemüht wird, die kommerziellen Aktivitäten, auf die der Verein angewiesen ist, vom Kern des Ereignisses im Stadion, dem Spiel, zu trennen: etwa, indem Spielereignisse wie Einwechslungen nicht mit Sponsorenbotschaften, sondern kommunikativen Ritualen zwischen den Anhängern verbunden sind. Das bedeutet auch, dass nicht aller Fußball gleich problematisch ist – es gibt echte Unterschiede in Inhalt und Konnotation von Fußball an verschiedenen Orten und in verschiedenen Kontexten. Aber offensichtlich kann auch ‘authentischer’ Fußball als unique selling point kommerzialisiert werden.

Um greifbar zu machen, was hier gemeint ist, ein Beispiel. Was passiert mit dem Ereignis von Fußball beim FC St. Pauli, wenn die gegnerische Hymne, die dort traditionell vor Partien gespielt wird, Teil der Marketingmaschinerie von Red Bull ist? Dieses Ereignis verändert seinen Inhalt, indem eben die Rituale, die für seine eigentliche Bedeutung stehen (sollen), unterminiert werden. Wir finden hier also genau die Form von Propaganda, die Stanley als unterminierend beschreibt.

Medium und Botschaft definieren sich in dieser Konstellation gegenseitig. Das Medium ist – einerseits – die Botschaft. Die Bühne für die Projektion von Firmen oder staatlichen Fonds definiert das Ideal, das diese für sich in Anspruch nehmen. Andererseits unterläuft dieser Versuch eben jene projizierte Bedeutung. Damit wird die Botschaft propagandistisch, weil ihre Übertragung auf der Übernahme des Mediums Fußball für fremde Zwecke beruht, in der die eigentlichen unterminiert werden.

Anders als korrupte Funktionäre sind Propagandisten im Fußball auf die Teilnahme des Publikums unbedingt angewiesen. Das Wesen von Propaganda liegt in ihrem Einfluss auf das Bewusstsein seiner Zielgruppe. Propaganda ist im Frankfurtschen Sinn Bullshit, besteht also aus unaufrichtig geäußerter Behauptungen, an die niemand wirklich glaubt, am wenigsten derjenige, der sie macht. Der Bullshit ist stark im Fußball. Aber zu den Eigenschaften von Bullshit gehört, dass man ihn zurückweisen kann. Es ist geboten not to take any (bull) shit from football and those coopting it.

Wozu genau würde uns dieser Anspruch verpflichten? Gibt es Weisen, professionell betriebenen Fußball zu verfolgen, ohne diesen Gefahren anheim zu fallen? Oder müssen wir uns gänzlich von dieser Unterhaltungsindustrie distanzieren? Das hängt im wesentlichen davon ab, in welcher Relation Fußball genau zu der mit ihm verbundenen Propaganda steht. Ist Profifußball möglich, in dem die beschriebenen korrumpierenden Einflüsse nicht vorhanden oder wenigstens nicht dominant sind? Altmodisch philosophisch formuliert: Sind Fußball und seine Vereinnahmung substantiell verschieden, oder ist die letztere Teil der Essenz des Spiels selbst?

Mir scheint (zunehmend) letzteres der Fall zu sein. Die korrumpierenden Einflüsse auf den Sport sind genau diejenigen, die bestimmen, welche Teams in welchen Wettbewerben, welche Spieler bei welchen Clubs und welche Sponsoren dazu ihre Werbe-Jingles spielen. Das Spielgeschehen selbst wird bestimmt durch Kräfteverhältnisse, die von ‘investiertem’ Geld und Marktmechanismen produziert werden. Wenn Sport in einem Umfeld stattfindet, in dem spielerische Leistungsfähigkeit fast vollständig durch ökonomische Macht festgelegt ist, erodiert das Prinzip des sportlichen Wettkampfes – nämlich, dass Kontrahenten auf ebener Spielfläche gegeneinander antreten, um zu sehen, wer besser ist. In einem rein sportlichen Wettkampf ginge es darum, wer aus sich die besseren Fußballer machen kann, und wer aus den besseren Fußballern die bessere Mannschaft formt. Doch in professionellem Fußball ist der entscheidende Faktor für die Verteilung sportlichen Talents und Kompetenz Geld. Wer Geld hat wiederum hängt einerseits von kapitalistischen Märkten, andererseits der Willkür superreicher Akteure ab. Keiner dieser beiden Einflussfaktoren ist unpolitisch. Auch aus diesem Grund können wir uns nicht darauf zurückziehen, “Politik und Sport auseinander zu halten,” den Sport und seine Faszination über die abstoßenden Randerscheinungen zu stellen und uns am agonalen Austausch weiter erfreuen. Fußball ist nicht nur eine Bühne für politische Botschaften und Instrument politischer Kabale, sondern auch selbst ein System, in dem politische Entscheidungen getroffen werden.

“Es gibt weder einen Spielstand noch Mannschaften noch Spiele. Die Stadien sind längst Steinbrüche und fallen in Stücke. Heute passiert alles im Fernsehen und im Radio. Haben Sie denn bei der falschen Aufgeregtheit der Kommentatoren noch nie vermutet, daß alles nur gespielt ist? Das letzte Fußballspiel in dieser Hauptstadt hat am 24. Juni 1937 stattgefunden. Genau seit diesem Tag sind nicht nur der Fußball, sondern auch alle anderen Sportarten eine Form des Dramas und für die Durchführung ist ein einziger Mann in einer Kabine zuständig, oder ein paar Schauspieler mit Trikots, vor einem Kameramann.” – Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares in “Esse est percipi”

Damit normalisiert schon, eine solche Veranstaltung rein sportlich zu diskutieren, die vertretenen Institutionen (als Teil eines kulturellen und sozialen Kontextes). Es ist also kaum möglich, den Sport als solchen zu betrachten und nicht Ziel und/oder Träger der Propaganda zu werden. Wir müssen uns stattdessen die Bedingungen vergegenwärtigen, unter denen der Sport, den wir konsumieren, produziert wird; und uns fragen, ob wir an diesem Prozess beteiligt sein wollen – indem wir Trikots mit Sponsorenlogos tragen, über Spiele von Paris St. Germain als ganz normale Sportereignisse schreiben, oder in Stadien Ecken und Tore präsentiert von Baumärkten bejubeln. Jubel, der als Kulisse künftiger Inszenierung genutzt werden mag.

Die Konsequenz aus diesen Argumenten ist, dass es nicht haltbar ist, zwischen dem reinen Spiel und den verkommenen Verbänden zu unterscheiden. Und dass, um unsere eigene Integrität aufrecht zu erhalten, wir uns der Partizipation in diesem Mechanismus verweigern müssen.

Meinem Gedankengang hier könnte entgegnet werden, dass ihm selbst ein naives Missverständnis der Ausgangsposition zugrunde liege. Schließlich sei Fußball gerade in den Stadien, die ich als Beispiele des ‘richtigen’ angeführt habe, alles andere als neutral. Vielmehr bestehe gerade dort das Wesen von Fußball aus den mit ihm verbundenen sozialen und politischen Aspekten. Wenn nun also im Zentralstadion andere Inhalte mit Fußball verbunden werden, stehe das vielleicht für Änderungen darin, womit soziale Räume wie Fußballstadien überformt werden, sei aber schwerlich ein qualitativer Unterschied. Ideologien gäbe es schließlich überall, das Ereignis Fußball mit einer von ihnen zu verknüpfen ist nicht propagandistischer als mit einer anderen.

Das ist aus zwei Gründen falsch. Einerseits sind die Inhalte entscheidend. Daran, ob in Stadien eine authoritätsskeptische Haltung ausgelebt wird oder die hegemoniale Ideologie kapitalistischer Gesellschaften eine weitere Bühne bekommt, entscheidet sich, wie dieses Forum zu bewerten ist. Denn würde Fußball Inhalte propagieren, die seinem Wesen entsprechen, wäre das vielleicht noch Propaganda, aber nicht verwerflich. Dass diese begrüßenswerte Form der Politisierung des Fußballs in der gegenwärtigen Form des Sportes kaum möglich ist, oder wenigstens oft durch die Strukturen erschwert wird, zeigt sich auch an Versuchen, progressive Gesten mit Fußball zu verbinden. So wurde etwa Megan Rapinoe, die gegen soziale Missstände protestierte, indem sie während der Amerikanischen Hymne vor einem Spiel kniete statt stehend zu salutieren, die Möglichkeit zu diesem Protest dadurch genommen, die Hymne vorzeitig zu spielen, als die Teams noch in ihren Kabinen waren. Hier zeigt sich, dass es nicht für alle Inhalte eine Plattform im Fußball gibt, und es also bedeutsam ist, welche Botschaften vorkommen dürfen und welche nicht. Andererseits würde ich zumindest behaupten, dass in einem Fall die Bedeutung von Fußball für die Menschen, die ihn erleben, aus den darin geteilten Emotionen erwächst; während in dem anderen diese bestehende soziale Institution und ihr kulturelles Kapital kooptiert wird.

Wären, wenn stimmen würde, was ich bis hierher gesagt habe, aber nicht alle möglichen anderen Aktivitäten des Lebens im kapitalistischen Humanismus genauso verwerflich wie Fußballkonsum? Nein. Denn natürlich mag es sein, dass ich allein laufen gehe, um nicht daran zu denken, dass ich Teil einer Gesellschaft bin, die Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lässt. Aber erstens wird etwas falsches durch noch mehr falsches höchstens schlimmer. Und zweitens hat, was in Verbindung mit Fußball geschieht, auf Grund von dessen herausragender, fast hegemonialer Position in der Breite der öffentlichen Wahrnehmung besondere Relevanz, verglichen etwa mit anderen Sport- oder Kulturereignissen.

Was nun?

Trotzdem stellt sich die Frage, was wir mit der Einsicht in die Irrungen unserer Wege als Fußball-Anhänger anfangen sollen. Es ist definitiv möglich, diese Einsicht zu haben und trotzdem zu handeln wie zuvor. Mit Gewohnheiten und in Umständen zu leben, die ethisch nicht zu rechtfertigen sind, sollte für viele in den reichsten Ländern der Welt nicht allzu neu sein. Und wenn sich an der eigenen Einstellung zu diesem Handeln etwas ändert, kann schon das einen Unterschied für dessen moralische Bewertung ausmachen. Außerdem ist, wie bereits angedeutet, nicht aller Fußball gleichermaßen diskreditiert, eine lokale Betrachtung der jeweiligen Umstände also notwendig.

Darüber hinaus sind einige eskapistische Tendenzen wenig vielversprechend. Sich etwa statt Fußball American Football zuzuwenden, wäre eine Verschlimmbesserung, da dieser “Sport”, soweit dies in einem amerikanischen Kontext möglich ist, viele Probleme des Fußballs teilt und dazu ebenso gravierende eigene hat. Zu diesen Eskapismen gehört auch, das Heil des Fußballs in der Vergangenheit zu suchen. Das ist einerseits nicht produktiv, und andererseits in vielen Fällen sachlich unangemessen, weil die hier kritisierten Tendenzen nicht neu sind. Die guten alten Zeiten waren nur die alten, manchmal noch schlechteren Zeiten.

Auch Fußball weiter zu begleiten, aber ohne die Emotionen, die ihn zu einem möglichen Träger von Propaganda machen, ist eine suboptimale Lösung. Sie würde zwar den status quo insofern verbessern, als die Vereinnahmung des Sports weniger mächtige Hebel ansetzen würde. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass sie deswegen ausbleiben würde. Wichtiger ist aber, dass dieses emotionale Potential positiv genutzt werden sollte. Man denke etwa an Ultra- und Fangruppen, die sich für Flüchtlingshilfe, soziale Projekte im Umfeld ihres Vereins oder gegen Homophobie engagieren – Engagement, dass ohne die von Fußball geschaffene Bindung vielleicht nicht stattfinden würde. Darin besteht auch die einzige Chance für professionellen Fußballs, als zu rechtfertigende Institution bestehen zu bleiben und nicht einer Selbstkannibalisierung anheim zu fallen.

Natürlich besteht die Gefahr, dass der Versuch, den richtigen Fußball im falschen Geschäft auszutragen, letztlich zum Scheitern verurteilt ist. Das würde diesen Versuch zwar nicht entwerten, könnte aber zu einem slippery slope in die Implikationen werden, die hier kritisiert wurden.

Wie weit darf man sich nun in Fußball involvieren? Die Antwort auf diese Frage muss jede und jeder für sich und die eigene Szene beantworten, abhängig davon, wie viel Gutes sie bringt, und wie weit die problematischen Tendenzen fortgeschritten sind. Zwischen einem Boykott einer WM in Russland, der für alle geboten ist, und dem ehrlichsten Stadionerlebnis, an dem teilzunehmen in jedem Fall gestattet ist, gibt es viele Graustufen der amoralischen Toleranz.


Beitragsbild: Wir bedanken uns bei Eleni Papaioannou für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von Eleni Papaioannou gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-SA 2.0

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Autor: Lukas Tank, footballarguments.wordpress.com

Tagtäglich liefert uns die Sportberichterstattung Antwort auf die Frage, warum Mannschaft X gegen Mannschaft Y gewonnen hat und warum jener Spieler besser oder schlechter ist als ein anderer. Bei der Ursachenforschung gehen die Meinungen auseinander. Gibt es noch die einfachen Erklärungen? Oder ist Fußball eine hochkomplexe Angelegenheit, bei der man den Spielausgang nicht mit einem schnöden „Wir sind nicht in die Zweikämpfe gekommen“ abtun kann? Ein Debattenbeitrag.

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Die deutsche Fußballöffentlichkeit teilt sich in zwei Lager: einerseits diejenigen, die verstehen, dass Fußball ein komplexer Sport ist, und andererseits diejenigen, die dies nicht verstehen (wollen). Dieses Schisma zieht sich durch alle Ebenen – Fans, Journalisten, Spieler, Trainer – und spiegelt sich in einer Vielzahl von Debatten wieder. Erinnert sei hier zum Beispiel an die von Mehmet Scholl entfachte Diskussion um die „Laptoptrainer“. Auch, als verhandelt wurde, wie die Arbeit von Pep Guardiola beim FC Bayern zu bewerten sei, kam diese Zweiteilung immer mal wieder an die Oberfläche des Fußballdiskurses. Und auch auf dieser Seite ging es schon einmal um die Frage nach der Komplexität des Fußballs, als Endreas Müller diskutierte, ob der Taktikblog Spielverlagerung.de sich einer unnötig komplizierten Sprache bediene. Ganz aktuell sprach Sami Khedira folgende Worte:

„Seit Pep Guardiola nach Deutschland gekommen ist, denkt offenbar jeder, er muss den Fußball neu erfinden, das ist ja irrsinnig. Fußball ist mehr als Taktik, es ist und bleibt ein einfaches Spiel.”

Ich vertrete die These, dass die Art, wie in Deutschland über Fußball gesprochen wird, mit der Entwicklung des Fußballs zu einer immer professionelleren und vielschichtigeren Sportart nicht mitgehalten hat. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass die Komplexität des Fußballs von allen unterschätzt wird. Wie in meinem Eingangsstatement gesagt, kann man grob zwei Lager abgrenzen. Die, die sich der Komplexität zumindest bewusst sind und die, die sie nicht sehen oder sie ignorieren.

Wie komplex ist Fußball überhaupt?

Zunächst ein paar Worte, um klar zu machen, was ich genau meine, wenn ich sage, Fußball sei komplex: Fußball ist offenkundig kein Spiel, welches nur sehr schwer und unter großen geistigen Anstrengungen gespielt werden kann. Das kann also schon einmal nicht gemeint sein. Fußball ist insofern komplex, als dass auf dem Platz enorm komplizierte Wechselwirkungen stattfinden, die zu verstehen tatsächlich große geistige Anstrengung fordert. Fußball ist also, so meine These, vielleicht nicht allzu schwer zu spielen, aber doch enorm schwer zu verstehen.

Aber sprechen die Engländer nicht sogar von „the simple game“? Was kann an ein paar Leuten, die auf einer grünen Wiese das Runde ins Eckige befördern wollen, schon so furchtbar verworren sein? Eine ganze Menge, möchte ich meinen. Mir fällt, ehrlich gesagt, kaum eine komplexere Sportart ein. Fußball ist u.a. deshalb „the simple game“, weil es mit wenigen Regeln auskommt. In diesem Sinne ist der Fußball tatsächlich ein recht einfaches Spiel. Aber andererseits begrenzen Regeln auch Komplexität. Fußball ist u.a. deshalb so vielschichtig, weil diese Eingrenzung recht spärlich ausfällt. Um sich die Komplexität begrenzende Funktion von Regeln vor Augen zu führen, lohnt ein Blick auf ein außersportliches Beispiel: Die deutsche Straßenverkehrsordnung ist ohne Zweifel sehr kompliziert. Und auch das Gewusel auf unseren Straßen, welches sich im Großen und Ganzen diesen Regeln unterwirft, ist sehr unübersichtlich. Aber man stelle sich vor, wie undurchdringbar das Geschehen auf unseren Straßen wäre, wenn die Straßenverkehrsordnung nicht oder nur rudimentär gelten würde. Ein Betrachter, der von oben eine große Kreuzung betrachten würde, sähe nur ein heilloses Durcheinander.

Fußball zu spielen, ist einfach – Fußball zu verstehen, ist kompliziert.

Die „Straßenverkehrsordnung“ für den Fußballplatz ist im Vergleich zu den Regelwerken anderer Sportarten recht simpel. Sie lässt viele Möglichkeiten offen und zwängt den Fußball nicht in einfache Schablonen. Man vergleiche den Fußball mit Sportarten, die sozusagen nur aus einer Handvoll Standardsituationstypen bestehen wie American Football oder Baseball. Die Regelwerke dieser Sportarten sind deutlich restriktiver und begrenzen damit die Komplexität der jeweiligen Sportart. In anderen Sportarten ist es so, dass die Komplexität dadurch begrenzt wird, indem die Menge der Erfolg versprechenden Strategien und Taktiken kleiner ist. Im Handball und Basketball wird z.B. eigentlich immer nur in der Nähe der beiden Tore bzw. Körbe gespielt. Die Spielfeldmitte dient nur dem Transit. Damit verringert sich die effektive Spielfeldgröße, was wiederum, so denke ich, tendenziell mit einem Komplexitätsverlust einhergeht. Im Fußball sieht die Sache anders aus. Da wird quasi der ganze Platz zu ungefähr ähnlichen Teilen bespielt. (Es sei denn man ist Guardiolas Barcelona. Dann bespielt man nur eine Zone um den gegnerischen Strafraum.)

Und nicht nur, dass im Fußball der gesamte Platz genutzt wird, dieser Platz ist auch noch riesig groß! Das wiederum ist eng damit verbunden, dass Fußball von vergleichsweise großen Mannschaften gespielt wird. Ich fasse zusammen: Fußball ist ein Sport, in dem sich sehr viele Spieler auf einem sehr großen und als ganzem genutzten Feld ziemlich free-flowing und nur von wenigen Regeln eingezwängt bewegen. Das schreit Komplexität! Ich würde behaupten, Handball ist weniger komplex, Basketball ist weniger komplex, jede Individualsportart ist weniger komplex, American Football ist weniger komplex und auch Schach ist weniger komplex als Fußball: tote Spielfiguren, Zeit zum Nachdenken zwischen den Zügen – wie simpel! Professionelle Schachspieler haben mit Sicherheit ein größeres Verständnis für die Komplexität des Schachspiels als der durchschnittliche Fußballer in Sachen Fußball. Aber ein Spielbrett mit festgelegten Pfaden ist nun mal etwas anderes als die unendlich vielen Varianten, die der Fußball bereithält. Mit der Vielschichtigkeit des Fußballs mithalten, können höchstens Sportarten wie Rugby und Aussie Rules Football. Zusammenfassend kann man festhalten: Fußball zu spielen, ist einfach – Fußball zu verstehen, ist kompliziert.

Warum wird Fußball unterschätzt?

Um die Komplexität einer Sache zu wissen, heißt noch nicht, dass man sie selbst vollständig durchschaut. Ich weiß zum Beispiel: Quantenphysik ist keine triviale Angelegenheit und ich habe quasi null Ahnung von Quantenphysik. Wenn man anerkennt, dass eine Sache unübersichtlich verflochten ist, sollte man daraus jedoch für sich einige Schlüsse ziehen. Zum Beispiel, dass es nicht angebracht ist, auf die Probleme der Quantenphysik zu reagieren, indem man kategorisch festhält, dass die Quantenphysiker nur die (Physiker-)Hymne fester mitsingen und allgemein mit mehr Herzblut bei der Sache sein müssten, damit sich alle Probleme dieses Teilgebiets der Physik endlich auflösen.

Warum wird die Komplexität des Fußballs von vielen unterschätzt? Hier einige Überlegungen:

Fußball als „low scoring game“ verleitet dazu, sich in der Betrachtung des Spiels auf Einzelereignisse zu beschränken und die tieferliegenden Strukturen zu ignorieren. In „high scoring games“ wie Basketball oder Handball erliegt man weniger schnell dieser Versuchung. Wenn ein Basketballspiel 110:99 ausgeht, erschließt sich jedem, dass keiner der vielen dutzend Würfe und schon gar nicht der Wurf, der zum Endergebnis führte, die ganze Story des Spiels ausmacht. „High scoring games“ verleiten zu einem strukturorientierteren Blick, welcher zumindest bessere Chancen hat, die Komplexität eines Spiels einzufangen. Man denke nur an die Allgegenwart von statistischen Analysen im Basketball und anderen US-Sportarten.

Ein weiterer Grund dafür, Fußball als relativ einfaches Spiel zu betrachten, liegt in der Tatsache begründet, dass Fußball im Vergleich zu anderen Sportarten ein extrem komplexes Spiel ist. Das mag nun erst einmal kurios klingen, aber ich denke, man kann die Logik hinter dieser Idee so plausibilisieren: Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, in dem man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Die Komplexität im Fußball ist so erschlagend groß, dass sie eher ignoriert wird als dies in anderen, weniger komplizierten Sportarten der Fall ist.

Der Fußball realisiert heute mehr von der ihm schon immer inhärenten Komplexität. Teile der Fußballöffentlichkeit sind diese Entwicklung nicht mitgegangen.

Der Fußball entwickelt sich stetig weiter und hierin könnte eine weitere Ursache liegen, warum die Komplexität des Fußballs von so vielen unterschätzt wird. Vor 30 Jahren war der Fußball einfacher und einfache Erklärungen hatten eine größere Chance, der Wahrheit zumindest nahezukommen. Wenn beide Mannschaften z.B. konsequent manndecken, wie es früher insbesondere im deutschen Fußball üblich war, und ein Manndecker seinen Gegenspieler verliert und daraus ein Tor resultiert, dann ist die Fehlerdiagnose in der Tat nicht allzu schwer. Man zeigt einfach auf den schlafmützigen Spieler in der Nähe des Torschützen und hat mit einiger Sicherheit den Schuldigen gefunden. Der Fußball hat sich jedoch immer weiter von so einfachen taktischen Mitteln weg entwickelt. Man könnte auch sagen: Der Fußball realisiert heute mehr von der ihm schon immer inhärenten potentiellen Komplexität. Teile der Fußballöffentlichkeit sind diese Entwicklung nicht mitgegangen und verwehren sich der Idee, dass sich der Gegenstand ihres Interesses verändert hat, während sie selbst auf der Stelle treten.

Ich sprach schon an: Fußball ist in mancher Hinsicht tatsächlich „the simple game“. Er hat wenige Regeln und benötigt wenig Equipment. Fußball ist daher ein einfach zu spielendes Spiel. Und auch als Fußballschauer versteht man sehr schnell die grundsätzlichen Charakteristika des Spiels: Das Runde muss ins Eckige. All dies verleitet zu der Annahme, dass sich hinter diesen Dingen keine allzu große Komplexität verbergen kann. Aber dies ist ein Fehlschluss. Nur weil die Grundrechenarten in Nullkommanix gelernt sind, heißt das noch nicht, dass Mathematik nicht etwas unendlich Kompliziertes ist. Ungefähr so verhält es sich auch mit dem Fußball.
(Wobei ich natürlich nicht sagen will, Fußball wäre so kompliziert wie Mathe! Analogien ≠ Gleichsetzung.)

Schlussendlich noch eine kulturelle Erklärung: Fußball hat in Deutschland immer noch (wenn auch nicht mehr so wie früher) das Image, der Sport des kleinen Mannes und der Arbeiterschicht zu sein. Dies wird leider oft verbunden mit einer großen Skepsis gegenüber allem, was nach Intellektualisierung klingt. Ich verstehe durchaus den Reiz, Fußball als ganz und gar nicht elitären Sport zu verstehen. Aber der Fußball ist, wie er ist. Man kann es sich nicht aussuchen. Er ist heutzutage zu einem sehr vielschichtigen Spiel geworden und dies zu ignorieren heißt, ihn zu verkennen.

sartre

Fußball ist komplex – so what?

So viel zur Diagnose. Ich habe versucht, zu zeigen, dass Fußball ein sehr komplexes Spiel ist und nach Gründen gesucht, warum dies von vielen nicht erkannt wird. Was nun? Will ich etwa behaupten, dass man nur noch wissenschaftlich-intellektuell über Fußball reden und schreiben darf? Muss jeder Sportteil zu einer Printausgabe von Spielverlagerung.de werden und muss am Stammtisch ab jetzt die Taktiktafel stehen? Nein, nichts von dem, was ich gesagt habe, sollte dies implizieren. Es gibt tausende Wege, über Fußball zu denken, zu reden und zu schreiben. Viele davon haben ihre Berechtigung.

Drei Folgerungen, so glaube ich, ergeben sich aber doch aus dem Gesagten: Die erste hat mit denjenigen Menschen zu tun, die versuchen, Fußball in all seiner Vielschichtigkeit zu verstehen. Es gibt keinen Grund, ihren Bemühungen grundsätzlich skeptisch gegenüberzustehen. Das heißt natürlich nicht, dass man Stil und Inhalt detaillierter statistischer Auswertungen oder auch von Taktikanalysen nicht hinterfragen soll – ganz im Gegenteil! Tut man dies mit guten Argumenten, so trägt man umso mehr dazu bei, den Fußball als komplexen Sport ernst zu nehmen. Man muss die Tatsache, dass Fußball ein komplexes Spiel ist, auch nicht mögen, aber das ändert nichts am Fakt, dass es so ist. Also: Don’t shoot the messenger.

Die zweite Folgerung hat mit den Menschen zu tun, die die Komplexität des Fußballs gerade nicht vollends oder auch nur zu relativ großen Teilen durchschauen – eine Gruppe, zu der ich mich selbst zählen würde. Wir sollten mit unseren Werturteilen vorsichtig sein. Wenn man von etwas nur beschränkt Ahnung hat, dann sollte man den eigenen wertenden Meinungen auch nur beschränkt trauen. Es besteht schließlich immer die Möglichkeit, dass die Dinge komplizierter sind als man denkt. Das heißt natürlich nicht, dass man nicht seine Meinung sagen sollte! Aber man sollte sich zumindest kritikfähig zeigen und die Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen, dass das Gegenüber mehr von der Materie versteht als man selbst.

Schlussendlich ein Punkt, der insbesondere Sportjournalisten betrifft. Journalistenschelte in einer Zeit, wo so etwas ein unseliger Teil des Zeitgeistes ist, bereitet mir zwar Bauchschmerzen, aber ich denke Folgendes lässt sich doch sagen: Wie über Fußball geschrieben wird, entbehrt zu oft einem Verständnis der Komplexität des Spiels. Und was schlimmer ist: dies wird sogar noch positiv konnotiert. Ich erinnere nur an die exzessive Guardiola-Kritik, die immer wieder mit anti-intellektualistischen Untertönen daherkam: Der katalanische Fußballprofessor soll nicht unseren einfachen Fußball kaputtmachen! Man stelle sich zum Vergleich Auto- oder Computerjournalisten vor, die strukturell ähnliche Thesen vertreten: Das neue MacBook macht uns unseren einfachen Computer kaputt! Absurde Vorstellung. Komplexität sollte der Freund des Fußballjournalisten sein. Nur weil der Sport, über den sie berichten, nicht einfach zu durchdringen ist, bedarf es ihrer Expertise, um ihn verständlicher zu machen. Fußballfans können machen, was sie wollen, aber Fachjournalisten sollten sich ein gewisses Maß an Fachkenntnis aneignen.

Fußball wird gespielt, um Ergebnisse zu erzielen, aber Ergebnisse sind nicht der einzige und oft auch nicht der beste Maßstab in der Bewertung.

Nun besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass die allermeisten Journalisten eigentlich eine hervorragende Kenntnis der Materie haben, diese aber in ihrer Berichterstattung nicht zeigen. Mir persönlich drängt sich dieser Eindruck häufiger in Gesprächen mit Fußballjournalisten auf Twitter auf.  Ich denke, hierzu lässt sich Folgendes sagen: Es gibt tatsächlich keinen Grund, die Komplexität des Fußballs stets mit in die Berichterstattung einfließen zu lassen. Wenn man über Fans, Spielerfrauen oder die neuesten Frisuren schreibt, dann tut es schlicht nichts zur Sache, dass Fußball eine komplizierte Angelegenheit ist. So viel sei zugegeben. Problematisch wird es jedoch, wenn man über das Spiel an sich schreibt. Und noch problematischer wird, wenn man wertend über das Spiel an sich, z.B. über Mannschaften, Einzelspieler oder Trainer, schreibt und gleichzeitig ausblendet, wie komplex der Fußball ist. Das wird dann schnell unfair gegenüber den Beteiligten. Ein Beispiel: der allgegenwärtige Ergebnis-Fokus in der Berichterstattung. Fußball wird gespielt, um Ergebnisse zu erzielen, aber Ergebnisse sind nicht der einzige und oft auch nicht der beste Maßstab in der Bewertung. Ein Trainer, der nicht das Triple gewonnen hat, kann hervorragend gearbeitet haben. Ein Stürmer, der getroffen hat, kann schlecht gespielt haben. Ein Spieler der Verlierermannschaft kann brilliert haben. Der Plan eines Trainers kann scheitern, aber die richtige Idee gewesen sein. Ein Schuss kann treffen und trotzdem eine schlechte Idee gewesen sein. Wer diese und ähnliche Komplexität des Fußballs ignoriert und trotzdem wertet, der handelt unfair und verkauft sich unter Wert. Besonders Letzteres gilt insbesondere für Fußballjournalisten.

Um Fußball zu verstehen und ihn zu erklären, sind tiefgreifende Analysen und Differenzierung notwendig. Wer nur Schwarz und Weiß kennt, wird selten zum Kern dessen vordringen, was auf dem Platz passiert. Kurz und prägnant zu schreiben und dabei die Vielschichtigkeit und die Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren – das ist der Balanceakt, der gelungene Fußballberichterstattung ausmacht. Fußball ist zu kompliziert für einfache Erklärungen. Oder nicht?

pablo

 

Weiterhören – der Podcast mit Autor Lukas Tank

Episode 1: “Fußball als komplexer Sport” mit Lukas Tank

In unserer allerersten Folge des 120minuten-Podcasts (keine Angst, er geht nur ungefähr eine handelsübliche Halbzeit) sprechen wir mit Lukas Tank über seinen Text “Fußball als komplexer Sport”. Lukas findet Ihr auf Twitter als @SergiXaviniesta, sein Blog “football arguments” erreicht Ihr unter https://footballarguments.wordpress.com/.

Wir freuen uns auf Euer Feedback zur Premierenfolge und selbstverständlich auch über weitere Kommentare zum Thema “Fußball und Komplexität” auf Facebook, Twitter oder direkt unter Lukas’ Beitrag auf 120minuten.github.io!

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Taktik ist überbewertet?!

Autor: Endreas Müller, endreasmueller.blogspot.de Wie viel Taktik steckt im Fußball bzw. wie viel Wahrheit in der Taktikanalyse? Unser Autor versucht es herauszufinden – im Selbstversuch und im Gespräch mit Taktikexperten.… Weiterlesen

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Beitragsbild: Wir bedanken uns bei Hernán Piñera für das Foto “Rubik” zu diesem Beitrag. Mehr von Hernán Piñera gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-SA 2.0

By cchana from London, UK – Bill Shankly, CC BY 2.0

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Tränen im Mai https://120minuten.github.io/traenen-im-mai/ https://120minuten.github.io/traenen-im-mai/#respond Sat, 16 Apr 2016 08:00:42 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2063 Weiterlesen]]> Michael Ballack gilt in Deutschland als Unvollendeter. Das klingt episch, verkauft seine Karriere aber unter Wert. Dem größten Fußballer der Nation in den Nuller-Jahren haftet immer noch das Stigma des Verlierers an. Doch wie realistisch war ein internationaler Titelgewinn von 2002 bis 2008 wirklich? Der zweite Teil einer Retrospektive.

Autor: Sebastian Kahl

"Michael Ballack" (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

“Michael Ballack” (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

Prolog

120 Minuten brachten keine Entscheidung. Es stand 1:1. Eine alte Fußballweisheit sagt, der beste Schütze muss im Elfmeterschießen zuerst ran. Erst recht, wenn er der einzige Deutsche im englischen Team ist. Der Gegner konnte vorlegen, somit wurde der Druck noch größer. Die Nummer 13 trat an. Der Keeper war ausgewiesener Elfmeterkiller, maß knapp zwei Meter – und hatte die Ecke geahnt. Doch der Schuss war humorlos, stramm: der Ausgleich. Von den nächsten sieben Schützen vergab nur einer in den Reihen des Gegners, später dreifacher Weltfußballer. 

Zum Zuschauen verdammt, versammelten sich die Mannschaften im Mittelkreis. In Moskau, Austragungsort des Champions League-Finals, war es bereits nach Mitternacht. Irgendwann im Laufe des Spiels hatte es begonnen zu regnen. Nun fehlte ein letzter Treffer – doch auch der letzte Schütze. Gegen Ende der Verlängerung hatte dieser Rot gesehen. Die Verantwortung ruhte auf den Schultern des Kapitäns. Als Innenverteidiger war der nicht für die ersten fünf Schützen vorgesehen. Nun trat er dennoch an…

„…und dann schießt er an den Pfosten. Da habe ich wirklich gedacht, vielleicht hat der da oben etwas dagegen, dass ich das Ding in den Händen halte.“

~ Ballack im 11Freunde-Interview [1]

Terry rutschte aus, der Boden war vom Regen aufgeweicht. Es ging ins Sudden Death, aber die Entscheidung schien bereits gefallen. Van der Sar entschärfte wenig später Anelkas Versuch. Chelsea unterlag Manchester United. Michael Ballack wurde erneut Zweiter.

Wechsel zum Rekordmeister

Im ersten Teil der Retrospektive verließen wir Ballack nach seiner vierfachen Vize-Saison 2001/02. Auch damals stand er im Champions League-Finale, unterlag mit seiner Leverkusener Elf den Galaktischen aus Madrid. Es war seine – zunächst – letzte Partie für Bayer. Mit 25 stand der nächste Schritt in der Karriereplanung an. Angebote aus dem Ausland lagen zahlreich vor, Barca, Chelsea, Inter. Die Wahl fiel allerdings auf Bayern.

Noch zur Kaiserslautern-Zeit hatte der Rekordmeister Interesse bekundet. Ballack war noch nicht als Bundesliga-Spieler etabliert, der Wechsel wäre zu früh gekommen. Stattdessen ging er nach Leverkusen, um im „kleineren“ Klub zu reifen. Ballack konnte sich bei Bayer weiterentwickeln. Er war dort in eine Mannschaft eingebettet, die auf ihn zugeschnitten wurde, die am Limit spielte. Und darüber hinaus. So erreichte Leverkusen drei zweite Plätze in 2002, in Meisterschaft, Pokal und Champions League. Was gern als „Vizekusen“ verspottet wurde, bleibt auch aus heutiger Betrachtung eine große sportliche Leistung.

Ballack selbst war fußballerisch in der Weltspitze angekommen, erhielt erstmals die Auszeichnung als Deutschlands Fußballer des Jahres. Darüber hinaus erkannte auch die internationale Fußballwelt seine Klasse. 2002 wurde Ballack in jede Elite-Auswahl gewählt: UEFA Club Mittelfeld des Jahres, UEFA Team des Jahres, European Sports Magazine Team des Jahres, FIFA World Cup Team, FIFA XI.

Sicherlich sind solche Auszeichnungen auch immer ein Popularitätswettbewerb. Aber zusammengenommen zeigen sie den internationalen Stellenwert eines deutschen Spielers, an den sonst nur Oliver Kahn herankam. Nun passte der Wechsel zu den Bayern. Von ausländischen Vereinen sollen finanziell höher dotierte Angebote vorgelegen haben. Aus Marketing-Sicht schien es Ballack und Berater Becker sinnvoller, dass der beste deutsche Fußballer in der Heimat blieb. Zumindest bis 2006, wenn die Weltmeisterschaft in Deutschland stattfinden würde.

Ballack war zum Zeitpunkt des Wechsels im besten Fußballer-Alter, bereits ein gestandener Spieler, gleichzeitig aber noch mit einigen guten Jahre vor sich. Doch an die spielerische Klasse des Jahres 2002 würde er nach dem Wechsel zu den Bayern nicht nahtlos anknüpfen können. Zum einen warfen ihn ständige Verletzungen aus der Bahn. Zum anderen wurde er an Maßstäben gemessen, zu deren Erreichung von Vereinsseite nicht genug beigetragen wurde. Bisweilen wurde ihm auch der Boden unter den Füßen weggezogen.

Erwartungshaltung in München

Aber der Reihe nach. Auf Seiten der Bayern war der Wechsel Teil einer größeren Einkaufspolitik. Nach dem Gewinn der Champions League kam es zu einer Zäsur. Der Fokus lag nun auf jungen deutschen Spielern, die auch bezahlbar sein sollten. Die Bayern wollten sich nicht am Wettrüsten der internationalen Schwergewichte beteiligen. Im Jahr zuvor hatte etwa Real Madrid umgerechnet 75 Millionen Euro für Zinedine Zidane bezahlt. Für Spieler wie Hernan Crespo (56,5 Mio.), Marc Overmars (40,6 Mio.), Rui Costa (49,7 Mio.) oder Gaizka Mendieta (48 Mio.) mussten Vereine Mondpreise zahlen.

Ballack wechselte hingegen ablösefrei, allein für ein kolportiertes Handgeld von 6 Millionen Euro. Trotzdem sollte der Umbruch von der großen 2001er Mannschaft gelingen. Die war über Jahre gereift, wenn auch taktisch etwas altbacken. Das reichte für drei Meistertitel in Folge und zum Abschluss auch für die europäische Krone. Auf dem Weg ins Finale wurden u.a. Manchester United und Real Madrid ausgeschaltet.

Unvergessen: Jens Jeremies' grandioser Auftritt samt Siegtor im Halbfinale gegen Madrid
Er spielte keine zwei Wochen nach einer Knie-OP. Dieses verfrühte Comeback – vielleicht notwendig für den Verein – war wohl maßgeblich für seine weiteren Knieprobleme. Jeremies fand danach nie wieder zur Form, beendete bereits im Alter von 32 seine Karriere.

Diese Mannschaft hatte sich schon etwas von den Ränkespielen des FC Hollywood emanzipiert, brachte sich nicht mehr selbst durch Leitwolfgerangel aus dem Konzept. Die 2001er Mannschaft war stimmig, kam dann einfach in die Jahre. Mit Kahn und Effenberg gab es zwei klare Tonangeber. Allein mit dem Finale gegen Valencia setzten sie sich in München ein Denkmal; Kahn dank dreier gehaltener Elfmeter, Effenberg dank einer wahnsinnigen Einzelleistung.

Unter diesem Eindruck kam also Michael Ballack ein Jahr später an die Säbener Straße. Und wurde gleich mit der neuen Kultur konfrontiert, die ihn dort erwarten würde. Effenberg wurde im Laufe seiner letzten Saison mehr oder weniger vom Hof gejagt, für zu alt, zu langsam befunden. Aber Ballack solle doch bitte auch so sein wie Effenberg, den Spiritus rector geben.

„Er muss noch viel daran arbeiten, um so weit zu kommen wie Stefan Effenberg ist.“

~ Teamkollege Robert Kovac zum Wechsel [2]

Ballack sollte das neue Herzstück der Münchner Mannschaft werden. Dafür wurde ihm Zé Roberto – sein Teamkollege aus Leverkusen – zur Seite gestellt. Mit Blick auf die deutsche Strategie kam zudem Sebastian Deisler, der zu diesem Zeitpunkt als größtes Talent der Fußballnation galt.

Deislers Karriere wäre eine eigene Retrospektive wert
Mit seinen damals 22 Jahren musste er schon zahllose Verletzungen wegstecken. Zweimal riss das Kreuzband, zweimal der Meniskus. Immer war das rechte Knie betroffen. Bei Hertha kam er in der Saison vor dem Wechsel nur auf elf Einsätze in der Liga, da im Oktober erneut das rechte Knie streikte, Diagnose: Luxation, Kapselriss, Verrenkung der Patella-Sehne. Bei der anschließenden Operation wurde die Kniescheibe fixiert. Als im Winter der anstehende Wechsel zu den Bayern bekannt wurde (10 Mio. Handgeld), sah er sich Anfeindungen in Berlin ausgesetzt. Die Verletzung sei nur vorgeschoben. Damit nicht genug, die Hiobsbotschaft im Mai 2002: Knorpelschaden, rechtes Knie. Erst im Februar 2003 lief Deisler erstmals für Bayern auf, kam in der ersten Saison auf acht Einsätze.

Double zum Auftakt

Zum Beginn der Saison 02/03 meinte Karl-Heinz Rummenigge „Wir haben den stärksten Kader aller Zeiten“. (2) Das war damals schon hanebüchen, allein mit einem Blick auf die Größe der Ü30-Fraktion (Alter im Laufe der Saison): Oliver Kahn (34), Thomas Linke (33), Bixente Lizarazu (33), Niko Kovac (31), Mehmet Scholl (32), Michael Tarnat (33), Thorsten Fink (35), Giovane Elber (30). Außerdem waren mit 29 nah am Zenit oder bereits drüber hinweg: Robert Kovac, Jens Jeremies, Zé Roberto, Pablo Thiam, Alexander Zickler. Diese Spieler kamen allesamt auf mindestens zehn Einsätze, viele gehörten zum Stammpersonal.

In der Champions League führte das nicht all zu weit. Bereits in der ersten Gruppenphase war Schluss, die Gegner: AC Milan, Deportivo La Coruna, RC Lens. Zumindest die Rossoneri spielten auf einem ganz anderen Level, holten im Mai auch den Gesamtsieg über Juve. Die Niederlagen gegen La Coruna waren schon peinlicher, kamen aber ob der schnelleren Spielweise der Spanier nicht allzu überraschend. Zwei Unentschieden gegen Lens brachten die einzigen Punkte und somit den letzten Platz in der Gruppe. Ballack ging mitsamt der Mannschaft unter, traf lediglich in der Qualifikation gegen Partizan Belgrad.

Immerhin dürfte das frühe Aus in der Champions League den Triumph in der Liga gesichert haben. Während sich der amtierende Meister aus Dortmund bis Ende März international aufrieb, konnte sich München auf die nationalen Wettbewerbe fokussieren. Spätestens in der zweiten Saisonhälfte hatte sich die Mannschaft gefunden.

Bayern abhängig von Ballacks Gesundheit

Die Saison lässt sich anhand der Verletzungen Ballacks nachzeichnen. Von Anfang Oktober bis Anfang März verloren die Bayern in der Liga nur ein Spiel. Das war Anfang November in Bremen (2:0). Ballack war nicht dabei. Im Rückspiel bei Deportivo hatte er sich einen Kapseleinriss im Sprunggelenk zugezogen. Im Februar musste er aufgrund einer Grippe für zwei Partien aussetzen, beide endeten nur Unentschieden. Beim 3:0 über Leverkusen Anfang März musste er bereits nach 22 Minuten ausgewechselt werden. Erneut war es das Sprunggelenk: Bänderriss.

Die Bayern hatten zu diesem Zeitpunkt bereits 13 Punkte Vorsprung auf Dortmund. Glücklicherweise, denn die Ausbeute aus den nächsten fünf Spielen – ohne Ballack – war mager: zwei Siege, ein Unentschieden, zwei Niederlagen, nur sieben Zähler. Insgesamt konnte keinerlei Form ohne Ballack konserviert werden. Über den gesamten Saisonverlauf holte Bayern ohne Ballack nur neun Punkte in acht Spielen (Schnitt: 1,125).

Stand Ballack auf dem Platz, gewannen die Bayern in der Regel. Aus 26 Spielen mit Ballack holte Bayern 66 Punkte (Schnitt: 2,54). Einzig auf Schalke wurde eine Ballack-Elf geschlagen; am letzten Spieltag, längst Meister und mit angezogener Handbremse im Hinblick auf das DFB-Pokalfinale eine Woche später. In Berlin erzielte Ballack dann zwei Tore beim 3:1 über Kaiserslautern; Treffer vier und fünf im Wettbewerb. In der Liga bedeuteten zehn Tore und sieben Vorlagen Platz drei in der vereinsinternen Scorer-Liste.

International wurde Bayern deklassiert, die Lücken in der Mannschaft offensichtlich. Anstelle eines echten Umbruchs standen weitere Verpflichtungen entlang der „Hauptsache jung und deutsch“-Schiene.

Diese Spieler kamen ablösefrei oder aus der eigenen Jugend:
Rensing, Feulner, Rau, Schlösser, Trochowski, Lell, Schweinsteiger. Auch Martin Demichelis (für 5 Millionen von River Plate) durfte noch als Talent gelten, spielte in der ersten Saison lediglich sieben Mal über 90 Minuten durch. Nur für Roy Makaay belastete die Vereinsführung das Festgeldkonto (knapp 20 Mio. Euro). Das offenbarte auch die Qualität der Scouting-Abteilung. Makaay hatte die Münchner selbst mit der Nase auf sein Talent gestoßen. Der Holländer kam von Deportivo, erzielte in den zwei CL-Begegnungen vier Tore.

Die Leistungsdichte im Kader wurde zur neuen Saison insgesamt nur noch dünner, Neuzugang Makaay mit 23 Treffern zur Lebensversicherung. Ein klares System war in der letzten Saison unter Hitzfeld nicht mehr erkennbar, die Aufstellung häufig Flickschusterei. Hargreaves und Salihamidzic fielen ihrer Vielseitigkeit zum Opfer, durften ständig auf neuen Positionen ran. Zé Roberto und Schweinsteiger mussten die Außenbahnen bearbeiten, wofür beiden die nötige Geschwindigkeit fehlte.

Umso entscheidender, dass sich Ballack durch die Saison schleppte. Obwohl er häufiger verletzt und durchweg angeschlagen war, machte er mehr Partien als im Vorjahr. Sein Fehlen konnte die Mannschaft da ja schon nicht kompensieren. Eine Wadenprellung hatte er sich noch im Pokalfinale gegen Lautern zugezogen, reiste dann trotzdem zur Nationalmannschaft. Im Juni wurde noch die EM-Quali ausgespielt (1:1 in Schottland). Nach der kurzen Sommerpause machte die Wade zu Saisonbeginn immer noch Probleme. Bei der nächsten Länderspielreise setzte es zunächst ein 0:0 in Island, danach gegen Schottland für Ballack einen Bluterguss. Die Verletzungen legten ihn kurzzeitig für die nächste Bundesliga-Partie in Wolfsburg lahm. Er – und weitere Angeschlagene – setzten aus. Bayern verlor.

Krise und Kritik

Nach fünf Spieltagen, Platz fünf in der Tabelle, brannte bereits der Baum an der Säbener Straße. Kahn kritisierte öffentlich: „Es wird taktisch undisziplinierter Fußball gespielt, […] ohne Sinn und Verstand.“ [3] Es bräuchte eine Rückbesinnung auf die erfolgreiche Spielweise der Vergangenheit und eine „ordnende Hand im Mittelfeld“. Namentlich zählte Kahn zudem den 22-jährigen Hargreaves an. Ballack stellte ihn intern zur Rede.

Bei seiner Rückkehr in Glasgow trieb Ballack die Mannschaft zum Sieg über Celtic (2:1). Am Wochenende verschoss er gegen Leverkusen einen Elfmeter, traf danach selbst, legte ein weiteres Tor auf, Endstand 3:3.

Günther Netzer animierte diese Schwächephase der Bayern, in die gleiche Kerbe der fehlenden Führungsqualitäten Ballacks zu schlagen. Netzer machte dies in seiner Sport Bild-Kolumne an der vorherrschenden Kultur des Kollektivs in der ehemaligen DDR fest. Ballack hätte dort gelernt, sich einzuordnen. Nun begnüge er sich mit seiner Rolle, hole nicht das Optimum aus sich heraus.

An dieser Stelle soll keine Kritik der Kritik von Netzer stattfinden. Dass er (oder der Kolumnen-Ghostwriter) über die Stränge schlug, war Netzer schnell bewusst. Er entschuldigte sich persönlich via Telefon bei Ballack. Viel interessanter ist die Reaktion der Vereinsbosse. Zu erwarten wäre Abteilung Attacke. Zwar gingen Hoeneß und Rummenigge Netzer in der Art und Weise der Kritik an, konnten sich im Nebensatz allerdings nicht verkneifen, ihm in der Sache Recht zu geben. So sagte etwa Rummenigge, der Vorwurf sei eine „Beleidigung aller ehemaligen DDR-Bürger“; im selben Atemzug aber „[Ballack] muss sich mehr einbringen, mehr zeigen. Wir haben ihn als Spielgestalter geholt, der die Mannschaft führt“. [2]

Insgesamt zeigt sich in der Nachbetrachtung eine gewisse Schizophrenie in der Kommunikation der Verantwortlichen seitens Ballack. Kritik von außen, die reichlich vorhanden war, wurde zwar abgewiesen. Aber nur, um häufig aus den eigenen Reihen in anderer Tonalität doch erneut geäußert zu werden. Je nach Tabellenstand wurde das lauter oder leiser, zog sich aber durch die gesamten vier Jahre in München.

In der Winterpause 2003/04 setzten sich Spieler und Führungsriege zusammen. Rummenigges Fazit: „[Wir] müssen Ballack mal in Ruhe lassen, dürfen nicht jede Woche an ihm rumnörgeln“. Keine vier Wochen später hatten sie den Vorsatz schon wieder über den Haufen geworfen. [2]

Die Bayern waren (und sind) immer dann am besten, wenn sie eine Wagenburgmentalität aufbauten, Mia san mia nicht nur als Marketing-Slogan, sondern als Abgrenzung verstehen. Uli Hoeneß verteidigte nach außen, ging regelmäßig die jeweils aktuellen Gegner an (Lemke/ Bremen, Daum/ Köln und Leverkusen, Meier/ Dortmund). Damit schlug er auch gern über die Stränge, um den Fokus von der eigenen Mannschaft zu nehmen und beim Kontrahenten für Unruhe zu sorgen.

Aber sich öffentlich gegen eigene Spieler zu äußern, damit war man in München eher sparsam; etwa Beckenbauer 2001 nach der 0:3-Niederlage in Lyon („Uwe Seeler-Traditionsmannschaft, Altherrenfußball“) [4] oder Hoeneß 2007, nachdem ein 17-jähriger Toni Kroos in Belgrad brillierte („Hört’s mir auf mit dem Hochjubeln“) [5].

Ballack wurde jedoch in jeder Schwächephase angezählt und kleingeredet; innen wie außen und selbst nach Siegen. Nun war selbst ein zweiter Platz nichts mehr wert. Nach dem Wechsel aus Leverkusen kam das für Ballack einem Kulturschock gleich. Über die Jahre betonte er mehrfach, wie wichtig der „Wohlfühlfaktor“ für seine Leistung sei. In München ähnelte die Beziehung zu den Vereinsoberen seinen Auseinandersetzungen mit Rehhagel bei Kaiserslautern. Auch von König Otto wurde er mehrfach öffentlich kritisiert; suchte dann schnell das Weite.

Ein häufiger Vorwurf in München: Ballack schone sich im Verein für die Nationalelf. Lieber solle er sich auskurieren, natürlich in der Länderspielpause. Tatsächlich bereiteten ihm immer wieder Wade und Knöchel Probleme. In keiner seiner Münchner Spielzeiten kam er auf 30 Liga-Einsätze. Tatsächlich spielte er in seiner kompletten Karriere keine Saison durch. Mit Pokal, CL und Nationalmannschaft kam er aber doch immer auf 45 bis 50 Pflichtspiele – und das über ein Jahrzehnt hinweg.

2004 wurde der Spagat zu groß; die enge Taktung der Spiele, die ständigen englischen Wochen ließen ihn auf dem Zahnfleisch gehen. Mit 27 hätte er in den Zenit seiner Leistungsfähigkeit kommen müssen, stattdessen schleppte er sich – auch aufgrund der anhaltenden Kritik – durch die Spiele. Dass die teils mäßigen Leistungen die Kritik nur noch mehr befeuerten, liegt in der Natur des Fußballgeschäfts.

Blamage in Portugal

Am Ende standen er, Verein und Nation gänzlich ohne Titel da. Die Bayern landeten sechs Punkte hinter Bremen auf Rang zwei, flogen im Pokal-Viertelfinale gegen Aachen raus. Die Nationalelf – immerhin Vize-Weltmeister – lieferte eine desolate Vorstellung bei der Europameisterschaft 2004 ab. Das hatte sich bereits angedeutet, etwa beim angesprochenen 0:0 gegen Island. Immerhin bescherte uns das Völlers legendären Auftritt im Gespräch mit Waldemar Hartmann.

Die Tests im Frühjahr oder direkt vor dem Turnier gingen teilweise arg in die Hose. Die Namen Ionel Danciulescu oder Sandor Thorgelle mögen einigen Fans noch in den Ohren klingen. Der Rumäne Danciulescu etwa erzielte seine einzigen zwei Länderspieltore beim 5:1-Sieg über Deutschland. Thorghelles Doppelpack vermieste die deutsche Generalprobe eine Woche vor Turnierbeginn. An der Seitenlinie jubelte sein Nationaltrainer Lothar Matthäus, der damals die Ungarn betreute.

Im Quervergleich zum Turnier vier Jahre zuvor verdoppelte sich die Leistung (jeweils zwei statt ein Tor respektive Punkte), der Ertrag blieb derselbe: Vorrunden-Aus.
Die Ära Völler war nach dem 1:2 gegen eine tschechische B-Elf beendet. Der letzte Gruppengegner der Deutschen war bereits für die nächste Runde qualifiziert, wechselte durch und gewann dennoch. Auf vielen Positionen im Team stand dringend ein Umbruch an, eine Reihe von Stammspielern war nur biederer Durchschnitt (Wörns, Baumann, Ernst, Kuranyi). Internationale Klasse hatten damals nur Kahn, Hamann und Klose, vielleicht Schneider.

Immerhin sammelte ein Grundstock an jungen Spielern erste Turniererfahrung: Lahm, Schweinsteiger, Podolski (drei spätere Weltmeister). Auch Frings, Schneider, Klose und Arne Friedrich sollten bei der WM 2006 zur Rumpfelf der Nationalmannschaft gehören, dann allerdings unter der Leitung von Jürgen Klinsmann.

Weltmeisterschaft 2006: Aus im Halbfinale

Weil es an dieser Stelle passt, bereits der Vorgriff auf die WM im eigenen Land: Deutschland war als Gastgeber automatisch qualifiziert. Die knapp zwei Jahre davor waren somit eine ideale Testbühne für den neuen Teamchef. Klinsmann verpasste Mannschaft, Trainerstab und Verband eine längst überfällige Frischzellenkur, ließ nicht einmal Welttorhüter Oliver Kahn unangetastet. Ballack wurde zum neuen Kapitän ernannt. Insgesamt 55-mal würde er die deutsche Nationalmannschaft aufs Feld führen, u.a. beim Confed Cup 2005, wo die Deutschen einen guten dritten Platz belegten und – viel wichtiger – endlich kreativen, offensiven Fußball spielten.

Bis zum Eröffnungsspiel der WM steuerte Ballack in 21 Länderspielen elf Tore und sechs Vorlagen bei. Beim Eröffnungsspiel selbst saß er nur auf der Bank, die alte Kriegsverletzung an der Wade. Er musste von außen zuschauen, wie seine Mannschaft Costa Rica überrannte (4:2). Es folgten Siege über Polen (1:0), Ecuador (3:0) und Schweden (2:0). Die Mannschaft wuchs mit ihren Aufgaben, getragen von der Euphorie ringsum. Erstmals in seiner DFB-Karriere war Ballack in eine ausgewogene Elf eingebunden, die technisch anspruchsvollen Fußball spielen konnte. Im Laufe der Vorbereitung hatte Ballack eine tiefere Rolle eingenommen, gab weniger den Box-to-Box-Spieler früherer Jahre. Die Stammformation und Aufteilung nahmen die Entwicklung des heute gängigen 4-5-1 vorweg: Frings und Ballack zentral vor der Abwehr, Schneider (rechts) und Schweinsteiger (links) waren keine klassischen Flügelspieler, Podolski ließ sich zudem aus der Spitze fallen.

Auch die in den letzten Testspielen anfällige Defensive zeigte sich im Turnierverlauf verbessert. Noch im März setzte es ein 1:4 gegen Italien. Unter großem Gezeter wurde der Auftritt diskutiert, gar bis zur Absetzung des Verantwortlichen durchexerziert.

Die DFB-Auswahl belegte schließlich den dritten Platz, was wohl die wenigsten Fans ernsthaft erwartet hatten. 2002 ging es zwar ein Level weiter. Dafür war 2006 der Weg deutlich schwerer. Gegen besser besetzte Truppen aus Argentinien und Italien präsentierte sich Deutschland auf Augenhöhe. Es musste jeweils die Verlängerung her. Während gegen die Albiceleste noch via Elfmeterschießen der Halbfinal-Einzug gelang (Ballack Man of the Match), war gegen die Azzurri Schluss. Zum zweiten Mal in Folge (wie dann auch 2010) kam das Aus gegen den späteren Weltmeister.

Eine simple Gegenüberstellung, das Alter aller Starter im Halbfinale:
• Deutschland: 36, 27, 21, 25, 22, 32, 29, 26, 26, 28, 21
• Italien: 28, 29, 32, 32, 28, 29, 28, 27, 28, 29, 29

Italien war eine gut geölte Maschine, zusammengesetzt aus Spielern, die alle im besten Fußballer-Alter, im Zenit standen. Die Achse bestand aus vier Spielern des Meisters Juve. Mindestens Buffon, Pirlo und Totti trugen das Prädikat Weltklasse; Cannavaro und Gattuso waren nah dran. Italien kassierte lediglich zwei Gegentore in sieben Spielen: ein Eigentor und einen Elfmeter; im Halbfinale über 120 Minuten keines. Dafür trafen Grosso und Del Piero kurz vor Schluss. Und beendeten ungeahnt Ballacks Weltmeisterschaftskarriere. Im folgenden Spiel um Platz 3 wechselte Klinsmann durch.

Zusammen mit Jens Lehmann, Philipp Lahm und Miroslav Klose wurde er ins 23-köpfige All Star Team gewählt. Ein kleines Zeichen, dass es voran ging: Bei der EM 2004 war Ballack noch der einzige deutsche Vertreter.

Regimewechsel in München

Apropos 2004: Die trophäenlose Saison forderte mit Ottmar Hitzfeld ihr Opfer. Nach sechs Jahren war Schluss für den „General“. Zu Buche standen vier Meistertitel, zwei DFB- und ein CL-Pokal und bereits lange vor Saisonende die Zeichen auf Abschied. Felix Magath stellte das bayrische Gleichgewicht wieder her, holte in seinen ersten beiden Spielzeiten an der Isar zweimal das nationale Double. Magath zählte erneut zur Kategorie „Scouting vor der Haustür“. Mit einer jungen Stuttgarter Truppe holte er 2003 einen überraschenden zweiten, 2004 einen guten vierten Platz. Seine Schleifer-Methoden eigneten sich, binnen kurzer Zeit alles Athletische aus einer Mannschaft herauszuholen. Taktische Raffinesse auf höchstem Niveau durfte an der Säbener Straße niemand erwarten.

Heuer sind die Bayern eine von nur vier, fünf Mannschaften, die eine realistische Chance auf den Gesamtsieg in der Champions League haben. Das war nicht immer so. Mitte der Nuller-Jahre dominierte der FCB zwar den nationalen Fußball, dafür liefen sie international der Musik hinterher. Sie brachten sich selbst nie in eine Position, aus der eine realistische Chance bestand, die Champions League zu gewinnen. Zumindest nicht in der Ballack-Ära.

Die Einkaufspolitik und nationale Performance unter Magath sind schnell abgehandelt:
Im Sommer ’04 stießen Lucio (12 Mio.) und Torsten Frings (9 Mio.) hinzu, wurden schnell in die Startelf eingebunden. Andreas Görlitz und Vahid Hashemian (je ~2 Mio.) kamen als Ergänzungsspieler zusammen auf acht Einsätze von Beginn. Hashemian verließ den Verein bereits nach einer Saison; ebenso wie Frings. Die Verpflichtung des Dortmunders war ein einziges Missverständnis, für die Vereinskultur denkbar unpassend. Mit dem Nationalmannschaft-Mittelfeld aus Schweinsteiger, Ballack, Frings und Deisler wurde der FC Deutschland ausgerufen.

Unter der Ägide von Magath gab es einige Anlaufschwierigkeiten. Die fest eingeplante Tabellenspitze übernahmen sie erst am 14. Spieltag, besaßen dann aber den langen Atem. Die letzten neun Ligaspielen wurden allesamt gewonnen, die Meisterschaft mit 14 Punkten Vorsprung (auf Schalke) gesichert, der DFB-Pokal eingeheimst (ebenfalls gegen Schalke). Auch das erneute frühe internationale Ausscheiden dürfte für den guten Saisonendspurt mitverantwortlich gewesen sein. Ballack steuerte in 27 Liga-Einsätzen 13 Tore und fünf Vorlagen bei. Die frühere Diskrepanz mit/ohne Ballack war nicht mehr gegeben: Bei allen fünf Saisonniederlagen stand er jeweils in der Startelf.

Die Zugänge im Sommer 2005 mögen wenig inspirierend gewesen sein, Valerien Ismael (8,5 Mio), Julio Dos Santos (2,7 Mio), Ali Karimi. Die Vorstellung war dafür national noch dominanter: 05/06 gingen nur drei Spiele verloren (Ballack immer dabei), die beste Serie umfasste 16 ungeschlagene Spiele in Folge. Ballack war mit 14 Toren und vier Vorlagen zweitbester Scorer im Team. Am Ende reichte es naturgemäß zum nationalen Double aus Meisterschaft (vor Bremen) und Pokal (über Frankfurt).

Chancenlos in der Champions League

Der heilige Gral war aber die Europäische Krone.

„Ich bin der Meinung, dass der FC Bayern damals nicht die Mannschaft hatte, um die Champions League zu gewinnen. National haben wir zwar in vier Jahren drei Doubles gewonnen, doch international sind wir nicht mal in die Nähe des Halbfinals oder Finals gekommen. Das kann kein Pech, kein Zufall gewesen sein.“

~ Ballack im Interview 2011 [6]

War es auch nicht, was allein ein Blick auf den jeweils letzten Gegner zeigt:

2004, Achtelfinale gegen Real Madrid (1:1 und 0:1)
Die Königlichen standen am Ende eines großen Zyklus, von ’98 bis ’02, dreimal im CL-Finale. Dreimal siegten sie. Dabei hatten sie sogar einen Umbruch vollzogen und dennoch das Niveau gehalten. Langsam kippte die Zusammenstellung der Mannschaft in den vollen Galactico-Modus (Beckham für Makelele im Sommer ’03). Während im Angriff Zidane, Figo, Beckham, Ronaldo und Raul wirbelten, verteidigten hinten nicht mehr Fernando Hierro und Manuel Sanchis sondern Ivan Helguera, Raul Bravo oder später Jonathan Woodgate.
2005, Viertelfinale gegen Chelsea FC (2:4 und 3:2)
Die Blues verfügten zu diesem Zeitpunkt über die ausgewogenste Elf der Abramovich-Ära. Die war natürlich mit Geld zusammengekauft, aber auch mit Verstand. Mourinho, der mit Porto UEFA-Cup und CL gewonnen hatte, etablierte bei Chelsea ein flügellastiges System, holte die dazu passenden Spieler, nicht die großen Namen. Während in der Premier League in der Regel noch das klassische 4-4-2 gespielt wurde, dominierte Chelsea im 4-3-3. 04/05 waren sie beinahe unbezwingbar, kassierten nur 15 Gegentore in 38 Spielen (Rekord), blieben 24-mal ohne Gegentor (Rekord), holten 95 Punkte (Rekord).
2006, Achtelfinale gegen AC Milan (1:1 und 1:4)
Ähnlich wie Real die Spielzeiten rund um die Jahrtausendwende dominiert hatte, gab Milan von ’03 bis ’07 den Ton an, sammelte in drei Finalteilnahmen zwei Trophäen. Die heimische Saison ’06 ging im Calciopoli unter, zuvor zeigte die Tabelle Platz zwei hinter Juve. Fast die komplette Dekade stand Carlo Ancelotti an der Seitenlinie, baute in dieser Zeit mindestens zwei große Mannschaften in Milanello auf. Kaka stand bei der Begegnung mit Bayern auf der Schwelle zum besten Fußballer der Welt, hielt vom Herbst ’06 bis Frühjahr ’08 den imaginären Champion-Gürtel. Paolo Maldini gehört zu den Top-20 aller Zeiten, stand mit damals 37 immer noch in vollem Saft. Pirlo, Shevchenko und Gattuso gehörten zur Weltspitze.

Deutschland durchlebte insgesamt zwischen 2003 und 2006 eine der schwächsten internationalen Phasen. Die Liga war nicht wettbewerbsfähig: Bayerns Viertelfinal-Einzug 04/05 war das beste Ergebnis in der CL. Auch Leverkusen, Dortmund, Stuttgart und Bremen versuchten sich in diesem Zeitraum. Spätestens im Achtelfinale war Endstation. Wenig besser lief es im UEFA Cup. Einzig Schalke erreichte 05/06 das Halbfinale. In den zwei vorigen Jahren waren insgesamt sechs Teams schon in der Vorrunde ausgeschieden. Bisweilen rutschte die Bundesliga auf den fünften Platz in der Fünfjahreswertung ab, musste damit einen CL-Startplatz abgeben.

„If you can’t beat them, join them.“

~ Alte Volksweise

Ballack betonte mehrfach in Interviews, dass er in München mittelfristig keine Chance sah, die CL zu gewinnen. Andersherum hätte er es sich noch weitere vier, fünf Jahre in München gemütlich machen können, dabei sicher auch nicht schlecht verdient. Zum Sommer 2006 lief sein Vertrag bei den Bayern aus.

Bereits 2004 war das Tischtuch wohl schon zerschnitten, sodass keine Verlängerung angestrebt wurde. Gerüchte über einen Wechsel häuften sich immer rund um Verletzungspausen, bei zunehmender Kritik von Vereinsseite. Interesse von Real, Juve, Milan, Inter, Manchester United ist verbrieft. Jede große Mannschaft Europas wollte den Jungen aus Chemnitz in ihren Reihen wissen. Inwieweit das Ausspielen der Optionen im Ausland zur Verbesserung der Stellung im Heimischen genutzt wurde? Das wiederholt offensichtliche Timing legt den Schluss nahe. Neu wäre die Methode nicht.

Zum Abschied gab es noch einmal aus beiden Richtungen Spitzen. Ballack hielt die Vereinsführung in der letzten Saison knapp ein halbes Jahr hin, ließ ein gut dotiertes Arbeitspapier unbeantwortet, erbat sich Bedenkzeit. Eine Retourkutsche? Nach der Verkündung des Wechsels beschwerte er sich über „populistische Aussagen, besonders [von] Rummenigge“. [7] Fans seien gegen ihn aufgewiegelt worden. Tatsächlich kassierte Ballack in den letzten Wochen auch Pfiffe im eigenen Stadion. Das eh unterkühlte Verhältnis zwischen Ballack und den Bayern-Fans war auf dem Tiefpunkt angekommen.

Die Bayern gingen bereits im Frühjahr 2006 öffentlich auf Nachfolger-Suche, betonten, dass taugliche Kandidaten endlich wieder Führungsqualitäten haben müssen. „Dort haben wir ein Vakuum“, so Rummenigge im April. [8] Mit Blick auf die heutigen Topmannschaften, den CL-Siegern aus München, Barcelona und Madrid oder den Weltmeisterteams aus Spanien und Deutschland mutet diese Vorstellung des einen Feldgenerals altbacken an.

Wie bescheiden Bayerns Mannschaft zusammengestellt war, wurde in der Saison nach Ballacks Abgang erkennbar. Auch mit dem Aggressive Leader Mark van Bommel, der ja endlich die wichtigen Führungsqualitäten mitbrachte, wurde München nur Vierter. Für Bayern das schlechteste Ergebnis seit Menschengedenken, mussten sie doch damit in den Loser Cup. Im anschließenden Transferfenster gaben sie ebenso viel Geld für Neuzugänge aus (88,2 Mio.), wie in den vier Ballack-Jahren zusammen (88,45 Mio.). [9]

Ballack suchte derweil eine neue Herausforderung, und fand sie in London.

„Die Bayern haben mir damals ein neues Angebot über vier Jahre gemacht, aber ich habe gedacht: Wenn du die Champions League gewinnen willst, musst du dich noch mal verändern. Der andere Grund war, dass ich unbedingt im Ausland spielen wollte. Ich war 28 Jahre alt, als ich die Entscheidung traf, und das war für mich die letzte Chance, noch mal zu einem großen internationalen Verein zu gehen.“

~ Ballack im Interview 2011 [6]

Titel sammelte er gleich in der ersten Saison, allerdings nur nationale, FA- und League Cup. Chelsea war mittlerweile auch in die Falle getappt, eher nach Namen zu kaufen, denn nach Talent und Passform fürs System. Auch Abramovich wollte nach zwei Meistertiteln in Folge endlich die CL gewinnen.

Um Ballack und Lampard samt Essien, Makelele, Mikel und/oder Diarra in ein Team zu packen, wählte Mourinho die Raute, was keinem so richtig zu Pass kam. Am wenigsten Ballack, der meist in der Spitze spielen sollte. Schon in Leverkusen war er besser, wenn er aus der Tiefe kam. Auch Shevchenko – ebenfalls neu im Team – wirkte im Zwei-Mann-Sturm neben Drogba wie ein Fremdkörper.

Manchester United spielte 06/07 flüssiger, vielleicht den schönsten Fußball in der Ferguson-Ära, wurde mit sechs Punkten Vorsprung Meister.

Dass sich Spieler vom Kaliber und ähnlicher Spielweise wie Makelele, Essien, Lampard und Ballack unter einen Hut bringen lassen, zeigte ein halbes Jahr später Avram Grant. Mourinho hatte sich im Herbst mit Abramovich überworfen und wurde entlassen. Ballack war zu dem Zeitpunkt verletzt. Im April musste er sich am ewig-lädierten Knöchel operieren lassen. Dass die OP in München stattfand, wurde in London zum Politikum.

Im Dezember kehrte er zurück, wurde sofort wieder Stammspieler, das nächste halbe Jahr seine beste Zeit bei Chelsea. In Grants 4-3-3 (mit Essien oder Makelele (defensiv) und Lampard) war er bestens aufgehoben, besaß mehr Freiheiten und Bewegungsraum, harmonierte hervorragend mit dem Vize-Kapitän. Im Vorjahr zwar fast komplett dabei, schoss er nur vier Tore. Nun waren es sieben in 18 Spielen. Wurde er zu Beginn noch für teils lethargische Spielweise gescholten, avancierte er in diesem Zeitraum zum Antreiber und Taktgeber.

Seine Sternstunde kam spät im Meisterrennen: Am 36. Spieltag ging es daheim gegen Man United, Chelsea siegte dank zweier Ballack-Tore mit 2:1, zog gleichauf. Doch United gewann seine verbleibenden zwei Spiele, Chelsea nur eines.

Noch im Mai sollte es zum Wiedersehen mit United kommen.

Die letzte Chance

Der Meister aus Manchester hatte wohl den schwereren Weg ins CL-Finale, schaltete in der K.O.-Phase Lyon, Roma und Barcelona aus; Chelsea kam gegen Olympiakos, Fenerbahce und Liverpool weiter. In Moskau standen sich die zwei absoluten Schwergewichte im englischen Fußball gegenüber; the irresistible force vs. the immovable object.

Wer im Zusammenhang mit Michael Ballack über unvollendet redet, kann nur dieses Spiel meinen. 2002 war allein der Finaleinzug von Leverkusen eine Sensation, in München nie in Reichweite. Sechs Jahre nach Glasgow standen die Sterne für Ballack scheinbar in der richtigen Konstellation. Seine gesamte Rückrunde war das letzte Hurra, seine Form so gut wie zuletzt 2006. Nie würde er sie danach wieder erreichen.

Über 90, dann 120, Minuten hatte Chelsea die Nase knapp vorn, zahlreiche Chancen, das Spiel zu entscheiden. Im Mittelfeld hatten sie durch ein 4-1-4-1 (Makelele hinter Ballack und Lampard) zahlenmäßige Vorteile. Essien verteidigte hinten rechts in der Viererkette. United trat im zentralen Mittelfeld mit Scholes und Carrick an.

Chelsea suchte mit langen Bällen Drogba. Der machte die Anspiele fest oder ließ auf die nachrückenden Lampard oder Ballack abtropfen. In der Anfangsphase arbeitete Ballack gut gegen den Ball, war jedoch noch nicht so sehr ins Offensivspiel eingebunden. Insgesamt dominierte zunächst United, besonders über links mit Evra und Ronaldo. Ronaldo traf per Kopfball zum 1:0, stand dabei förmlich in der Luft.

Die Reaktion zum Rückstand? Hatte Ballack seine Aufgaben die erste halbe Stunde nach Vorgabe erfüllt, drehte er nun auf. Im ersten Gegenzug setzte er einen Fernschuss neben das Tor; erzwang mit einem Kopfball eine Ecke; setzte einen Freistoß knapp drüber; zog nochmals in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit aus der Distanz ab.

Der Ausgleich fiel eher aus dem Nichts: ein Fernschuss von Essien, zweimal abgeprallt, Van der Sar rutschte weg, Lampard staubte ab.

Ballack in der Folge nicht mit vielen Spielanteilen, wenn, dann aber sicher. Nur Joe Cole sammelte mehr Kilometer. Die Mannschaft wurde insgesamt besser, dominierte die zweite Halbzeit und die Verlängerung. Chelsea gab insgesamt doppelt so viele Torschüsse ab, nur Drogba mehr als Ballack (6 zu 5). Drogba traf zudem den Pfosten, Lampard nach Vorlage Ballacks die Latte.

Zwei Minuten vor Schluss sah Drogba Rot. Und John Terry musste im Elfmeterschießen ran.

Fortsetzung folgt. Bis erschienen in dieser Reihe:

Ballack Begins

Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den… Weiterlesen

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Referenzen
[1] 11Freunde: “”Man darf sich nicht nur über Fußball definieren””
[2] Reisner, Dino (2005): Michael Ballack – Die Story des Fußball-Superstars. Gründwald: Copress Sport
[3] RP Online: “Kahn poltert gegen Team-Kameraden”
[4] Sport1.de: “Des Kaisers Wutrede” (Video)
[5] Harald Schmidt: “Uli Hoeneß schimpft” (Video)
[6] 11Freunde: “”Wenn du erst mal dreißig bist, wird es eng””
[7] Frankfurter Allgemeine Zeitung: “Unterschrift bei Chelsea – Seitenhieb gegen Bayern”
[8] n-tv: “Rummenigge ledert los”
[9] transfermarkt.de: “FC Bayern München – Alle Transfers”

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei aquafisch für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von aquafisch gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-NC 2.0

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https://120minuten.github.io/traenen-im-mai/feed/ 0 2063
Der Trainer meines Lebens https://120minuten.github.io/der-trainer-meines-lebens/ https://120minuten.github.io/der-trainer-meines-lebens/#comments Thu, 24 Mar 2016 08:00:01 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1993 Weiterlesen]]> Autor: Cihan, Der Letzte Zehner

Fußball ist mehr als ein sportlicher Wettkampf. Manchmal begegnet man auf und neben dem Fußballplatz Menschen, die einen prägen, die einen mitreißen, die einen besonderen Platz im Leben einnehmen. Autor Cihan schreibt über eine solche Begegnung und das besondere Verhältnis zu seinem Trainer, von dem er Abschied nehmen musste. 

Für Ihn.

Vor einigen Wochen hatte ich mein Handy in der Hand und überlegte, ihn kurz anzurufen. Ich saß zuhause und hatte eben mitbekommen, dass der Verein, bei dem er mich zuletzt trainierte, ihn entlassen hatte. Wir hatten uns inzwischen ein halbes Jahr lang nicht gesehen, doch ich kannte ihn gut genug, um zu ahnen, dass ihn die Sache sehr getroffen haben musste.

Ein kurzes Hallo, ein aufrichtiges Mach-dir-nix-draus, zum Schluss noch ein Bis-bald-dann-mal, es hätte gereicht. Doch es ist ja immer so: Sobald man wirklich überlegt, ob man jemanden anrufen soll, ist es schon zu spät. Ich ließ es also bleiben. Ausreden hatte ich genug: Er hat bestimmt genug um die Ohren jetzt. Ich ruf ihn einfach in ein paar Tagen an. Irgendwo wird man sich schon über den Weg laufen.

Im Nachhinein ärgert es mich, denn ein Anruf wäre in einer solchen Situation und nach all dem, was wir zusammen durchgemacht haben, nur folgerichtig gewesen. Vielleicht ist es deshalb eine Art Trost für mein Bewusstsein, ein Ablenken in Richtung bessere Zeiten, dass ich in den letzten Tagen immer wieder an unser erstes richtiges Gespräch denken muss.

Es ist vier Jahre her. Ich war damals sehr gespannt auf ihn, denn sein Name hat bei uns in der Gegend einen besonderen Klang. Was vor allem daran liegt, dass er es einst als Fußballer in die Bundesliga schaffte. Das liegt zwar schon eine lange Zeit zurück, aber der lokale Ruhm eines Fußballprofis blättert ja nie so richtig ab, zumal es aus unserer Gegend nur sehr wenige zum Profi gebracht haben. Doch auch als Trainer eilte ihm sein Ruf voraus, spätestens seit er einen Verein aus der benachbarten Region in die Oberliga führte und dort als Vereinshelden galt. Und ich wusste bereits, dass er sehr viel von seinen Spielern fordert. Das hatte ich von einem früheren Spielertrainer mitbekommen, der mich bei meiner zweiten Station als Aktiver trainierte und für mich eine Art spielerisches Vorbild war. Weil er auf derselben Position wie ich spielte, und zwar genau so, wie ich es auch einmal beherrschen wollte: technisch stark, mit Übersicht, immer der entscheidende Mann. Nach einer Trainingseinheit nahm er mich damals zur Seite und sagte mir in vier Worten, was mir seiner Meinung nach noch fehle: “Ein echter Zehner grätscht.” Den Satz habe ihm „der beste Trainer, den ich je hatte“ immer und immer wieder eingetrichtert. So kannte ich also eines seiner fußballerischen Grundprinzipien, lange bevor ich ihn kannte.

Und jetzt saß mir dehabiger1r Mann mit dem guten Ruf und der großen Reichweite zum ersten Mal gegenüber. Er hatte mich schon in der ersten Trainingswoche nach einer Einheit in sein Zimmer gebeten, das gleich neben unserer Kabine war. Er war damals als neuer Trainer nach Bad Friedrichshall gekommen, wo ich schon seit einigen Jahren spielte. Wir waren gerade in die Bezirksliga abgestiegen, was im Vergleich zu seiner vorherigen Karriere eher niedrigeres Niveau war. Ich glaube sogar, dass er vorher nie so niedrig gespielt oder trainiert hatte. Doch er hatte vor dem feststehenden Abstieg für beide Ligen zugesagt und ging die Sache mit großem Engagement an, zumal er bei diesem Verein mit dem Fußballspielen begann.

“Du wirst bei mir immer spielen.”

Das war sein erster Satz. Er sagte, dass er mich für einen sehr guten Fußballer halte, dass er denke, dass ich eigentlich in einer höheren Liga spielen sollte, und dass er mir dabei helfen wolle, von nun an mein Potential auszuschöpfen. Und er sagte: „Denk immer dran: Bei mir darfst du auch Fehler machen. Mir ist egal, was die Leute denken oder sagen. Konzentrier dich einfach nur auf dein Spiel.“

Ich verstand das als Hinweis darauf, dass er über meine jüngste Vergangenheit informiert war. Ich war nämlich bei den Stammzuschauern ziemlich umstritten, was an meiner mangelnden Konstanz lag. An guten Tagen konnte ich als Zehner lässig die Fäden ziehen, hin und wieder mit entscheidenden Toren oder Pässen auch den Unterschied ausmachen. Manchmal kam ich aber schon nach den ersten zwei Fehlpässen zu sehr ins Grübeln und war für die restlichen 86 Minuten nicht mehr zu gebrauchen. Und da ich vom Spielertyp her nie zu der vor allem auf ländlichen Sportplätzen verehrten Sorte ‚grätschendes Kampfschwein‘ gehörte, kam bei der Rentnerfraktion an der Seitenlinie schnell der Verdacht auf, es mangle mir an Kampfgeist und der richtigen Einstellung. Das Ganze war vergleichbar mit dem ewigen Mesut-Özil-Dilemma, nur ein paar Ligen weiter unten.

„Was die da hinter mir rumbruddeln, interessiert mich als Trainer nicht“, sagte er und machte über seiner rechten Schulter eine abwinkende Geste nach hinten. Gleichzeitig machte er mir aber auch klar, dass seine hohe Meinung von mir kein Freifahrtschein sei, sondern dass er im Gegenzug vollen Einsatz von mir erwarte. Nur dann gelte sein Versprechen, und dann werde er immer hinter mir stehen.

Nach dem Gespräch saß ich wieder an meinem Platz in der Kabine, war inmitten von lauter Musik und johlenden Dialogen ganz mit meinen Gedanken beschäftigt und fasste das Gespräch nochmal für mich zusammen. So hatte noch nie ein Trainer mit mir gesprochen. So hatte vielleicht sogar noch nie ein Mensch mit mir gesprochen. Es kam mir sehr ungewöhnlich vor, dass mir jemand schon beim ersten Gespräch solch aufrichtige Komplimente machte. Seine Worte machten mich stolz und glücklich und aufgeregt.

Sein Vorgänger war ein eher reservierter und kühler Schullehrer, der zwar auch immer freundlich zu mir war, der aber – wie ich erst nach seinem Weggang erfuhr – beim Vorstand dafür plädierte, dass ich mir einen neuen Verein suchen solle. Er hielt mich für einen Trainingsweltmeister und sagte den Verantwortlichen, dass er nicht mehr mit mir arbeiten wolle. Und jetzt saß einer, der schon alles im Fußball gesehen hatte, vor mir und sprach mir von vornherein sein absolutes Vertrauen aus. Ich wusste nicht genau, wie ich das alles einordnen sollte. Eins wusste ich aber genau: Er hatte mich auf seiner Seite.

Die Ansprache, die er an mich gerichtet hatte, wurde sicher nicht jedem Dahergelaufenen zuteil, und sie kam ehrlich rüber. Er entschied sich dazu, einen Schritt auf mich zuzugehen. Und das wollte ich zurückzahlen, so gut ich konnte. An diesem Tag wurde er für mich also auf einen Schlag zum Verbündeten, egal was noch zwischen uns passieren sollte.

cihan1Er machte seine Ankündigung wahr und gestand mir sowohl taktisch als auch im persönlichen Umgang eine Sonderrolle zu. Er gab mir immer das Gefühl, dass es ihm persönlich wichtig war, dass ich guten Fußball spielte. Schon in der Vorbereitung nahm er mich sehr oft zur Seite, wies mich auf Fehler hin, gab Tipps:

„Du musst noch schneller spielen.“

„Zwei Ballkontakte, nicht mehr. Je einfacher du spielst, umso besser.“

„Ich will nicht mehr sehen, dass du nach einem Pass stehen bleibst.“

Ich fühlte mich gestärkt und spielte unter ihm befreiter als vorher. Doch wie angekündigt erwartete er im Gegenzug auch viel von mir. Als wir ein Testspiel gegen einen unterklassigen Gegner gewannen und ich zwei Tore erzielte, wollte ich nach dem Abpfiff gerade ziemlich zufrieden vom Platz. Er aber marschierte sofort aufs Feld, blieb vor mir stehen, drückte mir den Zeigefinger zwei Mal auf die Brust und sagte: „Wenn du irgendwann mal doch auf der Bank sitzen solltest, wird es allein deine Schuld sein.“ Ich wusste nicht, was los war. Er erklärte es: Das Ergebnis war ihm egal, meine Tore auch, ich hatte für seinen Geschmack viel zu viel gedribbelt und zu spät abgespielt.

Selbst als ich bei einem Testspiel verletzt war und von der Ersatzbank aus zusah, setzte er sich immer wieder neben mich und erklärte mir, welcher Spieler gerade welchen Fehler begangen hatte und wie man es hätte besser machen können. Er war wie ein laufendes Taktikbuch, er schien für jede Spielsituation eine Lösung zu haben.

Schon in den ersten Wochen fiel mir noch eine Sache auf, für die ich in die Klischeekiste greifen muss: Dieser Mann lebte Fußball. Er machte vor jedem Training das 5-gegen-2 mit und spielte noch immer genauere Pässe als wir alle. Er zog für jedes Spiel seine Kickschuhe an, und obwohl er bereits jenseits der 50 war, hatte er seinen eigenen Spielerpass und war für den Fall der Fälle immer einsatzbereit.

In jeder Spielsekunde stand er direkt an der Seitenlinie, dirigierte, schrie, gab Anweisungen mit ganz eigener Wortwahl:

„Alleine!“
=Versuche, irgendwie zum Abschluss zu kommen

„Fahr heim!“
=Spiele einen Rückpass

„Net über de Winkel!“
=Du sollst keinen ‚blinden‘ Pass spielen, ohne den Mitspieler im Blick zu haben

„Batsch!“
Das Wort war eines seiner Markenzeichen und stand als Vertonung für mehrere Vorgänge: Schießen, Kombinieren, prallen lassen, in den Zweikampf gehen usw.

habiger2Ich hatte noch nie einen Trainer erlebt, der jedes Spiel von außen so sehr miterlebte, mitfühlte, mitlitt. Als wir in der letzten Minute einer Partie eine Riesenchance zum 3:3 hatten, stand er bereits an der Eckfahne, als nehme er selbst am Angriff teil. Der Ball ging nicht rein. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er vor lauter Frust losrannte und ein paar Meter weiter – kein Scheiß – einen Purzelbaum schlug. Nach dem distanzierten Taktiker vor ihm war seine Art für uns alle ein kleiner Kulturschock, wir waren solch emotionalen Input von der Seitenlinie nicht gewöhnt. Doch wir liebten ihn. Als wir einmal mit der Mannschaft essen waren, drückte es ein Mitspieler so aus: „Für den will man sich einfach immer zerreißen.“

Sobald das Spiel vorbei war, wurde er immer sofort wieder zum Kumpeltyp. Schon in der ersten Trainingswoche erklärte er vor versammelter Mannschaft, dass es alle bitte unterlassen sollten, ihn zu siezen: „Dieses ‚Herr‘, das ich schon ein paar Mal gehört habe, das passt nicht zu mir“, sagte er. „Da wird mir ganz komisch. Nennt mich einfach Coach.“

Er hatte eine ganz eigene Art von Humor, eine Form der Kommunikation, die nur schwer in Worte zu fassen ist. Alleine durch Betonung, Gestik und Mimik wurden einfache Sätze zu Klassikern, über die wir heute noch lachen. Taktische Ansprachen vor den Spielen, in denen er ein paar Sätze an jeden einzelnen Spieler richtete, waren immer Belehrung und Unterhaltung zugleich. Wenn er auf seiner Taktiktafel die runden Magnete hin- und herschob und bei jenem ankam, das meinen Landsmann und Nebensitzer darstellen sollte, der für seine rustikale Spielweise bekannt war, blickte er durch den Raum an und fragte grinsend: „So jetzt, wo isch er wieder, mein Bulle vom Bosporus?“ Wenn es um unseren Mittelstürmer ging, sagte er immer: „Spielt den Jungen an in der Box, da gibt‘s keinen Besseren!“ Beim Wort „Box“ wackelte er mit dem Zeigefinger schräg über Kopfhöhe in der Luft und sah grinsend zu ihm hoch. Als ein Mitspieler in der 90. Minute mit einem Schuss genau in den Winkel den Sieg besorgte, lobte Coach ihn danach in der Kabine: „Da ist dir aber einer abgerutscht!“

So sprach kein anderer. Deshalb lachte man an den richtigen Stellen und hörte gerne zu, folgte jedem Wort. Oder die Sache mit Mertesacker und ihm, auch unvergessen. Nach jedem Spiel der Nationalmannschaft meckerte er über dessen Spielweise: „Habt ihr gestern wieder den Langen gesehen? Der nimmt jeden Ball, sucht immer den Lahm und ist froh, wenn er die Kugel schnell wieder los ist. Da spiel ich ja heute noch bessere Pässe mit dem Außenrist!“ Jeder, der gesehen hätte, wie er Mertesacker dazu mit großen Ausholbewegungen und hölzernen Zuckungen imitierte, hätte sich genau wie wir vor Lachen nicht gekriegt.

Und er war ein großer Geschichtenerzähler. Vor allem nach Niederlagen wurde es zu einer Art Ritual, dass er das Warmmachprogramm mitmachte, danach eine Weile mit uns auf dem Rasen zusammensaß und uns von seiner Zeit als Profi in den achtziger Jahren erzählte. Wie er zum VfB Stuttgart kam und schon nach dem ersten 5-gegen-2 dachte, das alles sei eine Nummer zu groß für ihn. Wie er im nächsten Training dann Günther Schäfer von den Beinen holte und sich den Respekt der etablierten Spieler verdiente. Dass sein Trainer Jürgen Sundermann am Anfang fast nie mit ihm sprach, dann aber eines Tages ein Trikot auf seinen Platz in der Kabine legte und sagte: „Guck nich‘ so, du spielst heute.“ Dass er gegen Arminia Bielefeld eine Halbzeit lang von einem kleinen, schnellen Finnen überrannt wurde und in der Pause erschöpft um seine Auswechslung bat. Nur vom Höhepunkt seiner Karriere, dem Bundesliga-Treffer gegen die Bayern, wollte er nie viel erzählen. Wahrscheinlich hatte er es über all die Jahre schon zu oft erzählen müssen. Dank YouTube wussten wir aber immerhin, dass die Sache mit dem Purzelbaum nicht von ungefähr kam:

Um als Fußballer einem Trainer wirklich zu folgen, musst du ihn gleichzeitig mögen und fürchten. Wer als Trainer nur eines der zwei Extreme verkörpert und das andere vernachlässigt, wird irgendwann entweder nicht mehr ernstgenommen oder bringt seine Mannschaft gegen sich auf. Dieses notwendige Gleichgewicht aus Nähe und Autorität bekam er hin wie kein anderer. Denn bei all den Lachern und seiner Fürsorge war er auch ein harter Hund. Wenn er im Training etwas erklärte und sich zwei Spieler weiter miteinander unterhielten, schickte er uns alle zum Laufen. Als ein Spieler, der für viel Geld gekommen war, sich seinen Anweisungen ein paar Mal widersetzte, erfuhren wir vor einer Trainingseinheit, dass er nicht mehr unser Mitspieler war. Bei seinem letzten Verein hatte er einen Spieler abgesägt, weil der sich weigerte, in der zweiten Mannschaft auszuhelfen. Als der Spieler trotzdem auf den Sportplatz kam und Coach von der örtlichen Zeitung gefragt wurde, ob der Spieler eine zweite Chance bekäme, antwortete er nur: „Vielleicht wollte er mir ja seine neue Frisur zeigen. Das Thema ist durch.“

Er setzte also gleichermaßen auf Zuckerbrot und Peitsche. Und das vor allem bei mir.

Seine hohe Meinung von meinen Fähigkeiten brachte er immer wieder zum Ausdruck. In persönlichen Gesprächen, in Ansprachen vor der Mannschaft, selbst wenn er mit den anderen im Sportheim zusammensaß und ich einmal nicht dabei war, bekam ich es später mit: „Der Alte hat wieder nur von dir geschwärmt.“ Er gab mir und meiner Spielweise sogar einen Spitznamen und rief mich manchmal „Streichler“. Weil es mich jedes Mal aufs Neue stolz machte, weiß ich noch jedes Wort, das er dafür gebrauchte:

„Denk immer dran, du kannst alles.“

„Ich habe selten einen solchen Spieler gehabt.“

Und immer wieder:

„Du bist ein außergewöhnlicher Fußballer.“

Einmal sagte er auch: „Wenn ich deine Technik gehabt hätte, wäre ich Nationalspieler geworden.“ Es war in erster Linie ein weiteres Lob, zeigte mir aber gleichzeitig auch meine Schwächen auf. Denn wenn all das stimmte und ich von den Anlagen tatsächlich alles mitbrachte, trotzdem aber in der Bezirksliga spielte, hieß das ja im Umkehrschluss auch, dass ich zu wenig daraus machte. Und heute weiß ich: Hätte ich als Fußballer seinen Biss und seine Aggressivität, wäre viel mehr drin gewesen. Vielleicht war das auch der Grund für die besondere Wertschätzung zwischen uns. Wir bewunderten uns gegenseitig für Stärken, die wir selbst nicht hatten.

Da es mir nicht in jedem Spiel gelang, seine Vorgaben umzusetzen, entstand zwischen uns ein dauerhaftes Spannungsverhältnis. Manchmal fühlte ich mich wie der Sohn des Lehrers, der von seinem Vater strenger benotet wird als seine Mitschüler. Als wir in einem wichtigen Spiel zur Halbzeit 0:3 zurück lagen, ließ er in der Kabine eine Wutrede los. Als sie vorbei schien und alles leise war, fragte er mich vor allen anderen in ruhigem Ton: „Hast du heute schon einen Zweikampf geführt? Probier‘ es mal.“ Dazu kam ich aber nicht mehr, denn er wechselte mich noch in der Halbzeit aus. Manchmal rief er: „Noch ein Fehlpass, und ich hol dich runter!“ Einmal hörte ich ihn schreien: „Geh‘ endlich mit nach hinten, sonst reiß ich dir die Eier raus!“

Klingt böse, oder? War es aber nicht. Coach war eben oldschool. Sobald der Ball rollte, gab es keinen Platz für Empfindlichkeiten, damit musste jeder unter ihm zurechtkommen. Fand ich das häufige Anschreien gut? Nein. Nahm ich es ihm übel? Niemals. Seine persönliche Meinung von mir und seine Beweggründe, die er mir von Anfang an mitgeteilt hatte, relativierten und legitimierten jede Kritik. Wenn die anderen mich darauf ansprachen, wenn sie sogar nachmachten, wie er nach Fehlern meinen langgezogenen Vornamen über den ganzen Platz schrie, lachte ich zwar mit, dachte aber nur: Jungs, ihr versteht nicht. Er hat es mir am ersten Tag schon erklärt. Er will nur das Beste.

Einmal kam es aber doch fast zum Bruch.

Das Spitzenspiel stand an, die zwei Aufstiegsaspiranten im direkten Duell. Wir gegen Heilbronn. Alle redeten wochenlang nur von diesem Spiel. 800 Zuschauer waren da, für unsere Verhältnisse war das wie das ausverkaufte Olympiastadion. Wir hatten sie zuvor im Pokal geschlagen und gingen mit viel Selbstvertrauen ins Spiel. Und dann erwischte ich einen ganz miesen Tag. Nichts wollte klappen, ich brachte kaum einen Ball an den Mann. Ich hatte mich so sehr auf dieses Spiel vorbereitet, doch jetzt irrte ich über den Platz und fand einfach keinen Zugriff. Nach einer halben Stunde nahm er mich aus dem Spiel. Vor all den Zuschauern, vor meiner Familie und meinen Freunden. Sie schossen uns mit 4:0 ab, während ich auf der Bank saß und mir nicht anmerken ließ, wie sehr mich die Höchststrafe mitnahm. Zuhause aber legte ich mich sofort ins Bett, stand den ganzen Tag lang nicht mehr auf und war sauer auf alles. Auf mich, auf ihn, auf die Welt. Ich wusste ja, dass ich einen Stiefel gekickt hatte, aber hätte er die paar Minuten bis zur Halbzeit nicht warten können?

Vor dem nächsten Training wollte ich mit ihm darüber reden. Schon als er sah, dass ich in seine Richtung lief, kam er mir entgegen. Wir führten ein langes Gespräch und waren uns nicht in allem einig, aber es war kein Streit. Er erklärte seine Entscheidung und sagte: „Ich werd‘ dich nicht in Ruhe lassen, bis ich dich da habe, wo ich dich sehen will.“ Als er dann in einer langen Ansprache vor der Mannschaft auf das Spiel einging, sagte er über mich: „Jetzt hat er halt mal dran glauben müssen. Auch wenn er es jetzt nicht weiß, habe ich das auch für ihn gemacht. Und im nächsten Spiel wird er wieder spielen! Bis er es kapiert.“ Bei den letzten Worten schlug er mit einer Hand wiederholt vor sich in die Luft, wie ein Richter mit seinem Hammer nach der Urteilsverkündung.

Es war nicht immer leicht, sich in der Grauzone zwischen Schützling und Blitzableiter zurechtzufinden. Doch mit der Zeit zeigten seine Methoden ihre Wirkung. Als ich einmal im Training mit einem zu gewagten Pass einen Konter einleitete, stoppte er das Abschlussspiel mit einem lauten Pfiff und marschierte aufs Feld. Er wies mich an, bis zum Ende der Einheit um den Platz zu laufen und nahm meine Position ein. Danach schrie er nach jedem erfolgreichen Pass laut und deutlich: „So macht man das!“ – „Einfach spielen!“ – „Das ist Fußball!“ Jeder wusste, an wen die Ausrufe gerichtet waren. Nach dem Training kam er in die Kabine und gab mir wortlos einen kurzen, festen Handschlag.  Zwei Tage später gewannen wir auswärts mit 6:1, ich machte in den ersten zehn Minuten zwei Tore. Und so ging es dann in den folgenden Wochen weiter. Ich spielte, ich traf, wir gewannen, alles lief. Wir waren auf Aufstiegskurs.

Dann brach unsere Saison innerhalb von wenigen Wochen in sich zusammen. Der alte Vorstand ging, ein neuer Vorstand kam, zwischen Vorstand und Trainer kam es zu Unstimmigkeiten bezüglich seines Vertrags. Vor einer Trainingseinheit rief er mich in sein Zimmer und erklärte mir die Situation. Der neue Vorstand wollte die Kosten senken und erkannte seinen vorher geschlossenen Vertrag nicht mehr an. Das wiederum wollte er nicht akzeptieren, innerhalb weniger Tage kam es zum Bruch. Jetzt wollte er nur noch die Saison anständig zu Ende bringen, dann musste er weg, denn beide Seiten konnten nicht mehr zusammenarbeiten. „Und das gerade jetzt, wo ich dich endlich so weit hatte“, sagte er. Im nächsten Spiel machte ich ein Freistoßtor, rannte zu ihm an die Seitenlinie und sprang ihm in die Arme. Es war keine geplante Aktion, eher ein spontaner Abschied.

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Ein paar Tage danach war er weg. Was nach unserem Gespräch genau passierte, ob er doch sofort aufhören wollte oder entlassen wurde, erfuhren wir nicht. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass es nicht freiwillig passiert war. Er hätte uns nicht mitten auf dem Weg zur Meisterschaft hängen lassen. Kurz darauf erfuhren wir aus der Zeitung, was er im Gespräch mit mir nicht erwähnte: Er hatte sich für die nächste Saison mit Heilbronn geeinigt, unserem größten Konkurrenten. Dass er ausgerechnet nach Heilbronn ging, war für uns zunächst ein Schock, viele waren enttäuscht. Ohne ihn ging nicht mehr viel zusammen, wir schlossen die Saison im Tabellenmittelfeld ab und verloren auch das Pokalfinale, auf das er mit uns hingearbeitet hatte, im Elfmeterschießen.

Als die Saison vorbei war und er mich anrief, war ich wenig überrascht. Ich hatte es irgendwie geahnt, irgendwie auch gehofft. Er fragte, ob ich Interesse hätte, mit ihm zu seinem neuen Verein zu wechseln, und lud mich zu sich nach Hause zu einem Gespräch ein. Es war das erste Mal, dass ich ihn außerhalb des Fußball-Alltags traf. Bis dahin wusste ich über sein Leben abseits des Fußballs eigentlich nur, dass er im Krankenhaus arbeitete. Jetzt bewunderte ich sein großes Haus mit Pool, lernte seine Frau kennen und saß mit ihm am großen Tisch im Wohnzimmer. Er erzählte mir, dass er uns nicht mitten in der Saison verlassen wollte, sondern gegangen wurde, ohne dass er sich von der Mannschaft verabschieden durfte. Wir waren uns einig, dass sein Weggang zum falschen Zeitpunkt kam, gerade als wir dabei waren, die Früchte unserer turbulenten Zusammenarbeit zu ernten.

Dann sagte er: „Lass uns da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“ Ich erbat mir Bedenkzeit. Nach zwei Wochen und langem Überlegen sagte ich ihm ab, weil ich zu viele Freunde in meiner damaligen Mannschaft hatte und ich den dortigen Zusammenhalt nicht missen wollte. In der Saison ohne ihn sicherten wir den Klassenerhalt erst am letzten Spieltag, während er mit Heilbronn in der Aufstiegsrelegation scheiterte. Genau ein Jahr nach dem Treffen bei ihm zuhause saßen wir erneut zusammen, diesmal in der Pizzeria am Heilbronner Frankenstadion.

Ich wusste von Anfang an, dass ich mir mit dem Wechsel nicht viele Freunde machen würde, denn auf den ersten Blick sah die Sache für Außenstehende klar aus: Kaum spielt sein Verein ein schwächeres Jahr, haut er ab und rennt für mehr Kohle zum FC Hollywood der Umgebung. Und es fiel mir nicht leicht, meine alten Freunde zu verlassen und zur Konkurrenz zu gehen. Zwei meiner engsten Kumpels aus der Mannschaft etwa machten ihren Verbleib von meiner Entscheidung abhängig und schrieben mir in einer eigens dafür eingerichteten Whatsapp-Gruppe: „Wenn du bleibst, bleiben wir auch.“ Da hatte ich Coach aber bereits zugesagt.

Ich musste einfach herausfinden, wie meine weitere Entwicklung unter ihm  aussehen würde. Wir hatten uns in unserem gemeinsamen Jahr aneinander abgearbeitet, uns gegenseitig aufgebaut und frustriert, und gerade als wir die richtige Mitte gefunden hatten, war es vorbei. Und das sahen wir beide nicht ein. Wir wollten den gemeinsamen Weg weitergehen, auch wenn es nur an einem anderen Ort mit anderen Bedingungen ging. Auch diesmal spielte er mit offenen Karten und sagte: „Du weißt, dass du bei mir immer einen gewissen Vorsprung gegenüber anderen hast. Aber der Konkurrenzkampf bei uns wird größer sein. Dem musst du dich stellen.“ Ich fühlte mich bereit.

So kam ich also zum ambitioniertesten und kontroversesten Achtligisten der Welt. Ich hatte einige Jahre zuvor bereits in Heilbronn gespielt, doch die Umstände waren andere. Ganz früher war höherklassiger Fußball in Heilbronn normal und der VfR Heilbronn in Sachen Fußball der große Stolz der Region. Nach der Jahrtausendwende folgten aber die Insolvenz und die Umbenennung zum FC Heilbronn. Da aber auch der FCH nach einigen Jahren den Bach runterging, kam es 2012 zur Fusion mit der Union Böckingen. So hieß der Verein aus dem gleichnamigen Stadtteil, der über Jahrzehnte der große Rivale des VfR gewesen war. Die Fusion der zwei großen Traditionsklubs sollte den Weg zurück nach oben beschleunigen, in seinen ersten Jahren scheiterte der neue Verein aber jedes Jahr knapp am Aufstieg. Dass ein Verein, dessen Vorgänger es in den siebziger Jahren bis in die 2. Bundesliga schaffte und sich in den folgenden Jahrzehnten in der Oberliga etablierte, so tief gefallen ist, sorgt für viel Spott bei der Konkurrenz und für immer mehr Frust in den eigenen Reihen. Allein die Größe der Stadt und Erinnerungen an sportlich glorreichere Zeiten bescheren dem Verein aber eine Reichweite, die es auf diesem Niveau normalerweise nicht gibt. Er hat einen eigenen Fanclub mit treuen Mitgliedern, der in jedes noch so kleine Dorf fährt, um die Mannschaft dort mit Trommeln und Schlachtrufen zu unterstützen. Ein Kamerateam ist ebenfalls bei jedem Spiel vor Ort und zeichnet es auf, um die Zusammenfassung im Internet bereitzustellen.

Vor dem ersten Training begrüßte mich Coach per Handschlag und sagte nur ein Wort, als wollte er meine ganze kommende Saison unter ein Motto stellen: „Herausforderung!“ Auch diesmal gab er mir eine besondere Form der Starthilfe, und das nicht nur, weil er mich in einer seiner ersten Ansprachen vor der neuen Mannschaft als „mein Lieblingsspieler“ vorstellte. Als das erste Spiel der Vorbereitung anstand, hatten wir erst eine Woche Training hinter uns. Ich kannte den Großteil der Mannschaft noch kaum. Vor dem Spiel brachte ein Betreuer den Trikotkoffer in die Kabine, legte einen Zettel aus und rief: „Nachricht vom Trainer: Die Rückennummern auf dem Zettel gelten für die ganze Saison.“ Alle Spieler versammelten sich sofort um das Blatt, nach drei Sekunden drehte sich einer in meine Richtung und sagte halb überrascht, halb misstrauisch: „Krass, als neuer Spieler gleich die 10…“ Als wir vor Beginn der Saison ein Video drehten, in dem wir Neuzugänge nacheinander vom Kapitän angekündigt wurden und uns dann kurz vorstellen mussten (was nicht nur bei mir ziemlich unbeholfen rüberkam), wurde ich auch gleich auf die Sache mit der Rückennummer angesprochen.

Ein paar Wochen später, erstes Auswärtsspiel der Saison. Auf dem Weg zur Gästekabine blieb ich kurz vor der offenen Kabinentür des Gegners stehen, um sicherzugehen, dass ich richtig sah: In der Kabine hingen mehrere Zettel, auf denen zur Motivation unseres Gegners verschiedene selbstbewusste Aussagen und Prognosen aus unserem Interview-Video standen. Wir verloren das Spiel, ließen in den Wochen danach weitere Punkte liegen und waren weit von der Tabellenspitze entfernt. Schon kurz nach der Niederlage tauchte eine ziemlich gute Parodie unseres Videos aus der Vorbereitung im Internet auf.

In Heilbronn war alles anders. Der interne Konkurrenzkampf war stärker, der Druck von außen größer, die Stimmung im Umfeld aufgeladener. Der Verein drohte an allen Enden aus den Nähten zu platzen. Das Einzige, das den Laden noch irgendwie zusammenhielt, war die Hoffnung auf den Aufstieg. Nach Niederlagen wurde von Zuschauern und Fans sofort alles und jeder infrage gestellt. Der sportliche Leiter, der es sich mit dem Fanclub schon seit längerem verscherzt hatte, musste sich bei schlechten Leistungen der Mannschaft immer wieder Rufe anhören, bei denen sein Nachname von einem „Raus!“ gefolgt wurde. Das alles entging auch der Konkurrenz nicht. In einem Heilbronner Nachtclub, in den ich nach einem Training mit ein paar Freunden gegangen war, zählte mir ein angetrunkener Fußballer aus der Region, den ich bis dahin nicht kannte, verschiedene Gründe auf, warum ich zum schlimmsten Verein überhaupt gewechselt sei. Und am Ende sagte er: „Du weißt schon, dass ihr diese Saison unbedingt aufsteigen müsst? Sonst ist der Verein tot.“ Das wisse er von einem guten Freund, der beim Hauptsponsor arbeite.

Trotz all der Aufregung und Kritik im Umfeld kam Coach auch hier mit seiner Art sehr gut an. Der Fanclub, der den armen sportlichen Leiter fast wöchentlich zum Teufel wünschte, stimmte für ihn in jedem Spiel Sprechchöre an, die Spieler waren ebenso auf seiner Seite. Er nahm den Druck von der Mannschaft, schirmte uns ab, schützte uns vor äußeren Einflüssen. Als wir uns im Württembergischen Pokal gegen einen Landesligisten mit 1:8 völlig blamierten, versammelte er uns nach dem Spiel im Mittelkreis und sagte, nicht wir hätten das Spiel verloren, sondern er, da er uns viel zu offensiv aufgestellt habe. Einen Funktionär, der uns immer kettenrauchend zusah und zu den größten Kritikern von Trainer und Team gehörte, imitierte er vor uns in der Kabine, indem er zwei Finger vor den Mund hielt und mehrmals an der imaginären Kippe zog wie ein Kind an seinem Nuckel.

Er war also immer noch der Alte,  doch unter den neuen Bedingungen machte unser Verhältnis zwangsläufig Änderungen durch. Mein ewiger Freifahrtschein hatte in der Form keine Gültigkeit mehr, sondern war zeitlich begrenzt. Ich brauchte einige Zeit, um mich im neuen Team zurechtzufinden, und hatte in meinen ersten Einsätzen noch nicht die alte Sicherheit. Nach den ersten Misserfolgen baute er die Mannschaft auf mehreren Positionen um und ich fand mich öfter auf der Bank wieder. Da die Mannschaft dann eine Siegesserie hinlegte, musste ich mich an die Nebenrolle gewöhnen, denn sie hielt mehrere Wochen an.

Es war nicht die Rolle, die wir beide für mich vorgesehen hatten. Natürlich war ich zwischendurch frustriert, in manchen Momenten verfluchte ich ihn sogar dafür – Du weißt doch, dass ich dein Vertrauen brauche und es dir zurückzahlen kann! Warum werde ich ständig angebrüllt? Wer lässt seinen Lieblingsspieler auf der Bank? – und auch wenn er es mir gegenüber so nie zum Ausdruck brachte, kann ich mir vorstellen, dass auch er so manches Mal dachte:  Ich hab‘ dir so oft gesagt, dass du alles kannst, warum zeigst du es mir nicht in jedem Spiel?

Ich hätte das Gespräch mit ihm suchen können, tat es aber nicht. Im Grunde hatte ich auch wenige Argumente, er hatte ja vorher angekündigt, dass ich diesmal schneller Leistung zeigen musste. Vielleicht wollte ich auch nicht die Gefahr eingehen, dass unser persönliches Verhältnis irgendwie unter der sportlichen Situation leiden könnte.

Wie schon in Friedrichshall blieb das Auf und Ab zwischen uns meinen Mitspielern nicht verborgen. Es gab auch ein Video, in dem er mit einigen Spielern im Sportheim saß. Es stand viel Bier auf dem Tisch, die Stimmung war gut. Sie lachten und sprachen ihn auf mich und seine Schreierei an. Er lächelte nur kurz und sagte: „Ich kenn den gut. Der braucht das.“ Ich war mir manchmal nicht mehr so sicher, ob ich es wirklich brauchte. Richtig sauer konnte ich auf den Mann aber trotzdem nicht sein.

Erst in der Rückrunde war ich wieder öfter in der Stammelf. Und da war sie dann wieder, die alte Dynamik zwischen uns. Gegen einen Abstiegskandidaten führten wir zur Halbzeit nur knapp mit einem Tor, bei dem ich die Vorlage gab. Er ließ uns eine Weile in der Kabine sitzen, kam dann rein und sagte, er müsse sich erst einmal setzen. Dann fragte er in die Runde: „Jungs, was bietet ihr mir da an?“ Es folgte eine fünfzehnminütige Standpauke. In meine Richtung meinte er, dass ich bis auf den Pass beim „Zufallstor“ nichts gezeigt hätte und in der zweiten Halbzeit auf links spielen solle – „Vielleicht klappt’s da ja besser.“ Im nächsten Training hatte er als Entschuldigung einen Kasten Bier dabei und stieß als Erstes mit mir an.

Wochen später, noch ein schlechtes Spiel. Nach dem Abpfiff blieb ich eine Weile auf dem Rasen stehen und tat so, als würde ich gerade unsere Niederlage verarbeiten. In Wahrheit wollte ich aber nur Coach aus dem Weg gehen, der mich zuvor während des Spiels wieder besonders oft gemaßregelt hatte. Während ich also den Sportplatz mit meinem Blick nach ihm absuchte, gab mir jemand einen Klaps auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah Coach, der mit seinem Enkel im Arm vor mir stand. Er lachte erst den Kleinen an, dann mich, und sagte: „Kennt ihr zwei euch eigentlich schon? Sag mal hallo zum Onkel!“

So ging das im Wochentakt, wir schwankten immer wieder zwischen Seelenverwandtschaft und Eskalation. Vor einem Heimspiel machten wir in der Kabine einen Kreis. Er hielt eine kurze Ansprache und rief als Letztes in meine Richtung: „Und du machst heute zwei Tore, ganz einfach!“ Er behielt Recht, und es war Zeit für einen weiteren gemeinsamen Torjubel.

Im Derby empfingen wir den Stadtrivalen zum Spitzenspiel, mit dem wir uns gerade ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Meisterschaft lieferten. Sie waren Erster, mit einem Sieg konnten wir sie überholen. Wir lagen lange Zeit mit 0:1 zurück, glichen dann aber aus. Drei Minuten vor Schluss stand ich vor dem Tor richtig, machte den Siegtreffer, hörte nur noch Jubelschreie von überall und sah, wie Coach in meine Richtung lossprintete. So eine Reaktion nach einem Tor hatte ich selbst bei ihm noch nie gesehen. Doch bevor wir uns zum gemeinsamen Jubel treffen konnten, wurde ich von Mitspielern an die Bande abgedrängt.

Nach dem Sieg fühlten wir uns mindestens wie die Könige der Welt. Denn jetzt hatten wir alles in der Hand. Nur noch ein paar Pflichtsiege, und der Aufstieg wäre endlich geschafft. Wir wollten alle diese Meisterschaft. Und wir wollten die von Coach dafür angekündigte Party in seinem Pool. In der Saison davor hatte er die Jungs nach dem Pokalsieg bereits eingeladen, von der legendären Feier hörte ich fast wöchentlich noch Geschichten.

Doch der Sieg im Spitzenspiel war dann doch bereits der Höhepunkt der Saison. Nach einigen unnötigen Punktverlusten blieben nur Platz 2 und die Aufstiegsrelegation, die ebenfalls erfolglos verlief. Gegen Ende der Saison entschied ich, ein Jahr Pause einzulegen. Ich wollte mir die Zeit nehmen, um ein Auslandspraktikum zu machen und eine schon länger benötigte Operation am Sprunggelenk nachzuholen. Als ich Coach davon erzählte, war er nicht begeistert, zeigte aber Verständnis. Er wollte, dass ich mir die Entscheidung gut überlege und wir uns eine Woche später beim Abschlusstraining wieder unterhalten sollten.

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Das wurde dann unser letztes ausführlicheres Gespräch. Während die anderen zum Abschluss der Saison ein lockeres Spiel auf zwei Tore machten, liefen wir einmal quer über die andere Feldhälfte und unterhielten uns, lehnten uns dann an der Seitenlinie an die Barriere und redeten weiter. Coach verriet mir, dass er auch nur noch ein Jahr in Heilbronn arbeiten wolle. Er erzählte von schwierigen Verhandlungen mit dem Vorstand, der nach dem erneut verfehlten Saisonziel am liebsten die halbe Mannschaft austauschen wolle. Als es um mich gegangen sei, habe er zu ihnen gesagt: „Der ist ein ganz eigener Spielertyp, glaubt mir! Der braucht nur das Vertrauen, vielleicht auch ein bisschen mehr als andere. Dann schießt der aber alles weg.“ Er sagte das mit einer Mischung aus Überzeugung und leichter Verzweiflung, als sei er selbst ein wenig traurig darüber, dass die Erwartungshaltung, der Druck von außen und die Dringlichkeit von schnellen Ergebnissen zu groß waren, als dass er seinen Lieblingsspieler so behutsam hätte aufbauen können wie zuvor.

Und auch ich fühlte ein wenig Wehmut, weil unser sportlicher gemeinsamer Weg erst einmal endete. Außerdem fühlte ich mich seltsam, da nach über 20 Jahren Fußball am Stück jetzt die erste richtige Unterbrechung anstand. Doch sie kam wohl zur rechten Zeit. Ich liebte und liebe Fußball mehr als alles andere, doch vielleicht brauchte ich einfach nur ein wenig Abstand, um dann irgendwann wieder einzusteigen und mich auf den Spaß am Spiel konzentrieren zu können, der bei all der Aufregung um Fußball manchmal sogar in den unteren Ligen in den Hintergrund rücken kann.

Wir standen noch lange an der Barriere und sprachen über alles Mögliche. Als das Training vorbei war, liefen wir mit den anderen los in Richtung Kabine. Er legte seinen Arm um meine Schulter, sah in die Ferne und sagte: „Hör bloß nicht für immer auf. Es wäre schade. Es wäre viel zu früh.“

Danach sahen wir uns nicht mehr. Ich ging für ein Praktikum nach Istanbul, bekam aber immer von meinen früheren Mitspielern mit, wie es in Heilbronn lief: Wieder den Saisonstart verhauen, immer lautere Kritik und Rufe nach Veränderungen im Verein, immer größere finanzielle Probleme. In der Winterpause dann der Eklat: Bei der Jahreshauptversammlung wurde der alte Abteilungsleiter gestürzt, an seine Stelle kam der Kettenraucher und belegte alle wichtigen Positionen mit eigenen Kandidaten. Am Tag nach seiner Wahl entließ er Coach, mit dem er nie besonders gut ausgekommen war. Der Putsch, das Chaos, die Entlassung, all das alles sorgte für viel Aufsehen in der Region.

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Die Anzeichen dafür, dass Coach gesundheitlich nicht im allerbesten Zustand war, hatten sich bereits in unserem gemeinsamen Jahr in Heilbronn gehäuft. Es kam in unregelmäßigen Abständen vor, dass er im Training oder am Wochenende aus gesundheitlichen Gründen nicht da war. Wenn ich ihn nach seiner Rückkehr darauf ansprach, ließ er keine Sentimentalitäten zu, wir klärten es immer im typischen Fußballer-Stakkato: „Hey, Coach, alles wieder gut bei dir?“ – „Ja ja, passt. Ich steh wieder, das langt.“ Er lachte, ich lachte, dann dachten wir ans nächste 5-gegen-2, ans nächste Training, ans nächste Spiel.

Wenige Tage nach der Nachricht von seiner Entlassung setzten die Schreckensnachrichten ein und hörten nicht mehr auf. Ich wollte morgens schon gar nicht mehr meine Whatsapp-Nachrichten lesen: Herzinfarkt. Koma. Diesmal sieht es schlecht aus. Zwischendurch doch Hoffnung: Jungs, es geht ihm besser, sie wollen ihn bald aufwecken.

Zwei Tage später aber das Ende.

Coach und ich kannten uns nur vier Jahre, davon hatten wir insgesamt zwei Jahre regelmäßig miteinander zu tun. Das ist relativ wenig, in den meisten Fällen reicht eine solche Bekanntschaft eher nicht dafür aus, eine außergewöhnliche Bedeutung für den anderen einzunehmen. Trotzdem hat er mich geprägt wie nur wenige vor ihm. Er war einer der Menschen, die man schon nach den ersten Treffen und Gesprächen nie mehr vergisst. Ich könnte jetzt mit großen Begriffen um mich werfen und mit ihnen begründen, warum er mir so sehr ans Herz gewachsen ist, sie stimmen alle: Ehrlichkeit, Charisma, Humor. Energie, Freundlichkeit, Leidenschaft.

Doch es sind auch und vor allem die kleinen Momente, die mir immer in Erinnerung bleiben werden. Dass ich immer, egal wo, egal aus welchem Grund, ihn mit „Coach?“ ansprechen konnte, sofort ein schnelles und freundliches „Ja!“ zurückbekam und er sich in meine Richtung drehte, um zu erfahren, wie er mir helfen konnte. Dass er einmal mit denselben bunten Kickschuhen wie ich im Training erschien, wir beide deshalb von den anderen aufgezogen wurden, er mir aber nur zuzwinkerte und sagte: „Haja klar, Spielmacherschuhe.“ Oder dass ich einmal nach dem Training mit in die Gaststätte am Stadion ging, wo ich eher selten anzutreffen war, er mich zuerst erstaunt ansah und dann rief: „Du hier? Was ist denn heute los? Platz machen am Tisch, sofort!“ Dann zog er einen freien Stuhl neben sich, gab mir einen Klaps auf die Schulter und lachte mich an. Wie sollte ich diesen Mann nicht mögen?

Unser Verhältnis war vieles auf einmal: Trainer und Spieler, Lehrmeister und Schützling, Freund und Freund. Wir waren der Beweis dafür, wie sehr Fußball Menschen zusammenbringen kann, denn ohne ihn hätten wir uns wohl nie kennengelernt. Nur durch den gemeinsamen Nenner Fußball fanden wir zusammen, durch ihn entstand eine Bindung, die besonders war.

Eine Woche nach der bitteren Nachricht stand ich bei der Beerdigung mit meinen ehemaligen Mitspielern in einer Reihe. Jeder von uns hielt eine Rose in der Hand, auf denen Schleifen mit den Farben des Vereins angebracht waren, bei dem er uns zuletzt trainiert hatte. Wir standen vor der Kapelle, die zur Seite offen war und in der seine Verwandten saßen. Die restliche Trauergemeinde stand hinter uns auf den schmalen Gängen des kleinen Friedhofs verteilt. Es waren sehr viele da. Überall Fußballer, überall bekannte Gesichter.

Der Pfarrer sprach einige gutgemeinte Worte und Gebete. Sie prallten an mir ab, weil sie keine Lösungen bereithielten. Die Tage davor waren vom Versuch geprägt, den Verlust irgendwie zu realisieren, ihn greifbar zu machen. Es ist wie bei jedem Tod einer Person, die einem wichtig war. Du bleibst zurück und überlegst und fragst dich nach dem Warum. Wohlwissend, dass es darauf keine endgültige, zufriedenstellende Antwort geben kann.

Es gab nur noch eine Antwort, und sie stand einige Meter von mir entfernt. Ich hatte lange vermieden, die goldene Urne anzusehen, die neben dem Pfarrer auf einem Tisch stand, konnte jetzt aber nicht mehr meine Augen von ihr nehmen. Mein alter Verbündeter, er war jetzt nicht mehr.

Nach der Rede des Pfarrers wurde die Urne in den Boden gelassen. Dann stellten sich alle Trauergäste in einer langen Schlange auf, jeder durfte nacheinander einen Moment lang persönlich Abschied nehmen.

Als ich an der Reihe war, legte ich die Blume an der Stelle ab, blieb stehen und schloss für einen Moment die Augen. Ich sah ihn wieder vor mir sitzen bei unserem ersten Gespräch. Ich hörte ihn loben. Ich hörte ihn schreien. Ich spürte seine Hand an meiner Schulter. Und ich hörte seine Stimme, die mir noch einige Male sagte:

„Du bist ein außergewöhnlicher Fußballer.“

Bevor ich weiterging, hatte ich nur noch einen Gedanken:

Du warst ein außergewöhnlicher Mensch.

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Am Ziel der Träume? Fußball und der Nationalsozialismus https://120minuten.github.io/am-ziel-der-traeume-fussball-und-der-nationalsozialismus/ https://120minuten.github.io/am-ziel-der-traeume-fussball-und-der-nationalsozialismus/#comments Wed, 20 Jan 2016 08:31:07 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1808 Weiterlesen]]> Der Fußball in Deutschland hat es in seinen Anfangsjahren nicht leicht. Gesellschaftliche Vorbehalte, Konkurrenz durch die traditionsreiche Turnerschaft, das unsägliche Geschacher um das Amateurgebot. Unter der Regie des machtbewussten DFB hat sich der Fußball dennoch zum Spiel der Massen entwickelt, wie ich in meinem ersten geschichtlichen Überblick für 120minuten aufgezeigt habe. Ideale Voraussetzungen für die Nationalsozialisten, das Spiel für seine Zwecke zu ge- und missbrauchen? Welche Rolle spielte der DFB dabei? Wie hat der deutsche Fußball auf die verordnete „Gleichschaltung“ reagiert? Und wie ging es in Sachen Profitum weiter?

Autor: Benjamin Brumm, Tragisches Dreieck

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„Bildung eines Volksheeres“ – die Sportprogrammatik der NSDAP

Als Nervenbad mit Potential zur Massensuggestion sollte Reichspropagandaminister und Nazi-Hetzer Joseph Goebbels den Fußball nach einem Stadionbesuch in seinen Tagebüchern einst beschreiben. Dem Sport zugeneigt war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bereits in ihren Anfangsjahren. Als einzige der Weimarer Parteien forderten die Nationalsozialisten bereits frühzeitig die Einführung einer Sport- und Turnpflicht für Jugendliche. In den Worten von Adolf Hitler heißt es dazu in einem frühen Parteiprogramm, dass das Ziel die „Bildung eines Volksheeres“ sein müsse:

„Der Staat hat für die Hebung der Volksgesundheit zu sorgen durch […] Herbeiführung der körperlichen Ertüchtigung mittels gesetzlicher Festlegung einer Turn- und Sportpflicht, durch größere Unterstützung aller sich mit körperlicher Jugendausbildung beschäftigenden Vereine.“[1]

Ähnliches schrieb der inhaftierte spätere Führer bereits in seiner Hassschrift Mein Kampf. Dort nimmt er – für viele überraschend – auch Abstand von einer ausschließlich auf „militärisches Exerzieren“ ausgerichteten Militärausbildung und empfiehlt mit Bezug auf die körperliche Ertüchtigung „vielmehr auf sportliche Betätigung“ zu achten – auch wenn ihm dabei lediglich zwei Kampfsportarten einfallen:

„Boxen und Jiu-Jiutsu sind mir immer wichtiger erschienen als irgendeine schlechte, weil doch nur halbe Schießausbildung. Man gebe der deutschen Nation sechs Millionen sportlich tadellos trainierte Körper, alle von fanatischer Vaterlandsliebe durchglüht und zu höchstem Angriffsgeist erzogen, und ein nationaler Staat wird aus ihnen, wenn notwendig, in nicht einmal zwei Jahren, eine Armee geschaffen haben.“[2]

Was der Führer sagte, hatte Gewicht. Mehr als alles andere. Selbst wenn da ein Mann über den Wert des Sport philosophierte, der Forschern zufolge nie selbst Sport getrieben hat und dem angeblich schon ein Spaziergang zuwider war. Für die Nazis waren „die Befehle des Führers auch hier alleiniges Gesetz für die Neugestaltung der körperlichen Ertüchtigung.“[3]

In zeitgenössischen nationalsozialistischen Quellen ist viel zu lesen vom Dienst am Volk, der der Sport zu sein hatte. Mit dem Ziel, die Wehrhaftigkeit potentieller Soldaten sicherzustellen. Übrigens aber keine rein nationalsozialistische Sichtweise. Ähnlich argumentierten die frühen Fußballpioniere wie Walther Bensemann, ein ausgewiesener Kosmopolit. Selbst in vermeintlich konträr den Nazis gegenüber stehenden kommunistischen Schriften ist von „Kampfbereitschaft, Solidarität, Disziplin und Opferbereitschaft“[4] zu lesen.

NSDAP und DFB – spinnefeind?

Aus heutiger Sicht erscheint es nur logisch, dass die NSDAP zum Ende der Weimarer Republik die Nähe zur bürgerlichen Sportbewegung suchte. Mit geschätzten sechs Millionen Mitgliedern barg sie ein kaum zu unterschätzendes Wählerpotenzial. Wie ich bereits im ersten historischen Longread zu den fußballerischen Anfängen in Deutschland ausgeführt habe, haben auch die DFB-Verantwortlichen spätestens seit dem Ersten Weltkrieg den militärischen Zweck des kampfbetonten Fußballs hervorgehoben. Auch was den erzieherischen Nutzen des Sports angeht, waren Nationalsozialisten und Sportler um ähnliche Ziele bemüht. So sollte es auch Fußballern nicht mangeln an „Mut, Kraft und Entschlossenheit, den Kampf des Lebens, den Kampf der Nation zu bestehen.“[5] Und dennoch: In den Wochen und Monaten der Machtergreifung waren die Nazis dem Fußball zunächst nicht besonders zugetan. Die gängigen Propagandablätter kritisierten – nicht anders als die neutrale Fachpresse – die bisweilen unterirdischen Leistungen der Nationalmannschaft. Auch das Profitdenken des Verbandes schmeckt Angriff, Völkischer Beobachter und Co. nicht.

Eine sehr entschiedene Meinung vertritt der Ideologe Bruno Malitz in einer damals viel beachteten Schrift zur nationalsozialistischen Leibeserziehung. Demnach sei zu prüfen, ob die großen Sportverbände „in der gegenwärtigen Form Lebensberechtigung haben“ oder ob sie nicht viel mehr „ein zuweilen recht nutzloser, aufgeblähter Apparat“ seien. Und direkt auf den DFB gemünzt schreibt Malitz, dass er „beim allerbesten Willen nicht die Berechtigung eines Deutschen Fußballbundes einsehen“ könne, dessen Wirken nichts als „unwichtige Leerlaufarbeit“ sei.[6]

Auch in Sachen Berufsfußballverbot und Festhalten am reinen Amateurgebot lagen DFB und NSDAP nicht auf einer Linie. Städtische Parteirepräsentanten waren überzeugt von der wirtschaftlichen Rentabilität des Profifußballs. Sie gingen davon aus, dass durch einen veränderten Spielbetrieb Arbeitslose in Lohn Brot gebracht werden könnten (und dadurch nicht zuletzt die Gemeindekassen entlasteten). Der DFB war den politischen Einlassungen in der Zeit kurz vor der „Machtergreifung“ überdrüssig. Noch wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – in derselben Sitzung übrigens, in der die Frage nach der Zulassung des Profitums einmal mehr verschoben wurde – beschloss man den „häufiger gewordenen systematischen Angriffen gegen den Sport durch Angehörige parteipolitisch oder sonst gebundener Gemeinschaften künftig mit allem erforderlichen Nachdruck entgegenzutreten.“[7]

Der DFB sang also einmal mehr das Loblied der politischen Neutralität. Umso mehr nimmt es Wunder, dass sich Präsident Felix Linnemann nur wenige Wochen später im Kicker mit folgenden Worten zitieren lässt: „Wir können uns als Vorläufer der heutigen Bewegung ansehen. Wir brauchen uns nicht umzustellen.“ Was hatte in so kurzer Zeit dazu geführt, dass sich das relativ distanzierte Verhältnis zwischen bürgerlichem Fußball und nationalsozialistischem Regime derart rasch änderte?

Aus Sicht der NSDAP fällt die Antwort leichter: Sie konnte sich schlicht der Anziehungskraft und Beliebtheit des Volkssportes Nummer eins in der Bevölkerung nicht länger entziehen; zu verlockend erschien den neuen Machthabern die Wirkung des Fußballs auf die Massen. Komplizierter zu beantworten ist, warum der DFB von seiner Position so grundlegend abrückte. Immerhin drohte der DFB, seine hochgeschätzte zentrale Allmacht einzubüßen. Tatsächlich profitierten die Verantwortlichen des Fußballs von den politischen Umwälzungen; und zwar sowohl persönlich, als auch was den Status des Verbandes angeht.

Am Ziel der Träume?

Bis spätestens 1934 wollten die Nationalsozialisten alle Bereiche des öffentlichen Lebens von Politik über Gesellschaft bis zur Kultur restrukturieren – dazu gehörte auch der Sport. Die Nazis sprachen von „Gleichschaltung“. Direkt betroffen war davon der Deutsche Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA). Als erster Schritt wurden dabei im März 1933 die Arbeitersportverbände zerschlagen. Wenig später wurde Hans von Tschammer und Osten zum Reichskommissar für Turnen und Sport und wenig später zum Reichssportführer ernannt. Von Tschammer und Osten hatte übrigens keinerlei sportliche Affinität, wichtiger war es, dass er vollständig auf Linie der nationalsozialistischen Bewegung stand. Schließlich löste sich der DRA formal (selbst) auf. Eine Kommission sollte mit der Regierung Verhandlungen über die Zukunft der Organisation führen. Der Neuordnung der Leibesübungen nach nationalsozialistischem Gutdünken stand nichts mehr im Wege. Unter den Unterzeichnenden der Auflösung: DFB-Präsident Felix Linnemann. Kein Zufall, denn nicht nur der DFB war Nutznießer der sportpolitischen Umwälzungen und Linnemann profitierte in nicht unerheblichem Maße persönlich von ihnen.

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Standarte des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen (nach der Einverleibung durch die NSDAP)

Ab 1934 ersetzte der Deutsche Reichsbund für Leibesübungen (DRL) den DRA. Auch der DFB wurde eingegliedert. Ziele von Tschammer und Ostens waren unter anderem die Verkleinerung der Zahl von Verbänden und Organisationen, außerdem sollte das „Führerprinzip“ bei allen Verbänden durchzuführen sein. Für Linnemann bedeutete dies einen alleinigen Führungsanspruch als künftiger Führer der Reichsfachschaft Fußball. Bereits beim kurze Zeit später beraumten DFB-Bundestag betonte Linnemann die Unumgänglichkeit des Systemwandels. Er dürfte sich erhofft haben, einige Querelen der Vergangenheit – man denke an das Gezerre um die Einführung des Profi-Fußballs – könnten bald Geschichte sein:

„Es gibt keine Bücher und Satzungen mehr mit Hunderten von Paragraphen. Die jährlichen Versammlungen fallen fort und damit auch die unendlichen Debatten über neue Paragraphen. Kurz gehaltene Bestimmungen des Führers sind an die Stelle der Gesetzbücher getreten.“[8]

Manch Fußballhistoriker kommt angesichts dieser Euphorie zum Schluss, Linnemann habe damit antiliberale, antipluralistische, nationalistische und kulturpessimistische Ansichten übernommen[9]. Das mag zu Missverständnissen führen. Denn einerseits herrschte Anfang der 30er-Jahre ein ausgeprägter Demokratieverdruss über sämtliche Bevölkerungsschichten hinweg. Andererseits ist das „Führerprinzip“ keine explizit nationalsozialistische Erfindung, sondern – gerade im Sport – ein international verbreitetes System (bis heute übertragen Sportvereine übrigens ihre Sportgerichtsbarkeit auf ein zentrales Organ; ganz zu schweigen vom Gebaren von FIFA oder IOC).

Mit der Einführung des Führerprinzips ging auch die Beseitigung alter Strukturen einher: An die Stelle der sieben Landesfußballverbände traten 16 Gaue. Die einst starken regionalen Herrscher über den Fußball nahmen die Umstellung zähneknirschend hin – einzig der Westdeutsche Spiel-Verband wehrte sich, wenn auch erfolglos. Der Rest gab sich mehr oder weniger überzeugt, „an den neuen Zielen zum Wiederaufstieg unseres deutschen Volkes und damit auch unseres deutschen Vaterlandes“[10] mitzuarbeiten. Der DFB schien in Sachen Alleinvertretungsanspruch am Ziel seiner Träume angelangt. Da nimmt es nicht wunder, dass Felix Linnemann in einem Zeitungsinterview zufrieden feststellt:

„Sieben Verbände teilten sich seinerzeit die Verwaltung dieses Sportes, die in ihrer Art den verschiedensten Geschmacksrichtungen entsprachen. Es gab darunter protestantische, katholische und Arbeiter-Fußballverbände, wie auch noch viele andere mehr. Wenn man so weiter gemacht hätte, dann würde es bald auch noch Fußball-Verbände der Bäcker, der Köche, der Schüler und der Friseure gegeben haben. Heute gibt es nur noch einen einzigen, einheitlichen Verband.“[11]

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Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten (rechts) im Gespräch mit dem britischen Botschafter Nevile Henderson (Mitte) und Generalleutnant Friedrich Fromm während eines Länderspiels zwischen Deutschland und England im Mai 1938. Quelle: Bundesarchiv Berlin

„Immer noch die alten Gesichter…“

Die Euphorie der DFB-Verantwortlichen für die neuen Machthaber rührte nicht nur von der Beseitigung der lästigen konkurrierenden Sportverbände. Auch in Sachen Berufsspielerfrage bewegten sich die Nationalsozialisten auf die Verbandsansichten zu. Keinesfalls aber liquidierten sie den während der Weimarer Republik so ausgeprägt praktizierten Scheinamateurismus. Tatsächlich wurde die Praxis der Vorjahre munter fortgesetzt. Nach außen polterten die Nazis gegen die als liberalistisch bezeichneten Auswüchse des Professionalismus; man wolle „keine materialistischen Schweinehunde“.[12] Die reale Sportpolitik sah dagegen ganz anders aus, es entwickelte sich nichts anderes als ein Staatsamateurismus. In zahlreichen Sportarten – darunter Boxen, Radsport und Motorsport – wurden die professionellen Strukturen stillschweigend toleriert. Mutmaßlich nahm man es auch wegen der großen Popularität einzelner Stars – man denke an Max Schmeling – mit finanziellen Zuwendungen nicht allzu genau. Das Motto lautete: Öffentliches Vorgehen gegen den Berufssport bei Duldung von verdeckten Zahlungen.

Im Fußball sorgte der DFB dafür, dass Vereinen bei Unregelmäßigkeiten (beispielsweise dem Einsatz nicht spielberechtigter Spieler) Punktverluste und Geldstrafen drohten. Die Praxis von NSDAP und DFB gleicht sich – die Beweggründe unterscheiden sich dagegen. Für den DFB standen finanzielle Aspekte im Vordergrund, für die politischen Machthaber allenfalls ein Begleitumstand. Es zeigt sich vielmehr, dass sich die NSDAP lange Zeit nicht um ein sportpolitisches Konzept bemüht hatte und nun aus zweckdienlichen Gründen die Fußballer weiter Amateure sein lassen wollte. Denn: Anders als in anderen Sportarten hatten sie sich nicht schon während der Weimarer Republik in Richtung Profisport entwickelt. Die Prämisse lautete: Kontinuität bewahren und die Leistungsfähigkeit – sowohl sportlich als auch wirtschaftlich – zu erhalten.

Zudem hatte die NSDAP auf die Olympischen Spielen von 1936 Rücksicht zu nehmen. Das Land sollte der Welt in glänzendem Licht präsentiert werden, Berlin eine Demonstration deutscher Leistungskraft sein. Die olympischen Amateur-Vorgaben waren streng, der Ausschluss von Nationalspielern sollte unter allen Umständen vermieden werden. Der Schein von struktureller Kontinuität innerhalb der Verbände musste gewahrt werden, bei deren unverzüglicher Zerschlagung wäre das im Ausland nicht mehr möglich gewesen. Diese Argumentation lieferte Futter für den DFB-Präsidenten. Linnemann erinnerte, „dass bei der Schwächung der Amateurvereine mit dem Verlust einer sicheren Goldmedaille gerechnet werden“ müsse.[13] Die kühne Ankündigung von olympischem Edelmetall endete schließlich in einer einzigen Blamage: Deutschland schied bereits in der Zwischenrunde gegen Norwegen aus, dem einzigen Spiel der Nationalmannschaft, das nachweislich je von Hitler besucht wurde. Daraufhin musste Reichstrainer Otto Nerz übrigens den Hut nehmen und wurde von seinem bisherigen Assistenten Sepp Herberger abgelöst.

Man könnte annehmen, durch die Überführung ins neue Fachamt Fußball hätte sich ein personeller Wandel einstellen können. Weit gefehlt. Der DFB blieb als Verband weiterhin bestehen, sollte sich vor allem um die Verbindungen zum Ausland kümmern. Klar, mit der Gleichschaltung des Sports in den Jahren 1933/34 sollte sichergestellt werden, dass die „Gesinnung, persönliche Eignung und Untadeligkeit außer Zweifel steht“ (sprich: dem Gutdünken der Nazis entsprach), wie der Kicker berichtete. So die Weisung von Reichssportkommissar von Tschammer und Osten. Der entscheidende Satz folgt direkt im Anschluss: „Was jedoch nicht bedeutet, dass alle alten und bewährten Führer entfernt werden sollen.“[14] Auf diese Ankündigung hatten die Funktionäre des DFB gewartet. Statt der befürchteten Zerschlagung des vormals bürgerlichen Sports entstand der Eindruck eines enormen gestalterischen Freiraums.

Auch der Fußball war zentraler Bestandteil der Propaganda rund um die Olympischen Spiele 1936

Auch der Fußball war zentraler Bestandteil der Propaganda rund um die Olympischen Spiele 1936

Beim DFB war man regelrecht euphorisiert, schließlich gesellten sich die bereits erläuterten Vorteile – Zentralisierung der Kompetenzen, Zerschlagung der Konkurrenz und Bekämpfung des Professionalismus – noch hinzu. DFB-Präsident Linnemann bekannte sich rasch zum neuen System und kündigte an, dass der Fußball „im Sinne der von ihm seit langem erstrebten Volksgemeinschaft freudig zusammen mit dem Reichssportkommissar an den Zielen des neuen Staates mitarbeiten“ werde.[15] Das ist Unterwürfigkeit und Anbiederung, wie sie deutlicher nicht ausfallen könnten. Zurecht beschreiben viele (Fußball)historiker den DFB deshalb als anpassungsbereit, kooperationswillig und engagiert.

Was Linnemann und Co., geblendet von der Zufriedenheit über die entgegengebrachte Wertschätzung, nicht realisierten: Die personelle Kontinuität sollte nur ein vorübergehendes Phänomen sein. Ein Blick in von Tschammer und Ostens geheimen Situationsbericht über die Neugestaltung der Leibesübungen zeigt: Die Entscheidung des Reichssportführers, auf Behutsamkeit statt auf eine radikale Revolution zu setzen, war rein taktischer Natur. Von Tschammer und Osten war vielleicht dankbar dafür, dass er mangels eigener Sachkenntnis auf Fachleute zurückgreifen konnte – verbrieft ist das nicht und es dürfte wohl auch nur eine Nebensächlichkeit gewesen sein. Viel mehr hielt er die alten Verbandsfunktionäre „in ihrer Gesamtheit nur noch für ein retardierendes Moment“ und schloss demzufolge aus, dass sie „mit ihrer konservativen Verbandshaltung grundsätzlich irgendeinen politischen Schaden anrichten können.“ Er deutete bereits an, dass nach den olympischen Spielen auch personell „ein Wandel eintreten muss.“[16]

Rechtfertigte sich der Reichssportführer mit seinem Situationsbericht auch für das Festhalten am bewährten Personal? Zumindest schlug ihm einige Skepsis ob seiner Politik entgegen. Der stramme Nazi-Ideologe Bruno Malitz kommentierte jedenfalls: „Die deutschen Leibesübungen können und dürfen nur von SA-Männern als den echten Trägern nationalsozialistischer Weltanschauung geführt werden. Alles andere kann nur Übergang sein.“[17] Und beim DFB? War man dort derart verblendet, dass lediglich die positiven Folgen Beachtung fanden? Jedenfalls frohlockte der Präsident beim Anblick seiner geliebten Fußballgemeinde noch im Januar 1938: „Es sind ja immer noch die alten Gesichter, die wir stets und je an der Spitze ihrer Vereine und Sportkameraden sehen.“[18]

Zu jener Zeit befand sich der Verband bereits im Begriff des Machtverlustes. Hatte Linnemann auch nach Olympia 1936 die tatsächlichen Zustände, bewusst oder unbewusst, übersehen? Konnte der DFB auch nach 1936 noch auf den Erhalt seiner personellen Substanz bauen? Ließ sich der Fußball in der Folge politisch instrumentalisieren? Was veränderte sich für Vereine und Funktionäre und welche Rolle spielte die Nationalmannschaft in der NS-Propaganda? Diese Fragen gilt es im letzten Teil des historischen Überblicks zur Rolle des Massenphänomens Fußball während der Zeit des Nationalsozialismus zu beantworten.

Referenzen

[1]   Punkt 21 des 25-Punkte-Programms der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vom 24. Februar 1920.

[2]   Hitler, Adolf: Mein Kampf. 775.-779. Auflage, 1943. S. 611.

[3]   Bayer, Ernst: Leibesübungen als politische und wehrpolitische Aufgabe, in: Volk im Werden, Nr. 11, 1938. S. 513.

[4]   Wagner, Helmut: Sport und Arbeitersport, 1973. S. 170f. Überdies komme laut der selben Quelle der Arbeitersportbewegung als Aufgabe „die Übernahme eines Teils der Vorbereitung der proletarischen Wehrhaftigkeit“ zu.

[5]   Girulatis, R.: Fußball. Theorie, Technik, Taktik, 1923. S. 10.

[6]   Malitz, Bruno: Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee, 1933. S. 49.

[7]   Südwestdeutsches Sportblatt der Freiburger Zeitung, 23. Januar 1933. S. 1.

[8]   Linnemann, Felix: Deine Aufgabe, Bundesschrift, in: Deutscher Fußball-Sport Nr. 1, 1933. S. 3.

[9]   Dieser Meinung ist zum Beispiel: Heinrich, Arthur: Deutscher Fußball-Bund und Nationalsozialismus, in: Pfeiffer, Lorenz u.a.: Hakenkreuz und rundes Leder: Fußball im Nationalsozialismus, 2008. S. 58-80.

[10] Ohne Autor: Die 16 Gaue erhalten ihre Führer, in: Der Kicker Nr. 31, 1933. S. 1178.

[11] Das Interview ist nachzulesen bei Havemann, Nils: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, 2005. S. 118.

[12] Malitz, Bruno: Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee, 1933. S. 9. Weitere Beispiele finden sich auch auf S. 12 und S. 20.

[13] Denkschrift über die Notwendigkeit einer Bereinigung der Verhältnisse im deutschen Fußballsport durch Trennung von Amateur- und Berufssport. Nachzulesen im Stadtarchiv München (Amt für Leibesübungen 256).

[14] Ohne Autor: Der Neuaufbau des deutschen Sports. Die Richtlinien des Reichssportkommissars, in: Der Kicker Nr. 22, 1934. S. 845. Vgl. hierzu auch: Südwestdeutsches Sportblatt der Freiburger Zeitung (11. Juni 1935). S. 3.

[15] E. W.: Rede des Reichssport-Kommissars in Köln, in: Die Fußballwoche, Nr. 24, 1933. S. 3.

[16] Diese Aussagen sind nachzulesen im Bundesarchiv Berlin (auch Online-Recherche möglich): NS 8/177, von Tschammer und Osten: Die Neugestaltung der Leibesübungen in den Jahren 1933-1935 (Situationsbericht). Eine detaillierte Kommentierung des Dokuments hat Hajo Bernett in seinem Aufsatz „Die innenpolitische Taktik des nationalsozialistischen Reichssportführers (erschienen in: Stadion 1, 1975. S. 140-178) vorgenommen.

[17] Bruno Malitz: Die Leibesübungen in den herrschenden Weltanschauungen der Neuzeit. S. 260 , in: Friedrich Mildner (Hrsg.): Olympia 1936 und die Leibesübungen im nationalsozialistischen Staat, 1936.

[18] Zitiert nach Müllenbach: Wir vertrauen, in: Der Kicker, Nr. 3, 1938. S. 2

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei Ksayer1 für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von Ksayer1 gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-SA 2.0

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Ballack Begins https://120minuten.github.io/ballack-begins/ https://120minuten.github.io/ballack-begins/#respond Tue, 22 Dec 2015 07:00:11 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1702 Weiterlesen]]> Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den langersehnten Weltmeistertitel – ohne den Capitano. Was bleibt nach eineinhalb Jahrzehnten Profitum? Eine Retrospektive in drei Teilen.

Autor: Sebastian Kahl

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“Michael Ballack” (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

Prolog

Was sollte Urs Meier auch machen? Fast schon entschuldigend zückt er die gelbe Karte und zeigt sie dem Übeltäter. Was hätte der aber auch machen sollen? Zwanzig Minuten vor Schluss, beim Spielstand von 0:0, hatten sich die Südkoreaner zum Konter aufgemacht. Die deutschen Angreifer wünschten gute Fahrt und ihrer Hintermannschaft gutes Gelingen. Kurz vor dem Strafraum lässt der ballführende Chun Soo Lee mit einem Haken Carsten Ramelow aussteigen, sieht vor sich drei Rote gegen zwei Weiße… Und wird von hinten zu Fall gebracht. Urs Meier notiert sich in seinem Block die 71. Spielminute: Gelb für Nummer 13, Deutschland. Das Herz der Fußballnation sinkt, die Bauchbinde der Weltregie informiert die Uneingeweihten nüchtern, bürokratisch: „Michael Ballack – Misses next match“. 

In dem Sprint zurück liegen die Strapazen von 50 Saisonspielen für Bayer Leverkusen; elf Länderspielen: Kopf gesenkt, ungewohnt steif. Und trotzdem schneller als Torsten Frings, der als einziger Kollege den Weg mitgeht. Minuten später zieht er wieder einen Lauf übers halbe Feld an, dieses Mal in den gegnerischen Strafraum. Von rechts kommt die Flanke, er verwandelt den Abpraller zum entscheidenden 1:0. Michael Ballack ist im Sommer 2002, im Alter von 25 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Schaffens: physisch imposant, doch geschmeidig, beidfüßig, schussgewaltig, kopfballgefährlich; kurz: der komplette Spieler. 29 Saisontore für Verein und Land, allein drei in den Playoffs gegen die Ukraine. Folgerichtig „Fußballer des Jahres“, seine erste von insgesamt drei Auszeichnungen. Ein Versprechen in die Zukunft, dass eine darbende Nationalmannschaft vom Titel im eigenen Land träumen konnte. In Japan/Südkorea hievten Kahn und Ballack die Deutsche Auswahl bis ins Finale.

„Vielleicht ist es ein gutes Omen, dass ich nicht spielen kann.“

~ Ballack unmittelbar nach dem Halbfinale [1]

Heimat

Michael Ballack wird am 26. September 1976 in Görlitz geboren. In der Grenzstadt zu Polen verdienten sich u.a. so bedeutende Spieler wie Dixie Dörner, Heiko Scholz und Jens Jeremies ihre ersten Sporen. Familie Ballack zieht aber samt Filius im Frühjahr 1977 nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigem Chemnitz. Das Wohngebiet „Fritz-Heckert“, benannt nach einem hiesigem KPD-Politiker, wird Ballacks erste Spielstätte. Ein Viertel aller Einwohner von Karl-Marx-Stadt wohnt in der modernen Plattenbausiedlung. Betonwände und Wäschestangen dienen den Knirpsen als Tore. Mit sieben Jahren läuft er für die Jugendmannschaft des Lokalvereins BSG Motor Fritz Heckert Karl-Marx-Stadt auf. Die Herrenabteilung spielt immerhin in der zweitklassigen DDR-Liga. Ballack dominiert die Nachwuchsrunde: Als Zehnjähriger erzielt er 57 Tore in 16 Spielen, gegen Crimmitschau soll er zwölf Tore in fünfzig Minuten Spielzeit geschossen haben.

„Ich sah gleich, dass da ein außergewöhnlicher Spieler heranwächst. Er hatte von Anfang an eine gehörige Portion Talent und konnte schon damals mit rechts und links schießen. Ein Ballgefühl, als hätte er schon fünf Jahre Training hinter sich. So was nennt man wohl Naturtalent.“

~ Steffen Hänisch, Jugendtrainer Ballacks bei MFK Karl-Marx-Stadt [2]

Im System des DDR-Sport bleibt so ein Talent nicht unentdeckt. Noch weniger wird einem solchen Talent erlaubt, nicht im größten Verein der Stadt zu spielen. Ab 1988 streift er sich also das himmelblaue Trikot des FC Karl-Marx-Stadt über. Gleichzeitig besucht er die Kinder- und Jugendsportschule. Zwischen Schule und Verein sind Unterricht und Training abgestimmt, der Tag ist durchgeplant. Eine Infrastruktur, über die heute fast jeder Profiverein verfügt. In den 80er-Jahren war es modern. Stephan Ballack, Michaels Vater, beurteilte die Förderung später als vorbildlich: „Das gesamte System dort war gut durchdacht, das war vom Feinsten. Der ganze Unterricht hat sich am Fußball orientiert, ohne das Lernniveau zu vernachlässigen. Nicht nur die sportliche, auch die schulische Begabung musste stimmen.“ [3] Die Schule schließt Ballack mit dem Abitur ab.

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde sowieso Fußballprofi.“

~ Zehntklässler Ballack angesprochen auf mäßige Schulnoten, überliefert von seiner ehemaligen Lehrerin Margita Teuscher [4]
Michael Ballack und Kevin Meinel
Wie nah Glück und Unglück beieinander liegen, zeigt das Schicksal von Ballacks Teamkamerad Kevin Meinel. Gemeinsam spielten die beiden in der Jugend vom FCK/CFC, verstanden sich auf und abseits des Platz bestens. Bei einem Hallenturnier im Januar 1991 erleidet Meinel während eines Spiels einen Schlaganfall, ist anschließend zeitweise halbseitig gelähmt. Die Karriere des hoffnungsvollen Talents ist beendet. Auch Ballack – damals 14 – ist mitgenommen: „Er wollte sogar das Fußballspielen aufgeben – wegen meiner Krankheit“ so Meinel. „Der Micha sprach mir unendlich viel Mut zu. […] Er kümmerte sich um mich in dieser schweren Zeit.“ [5]

Mit 16 hätte für Ballack auch alles schon vorbei sein können, Diagnose: Knorpelschaden im linken Knie! Das Karriereaus drohte. Es folgten neun Monate Pause, Sondertraining, ein halbes Jahr Reha ganz ohne Ball. CFC-Jugendtrainer Ullus Küttner macht ihn wieder fit und führt ihn an die Herrenmannschaft heran. Der Lohn: Profivertrag beim Chemnitzer FC, mit 18. Ballack debütiert in der Zweiten Bundesliga gleich am ersten Spieltag (4.8.1995), kommt insgesamt fünfzehn Mal zum Einsatz. Ein Treffer bleibt ihm vergönnt. Den Abstieg des CFC in die drittklassige Regionalliga Nordost kann er nicht verhindern. Indirekt profitiert er aber davon, 15 Spieler verlassen den Verein.

Ballack wird in der Saison 96/97 Stammspieler, ist bei jeder Partie dabei und erzielt zehn Tore. Ab März ’96 bestreitet er außerdem 19 Spiele für die U21-Nationalmannschaft, trifft dabei sieben mal. Zu dieser Zeit schult man Spieler noch als Libero. Ballack glänzt in der Rolle. Das und sein aufrechter Laufstil, seine Spielübersicht bringen ihm den Spitznamen „Der kleine Kaiser“ ein, in Anlehnung an Franz Beckenbauer. Andere schimpfen ihn dafür einen „Schönspieler“. Der CFC landet auf Platz vier, verpasst den Aufstieg um 18 Punkte. Ballack nicht.

König Otto

Hans-Peter Briegel soll als Erster Ballack als potentiellen Neuzugang ins Gespräch gebracht haben. Briegel war von Sommer ’96 bis Oktober ’97 Sportlicher Leiter beim 1. FC Kaiserslautern. Gerade Kompetenzgerangel bei Spielerverpflichtungen schadete jedoch dem Verhältnis zwischen Briegel und Trainer Rehhagel, sodass Briegel zum Zeitpunkt von Ballacks Verpflichtung schon zurückgetreten war. Rehhagel hatte der Familie in Chemnitz einen persönlichen Besuch abgestattet und den Wechsel gen Westen schmackhaft gemacht. Der FCK war soeben mit zehn Punkten Vorsprung Zweitligameister geworden, ließ sich das Talent 150.000 DM kosten. Dass der Wind in der Belle Etage steifer weht, dürfte dem 19-jährigen Ballack klar geworden sein, als auf seiner Position ebenfalls Ciriaco Sforza verpflichtet wurde, für 6,7 Mio. DM. Der Schweizer trat zu seinem zweiten Stint in Kaiserslautern an. Rehhagel hatte ihn 1995 schon zu den Bayern geholt. Mit dessen vorzeitiger Entlassung verließ auch Sforza München. Bei Inter Mailand wurde er anschließend nicht glücklich, kehrte nach zwei Stationen in zwei Spielzeiten in die Pfalz zurück.

Für Ballack bedeutet das zunächst eine Reservistenrolle. Zudem fällt ihm der Sprung von der Regionalliga direkt in die höchste Klasse des deutschen Fußballs schwer. Sein Bundesliga-Debüt gibt er am siebten Spieltag in Karlsruhe, kommt bis Rundenwechsel lediglich auf 17 Spielminuten. In Bremen wird er eingewechselt und fliegt noch mit Gelb/Rot vom Platz. Wie beim CFC gelingt ihm in der ersten Spielzeit kein Tor. Immerhin ist er beim 4:0 gegen Wolfsburg am vorletzten Spieltag von Beginn an dabei. Der FCK macht da die Meisterschaft 1998 fest: als Aufsteiger, ein Novum der Bundesliga-Geschichte. Ballack beeindruckt die richtigen Leute: Im September wird er erstmals von Vogts für die A-Nationalmannschaft nominiert. Das mühsame 2:1 der Deutschen gegen Malta muss er von der Bank mitansehen.

In Chemnitz gelang ihm im zweiten Jahr der Durchbruch und der Sprung in die Stammformation. Im zweiten Kaiserslauterer Jahr ist er zunächst in der Hinrunde in jedem Spiel dabei. Rehhagel lässt ihn jedoch nur sieben Mal durchspielen. Insgesamt kommt er auf 39 Pflichtspieleinsätze und vier Tore. Dem sensationellen Meistertitel folgt auf dem Betze die Ernüchterung. Zwar übersteht man die Gruppenphase in der Champions League als Erster vor Benfica, Eindhoven und Helsinki. Im anschließenden Viertelfinale setzt es aber zwei Niederlagen gegen die Bayern (2:0 und 0:4). Die Bayern dominieren die Liga, stehen bis auf zwei Spieltage immer an der Tabellenspitze und werden mit fünfzehn Punkten Vorsprung Meister. In der Abschlusstabelle der Bundesliga landet der FCK auf einem guten fünften Platz.

Die 'Causa Sforza'
Doch innerhalb des Vereins stimmt es nicht. Der Unmut bricht sich in Form von Sforza Bann: Zum Saisonende kritisiert er die Sportliche Leitung und Kaderplanung. Das Politikum sollte noch die Folgesaison (99/00) überschatten. Sforza lederte im September nach, Rehhagels Trainingsgestaltung sei veraltet, die Mannschaftsführung fragwürdig. Rehhagel suspendiert den Schweizer zunächst, kommentiert das Verhalten seines nun ehemaligen Kapitäns so: „Er hat mich nicht kritisiert, sondern diffamiert und den Vereinsfrieden brutal verletzt. Noch niemals habe ich mich in einem Menschen so getäuscht.“[6] Sforza steht zwar kurz danach wieder im Kader, der Bruch ist aber nicht mehr zu kitten. Im Sommer 2000 wechselt er erneut zu den Bayern. Ein Kritikpunkt Sforzas: Rehhagels Umgang mit den jungen Spielern, u.a. Michael Ballack.

Ballacks Vertrag lief zum Ende der Saison 99/00 aus. Bereits im Frühjahr ’99 – also mehr als ein Jahr vorher – unterschrieb er bei Bayer Leverkusen einen Vorvertrag für die Folgezeit. Der FCK sah in der Vorgehensweise Bayers einen „eklatanten Verstoß gegen die Regeln der FIFA“. Rehhagel nahm ihn aus der Mannschaft, von allen Seiten wurde ein sofortiger Wechsel im Sommer ’99 angestrebt.

„Wie soll noch eine Zusammenarbeit möglich sein, wenn immer wieder neue Lügen über mich erzählt werden? Ich wollte hier nicht weg. Herr Rehhagel ließ mich nicht mehr regelmäßig spielen, als ich Leverkusen zugesagt hatte.“

~ Ballack im Juli ’99 [7]

Ballack wechselt somit im Sommer 1999 für 8,2 Millionen DM zu Leverkusen. Mit Boshaftigkeit könnte man ihm unterstellen, er habe den Wechsel forciert. Mit Wohlwollen, sein Stellenwert bei Kaiserslautern war einem Talent wie ihm nicht angemessen. Im gleichen Zeitraum – genau: am 28. April ’99 – kam er denn auch zu seinem ersten Auftritt im DFB-Dress. Unter der Ägide von Erich Ribbeck verliert Deutschland in Bremen gegen Schottland mit 0:1. Ballack wird nach einer Stunde für Hamann eingewechselt. Beim Confederations Cup im Sommer ist Deutschland als Europameister qualifiziert. Ballack steht im Aufgebot, gibt im Gruppenspiel gegen Brasilien sein Startelf-Debüt.

Wieder hatte er es geschafft, die richtigen Leute zu beeindrucken.

„Ich habe wesentlich lukrativere Angebote vom FC Chelsea und vom AC Florenz vorliegen gehabt. Auch Bayern wollte mich. Aber das Geld hat für mich keine Rolle gespielt. Allein das Sportliche zählt. In Leverkusen habe ich die besten Chancen, Stammspieler zu werden und in die Nationalelf zu kommen.“

~ Ballack nach seinem Wechsel zu Leverkusen [8]

Legendenbildung

Der 20. Mai 2000, 15.30 Uhr: Zum Anpfiff des letzten Bundesliga-Spieltags steht Bayer 04 Leverkusen an der Tabellenspitze. Der Vorsprung auf die Bayern beträgt drei Punkte. Die haben zwar das bessere Torverhältnis. Bayer reicht aber ein Unentschieden bei der SpVgg Unterhaching, um erstmals Meister zu werden. Haching war längst im Mittelfeld der Tabelle gesichert, sollte der Werkself also nicht im Weg stehen. „Millennium-Meister“ stand auf den mitgebrachten Plakaten der Gästefans geschrieben.

15.46 Uhr, unweit entfernt in München: Bayern führt nach einer guten Viertelstunde bereits 3:0 gegen Werder Bremen.

15.50 Uhr: Schwarz flankt den Ball für Haching aus dem rechten Halbfeld in den Leverkusener Strafraum. Ballack ist in die letzte Abwehrreihe eingerückt. Der Ball fliegt in seine Richtung, nicht mit viel Schnitt, aber er spürt in seinem Rücken Rraklli. Gleichzeitig kommt Torhüter Matysek aus seinem Kasten, Ballack ist schneller. Beim Versuch zu klären, wischt er über den Ball und bugsiert ihn aus acht Metern ins leere Tor.

Markus Oberleitner erhöht in der 72. Spielminute auf 2:0 für die SpVgg. „Unterhaching“ wird zum Synonym des Favoritensturz, Bayern mit einem 3:1-Sieg über Werder Bremen aufgrund der besseren Tordifferenz doch Deutscher Meister.

Dabei fing die Saison für Leverkusen im Duell mit Bayern so erfolgversprechend an: Bereits am zweiten Spieltag kommt es zum direkten Aufeinandertreffen. Leverkusen gewinnt das Heimspiel mit 2:0. Ulf Kirsten und Oliver Neuville besorgen die Tore. Ballack ist nicht dabei. Im ersten Spiel in Duisburg spielt er 90 Minuten. Danach zieht er sich jedoch einen Innenbandriss im Knie zu. Ein Rückschlag für den Verein, kam Ballack doch mit viel Vorschusslorbeeren. Er gilt als größtes deutsches Talent. Manager Rainer Calmund zieht ebenfalls die Parallelen zu Beckenbauer.[9] Trainer Christoph Daum befindet sein Neuzugang sei ein „unheimlich vielseitig verwendbarer Spieler“. Erst Ende November kommt er wieder zur Kurzeinsätzen. Derweil hadern die Bayern mit sich selbst. Im Training werden Matthäus und Lizarazu handgreiflich, Mario Basler gar in einer Schänke in Regensburg. Basler wird umgehend entlassen, Matthäus – mittlerweile auch 38 Jahre alt – im Winter gegangen.

Zwar grüßt München meist von der Tabellenspitze, der Vorsprung auf Leverkusen beträgt kaum mehr als zwei, drei Punkte. Zur Rückrunde mischt auch Ballack wieder voll mit. Ausgerechnet gegen die Bayern erzielt er sein erstes Tor für den neuen Verein. Sein Freistoßtreffer ändert allerdings nichts an der 4:1-Auswärtsniederlage. Dennoch: Leverkusen setzt in der Folge zu einer Serie von elf Siegen und zwei Unentschieden in 13 Spielen an. Darunter ein fulminantes 9:1 in Ulm, was Trainer Christoph Daum im Interview veranlasst zu deklarieren: „Leverkusen ist nicht aufzuhalten“. Um dann mit einem Lachen hinzuzufügen: „Da können Sie die Uhr nach stellen, dass der Herr Hoeneß versuchen wird, mich zu attackieren. […] Vielleicht ist es das, was die Bayern brauchen.“

Die ungeschlagene Serie von 13 Spielen bringt die Tabellenführung. Das vierzehnte Spiel findet in Unterhaching statt. Der Titel geht an Bayern.

Im Sommer steht die Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden an. Es wird die vielleicht dunkelste Stunde der Nationalmannschaftsgeschichte. Jammern auf hohem Niveau, aber: Deutschland ist Titelverteidiger und scheidet bereits in der Vorrunde aus. Noch dazu als Gruppenletzter. Gelingt zum Auftakt noch ein 1:1 gegen Rumänien, setzt es Niederlagen gegen England (0:1) und Portugal (0:3). Das einzige Tor: ein Freistoß von Mehmet Scholl. Ballack wird gegen England eingewechselt, gegen Portugal ist er von Beginn dabei. Die Portugiesen sind vor der Partie schon für die nächste Runde qualifiziert. Trainer Humberto Coelho schickt eine bessere B-Elf aufs Feld. Die deutsche Mannschaft ist ein Sammelsurium an Altgedienten: Matthäus, Linke, Bode. Auch Scholl und Rehmer gehen auf die 30 zu. Spielwitz und Esprit versprüht der 20-jährige Deisler. Es fehlt allgemein an Bewegung und Geschwindigkeit im deutschen Spiel. Ballack geht gegen Portugal ebenso unter wie der Rest. Mutmacher sind kaum in Sicht. Von der Bank kommen Jungspunde wie Kirsten und Häßler (beide 34). Ballack muss zur Pause gar Paulo Rink weichen. Der gebürtige Brasilianer würde noch zwei weitere Länderspiele bestreiten. Verwalter des Niedergangs war Erich Ribbeck. Am Tag nach dem Ausscheiden tritt er vom seinem Amt zurück, geht als erfolglosester Trainer der Nationalelf in die Annalen ein. Sein designierter Nachfolger: Christoph Daum.

Zum 1. Juni 2001 hätte der Leverkusen-Trainer beim DFB übernehmen sollen. Der gebürtige Oelsnitzer (Erzgebirge) wächst in Duisburg auf, wird Deutscher Amateurmeister mit der Zweiten Mannschaft des 1. FC Köln. Seine aktive Laufbahn endet früh, mit 27 macht er den Fußball-Lehrer des DFB. Er wird Trainer und Vorreiter einer neuen Garde: studiert, Wissenschaftler und Motivator. Als Trainer des 1. FC Köln pinnt er die Meisterprämie von 40.000 DM an die Kabinentür. Die Bundesliga-Krone holt er dann 1992 mit dem VfB Stuttgart. In Leverkusen baut er gemeinsam mit Manager Rainer Calmund über Jahre eine gestandene Mannschaft auf. Jens Nowotny, Robert Kovac, auch Carsten Ramelow reifen unter seiner Ägide zu Spielern gehobener oder internationaler Klasse heran. Calmund beweist mit Emerson, Zé Roberto, später Lucio den richtigen Riecher für den südamerikanischen Markt. Leverkusen war für Spieler aus der ehemaligen DDR schon kurz nach der Wende eine gute Adresse. Und auch zehn Jahre nach dem Mauerfall stehen noch Stefan Beinlich, Bernd Schneider, Ulf Kirsten und eben Michael Ballack im Kader. Medienwirksam lässt Daum seine Spieler über Glasscherben laufen. Doch der Erfolg gibt ihm recht: In seinen fünf Spielzeiten fährt Leverkusen drei respektable Vizemeisterschaften ein. Bayer löst Ende der 90er Dortmund als zweite Kraft neben den Bayern ab.

Christoph Daum und die Kokain-Affaire
Nach Ribbecks Abgang bei der Nationalelf sollte Rudi Völler interimsweise den Trainerposten füllen, im Sommer 2001 würde Daum übernehmen. Solange lief sein Vertrag in Leverkusen. Doch bereits im Oktober 2000 ist Schluss. Uli Hoeneß brachte den Stein ins Rollen. Die Fehde der beiden Fußballmacher geht bis Ende der 80er, in Daums Kölner Zeit zurück. Hoeneß kritisiert die Wahl des DFB, Daum zum Nationaltrainer zu machen vage, fragt wie das mit einer gleichzeitigen Antidrogenkampagne zusammenpasse. Daum weist die Vorwürfe des Drogenkonsums zurück, lässt sich kurz darauf doch auf einen Haartest ein. Seine Deklaration auf der zugehörigen Pressekonferenz geht in den allgemeinen Sprachgebrauch über: „Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe.“ Die Testergebnisse strafen ihn Lügen. Daum wird von seinem Amt bei Bayer Leverkusen entbunden. Der Vorvertrag mit dem DFB wird aufgelöst. Daum taucht in den USA unter, muss sich später vor Gericht verantworten.

Nach der Kokain-Affäre bleibt Daum lange Zeit Persona non grata in Fußballdeutschland. Ballack wird sich im Rückblick durchweg positiv äußern, nennt Daum einen „besonderen“, einen „Ausnahmetrainer“.[10] In den knapp eineinhalb Jahren unter Daum reift Ballack zum gestandenen Bundesligaspieler, findet seine Position im zentralen Mittelfeld. Gleichzeitig lässt ihm das taktische Konstrukt genügend Freiheiten seine später legendäre Torgefährlichkeit zu entwickeln.

“Christoph Daum hat als Erster diese [Leverkusener] Mannschaft geformt. Er war auch der vielleicht wichtigste Trainer in meiner Karriere, weil ich unter ihm mit 22 oder 23 Jahren den Durchbruch zum Stammspieler auf diesem Niveau geschafft habe.”

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Christoph Daum [11]

Ist die Mannschaft geschockt, so lässt sie es sich nicht anmerken. Leverkusen gewinnt fünf der nächsten sieben Spiele. Zunächst übernimmt Rudi Völler die Trainingsleitung, anschließend Berti Vogts. Das Meisterrennen ist eng wie selten. Noch Ende April liegen die ersten fünf in der Tabelle nur drei Punkte auseinander – Bayern, Schalke, Dortmund, Leverkusen und Hertha. Den längsten Atem haben erneut die Bayern, bis zur letzten Minute der Saison. Im Fernduell müssen die Schalker mitansehen, wie München in der Nachspielzeit noch den Ausgleich beim HSV erzielt. Erneut war Unterhaching am letzten Spieltag Gegner des Vizemeisters. Das Schalke sein Spiel mit 5:3 gewinnt ist dabei nur ein schwacher Trost.

Für Leverkusen bleibt nur Platz vier. Immerhin berechtigt das zur Teilnahme an der Qualifikation zur Champions League. Und es ist vielleicht auch ein Grund, dass Michael Ballack eine weitere Saison in Leverkusen verbleibt. Denn mittlerweile jagt halb Europa den 24-Jährigen. Real Madrid und Chelsea machen Angebote. Bayern München war schon vor seinem Wechsel zu Leverkusen dran. Ballacks Vertrag läuft eigentlich bis 2005, aber im Sommer 2002 greift eine Klausel, nach der er vergleichsweise billig wechseln kann. So soll es einen Vorvertrag mit den Bayern geben. Nationalmannschaftskollege Deisler – Neuzugang für ’02 – bekam für seine Zusage ein fürstliches Handgeld. Zudem kündigte Effenberg nach dem CL-Sieg seinen Abgang mit Ablauf seines Kontrakts an; ebenfalls im kommenden Sommer.[12] Bis dahin wird der Tiger zum Politikum, Sündenbock einer verkorksten Münchener Saison.

Bayer verstärkt sich nochmals punktuell. Yildiray Bastürk (22J.) kommt vom VfL Bochum und wirkt als kreatives Pendant im Mittelfeld zu Ballack und Ramelow. Zoltan Sebescen (25J.) kostet umgerechnet 6 Millionen Euro, kann mehrere Positionen in Abwehr und Mittelfeld einnehmen. Neue Nummer eins im Tor wird Hans-Jörg Butt. Er kommt mit der Empfehlung von 19 Elfmetertoren in drei Spielzeiten ablösefrei aus Hamburg.

Der wichtigste Neuzugang nimmt aber auf der Bank Platz. Klaus Toppmöller ist der neue Trainer. Der Pfälzer spielte knapp ein Jahrzehnt Erste Bundesliga für Kaiserslautern, später in der Zweiten und unterklassig für den FSV Salmrohr. Dort fungierte er zum Ende als Spielertrainer. Über weitere Stationen, u.a. Bochum, mit denen er in den UEFA-Cup einzieht, landet er als Nachfolger Vogts’ bei Leverkusen. Unter Toppmöller spielt die Werkself nochmal schneller, direkter, etabliert das Umschaltspiel. Das System mit offensiven Außenverteidiger prägt noch Jahre später den europäischen Fußball.[13] Ballack ist eine der wichtigen Säulen in einem Team, das mehr als nur die Summe seiner Einzelteile war.

„Toppi hatte seine Stärken in der Mannschaftsführung. [Er konnte ein] Vertrauensverhältnis zwischen Trainer und Spieler [aufbauen]. Das hat er mit Emotionalität, Charme und auch einer gewissen Witzigkeit hinbekommen.“

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Klaus Toppmöller [11]

Vizekusen

Nach der durchwachsenen Vorsaison gehört Leverkusen nicht zu den Meisterfavoriten. Schalke war denkbar knapp dran, Bayern ist amtierender Champions League-Sieger. Dortmund wirft mit Geld um sich. Allein Marcio Amoroso kostete 50 Millionen DM. Doch bis zum Dezember verliert Bayer kein Ligaspiel. An Spieltag 13 steht man erstmals an der Tabellenspitze. Im gleichen Zeitraum gelingt der Einzug in die zweite Gruppenphase der Champions League. Nach Barcelona, Lyon und Fenerbahce warten nun Juventus, La Coruna und Arsenal. Zwischendurch schießt Ballack Deutschland zur WM. In der Quali-Gruppe belegte Deutschland hinter England den zweiten Platz, musste also in die Play-offs. Beim Hinspiel in der Ukraine (1:1) besorgt Ballack den Ausgleich. Im Rückspiel (4:1) steuert er zwei Treffer bei. Leverkusen wird Herbstmeister, Ballack hat mit bis dahin neun Toren entscheidenden Anteil. Am Ende wird er 17 auf seinem Konto haben, der Bestwert in seiner Mannschaft.

Das größte Weihnachtsgeschenk legt aber Uli Hoeneß den Bayern-Fans unter den Baum. Just zum Start der Winterpause wird der Wechsel von Ballack offiziell, für vergleichsweise schmale 28 Millionen DM. Das Timing ergibt Sinn: Der beste deutsche Feldspieler landet beim größten deutschen Verein. Einige Jahre zuvor wäre der Schritt möglicherweise zu früh gekommen, der junge Ballack im Münchner Starensemble untergegangen. Nun hätte er sich wohl den neuen Verein in ganz Europa selbst aussuchen können. Andere hätten sicher mehr Gehalt gezahlt. Sein Berater Michael Becker ließ sich zuvor schon zitieren: Ballack könne „allein nach sportlichen Aspekten entscheiden“.[14] Hoeneß machte ihm den Wechsel mit der anstehenden Weltmeisterschaft im eigenen Land zusätzlich schmackhaft, schwärmte ihm von seinen eigenen Erfahrungen 1974 vor. Im Vorfeld ins Ausland zu gehen, sei unsinnig, danach noch Zeit genug.

Zwar avancierte Ballack innerhalb weniger Jahre zum Shootingstar und Hoffnungsträger des deutschen Fußballs. In fremden Stadien wurde er deswegen jedoch nicht von allen geliebt. So ist der Wechsel zu den Bayern auch Wasser auf die Mühlen derer, die in Ballack ohnehin den Schnösel sehen. Seine Selbstsicherheit abseits des Platzes wird ihm als Arroganz ausgelegt.

So stehen in Leverkusen die Zeichen auf Abschied. Ballack tritt zu seiner letzten Runde in Leverkusen an. Und was für eine es werden sollte! Nach einer kurzen Schwächephase zum Jahreswechsel folgen zehn ungeschlagene Spiele. Am 24. Spieltag übernimmt Leverkusen nach einem fulminanten 4:0 gegen den bisherigen Primus Dortmund wieder die Tabellenspitze. Anfang März schlägt man im Halbfinale des DFB-Pokals die Rivalen vom 1. FC Köln (3:1 n.V.). Auch in der Champions League stehen K.O.-Spiele an: Im Viertelfinale muss Bayer zunächst auswärts an der Anfield Road antreten, verliert dort mit 1:0. Im Rückspiel besorgt Ballack zweimal die Führung, Leverkusen gewinnt 4:2. Erneut geht es im Halbfinale nach England. Manchester United wird mit zwei Unentschieden (2:2 und 1:1) ausgeschaltet. Ballack ist mit sechs Toren Bayers Toptorschütze im Wettbewerb.

Alles deutet auf einen triumphalen Saisonabschluss hin. Mit dem Ligaspiel gegen Bremen nimmt das Unheil seinen Lauf. Vor dem 32. Spieltag steht Leverkusen an der Tabellenspitze, hat fünf Punkte Vorsprung auf Dortmund, sieben auf Bayern. Bremen kämpft noch um den Einzug in den UEFA-Cup, schockt Leverkusen, siegt auswärts 1:2. In der Woche drauf muss Bayer nach Nürnberg. Der Club macht mit einem 1:0 den Klassenerhalt klar. Schlimmer noch: Dortmund gewinnt seine Spiele, übernimmt die Tabellenführung. Zwar schlägt Leverkusen am letzten Spieltag Hertha mit 2:1. Durch Dortmunds Sieg über Bremen (2:1) ist das nur Makulatur, der BVB wird Meister. Mit dieser Hypothek geht Leverkusen sieben Tage später in das DFB-Pokalfinale, Ballack angeschlagen. Bayer geht zwar in Führung. Mit Seitenwechsel nimmt Schalke Fahrt auf, bezwingt Butt viermal. Kirstens Treffer kurz vor Schluss ist nur noch Ergebniskosmetik. Leverkusen verliert 2:4.

Am 15. Mai 2002 macht Ballack in Glasgow sein (zunächst) letztes Spiel für Leverkusen. Nur vier Tage nach dem verlorenen DFB-Pokalfinale geht es um die nächste Trophäe. Ballacks Fuß ist aufgrund des Einsatz vom Samstag geschwollen. Doch wer irgends laufen kann, spielt auch ein Champions League-Finale. Der Werkself steht niemand geringeres gegenüber als Real Madrid. Zu dieser Zeit firmieren die Königlichen als die Galaktischen. Präsident Florentino Perez machte es sich zur Aufgabe, die besten Spieler der Welt nach Madrid zu holen. Koste es, was es wolle. Die Mannschaft hatte bereits 1998 und 2000 die CL gewonnen. Der Kader ist mit großen Spielern wie Fernando Hierro, Roberto Carlos, Claude Makelele oder Raul bereits bestens besetzt. Perez fügte ihr Luis Figo und Zinedine Zidane hinzu, später Ronaldo und David Beckham. Auf dem Papier war Real eine Übermacht. So geht Madrid bereits nach acht Minuten in Führung, Raul war Lucio entwischt. Doch Leverkusen ergibt sich nicht dem Schicksal, sondern hält dagegen. Ballack fordert die Bälle, ist überall zu finden. Nach einer Viertelstunde holt er auf der Außenbahn einen Freistoß heraus. Die anschließende Hereingabe verwandelt Lucio mustergültig zum 1:1. Bayer spielt schnell und direkt, der Stil ist ausgefeilt. Eine Halbzeit kann Leverkusen mehr als nur mithalten. Die Arbeitsteilung im Mittelfeld stimmt: Ramelow erobert die Bälle, Ballack schleppt und verteilt, Bastürk zaubert. Kurz vor dem Pausenpfiff zeigt Zidane, warum er mit 150 Millionen DM der teuerste Spieler der Welt, das Prunkstück der Galaktischen ist. Mit einem Geniestreich stellt er die Partie auf den Kopf. Auf links gewinnt Roberto Carlos ein Laufduell mit Sebescen, schnalzt den Ball zurück auf Höhe des Strafraums. Zidane ist ungedeckt, Zivkovic kommt zu spät aus der Kette, Ballack aus dem Mittelfeld. Zizou nimmt den Ball volley mit links, zieht ihn aus 16 Metern ins Kreuzeck.

Die weitere Partie wird eine Demonstration des dreimaligen Weltfußballers. Zidane gibt in Halbzeit zwei den Ton an, lässt Bayer am ausgestreckten Arm verhungern. Leverkusen kommt zwar noch zu Chancen, allein ein erneuter Ausgleich gelingt nicht. So gewinnt Real gewinnt den dritten CL-Titel in fünf Jahren. Leverkusen „verspielt“ den dritten Titel innerhalb weniger Wochen, erntet den Spitznamen „Vizekusen“. Dennoch: Bayer unterlag in einem großen Spiel einer großen Mannschaft. Die Art der Niederlage, die Art Fußball zu spielen bringen auch Sympathien. Die Saison als Ganzes war erfolgreich, auch wenn ihr die Krönung verwehrt blieb. Klaus Toppmöller wird Deutschlands Trainer des Jahres 2002. Ballack wird ins UEFA Team des Jahres gewählt.[15] Sechs Spieler der Mannschaft landen in Bayers Jahrhundertelf.[16]

Rainer Calmund würde später einmal sinngemäß sagen, er wird lieber fünf Jahre Vizemeister und spielt regelmäßig Champions League, als einmal Meister zu werden und dann abzusacken. Leverkusen verband beide Szenarien. Das Fenster, um Titel zu gewinnen war schmal. Wie so häufig für nationale Herausforderer der Bayern schloss es nach wenigen Jahren. In kurzer Folge wechselten Robert Kovac (’01), Zé Roberto (’02), Michael Ballack (’02) und später Lucio (’04) von Leverkusen nach München. Hinzu kommen schwere Verletzungen u.a. bei Nowotny und Sebescen, sodass Leverkusen in der Folgesaison nur knapp dem Abstieg entgeht und am Ende auf Platz 15 landet.

Japan/Südkorea

Ballacks Saison 2002 war damit noch nicht vorbei. Nach 50 Saisonspielen für Leverkusen reist er mit der Nationalmannschaft nach Japan und Südkorea zur Weltmeisterschaft. Dass dort noch viele Saisonspiele hinzukommen würden, dachten nach der desaströsen EM 2000 wohl die Wenigsten. Allein die Kadernominierung sorgte – naturgemäß – für Diskussionen. Teamchef Rudi Völler hatte eigentlich kaum Auswahl, ließ dennoch mit Martin Max den Torschützenkönig der Bundesliga daheim. Stattdessen fuhr Carsten Jancker mit, dem in 18 Saisonspielen für Bayern kein Treffer gelang.

Einigermaßen souverän, wenn auch nicht schön, überstand man die Gruppenphase. Saudi Arabien war im ersten Gruppenspiel der beste Aufwärmgegner. Miroslav Klose erzielt drei Tore beim 8:0-Kantersieg. Auch Carsten Jancker trifft. Das hohe Ergebnis trügt über die fußballerische Klasse. In den weiteren Spielen werden die spielerischen Defizite offensichtlich. Im zweiten Spiel leisten die Iren mehr Gegenwehr. Zwar geht Deutschland nach knapp zwanzig ordentlichen Minuten in Führung, wieder durch Klose. In der Folge lässt man sich jedoch immer weiter zurückdrängen, dass Irland schließlich in der Schlussminute noch zum Ausgleich kommt. Im letzten Gruppenspiel gegen Kamerun geht es für beide Mannschaften ums Weiterkommen. Dementsprechend ruppig wird es auf dem Platz. Schiedsrichter Lopez Nieto verwarnt insgesamt 14 Spieler, verweist zwei des Platzes. Bode und Klose sorgen auf Seiten Deutschlands für Jubel und den 2:0-Sieg. Kleine Rache für den Leverkusener Block in der Nationalmannschaft: Sowohl Titelverteidiger Frankreich rund um Zidane als auch Portugal mit Figo scheiden in der Vorrunde aus.

Völler hatte in der Vorrunde dreimal mit der gleichen Startelf begonnen, musste aber zum Achtelfinale nach der Kartenflut notgedrungen wechseln: Rehmer, Bode und Jeremies kamen für die gesperrten Hamann, Ziege und Ramelow. Neuville ersetzte zudem Jancker. Ballack hatte aufgrund von Wadenproblemen mit dem Training aussetzen müssen, konnte aber gegen Paraguay auflaufen.[17] Viel hätte er nicht verpasst. Beide Mannschaften agieren passiv, zuweilen müde. Auch Ballack schleppt sich durch die Partie, kann keine klare Linie ins Spiel bringen. Die besseren Chancen hat eher noch Paraguay, Kahn ist der Rückhalt. Als „typisch Deutsch“ beschreibt der große Cesare Maldini, Trainer der Paraguayer, dann das Weiterkommen der DFB-Auswahl. Bernd Schneider war die rechte Außenlinie durchmarschiert, flankte in die Mitte, wo sein Leverkusener Teamkollege Oliver Neuville aus kurzer Distanz vollendete; in der 88. Minute. Auch Teamchef Völler zeigte sich kritisch nach dem Spiel: „Wir haben in der ersten Halbzeit schlecht Fußball gespielt, eigentlich haben wir gar keinen Fußball gespielt.“[18]

Im Viertelfinale gegen die USA wird es wenig besser. Kehl hatte sich nach seiner Einwechslung im Achtelfinale festgespielt, sodass von den zuvor Gesperrten nur Hamann und Ziege zurück ins Team kamen. Auch Neuville wurde mit einer erneuten Startaufstellung belohnt. Die USA bestimmen das Spiel, verbuchen gleich zu Beginn mehrere Großchancen. Kahn klärt unter Bedrängnis. Erneut ist Deutschland zu passiv, kommt offensiv nur über Standards zur Geltung. Bezeichnenderweise fällt das 1:0 durch einen Freistoß. Ziege bringt ihn aus dem rechten Rückraum, Ballack verwandelt per Kopf (39′). Die Führung brachte kaum Sicherheit. Ein ums andere mal ließ sich die Hintermannschaft mit simplen Kombinationen aushebeln. Doch das späte Gegentor wie noch gegen Irland bleibt aus. Die Gazetto dello Sport titelt nach dem Spiel „Kahn bewirkt Wunder“.

Zurück auf Anfang: Seoul, Austragungsort des Eröffnungsspiels, sieht auch das Halbfinale zwischen Gastgeber Südkorea und Deutschland. Und den bis dahin besten Auftritt der deutschen Elf. Gleich von Beginn gibt die Truppe um Ballack den Ton an, wieder mit Ramelow statt Kehl. Zwar gescholten für seine bisherigen Auftritte, machte er nun auf der ungewohnten Abwehrposition eine gute Partie. Zumindest bis zur 71. Minute: Bei einem Konter der Koreaner geht Ramelow nicht entschieden genug in den Zweikampf, Ballack muss ausbügeln, sieht Gelb. Es ist die dritte im laufenden Wettbewerb, was eine Sperre für das nächste Spiel – das Finale – nach sich zieht. Doch dort sind die Deutschen noch nicht. Das Mittelfeld mit Ballack und Hamann harmonierte und dominierte das Spiel, das Chancenplus konnten sie aber noch nicht vergolden. Zumindest bis zur 75. Minute: Neuville treibt den Ball auf dem rechten Flügel tief in die gegnerische Hälfte, flankt blind in den Strafraum. Dort lauert Bierhoff, reagiert auf den kommenden Ball zu langsam. Aus dem Mittelfeld spurtet Ballack heran, nimmt den Ball aus dem Lauf mit rechts, trifft Torwart Lee. Der Abpraller landet wieder bei ihm. Dieses mal verwandelt er mit links zum 1:0-Siegtreffer, schießt die Deutschen damit ins Finale.

Epilog

„Einen Spieler der Klasse Ballack können wir nicht adäquat ersetzen, das trifft uns jetzt ganz brutal.“

~ DFB-Trainer Rudi Völler über Ballacks Sperre im Finale [1]

Es ist ein interessantes „Was wäre, wenn…?“-Szenario der deutschen Fußballgeschichte: Hätte die Nationalmannschaft gegen Brasilien im Finale gewonnen, wenn Michael Ballack dabei gewesen wäre? In der Erinnerung bleibt, wie Kahn Rivaldos Schuss nach vorne prallen lässt und Ronaldo abstaubt. Die Stunde zuvor hatte Deutschland stark gespielt, besser gestaltet, als man es ihr nach den bisherigen Auftritten zugetraut hätte. Bis zum Finale hatte Deutschland gegen mäßige Kontrahenten biedere Leistungen gezeigt. Die mannschaftliche Geschlossenheit glich die spielerischen Limitationen aus. Die individuelle Qualität von Kahn und Ballack sicherte das Weiterkommen. Brasilien war der stärkste Gegner und die deutsche Elf machte ihr bestes Spiel. Hamann und Jeremies – für den gesperrten Ballack – hielten im Mittelfeld die starken Kleberson und Ronaldinho zeitweise in Schach, entwickelten jedoch kaum Torgefahr. Neuville hatte die Führung auf dem Fuß bzw. Kopf. Ballack muss von außen mitansehen, wie Ronaldo Turniertreffer sieben und acht markiert. Brasilien gewinnt 2:0, wird zum fünften mal Weltmeister. „Brasilien [war] bei diesem Turnier die beste Mannschaft und ist deshalb auch verdient Weltmeister“, so Völler nach dem Spiel. Kahn, Ballack und Klose werden ins All-Star-Team des Turniers gewählt, Ballack außerdem zu Deutschlands Fußballer des Jahres 2002. Seine Kritiker ließ das nicht verstummen.

„Ein Weltstar ist er längst noch nicht. Er braucht noch eine Zeit, um so groß zu sein, wie er jetzt in den Medien dargestellt wird. Die ganz großen Spieler haben nämlich große Titel geholt, und daran muss er noch arbeiten.“

~ Otto Rehhagel nach Ballacks Auszeichnung zum Fußballer des Jahres 2002 [3]

In weiteren Teilen: Die Chelsea-Jahre und Michael Ballacks Abschied aus der Nationalmannschaft.

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei aquafisch für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von aquafisch gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-NC 2.0

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