gastautor2 – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Fri, 02 Nov 2018 11:10:36 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Der letzte Leitwolf https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/ https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/#comments Thu, 09 Mar 2017 17:00:32 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3151 Weiterlesen]]> Am 3. März 2010 war es noch nicht absehbar, doch ein Großer verließ die Nationalmannschaft. München bereitete im Testspiel gegen Argentinien die Bühne für den letzten Auftritt Michael Ballacks im schwarz-weißen Dress. Der Abgang selbst sollte sich elendig lang hinziehen. Der dritte Teil einer Retrospektive (hier geht es zu Teil 1, Teil 2 ist hier zu finden).

Autor: Sebastian Kahl

Das Ende nahm in Wien seinen Anfang. Auch bei der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz liefen die Fäden des deutschen Spiels bei Michael Ballack zusammen. Erneut trieb der nun 31-Jährige sein Team mit wichtigen Treffern an. Im letzten Gruppenspiel gegen Österreich erzielte er das einzige Tor der Partie. Ballacks brachialer Freistoß wurde anschließend in Deutschland zum Tor des Jahres gewählt. Im Viertelfinale gegen Portugal stellte er per Kopf auf 3:1. Nach einem Anschlusstreffer von Helder Postiga gereichte das zum Siegtreffer. 

Es war allerdings keine Ein-Mann-Vorstellung mehr. Der 2008er Kader ist der wohl beste, in dem Ballack zu einem Turnier antrat. Die Achse Lehmann, Metzelder, Frings, Ballack, Klose brachte die nötige Erfahrung mit, während Talente wie Lahm, Mertesacker, Schweinsteiger und Podolski nicht mehr blutjung waren. In der Folge sollten es diese vier auf insgesamt 467 Länderspiele bringen. Die Allrounder Friedrich, Fritz, Jansen und Hitzlsperger sowie der im Turnier glücklose Gomez ergänzten das Aufgebot, das mit einer ungewohnt offensiven Mentalität, nervenaufreibender defensiver Naivität und einer Portion Glück das Endspiel erreichte.

Dort fiel die Niederlage gegen Spanien mit 0:1 noch gnädig aus. “Deutschland, Holland, Italien”, lautet zukünftig die Antwort auf eine Fußball-Quizfrage. Es sind die Finalgegner einer der besten Mannschaften aller Zeiten. Zu groß war die Kluft zur Furia Roja.

„Ballack, ein verwünschter Kapitän.“

Le Parisien (FRA), nach dem verlorenen EM-Finale 2008

 

Für Ballack ergab sich eine bittere Parallele zu 2002. Lagen damals knapp sieben Wochen zwischen verlorenem CL- und WM-Finale, waren es nun kaum mehr sechs zwischen CL- und EM-Finale. Lagen damals noch realistischerweise vier bis sechs Spielzeiten auf einem ähnlichen Weltklasse-Niveau vor ihm, waren es nun mit etwas Glück bei möglichen Verletzungen noch zwei oder drei Spielzeiten in der internationalen Klasse.

Was sich knapp ein Jahrzehnt danach nüchtern aufrechnen lässt, dürfte am Abend selbst im Spielerkopf auf einer ganz anderen Gefühlsebene rumort haben. Der immens wetteifernde Ballack wirkte nie wie jemand, der sich darüber freut, im Anschluss an ein solches Finale bei der Siegerehrung eine Medaille für den zweiten Platz entgegennehmen zu müssen. Es ist wenig verwunderlich, dass sich in dieser Gemengelage ein Konflikt Bahn brach, der wohl schon seit Wochen im Camp schwelte.

Im ersten Turnier unter der Ägide von Joachim Löw wurden die Machtverhältnisse neu ausgelotet, innerhalb des Teams wie auch im Verhältnis zwischen Trainerstab und Mannschaft. Die Altvorderen um Ballack und Frings reklamierten diese Vormachtstellung für sich, sollen so z.B. eine Reduzierung des Fitnessprogramms im Trainingslager durchgesetzt haben. Ballack sprach sich gegen die Besuche der Frauen und Freundinnen im Camp aus, betitelte diese als “unprofessionell”. Ein Novum: Neben den Lebensgefährtinnen der Spieler waren erstmals auch Familienangehörige des Trainerstabs regelmäßig im Camp zu Besuch.[1]

Besonders nach der 1:2-Niederlage gegen Kroatien im zweiten Gruppenspiel schien die Stimmung auf der Kippe. Kapitän Ballack hatte sich Einwechsler Odonkor zur Brust genommen und dessen gezeigte Leistung kritisiert. Lahm und Friedrich gingen dazwischen, Odonkor sei als Ergänzungsspieler die falsche Gewichtsklasse. Während die ältere Generation in unmissverständlicher Sprache ihre Meinung kundtat, störten sich die Jüngeren vor allem am fehlenden Mannschaftsgeist und negativen Vorbildern.[2]

Als Herbergsvater der Sippschaft fungierte Oliver Bierhoff. Der 70-fache Nationalspieler wurde zum Amtsantritt von Jürgen Klinsmann im Sommer 2004 als Teammanager installiert. Die neu geschaffene Position diente als Bindeglied und Blitzableiter zwischen dem Trainerstab der Nationalmannschaft und dem DFB-Präsidium. Teammanager Bierhoff verantwortete neben der Planung und Durchführung der Trainings- und Turnierlager ebenfalls die Marketingstrategie der DFB-Auswahl.

So war es dann auch Bierhoff, der nach Abpfiff des verlorenen EM-Finales wagemutig Ballack ein Spruchband in die Hand drückte, mit dem sich das Team bei den Fans für die Unterstützung bedanken sollte. Als nette Geste gedacht, mutierte die Szene zum unrühmlichen Schauspiel. Neben den unflätigen Ausdrücken, die Ballack Bierhoff dabei entgegen geschleudert haben soll (FAZ: “Pisser”, “Obertucke”), drohte der aufgebrachte Kapitän seinem Teammanager laut kicker-Bericht auch Schläge an. Kevin Kuranyi konnte ihn von Schlimmerem abhalten.[3][4]

Unmittelbar nach der Partie wurde die Situation kleingeredet. Bierhoff zeigte sich verständnisvoll ob der erneuten Enttäuschung und vermutete ein Missverständnis. Ballack schwieg. Wohl auch intern, denn da wurde die Situation nicht aus der Welt geräumt, bevor sich die Auswahlspieler in den Urlaub empfahlen.

Erst im September folgte die Aussprache und eine Entschuldigung seitens Ballack für seine Wortwahl. Trotz Verletzung und Nicht-Nominierung für den Auftakt zur WM-Qualifikation gegen Liechtenstein erschien Ballack im Trainingslager in der Sportschule Oberhaching. Und trotz angenommener Entschuldigung konnte sich Bierhoff eine weitere Spitze gegen Ballack nicht verkneifen. Angesprochen auf das verletzungsbedingte Fehlen des Kapitäns stellte Bierhoff trocken fest, die Nationalmannschaft habe sowohl mit als auch ohne Ballack gute Spiele gemacht und sei nicht so abhängig von ihrem Star, wie häufig angenommen. Dieser wiederum entgegnete, dass die Nationalmannschaft Erfolg hatte, bevor Bierhoff Teammanager war und auch zukünftiger Erfolg nicht von Bierhoff abhängen werde. Einig waren sich die beiden wohl nur, dass sie gut aufeinander in der Nationalmannschaft verzichten könnten.[5][6]

Derweil wusste die BZ, wie die Sympathien in der Mannschaft verteilt waren: Team Ballack umfasste Frings, Schweinsteiger, Podolski, Hitzlsperger, Gomez und Fritz. Auf Seiten Bierhoffs standen Lahm, Metzelder, Klose, Friedrich und Jansen. Der Rest sei neutral – oder froh, überhaupt dabei zu sein.[7]

Kapitän und Adjutant

Der größte Ballack-Befürworter in Mannschaftskreisen war sicherlich Torsten Frings. Beileibe nicht als Frohnatur bekannt, wird auch der eine oder andere jüngere Spieler mit dem knorrigen Bremer aneinander geraten sein. Spätestens seit der EM 2004 gehörte der Lutscher zum Stammpersonal der Nationalmannschaft, gab neben Ballack im zentralen defensiven Mittelfeld den Aufräumer und Wasserträger. Zwei vom selben Schlag bildeten ein Duo, das funktionierte.

Auch bei der EM 2008 bestritt Frings alle Gruppenspiele, ehe ihn eine Rippenverletzung aus der Österreich-Partie im anschließenden Viertelfinale zur Pause zwang. Mit einer Einwechslung im Halbfinale und einem Startelf-Einsatz im Finale bestritt Frings also fünf von sechs Partien. Allerdings war Frings auch einer von sechs Spielern über 30 im Kader und entsprach damit nicht dem Jugendtrend. Die Optionen im zentralen Mittelfeld hießen nun Schweinsteiger, Hitzlsperger und bald darauf Khedira. Die Konkurrenz um den Posten neben Ballack war jünger, handlungsschneller, formbarer.

“Ich weiß, dass er seine Leistung noch bringen kann und bringen wird”, kommentierte Löw Frings’ Status im Oktober 2008. Die Aussage stand am Ende eines Länderspielwochenendes, bei dem Frings sechs von 180 Minuten gespielt hatte.

Am Vorabend des ersten Spiels, gegen Russland, habe Löw seinem Mittelfeldmann gegen 20 Uhr mitgeteilt, dass er mit ihm reden müsse. Erst nach Mitternacht habe er Frings dann auf sein Zimmer bestellt, um ihm “lapidar” mitzuteilen, dass er nicht in der Startelf stehen würde. Frings empfand die Art der Übermittlung als “Unverschämtheit”. Dass er sich im zweiten Spiel gegen Wales nicht einmal warmlaufen sollte, war eine “Demütigung”. Einen Rücktritt wollte er danach nicht ausschließen, denn das Wochenende habe ihm die Augen geöffnet.

Frings müsse “diese Pille eben auch mal schlucken”, befand Löw. Und schob einen Satz nach, den er über die Jahre noch so manchem Spieler ins Poesiealbum schreiben würde: “Ich setze weiter auf ihn.”[8][9]

Ballack sprang für seinen alten Kumpanen öffentlich in die Bresche. Nur wenige Wochen nach der überstandenen, aber sicherlich nicht überwundenen, Spruchbanner-Saga öffneten sich nun alle Schleusen.

In der FAZ kritisierte der Kapitän die Form des Konkurrenzkampfes. Gestandene Leistungsträger, Frings, Klose und auch er, würden plötzlich in Frage gestellt und öffentlich angegriffen. Vom Bundestrainer forderte er ehrlichere Ansagen, wenn Spieler nicht mehr in die Pläne passen sollten. Und zählte flugs Beispiele auf, nannte so Kahn, Kuranyi und Wörns, die ebenfalls mehr schlecht als recht aus der Mannschaft hinauskomplimentiert wurden.

Die Abgänge Kahn und Wörns fallen zwar noch unter die Amtszeit Klinsmanns. Ballack sah aber Löw in derselben Tradition. Kuranyi hatte sich während des vorgenannten Russlandspiels unerlaubterweise von der Mannschaft entfernt, nachdem er trotz Nominierung nur auf der Tribüne Platz nehmen durfte. Löw erklärte hernach die Nationalmannschaftskarriere Kuranyis für beendet. Auch Ballack kritisierte Kuranyis Aktion, sah darin aber vielmehr eine forcierte Handlung. Löw habe ihm schlichtweg keine Chance gegeben.[10]

Löw zeigte sich, verständlicherweise, verwundert und enttäuscht über die öffentlich vorgetragene Kritik. Ballacks Kommentare waren kein simples Rückenstärken eines verdienten Mitspielers. Vielmehr glich der Rundumschlag einer Kampfansage, denn wie Löw in seiner Replik richtig feststellte, waren “Aufstellung und Personalpolitik das Hoheitsgebiet des Bundestrainers und seines Trainerstabs”.

Eines verwundert: Löw betonte, Ballack sei als Kapitän ein wichtiger Ansprechpartner für ihn. Tatsächlich saßen die beiden im September bei Ballacks Besuch in Oberhaching mehrere Stunden zusammen. Auch der Plan für Südafrika stand: Das Spiel sollte schneller, die jungen Talente integriert werden. Allein 2009 würden Neuer, Boateng, Khedira und Özil debütieren. Selbst wenn Frings seine Form zwei weitere Jahre halten sollte, war doch nur noch eine WM-Teilnahme als – dann 33-Jähriger – Ergänzungsspieler realistisch. War es kein Thema? An welchem anderen Punkt sollte ein Trainer denn seinen Kapitän einschalten, wenn nicht um dessen besten Freund im Team auf eine veränderte Rolle oder einen möglichen Abgang vorzubereiten? Ein Reservespieler Frings würde nur funktionieren, wenn sich der Bremer darauf einließ.

Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus. DFB-Sportdirektor Matthias Sammer rügte, dass sich der Kapitän auf dieselbe Stufe wie der Trainer zu stellen versuchte. Letzterer sei “immer etwas Außergewöhnliches”. Karl-Heinz Rummenigge und Jürgen Klinsmann befanden, Ballack müsse sich entschuldigen. Während Lothar Matthäus das gegenseitige Vertrauen erloschen sah, appellierte Klaus Allofs, damals Werder-Manager, an die Vernunft aller, sich an einen Tisch zu setzen. DFB-Präsident Theo Zwanziger monierte zum wiederholten Male binnen mehrerer Wochen, die schmutzige Wäsche der Nationalmannschaft doch bitte nicht in der Öffentlichkeit zu waschen.[11][12][13]

Ballacks Gesundheitszustand verkomplizierte die Posse nur noch. Der 32-Jährige war kurz zuvor an beiden Füßen operiert worden, befand sich in der Reha. Eine Woche schwelte die Geschichte bereits, als ausgerechnet Uli Hoeneß Löw zur Aktion forderte. Bei aller Zeit, die der Bundestrainer ja habe, hätte er “selbst längst nach London fliegen und die Sache aus der Welt räumen können”. Der Schweizer Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld pflichtete ihm bei. Wer den beiden zur gemeinsamen Bayern-Zeit einen solchen Vorschlag gemacht hätte, wäre nie wieder auch nur in die Nähe der Säbener Straße gekommen.[14]

Löw dürfte sich der Symbolkraft eines solchen “Besuchs” bewusst gewesen sein. Der Bundestrainer hatte sich in dieser Situation nicht auf den Störenfried zuzubewegen. Daher wurde telefoniert. Was die Angelegenheit nur schlimmer machte.

Anders als beim Treffen im September dürfte es über die Inhalte keine Missverständnisse gegeben haben, wohl aber über die Interpretation. Ballack kam einer Erklärung des DFB zuvor und ließ bereits am selben Abend eine Erklärung veröffentlichen. Er wolle sich “in kürzester Zeit” mit Löw zusammensetzen und sich entschuldigen. Wohlgemerkt dafür, den Weg über die Öffentlichkeit gegangen zu sein. Während sich Ballack für die Form der Kritik entschuldigen wollte, erwartete Löw eine komplette inhaltliche Kehrtwende.[15]

Ballacks Zukunft in der Nationalmannschaft schien nun wirklich ungewiss. Selbst ein kompletter Rausschmiss war denkbar. Die Abendzeitung wollte von einem Ablasshandel erfahren haben, wonach Ballack zwar weiter Teil der Mannschaft bleiben würde, jedoch nicht mehr ihr Kapitän wäre. Der Favorit auf die Nachfolge: Philipp Lahm.[16]

Drei Tage nach dem Telefonat trafen sich die Parteien zum Friedensschluss. Ballack reiste im Privatjet nach Frankfurt, trotz Reha. Zwei Stunden trafen sich Bundestrainer und Kapitän unter vier Augen. Danach gab der DFB in einer Pressemitteilung zu erklären, Ballack habe seinen Fehler eingesehen: An die Öffentlichkeit zu gehen, habe den Eindruck erweckt, Ballack wolle Löw in seiner Position als Bundestrainer kritisieren. Er blieb Kapitän. Wenige Wochen später sollte er in einem Interview mit dem Pay TV-Sender Premiere zu Protokoll geben, dass er die Öffentlichkeit bewusst gesucht habe, “um ein bisschen wachzurütteln”. Was er da auf der anderen Seite im letzten halben Jahr erweckt hatte, sollte die Zeit zeigen. Die Auflösung des Disputs bestätigte nur, dass Ballack fußballerisch noch zu wichtig für die Nationalmannschaft war. Der Gegenbeweis sollte bei der Weltmeisterschaft 2010 erbracht werden.[17][18]

Meanwhile in London

Währenddessen hatte in London in Folge des verlorenen Champions League Finales 2008 Luis Felipe Scolari die Zügel in die Hand genommen. Und wohl recht schnell schleifen lassen. Denn an der Stamford Bridge war niemand so wirklich mit dem Weltmeistertrainer warm geworden, zu fremd die Methoden, zu schlecht die Ergebnisse. Nach wenigen Monaten war die Amtszeit des Brasilianers beendet. Auch Ballack soll seinem Unmut über den Trainer Luft gemacht haben.[19]

Als Nachfolger wurde Guus Hiddink auserkoren, ein Glücksgriff sowohl für den Verein als auch den deutschen Mittelfeldspieler. Hiddink stabilisierte das Team und brachte den Erfolg zurück, Ballack war gesetzt. Der holländische Coach nutzte ihn so defensiv wie sonst wohl keiner. Ballack agierte teilweise als einziger defensiver Mittelfeldspieler vor der Abwehr. In anderen Phasen teilte er sich die Aufgaben mit Michael Essien. Ein Ligator bei 29 Einsätzen sind Ausdruck für seine offensiv harmloseste Saison in England. Vorne brillierten Frank Lampard, Florent Malouda und der unter Hiddink ebenfalls neu aufblühende Didier Drogba.

Neben seinem Engagement bei Chelsea war Hiddink zugleich Trainer der russischen Nationalmannschaft. Er arbeitete von vornherein mit geborgter Zeit. Da die Konkurrenz aus dem Norden in der Liga bereits enteilt war, musste ein Pokal her, um den Coach am Saisonende mit einer Trophäe zu verabschieden. Wieder einmal ist es gerade der Wettbewerb, in dem es nicht klappte, der in Erinnerung bleibt. Im Halbfinal-Hinspiel der Champions League hatte Chelsea Guardiolas Barcelona ein 0:0 abgetrotzt. An der Stamford Bridge führten sie lange mit 1:0. Mehrere berechtigte Elfmeter wurden den Hausherren nicht zugesprochen. Unvergessen, wie Ballack Schiedsrichter Tom Henning Øvrebø mit wutverzerrtem Gesicht und ausgestreckten Armen über den Platz verfolgt. Die unrühmliche Szene zeigt, unter was für einem Druck er und sein Team standen. Andres Iniesta besorgte schließlich in der dritten Minute der Nachspielzeit den Ausgleich und somit den Finaleinzug Barcas.[20]

Chelseas Triumph sollte wenige Wochen später in Wembley folgen. Dieses Mal bogen sie den Rückstand um, Evertons Louis Saha hatte bereits nach 25 Sekunden getroffen. Drogba antworte nach 20, Lampard nach 70 Minuten. Im Sommer zog Ballack die Option, seinen Vertrag um ein Jahr zu verlängern und mahnte, dem neuen Trainer Carlo Ancelotti die nötige Zeit zu geben. Mit Mourinho, Grant, Scolari und Hiddink würde Ancelotti Chelseas fünfter Cheftrainer in nur drei Jahren werden.

Aber auch der baute auf den Deutschen, der 2009/10 auf 45 Pflichtspieleinsätze (fünf Tore) kam. In der Champions League war überraschend früh Schluss. Bereits im Achtelfinale mussten sich die Blues gegen Internazionale geschlagen geben, verloren sowohl Hin- als auch Rückspiel. In der zweiten Begegnung wurden auf beiden Seiten je vier Spieler verwarnt, Drogba flog nach einem Tritt gegen Thiago Motta vom Platz. Die zynische Spielweise der Mourinho-Truppe sollte u.a. noch Barcelona zur Verzweiflung treiben und am Ende zum Titelgewinn verhelfen. Chelsea war in diesem Sinne einmal mehr schicksalsbehaftet, schieden die Londoner doch bereits zum dritten Mal in Folge gegen den späteren CL-Sieger aus.

In England war die Saison jedoch ein voller Erfolg. Chelsea wurde mit einem Punkt Vorsprung auf Manchester United Meister. Das war vor allem ihrer überragenden Offensive zu verdanken: Nie hatte ein Premier League-Team mehr als 100 Tore geschossen, Chelsea schaffte 103. Dabei schossen sie gleich vier Teams mit sieben oder mehr Buden ab. Drogba wurde mit 29 Treffern Torschützenkönig, Lampard steuerte grandiose 22 Tore bei. Auch den FA Cup konnte Chelsea verteidigen und so das nationale Double klarmachen.

Das Foul und die Folgen

Der 15. Mai 2010: Gegner im Finale von Wembley war Portsmouth, die in der Liga aufgrund finanzieller Probleme abgeschlagen den letzten Tabellenplatz belegt hatten. Trainer Avram Grant wusste die Frustrationen immerhin in einen guten Pokallauf zu lenken. Mit Sunderland, Birmingham und Tottenham wurden drei Premier League-Teams ausgeschaltet.

Für eine Spielzeit hatte auch Kevin-Prince Boateng seine Zelte im Süden Englands aufgeschlagen. Der Deutsch-Ghanaer schaffte zuvor bei Hertha den Durchbruch und erarbeitete sich dort sowie bei seinen Stationen Tottenham und Dortmund den Ruf des Bad Boys. Nach gut einer halben Stunde gerieten er und Ballack im FA-Cup-Finale aneinander. Letzterer hatte sich mit Boatengs Mitspieler Brown ein sehr aktives Kopfballduell geliefert. In der anschließenden Auseinandersetzung wischte Ballack Boateng durchs Gesicht. Referee Chris Foy beließ es bei einer Ermahnung.

Boateng nicht. Nur wenige Minuten später räumte er Ballack resolut ab. Ob vorsätzlich oder nicht, Rücksicht auf Verluste nahm der damals 23-Jährige in der Situation nicht. Wohlwollend ging es ihm darum, den ballführenden Spieler und den gegnerischen Angriff zu stoppen. Zimperlich war Portsmouth aufgrund des Klassenunterschieds ohnehin nicht ins Spiel gegangen. Auf der anderen Seite wirkte es so, als hätte hier einer seine Chance zur Revanche gesehen und genutzt.

Letztere Auslegung entsprach dem geltenden Tenor in Deutschland. Boateng wurde auf Jahre zur persona non grata, denn Ballack schleppte sich im Finale zwar noch einige Momente über den Platz, wurde dann aber noch vor der Halbzeitpause ausgewechselt.

Mit der Diagnose kam der Schock: Teilriss des Syndesmosebandes im rechten Sprunggelenk. Die WM in Südafrika würde ohne den Kapitän der deutschen Nationalmannschaft stattfinden.

Ein solcher Wegbruch der Gallionsfigur war unvorstellbar. “Das Gerüst steht auf sehr wackligen Beinen”, befand der mittlerweile geschasste Torsten Frings im Hinblick auf die Kadersituation. Auf der Position im zentralen Mittelfeld fehlten neben Ballack auch Simon Rolfes und Christian Träsch verletzt. Frings spielte keine Rolle mehr in den Überlegungen des Bundestrainers. Im Februar 2009 war der Bremer noch einmal zu einem letzten Einsatz für die Nationalmannschaft gekommen. Bis zur finalen Absage von Löw, dass er nicht mehr mit ihm plane, sollte ein weiteres Jahr vergehen.[21]

Das Problem mit all den Grünschnäbeln, der “Fraktion Schwiegersohn” (Frings), die ihn und andere Altgediente im Kader ersetzen sollten, waren laut Frings die mangelnde Wettkampfhärte und die fehlende Turnier-Erfahrung. “Gegen England, Argentinien oder Spanien wird es somit eng werden”, prophezeite Frings.[22]

Mit 8:2 Toren in den Spielen gegen England, Argentinien und Spanien zog sich die unerfahrene Truppe dann aber achtbar aus der Affäre. Es sind die K.o.-Spiele, die in der Erinnerung herausstechen. Gerade weil sie in zwei von drei Fällen eben nicht im Desaster endeten. Und weil der Fußball kaum mehr wieder zu erkennen war. Hinten heraus leitete Neuer mehrere Treffer mit schnellen Abschlägen und -würfen ein. Die Abwehr um Mertesacker und Lahm war gefestigt. Schweinsteiger und Khedira ergänzten sich in der Zentrale, ließen Özil davor zur Entfaltung kommen. Der unbekümmerte Thomas Müller wurde zur Entdeckung des Turniers. Vorne schloss Klose unwiderstehlich die Angriffe ab.

Der bemühte Ballbesitzfußball, der auch in der Zeit unter Klinsmann noch notgedrungen gespielt wurde, gehörte der Vergangenheit an. Das Spiel war nun auf Vertikalität und überfallartige Konter ausgelegt. Lagen 2005 zwischen Ballannahme und Weiterleitung im Schnitt noch 2,5 Sekunden, waren es nun nur 1,1. Gegen England und Argentinien wurde die Sekunden-Marke sogar noch unterboten.[23]

Begünstigte Ballacks Ausfall die Spielweise? Selbstverständlich wäre es mit einer solch dominanten Figur nicht dasselbe Spiel gewesen. Die Entwicklung hin zum schnelleren Stil fand aber nicht ausschließlich im Trainingslager von Erasmia nahe Johannesburg statt. Ballack machte den Prozess mit, auch bei den Spielen der EM 2008 war schon ein Unterschied erkennbar. Das Tempo lag dort bei 1,8 Sekunden zwischen Annahme und Verarbeitung. Im englischen Liga-Alltag kam er zurecht, die vertikale Bewegung zwischen den Strafräumen war seine Stärke. Das richtige Gespür, wann er beim Konter aus dem Mittelfeld den Lauf in den Strafraum anbieten müsste, hatte er jahrelang perfektioniert.

Ballack wäre auch in einer erfolgreichen 2010er Mannschaft denkbar. Als einer, der “auf den Ball treten” und “Tempo rausnehmen” als strategische Mittel einsetzen kann. Nicht als Altgedienter, den es durchzuschleifen gilt.

Begünstigte Ballacks Ausfall nicht viel eher die Stimmung im Camp und somit indirekt die Spielweise?

Während der Kader 2008 unter dem “Generationenkonflikt” litt und 2012 von den Grabenkämpfen zwischen Bayern- und Dortmund-Spielern bestimmt wurde, glich die Situation in Südafrika allen Angaben nach eher dem ersten sturmfreien Abend eines Haufens Zwölfjähriger. Viele Spieler vom gleichen Schlag, die die Erfahrung des ersten oder zweiten Turniers eher mit großen Augen aufsaugten als sich die nötige “Wettkampfhärte” abzuholen. Ein guter Teil der Truppe kannte sich eh aus den Junioren-Auswahlmannschaften. 2009 gewann die U21-Auswahl die Europameisterschaft. Fünf Spieler, die dort das Finale bestritten, kamen im Jahr darauf auch in Südafrika zum Einsatz. Die “Fraktion Schwiegersohn” machte die Nationalelf zu ihrer Elf, schneller, als dem einen oder anderen lieb war.

Ein Kapitän ohne Team

“Natürlich ist das nicht einfach”, gab der zugeschaltete Kapitän zu Protokoll. Im Vorbericht der ARD zur Achtelfinal-Partie hatte Ballack den England-Experten gemimt. Wie denn die Stimmung sei, ob Capello aus den Einzelspielern ein Team formen könne. (Durchwachsen. Nein.) Nun sollte es aber um den Capitano gehen. So bejahte der Verletzte die Frage, ob er denn als Fußballer und obendrein Kapitän nicht lieber bei der Nationalmannschaft sei und die WM mitspiele, statt sie vor dem Fernseher zu verfolgen. Fünfzehn Jahre im Stahlbad der Medien hatten Ballack längst zum Profi werden lassen, und doch sind Frustration und Bitterkeit zu erahnen. Bei einem Weiterkommen würde er zur Mannschaft reisen, der Plan stünde. Der Viertelfinal-Einzug fehle zwar noch, aber da mache er sich keine Sorgen.

Auf den moralischen Support schien in Südafrika allerdings niemand gesteigerten Wert gelegt zu haben. Das Viertelfinale verfolgte Ballack im Stadion. In einer Szene fangen ihn die Kameras im Innenraum ein, dem Eingang zu den Katakomben näher als dem Spielfeldrand. Er wirkt vielmehr wie der Ritter von der traurigen Gestalt denn als Kapitän, der seine Mannschaft anfeuert. Und vielleicht liegt hier in der Nachbetrachtung auch schon eine vertane Chance. Es muss verdammt schwer sein, das womöglich letzte Turnier in international hochklassiger Form in solch einer Weise zu verpassen. Dann aber mit den Gegebenheiten zu arbeiten und, nicht im Camp, aber doch vor Ort, den ersten Cheerleader der Mannschaft zu geben, hätte ihm wohl viele Sympathien eingebracht. Oliver Kahn setzte sich bei der WM 2006 auf die Bank, nachdem er den Zweikampf um die Position als Stammtorhüter gegen Jens Lehmann verloren hatte. Der Handschlag zwischen beiden vor dem Elfmeterschießen im Viertelfinale gehört zu den Szenen des Turniers.

Ballack zog sich zurück und reiste nach einer Partie wieder ab, um sich selbst besser auf die neue Saison vorbereiten zu können und die Mannschaft in Ruhe arbeiten zu lassen. Dass im Halbfinale erneut gegen Spanien Schluss war, geriet dank des erfrischenden Stils fast zur Nebensache. Diese Elf habe noch Zeit, daraus würde sie lernen. Unter schlechten Vorzeichen hatte die Mannschaft eine doch erfolgreiche Weltmeisterschaft gespielt. Sogar das Spiel um Platz 3 gewann sie gegen Uruguay mit 3:2. An diesem 10. Juli 2010 sah die Zukunft der Nationalelf vielversprechend aus. Erstmals seit knapp einem Jahrzehnt schien darin auch eine erfolgreiche Variante ohne Ballack denkbar.

Noch im Mai hätte das niemand für möglich gehalten. Nicht einmal Philipp Lahm. Zumindest sprach der Interimskapitän es nicht öffentlich aus, als er gegenüber der SZ davon ausging, “dass Michael nach der WM wieder unser Kapitän sein wird”. Der Wind drehte noch während des Turniers. Lahm dürfte schon während der EM 2008? und zur Causa Frings als Rädelsführer der jungen Garde gegolten haben. Angespornt von den guten Leistungen seiner Mannschaft, schien die Zeit reif, auch extern Ansprüche zu stellen.[24][25]

Die erste Kampfansage lancierte der Münchner ausgerechnet vor dem Halbfinale gegen Spanien. Ballack war soeben abgereist, da warf Lahm am selben Abend in der BILD die Frage auf, warum er das Amt “freiwillig abgeben” sollte. Es sei doch klar, dass er die Kapitänsbinde gerne behalten möchte. In der folgenden DFB-Pressekonferenz befand Bierhoff den Zeitpunkt für “unglücklich”. Ein klares Bekenntnis blieb aus.[26]

Auch die Kritik von außen an Lahm, etwa von Effenberg oder Andi Herzog, störte sich eher am Zeitpunkt. Uli Hoeneß hatte Ballack bereits im Juni zum Rücktritt geraten, befand es für unklug, die EM 2012 mit dann 35 Jahren als großes Ziel ins Auge zu fassen. Lothar Matthäus sprach aus eigener Erfahrung, bereute sein Comeback Ende der 90er und gab die wohl vernünftigste Einschätzung zwischen allen Aufgeregten: Ballacks Fokus sollte auf der eigenen Gesundheit liegen, sodass er überhaupt im Verein noch einmal angreifen könne. Die Nationalmannschaft sei auch ohne ihn gut genug. Die Zeichen der Zeit zu erkennen und nun abzutreten, würde Größe beweisen.[27][28][29]

Schrödingers Kapitän

“Ich bin Kapitän der Nationalmannschaft”, verlautbarte Ballack beim Antritt in Leverkusen. Acht Jahre nach der dreifachen Vize-Saison war der Weltstar auf Bestreben von Bayers Sportdirektor Rudi Völler an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt. Im Hinblick auf Lahm pochte er auf die Hierarchien. Die Kapitänsfrage sei kein Wunschkonzert, bei Ansprüchen müsse er sich an den Trainer wenden. Oder direkt an ihn, denn beim nächsten Länderspiel werde Ballack “noch das eine oder andere Wort [mit Lahm] sprechen”.[30]

Beim ersten Länderspiel nach der WM waren allerdings beide nicht dabei, so wie viele andere Stammkräfte. Für die Statistiker: Im Testspiel gegen Dänemark im August 2010 führte Hitzlsperger die Mannschaft als Kapitän aufs Feld. Ballack fehlte auch Anfang September gegen Belgien und Aserbaidschan beim Auftakt zur EM-Qualifikation aufgrund von Fitnessrückständen. Das ersparte Löw erneut die Entscheidung. Der Bundestrainer wollte ohnehin zunächst mit beiden Spielern reden und “die Frage in aller Ruhe analysieren”. Auch “konzeptionelle Überlegungen” würden dabei eine Rolle spielen. Das legt den Schluss nahe, dass die Entscheidung schon gefallen war. Der offizielle Wechsel auf dem Posten des Kapitäns wäre der logische Endpunkt einer Entwicklung, die konsequent vorangetrieben wurde. Auch wenn die Umsetzung teilweise holpriger war als nötig, siehe Frings. Bierhoff ließ die Haltung der Verantwortlichen durchschimmern, als er bereits im Rahmen des Testspiels gegen Dänemark einen Appell nach Leverkusen schickte. So spüre Bierhoff aus Ballacks Aussagen, dass dieser noch “große Lust auf die Nationalelf” habe, die 100 Länderspiele voll machen und “eine starke EM spielen” wolle. Möglich wären die, dann aber nur nach den Regeln der Teamleitung. Bierhoff: “Ich glaube, das wird er nicht davon abhängig machen, ob er Kapitän bleibt.”[31][32]

So angriffslustig Ballack sich zum Antritt in Leverkusen gezeigt hatte: Sein zweiter Stint bei der Werkself stand unter einem schlechten Stern. Am 3. Spieltag musste er bereits nach einer halben Stunde verletzt ausgewechselt werden. Diesmal war es eine Schienbeinverletzung, die sich als hartnäckig erweisen sollte. Ballack fiel beinahe die komplette Hinrunde aus. In der Saison 2010/11 bestritt er nur 20 von 48 Leverkusener Pflichtspielen, wobei er 14 Mal in der Startelf stand. Glänzen konnte er selten.

Sein Team war allerdings trotzdem gut unterwegs. Leverkusen überwinterte auf Platz drei, punktgleich mit dem Tabellenzweiten Mainz, allerdings zehn Punkte hinter Dortmund. Mit seinem Vereins-Comeback zu Beginn 2011 wurde Ballack dann auch wieder, zumindest medial, ein Thema für die Nationalelf. Und bekam kurioserweise auch von Löw Rückendeckung. “Ballack ist der Kapitän, wenn er wieder dabei ist”, erklärte der Bundestrainer Ende Dezember in der Welt am Sonntag ohne Not. Ballack brauche nur Spielpraxis, dann regle sich alles andere schon.[33]

Die Devise lautete also: Aussitzen und hoffen, dass sich das Problem von allein erledigt. War es bei der ersten Länderspielreise im Februar 2011 durchaus sinnig, abzuwarten und zu schauen, wie sich Ballacks Fitnesszustand entwickelt, wurde mit fortschreitender Rückrunde einfach das Zeitfenster verschoben. Im Rahmen der anstehenden Nominierungen im Frühjahr wurde Ballack vertröstet, die Fitness… Aber man wolle sich in Kürze zusammensetzen und reden. Im Mai lautete der Tenor dann, man wolle “mal sehen, was in der nächsten Saison passiert”.[34]

Dabei war es ungewiss, ob Ballack diese noch in Leverkusen bestreitet, wechselt oder gar ganz aufhört. Denn auch im Verein hatte er beileibe keinen guten Stand. Der dreifache Fußballer des Jahres wurde weniger als heimkehrender Sohn betrachtet, denn mit Argwohn. Der Transfer ging vor allem auf Völler zurück, der seinen alten Weggefährten mit einem Zweijahresvertrag ausstattete. Das kolportierte Grundgehalt belief sich dabei auf sechs Millionen Euro im Jahr. Da hilft es nicht, auch noch Sonderbehandlungen einzufordern. Mit Trainer Jupp Heynckes war Ballack mehrfach aneinander geraten, da er sich halbfit nicht auf die Bank setzen wollte. Andererseits herrschte ohnehin ein Überangebot im zentralen Mittelfeld, defensiv wie offensiv. Das 4-2-3-1 als Grundlage ließe sich mit Simon Rolfes, Arturo Vidal und Renato Augusto sowie dem jüngeren Trio aus Stefan Reinartz (21 Jahre), Lars Bender (21 J.) und Gonzalo Castro (21 J.) eine ordentliche Doppelbesetzung ausmachen. Hinzu kam noch Routinier Hanno Balitsch, der zumindest den Vorteil hatte, fit zu sein und fit zu bleiben.[35][36]

Es war schon kaum mehr realistisch, dass sich Ballack noch einmal zum Leistungsträger eines Champions League-Klubs aufschwingen würde. In Leverkusen war kein Stammplatz zu haben, somit war auch eine leistungsbezogene Nominierung für die Nationalmannschaft in weite Ferne gerückt. Seit März hatte es rumort, dass Ballack noch eine Abschiedsspiel-Nominierung erhalten solle. Im Juni 2011 hatte Fußball-Deutschland schließlich Gewissheit, jedoch nicht ohne eine letzte Episode im Ballack-Löw’schen Rosenkrieg.

Vier Tage des Nachtretens

Am 16. Juni ließ der DFB über eine Pressemitteilung wissen, dass die Nationalmannschaft zukünftig ohne Michael Ballack plane und seinen Jugendkurs fortsetze. Ende März habe ein Treffen zwischen Löw und Ballack stattgefunden, zudem standen Bundestrainer und Kapitän a.D. regelmäßig telefonisch im Austausch. Löw habe dabei den Eindruck erhalten, dass Ballack durchaus Verständnis für die Sichtweise der Teamleitung hat. Im Interesse aller sei daher “eine ehrliche und klare Entscheidung angebracht” gewesen. Ein bereits angesetztes offizielles Freundschaftsspiel gegen Brasilien im August sollte als Abschiedsspiel dienen.[37]

Das Angebot schlug Ballack einen Tag später öffentlich aus. Im Nachhinein ein Test- zum Abschiedsspiel zu deklarieren, sei eine “Farce”. Ferner sei es scheinheilig zu behaupten, mit ihm und seiner Rolle sei “jederzeit offen und ehrlich umgegangen” worden.[38]

Das unwürdige Schauspiel nahm seinen Lauf. Die Reaktionen des DFB reichten von Gleichgültigkeit bis Entrüstung. Während Löw genau wusste, “was in den Gesprächen besprochen wurde”, zeigte Präsident Niersbach für Begriffe wie “Scheinheiligkeit” und “Farce” kein Verständnis. Die Gespräche seien aus seiner Sicht korrekt und fair verlaufen. Zudem soll im März bereits die Entscheidung über die Ausbootung/Abdankung kommuniziert und Stillschweigen vereinbart worden sein. Neben der Partie gegen Brasilien stand auch eine Nominierung im Mai für das Testspiel gegen Uruguay im Raum. So sollte die Marke von 100 Länderspielen erreicht werden. Dies habe Ballack ausgeschlagen.[39]

Ballack behielt am 19. Juni das letzte Wort, wohl aber nicht die Deutungshoheit. In einer Erklärung traf er Aussagen, die denen des DFB scheinbar diametral gegenüber stehen. Beim Treffen im März hätte Löw klar gesagt, dass er Ballack auf einem guten Weg sehe. Die Möglichkeit zur Rückkehr in die Nationalmannschaft wäre nicht versperrt. Vielmehr habe Ballack im Mai entschieden, selbst seinen Auswahl-Rücktritt zu verkünden. Als Zeitpunkt dafür schien ihm der Sommer angemessen. Dies sei so auch mit Löw und Niersbach abgestimmt worden. Während seines Urlaubs habe er dann lediglich eine Stunde vor ihrer Veröffentlichung von der Pressemitteilung erfahren.[40]

Letztlich verlief es wie schon mit Frings. An eine Wunderheilung, dass Ballack mit Mitte 30 nun endlich von Verletzungen verschont bleiben und nochmal an alte Glanztaten anknüpfen würde, wird niemand mehr geglaubt haben. Das Fass nicht während der WM 2010 aufzumachen, ist verständlich. Zumal Löws Vertrag mit dem Turnier auslief und eine Verlängerung an ein gutes Abschneiden geknüpft war. Die Frage, wo ein Spieler, der nicht zum Kader der 23 vor Ort gehört, gerade in der Hierarchie steht, dürfte nicht zu den pressierendsten des Bundestrainers gehört haben.[41]

Das mag und wird in der Mannschaft anders gewesen sein. Bei Ballacks Besuch dürfte dann wohl zu erkennen gewesen sein, dass er eben nicht mehr zu seinem Team kommt. Peter Ahrens brachte den Unterschied zwischen altem und neuen Kapitän auf den Punkt: Lahm ist Klassensprecher, nicht Leitwolf. Darauf sprang die Mannschaft in dieser Konstellation eher an. Und wollte diesen Weg weiter mitgehen. Lahm dürfte sich, ganz Klassensprecher, einer breiten Unterstützung im Team bewusst gewesen sein, die öffentliche Ansage in dieser Art und Weise während des Turniers zu lancieren. Das Ganze lässt sich beklagen oder bejubeln, als Fraktion Schwiegersohn schlecht reden oder zu flachen Hierarchien stilisieren. Es waren, wertfrei, einfach die Zeichen der Zeit.[42]

Und es waren andere Gegebenheiten, mit denen Ballack Mitte der Neunziger zwischen Chemnitz und Kaiserslautern als Jungprofi konfrontiert und in denen er sozialisiert wurde. “[Junge Spieler] hatten sich unterzuordnen, einzuordnen”, erzählte er 2009 in einem Interview mit der 11Freunde. Rechte und Freiheiten hätten junge Spieler nicht gehabt. Dafür konnten sie “innerhalb des Gerüsts wachsen”. Das zu vermitteln, ist Ballack nicht gelungen, wenn er es denn versucht hat.[43]

Nach der von Zwistigkeiten begleiteten EM 2008 soll der Bundestrainer seinem Kapitän ans Herz gelegt haben, seine Kritik an die Mannschaftskollegen doch moderater vorzutragen. Die dafür nötige Einfühlsamkeit mag ihm völlig abgegangen sein. Die Nuller Jahre hindurch verbrachte er in größtenteils “fertigen” Vereinsmannschaften. Bereits die Bayern hatten wenig Raum für junge entwicklungsfähige Spieler, solche die angelehrt werden mussten. Bei Chelsea war der Verdrängungskampf nur noch größer. Gestandene Spieler wurden für teures Geld geholt und, wenn sie nicht die erhoffte Leistung erbrachten oder in die Jahre kamen, durch andere gestandene Spieler ersetzt. Ballack war es im Sommer 2010 nicht anders ergangen. Alle zwei Monate zur Nationalmannschaft zu reisen, mit einer völlig ungewohnten Spielergeneration konfrontiert werden und diese dann in Reih und Glied bringen zu wollen, funktionierte nicht. Bzw. nur bis zu dem Punkt, wo die anderen nicht an der unabstreitbaren spielerischen Klasse vorbeikamen. Und irgendwann fehlten ihm die Kempen, die es auch noch so kannten, von Kahn und Lehmann über Nowotny und Metzelder hinzu Schneider und Frings.[44]

Nach der Weltmeisterschaft hätte die Entscheidung, die intern wohl gefallen war, auch kommuniziert werden können. Oder nach dem Treffen im März, bei dem jeder das rausgehört hat, was er hören wollte. Ballack mag der Letzte sein, der sich in diesem Fall Lahm kampflos geschlagen gegeben hätte, es wäre allemal ehrenwerter gewesen, als die Geschichte ein Jahr lang hinauszuzögern.

Und so schließlich Matthäus zu bestätigen, denn der hatte es am besten gewusst: Selber abtreten, Kräfte schonen, im Verein einen guten Abschluss finden. Auch Ballacks Saison 2011/12, in Diensten von Bayer Leverkusen, blieb von Verletzungen geplagt. Nur dieses Mal lief es chronologisch umgekehrt zur Vorsaison: Die beste Phase hatte Ballack von Oktober bis Dezember. Ein Muskelfaserriss verdarb dann die Rückrunde. Insgesamt machte Ballack 25 von 45 Pflichtspielen mit, stand 20 Mal in der Startelf. Nebenkriegsschauplatz in der zweiten Saisonhälfte war die Entscheidung, wie es weiterging. Wollte Ballack, dessen Vertrag auslief, in die MLS? Sollte Leverkusen verlängern? Dieses Mal entschied er selbst. Und hörte auf.

Unvollendet. Unvergessen?

Während großer Turniere gibt es einige Regelmäßigkeiten in Deutschland: Fatalismus zu Beginn, unangenehmer Patriotismus währenddessen und bei Problemen oder nach dem Ausscheiden die ewige Debatte um Führungsspieler der Marke Lautsprecher – eben Einer, der das Weiterkommen mit schierem Willen sichert.

Bei der EM 2016 war das nach dem zweiten Gruppenspiel nicht anders. Die Auswahlen Deutschlands und Polens trennten sich in Saint-Denis nach müdem Ballgeschiebe in einem torlosen Remis. Aufgrund des Turnierformats half das Unentschieden beiden. Der Auftritt der DFB-Elf ließe sich auch unter dem Motto “ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss” verbuchen.

In den USA hatte der Sportsender ESPN die Partie übertragen. “Sie versuchen immer schön zu spielen, den Ball ins Tor zu tragen”, monierte der diensthabende Experte. Sein Fazit: “Dieser Mannschaft fehlen ein bisschen Persönlichkeit und Charakter.”[45]

Nachdem alle Gazetten den Kommentar aufgegriffen und weitergesponnen hatten, äußerte sich auch Löw. Und wies Kritik an der Mannschaft vehement ab: “Als Außenstehender wäre ich da ganz ruhig.” Der Bundestrainer arbeitete sich an der Debatte als solcher ab, schien aber auch mit seiner Geduld dem ursprünglichen Unruhestifter gegenüber am Ende. “Wenn da irgendjemand jetzt was sagt…”[46]

Dieser Irgendjemand absolvierte 98 Länderspiele, holte insgesamt fünf Meisterschaften und sechs nationale Pokale. In drei Spielzeiten wurde er zum besten Fußballer des Landes gewählt, ein Jahrzehnt hindurch war er stets in der Verlosung. Und einige Zeit lang war er der einzige Lichtblick im ansonsten düsteren Fußballdeutschland.

Was Joachim Löw spitzzüngig formulierte, wirft in leicht geändertem Kontext eine interessante Frage auf: Welchen Stellenwert besitzt Michael Ballack im deutschen Fußball? Ist er aufgrund des fehlenden großen Titels ein Außenstehender, wenn es um die Ikonen des Sports geht? Verschwindet er zwischen den Europameistern von 1996 und den Weltmeistern von 2014 in der Bedeutungslosigkeit, wird so zu „Irgendjemandem“?

Im November 2016 wurde Jürgen Klinsmann als Ehrenspielführer der Nationalmannschaft ausgezeichnet. Die wenigsten deutschen Fans werden die ausgezeichneten Spieler aus dem Stegreif runterbeten können. Dafür ist der Titel zu selten Thema. Auch bei Klinsmann wurde die Verleihung nur als Nachricht versendet, fertig. Als eigens vom DFB vergebener Titel ist es natürlich PR, aber in seiner Seltenheit markiert Ehrenspielführer doch die prägenden Akteure einzelner Epochen: Walter, Seeler, Beckenbauer, Matthäus, Klinsmann; Wiegmann und Prinz bei den Damen.

Als nächste Spielergeneration ist die Reihe bald an den frühen Nullern, wenn sie denn geehrt werden sollten. Einzig Oliver Kahn könnte Ballack hier den Titel streitig machen, führte die DFB-Auswahl 50 Mal an und hat mit dem WM-Finale 2002 einen ähnlichen tragischen Schlüsselmoment wie Uwe Seeler 1966: Kahn sitzend an den Pfosten gelehnt, Seeler erschöpft und enttäuscht vom Platz gehend.

Für Ballack findet sich eine entsprechende historische Parallele möglicherweise in den Achtzigern: Karl-Heinz Rummenigge erzielte in 95 Länderspielen 45 Tore, die fünftmeisten. 1980 bereits Europameister geworden, führte Rummenigge anschließend die Nationalmannschaft von ‘81 bis ‘86 als Kapitän in zwei WM-Endspiele. Dort musste sich Deutschland Italien respektive Argentinien geschlagen geben.

Wer nicht ins Finale kommt, kann es auch nicht verlieren. Zwischen DFB-Pokal, FA und League Cup, Champions League sowie EM stand Michael Ballack in zwölf Endspielen auf dem Platz. Sieben Mal ging er als Sieger vom Feld, fünf Mal als Verlierer. Es ist das Schicksal des Mannschaftssportlers, dass er das Ergebnis, im Guten wie im Schlechten, nur zum Teil beeinflussen kann. Kehrte man alle Resultate um, wäre der Trophäenschrank immer noch voll. Und hätte den verdammten internationalen Titel.

Teil 1 und 2 lesen:

Tränen im Mai

Michael Ballack gilt in Deutschland als Unvollendeter. Das klingt episch, verkauft seine Karriere aber unter Wert. Dem größten Fußballer der Nation in den Nuller-Jahren haftet immer noch das Stigma des… Weiterlesen

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Ballack Begins

Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den… Weiterlesen

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Fußnoten und weiterführende Links

[1] http://www.sueddeutsche.de/sport/deutsche-nationalmannschaft-als-ballack-und-frings-noch-das-sagen-hatten-1.3005701-2

[2] http://sportbild.bild.de/fussball/nationalmannschaft/sport-bild-erklaert-ihn-und-nennt-namen-19687234.sport.html

[3] http://www.kicker.de/news/fussball/nationalelf/startseite/artikel/211281/

[4] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[5] http://www.rp-online.de/sport/fussball/em/dfb/ballack-legt-sich-mit-bierhoff-an-aid-1.1643937

[6] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[7] http://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/zoff-zwischen-bierhoff-und-ballack-eskaliert-boss-zwanziger-fordert-machtwort-von-loew

[8] http://www.spiegel.de/sport/fussball/ruecktrittsandeutungen-frings-fuehlt-sich-von-loew-gedemuetigt-a-584688.html

[9] http://www.spox.com/de/sport/fussball/dfb-team/1005/Artikel/torsten-frings-joachim-loew-nationalmannschaft-wm-enttaeuscht.html

[10] http://www.spiegel.de/sport/fussball/schuetzenhilfe-fuer-frings-ballack-legt-sich-mit-loew-an-a-585625.html

[11] http://www.augsburger-allgemeine.de/sport/Ballack-und-Frings-legen-im-Machtkampf-nach-id4376946.html

[12] http://www.smh.com.au/world/rebel-ballack-must-apologise-to-loew-says-klinsmann-20081024-58f1.html

[13] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/streit-in-der-nationalmannschaft-rummenigge-und-matthaeus-greifen-ballack-an-1710065.html

[14] http://www.abendblatt.de/sport/article107467016/Ballacks-Sorry-veraergert-Loew.html

[15] http://www.abendblatt.de/sport/article107467016/Ballacks-Sorry-veraergert-Loew.html

[16] http://www.abendblatt.de/brazil/article109033011/Wird-Lahm-Kapitaen-der-Nationalmannschaft.html

[17] http://www.abendblatt.de/sport/article107469709/Loews-Friedensbefehl-an-Ballack.html

[18] http://www.abendblatt.de/brazil/article108966905/Ballack-verteidigt-seine-Kritik-an-Loew.html

[19] http://www.telegraph.co.uk/sport/football/teams/chelsea/5674425/Former-Chelsea-manager-Luiz-Felipe-Scolari-points-finger-at-Drogba-Ballack-and-Cech.html

[20] http://www.espnfc.us/story/1050513/tom-henning-ovrebo-my-refereeing-errors-cost-chelsea-in-2009

[21] http://www.t-online.de/sport/id_21446882/nationalmannschaft-frings-laesst-loew-nach-zehn-minuten-einfach-sitzen.html

[22] http://www.spox.com/de/sport/fussball/dfb-team/1005/Artikel/torsten-frings-joachim-loew-nationalmannschaft-wm-enttaeuscht.html

[23]Insel des modernen Fußballs, Der vierte Stern, Raphael Honigstein

[24] http://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-wm-historie-kapitaene-des-dfb-von-regenmacher-bis-leitwolf-1.950666

[25] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/kritik-am-kritiker-isolierter-insulaner-1712751.html

[26] http://www.spiegel.de/sport/fussball/machtkampf-um-die-binde-kapitaenchen-gegen-capitano-a-704880.html

[27] https://www.welt.de/sport/wm2010/article8333838/Loew-und-Bierhoff-aergern-sich-ueber-Lahms-Attacke.html

[28] http://www.n-tv.de/sport/FussballWM/Hoeness-an-Ballack-Hoer-auf-article901523.html

[29] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/lothar-matthaeus-im-gespraech-die-mannschaft-braucht-ballack-nicht-mehr-11013100.html

[30] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-um-kapitaensamt-ballack-sagt-lahm-den-kampf-an-a-706480.html

[31] http://www.spiegel.de/sport/fussball/zukunft-der-dfb-elf-loew-haelt-sich-die-kapitaensfrage-offen-a-711085.html

[32] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-ums-kapitaensamt-michael-ballast-a-704993.html

[33] http://www.n-tv.de/sport/fussball/Loew-verspricht-Ballack-die-Binde-article2232561.html

[34] http://www.spiegel.de/sport/fussball/kurzpaesse-loew-will-mit-ballack-sprechen-diego-zurueck-auf-dem-trainingsgelaende-a-762642.html

[35] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/ballack-zurueck-nach-leverkusen-lieb-und-sehr-teuer-1997174.html

[36] http://www.n-tv.de/sport/fussball/Ballack-spaltet-Leverkusen-article2780066.html

[37] http://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-nationalmannschaft-loew-verzichtet-endgueltig-auf-ballack-a-768727.html

[38] http://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-nationalmannschaft-ballack-wirft-loew-scheinheiligkeit-vor-a-769119.html

[39] https://web.archive.org/web/20110620190427/http://www.kicker.de/news/fussball/nationalelf/startseite/554075/artikel_loew_weiss-was-besprochen-wurde.html

[40] http://www.spiegel.de/sport/fussball/ex-capitano-michael-ballacks-erklaerung-im-wortlaut-a-769274.html

[41] http://www.sn-online.de/Sport/Sport-ueberregional/Loews-Zukunftsplaene-weiterhin-ungewiss

[42] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-ums-kapitaensamt-michael-ballast-a-704993.html

[43] 11Freunde, Heft #95 Oktober 2009

[44] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[45] http://www.rp-online.de/sport/fussball/em/dfb/em-2016-sami-khedira-nennt-kritik-von-michael-ballack-comedy-aid-1.6060918

[46] http://www.fr-online.de/em-2016—hintergrund/nationalmannschaft–loew-laesst-ballack-abblitzen-,34308188,34388566.html

Beitragsbild: Michael Ballack on public viewing screen [_30th June 2008_]
/ Karl-Ludwig Poggemann via Flickr | CC-BY 2.0

Du hast auch ein Thema, das Dich bewegt und das gut zu 120minuten passen könnte? Dann wäre vielleicht unser Call for Papers etwas für Dich!

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https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/feed/ 1 3151
Doping im Fußball – Teil des Systems https://120minuten.github.io/doping-im-fussball-teil-des-systems/ https://120minuten.github.io/doping-im-fussball-teil-des-systems/#comments Wed, 11 Feb 2015 07:30:43 +0000 https://120minuten.github.io/?p=842 Weiterlesen]]> Doping im Fußball ist ein Thema, welches zu selten angesprochen wird. Es ist Zeit, das zu ändern, sagt Daniel Drepper.

Autor: Daniel Drepper, Fussballdoping unter Zuarbeit von Christoph Wagner

Infos zu Doping im Fußball gibt es in einem Wald in Österreich. In Laakirchen, 80 Kilometer östlich von Salzburg, im Heimatdorf des Dopingdealers Stefan Matschiner. „Fußball ist ein Einzelsport, da kämpft jeder für sich“, sagt Matschiner. „Ist doch klar, dass da gedopt wird.“ Stefan Matschiner kann das sagen, er hat selbst mehrere Fußballer mit Dopingmitteln versorgt. „Es ist einfacher, einen geständigen Mafioso zu finden, als einen geständigen Fußballer.“ Das sagt Raffaele Guariniello, der Staatsanwalt, der Doping bei Juventus Turin aufgedeckt hat. Doping im Fußball gibt es von der Kreisliga bis zur Champions League. Wie verbreitet ist der Betrug? 

Es ist 15.30 Uhr, der Landgasthof Waldesruh am Ufer der Traun hat noch geschlossen; der ehemalige Dopingdealer Stefan Matschiner ist der bekannteste Sohn des Dorfes, für ihn schließt der Besitzer früher auf. Als Leichtathlet dopte Matschiner selbst, später versorgte er Spitzensportler mit Medikamenten. „Spinne im Netz“ nannte ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Tour-de-France-Dritte Bernhard Kohl war sein erfolgreichster Kunde, bis am 30. März 2009 die Polizei vor der Tür steht. Matschiner bricht mit dem Leistungssport, schreibt ein Enthüllungsbuch. Wie viele Fußballer Matschiner genau versorgt hat und auch deren Herkunft will der Österreicher nicht nennen, um die ehemaligen Kunden nicht zu enttarnen. Die offizielle Antwort: „Ich habe von 2003 bis 2009 mehrere Fußballer aus verschiedenen europäischen Ländern versorgt.“ Matschiners Fußballer nahmen Testosteron und das Blutdopingmittel EPO. Der beste seiner Spieler spielte die Qualifikation zur Champions League. Über Doping im Fußball redet Matschiner wie andere über ihren Tag im Büro. Moralische Bedenken hat er keine. „Warum sollte ich etwas bereuen? Das System funktioniert so, wie es funktioniert. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“

Dopende Fußballer sind keine Einzelfälle. Neben verschiedenen Einzelfällen stehen die großen Skandale: Juventus Turin war in den 90ern systematisch mit Epo gedopt. Der spanische Dopingarzt Eufemiano Fuentes soll Real Madrid, den FC Barcelona, Betis Sevilla und den FC Valencia betreut haben, berichtete die französische Zeitung Le Monde. Barcelona verklagte die Zeitung, deren Sportchef konnte keine Dokumente vorlegen und musste 15000 Euro Strafe zahlen. Vor Gericht schwieg Fuentes. „Ich bin drei Mal mit dem Tod bedroht worden, es wird kein viertes Mal geben“, sagte er damals Le Monde.

In Dopingfälle (zum Teil in Zusammenhang mit Drogenmissbrauch) sind auch eine ganze Reihe namhafter Fußballer verwickelt – hier eine Auswahl – ein Klick auf den Namen führt zu weiteren Informationen.





Kokainmissbrauch 1993 Nandrolon Nandrolon Nandrolon Nandrolon Steroide Kokain Bromantan Ephedrin Nandrolon nachträglich freigesprochen Kokain

Ein Bundesligaspieler bei Fuentes?

„Dopingstrukturen wie sie im Fahrradsport vorhanden sind, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, sagt Thomas Hitzlsperger 2013 im Interview mit der ZEIT. Er führt regelmäßige Kontrollen als Gegenargument an und den Schaden, der dem Team zugefügt würde, nicht dem Doper allein. Dass Fußballer bei Fuentes Kunde waren, hat dieser selber einmal angedeutet. In der Untersuchungshaft habe er angeblich einem Zellengenossen gegenüber behauptet, wenn er rede, dann müsste Spanien den Europameistertitel 2008 zurückgeben. Hat sich die spanische Justiz jemals für die Namen der Fußballer interessiert? Eufemiano Fuentes lebt heute auf den Kanarischen Inseln. Noch 2011 arbeitete er als Arzt für den Drittligisten UD Las Palmas. Angeblich versorgt er weiterhin Sportler mit Dopingmitteln. Fuentes war für uns bislang nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.

Auch die deutsche Geschichte ist nicht frei von Skandalen: Die Helden von Bern hatten höchstwahrscheinlich Pervitin im Blut, ein Aufputschmittel aus dem Krieg. Sporthistoriker wie Erik Eggers sind sich sicher, dass die Weltmeister 1954 verbotene Methoden nutzten – auch wenn Spieler und Trainer das stets abgestritten haben. (Hier gibt es einen ausführlichen Text zu den Dopingvorwürfen)

Das Wunder von Bern? Gerüchte und Anschuldigungen schon 1954
Dabei gab es schon 1954 Gerüchte und sogar Anschuldigungen gegenüber der Nationalelf, während des WM-Finales 1954 Aufputschmittel genommen zu haben. Die Vorwürfe kamen von keinem geringeren als Ferenc Puskas, dem Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft. Kurz nach dem Finale von Bern berichtete Puskas was er gesehen hatte: Nadeln und Spritzen in der deutschen Kabine. Die Angelegenheit wuchs sich zu einer Affäre aus, denn Puskas wurde zur Persona Non Grata und es wurde deutschen Mannschaften verboten gegen eine Mannschaft anzutreten, in der Puskas aufläuft. Dies führte 1960 dazu, dass der DFB heimlich still und leise einen Rückzieher machte. Denn die Frankfurter Eintracht spielte im Finale des Europapokals gegen Real Madrid, wo Puskas damals spielte. Um es aber zu keinen diplomatischen Problemen kommen zu lassen, wurde der Bann aufgehoben. Eine weise Entscheidung, denn noch heute sprechen die Menschen in Glasgow von diesem Finale.
Auch von anderer Seite gab es Verdächtigungen und Gerüchte. Die englische Tageszeitung Daily Herald hatte 1954 von Gerüchten gehört und diese auch gedruckt. Wie der Zufall es wollte, spielte am 1. Dezember 1954 England gegen den Weltmeister, in Wembley. Auf einem Empfang vor dem Spiel fragte der Sportreporter des Daily Express, Desmond Hackett, den Nationaltrainer Sepp Herberger, ob denn seine Mannschaft wieder ‘pep injections’ bekommen würde. Herberger wies den Fragenden brüsk ab indem er antwortete, dies sei lediglich Angelegenheit der deutschen Mannschaft und gehe niemanden etwas an, schon gar nicht die Presse. Dies war Grund genug für Hackett, Herberger ‘the old Herr Hush Hush’ zu nennen.

In der DDR waren die Nationalkicker systematisch gedopt, das belegen Stasi-Akten. Auch viele Clubs aus dem Osten nutzten das DDR-Anabolikum Oral-Turinabol. Im westdeutschen Fußball der Achtziger Jahre soll das Aufputschmittel Captagon nach Aussage mehrerer Trainer und Spieler üblich gewesen sein.
Wie verbreitet ist Fußballdoping? „Ähnlich verbreitet, wie in anderen Sportarten, wie in der Leichtathletik oder im Triathlon“, sagt Stefan Matschiner. „Es ist ein latentes Problem, aber nicht mehr im Ausmaß der 80er oder 90er Jahre. Wegen der besseren Laboranalysen kann man nicht mehr so viele Sachen machen.“ Organisiertes Teamdoping hält Matschiner heutzutage für unwahrscheinlich. „Mir persönlich ist nur ein Fall in einem südeuropäischen Land bekannt“, sagt Matschiner. „Ich glaube eher, dass sich gute Freunde zusammentun und sich gesondert nach medizinischer Versorgung umschauen.“ Auch Matschiner versorgte Spieler, die sich gegen Teamkollegen durchsetzen wollten. Hat es geholfen? „Ich habe nie etwas Negatives gehört, sonst wären sie ja nicht immer wiedergekommen.“

Mangelhafte Kontrollen in der Bundesliga

Warum fliegen so wenig gedopte Fußballer auf? Ein Grund sind lückenhafte Dopingtests. Im Fußball gilt trotz verbesserter Analysen noch immer: Erwischt werden nur die Dummen. In der Bundesliga gibt es keine Bluttests, so dass zum Beispiel Blutdoping nicht nachgewiesen werden kann. Im Schnitt testen Kontrolleure jeden deutschen Spieler nur alle drei Jahre und mit Ausnahme von Nationalspielern bekommen Profis nur zu offiziellen Trainingszeiten Besuch. Bei der EM in Polen und der Ukraine werden zwar Bluttests durchgeführt, aber die Trainingskontrollen haben Mängel. So hat ein Spieler 60 Minuten Zeit, bis er zum Trainingstest erscheinen muss. Das reicht im Zweifel, um Proben zu verfälschen.
Trotz allem gibt es noch immer Ärzte und Trainer, die behaupten, es gebe im Fußball kein Doping. „Ich sage mit Überzeugung, dass im Fußball nicht gedopt wird“, sagte Jürgen Klopp vor drei Jahren. Das Standardargument: Doping im Fußball bringt nichts. Für „völligen Schwachsinn“ hält Stefan Matschiner diese Theorie. „Wenn ich die Ausdauer steigere, habe ich auch die anderen Fähigkeiten am Ende des Spiels besser unter Kontrolle.“

Das Sportinstitut der Uni Mainz liegt wenige hundert Meter vom Bruchweg entfernt, der alten Heimat der Mainzer Fußballer. Hier forscht Antje Dresen. Als Soziologin sieht Dresen die Spieler nicht als Einzeltäter, sondern nimmt das Umfeld in den Blick: Was führt dazu, dass sich Spieler für Doping entscheiden? „Im Fußball geht es um permanente Leistungssteigerung. Das nächste Spiel ist immer das wichtigste. Gleichzeitig sind die körperlichen Fähigkeiten begrenzt“, sagt Dresen. „Doping ist eine Mehrzweckwaffe gegen den Druck, der auf Fußballern lastet.“ Fußballer haben oft keine Ausbildung, sind abhängig davon, mit ihrem Körper bis Mitte 30 möglichst gutes Geld zu verdienen. Der Konkurrenzkampf, erfolgsabhängige Prämien und der öffentliche Druck tun ihr Übriges. Ein Beispiel sind Zeitschriften wie der Kicker, die nach jedem Spiel die Profis einzeln benoten. „Wenn ein Fußballer sich ausschließlich auf den Sport konzentriert, sitzt er in der Dopingfalle“, sagt Dresen. Aus Antje Dresens Fenster schaut man geradeaus auf das Sportmedizinische Institut der Uni Mainz. Hier arbeitet Perikles Simon, einer der bekanntesten Dopingforscher Deutschlands. Simon fragt sich, was dieser stetig steigende Druck für die Gesundheit der Spieler bedeutet. „Man kann nicht den finanziellen Druck auf die Spieler beliebig erhöhen und dann davon ausgehen, dass die ihre Gesundheit im Auge behalten“, sagt Simon. „Wenn Teams in der Lage sind, systematisch Spieler zu dopen, scheint der Druck in der Szene so hoch zu sein, dass sich die Spieler kaum wehren können. Und dann sind das nicht menschenwürdige Arbeitsbedingungen.“ Besonders technisch versierte, aber konditionell schwache Fußballer seien anfällig für die Doping-Versuchung. Die Geschwindigkeit des Spiels hat sich in den vergangenen Jahren extrem erhöht. Der Druck, topfit zu sein, steigt.

Systematisches Teamdoping – absolut jeder spricht bei diesem Thema über Juventus Turin. 1996 gewann Juve die Champions League. Zwei Jahre später nimmt der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello, selbst Juve-Fan, die Ermittlungen auf. 40.000 Seiten Akten produziert er, ruft Spieler wie Zidane und Cannavaro in den Zeugenstand. Am Ende beweist Guariniello Teamdoping. Der bis heute spektakulärste Fall.
Die Staatsanwaltschaft liegt am Corso Vittorio Emmanuele II, einer der wichtigsten Adern Turins. Am Ende der Prachtstraße thront der rot verklinkerte Bau der Justiz. Raffaele Guariniello sitzt im siebten Stock, bewacht von zwei Carabinieri und drei Sekretärinnen. In Italien ist Guariniello ein Star – er ist mittlerweile über 70 Jahre alt, aber er wühlt weiter. Während des Gespräches unterzeichnet er hereingereichte Akten, telefoniert immer wieder kurz. „Im Fußball bin ich auf eine Mauer des Schweigens gestoßen“, sagt Guariniello. Trotzdem startet vier Jahre nach Beginn seiner Ermittlungen der Prozess, am 31. Januar 2002.

39 Verhandlungstage und zweieinhalb Jahre braucht das Gericht, dann entscheidet es: Teamarzt Riccardo Agricola muss 22 Monate in Haft. Juve legt Einspruch ein, das dritte Verfahren wird 2007 wegen Verjährung eingestellt. Juve entkommt einer Strafe, doch die Fakten bleiben: 281 verschiedene Medikamente hatte Juves Vereinsarzt in der Apotheke, auch das Blutdopingmittel EPO haben die Spieler bekommen. Juventus liegt fünf Jahre zurück, aber Guariniello bleibt dran. Aktuell untersucht er eine Reihe mysteriöser Todesfälle: Italienische Fußballer erkranken 24 Mal häufiger an der tödlichen Nervenkrankheit ALS als die Normalbevölkerung. Doping könnte die Ursache sein.

Sportärzte versuchen immer wieder, die medizinischen Grenzen auszuloten. Für den Einsatz solch grenzwertiger Mittel gibt es ein prominentes Beispiel: Der ehemalige Bremer Stürmer Ivan Klasnic verklagt Werder Bremens Mannschaftsarzt Götz Dimanski auf mehr als eine Millionen Euro Schmerzensgeld: Klasnic‘ Niere versagte und er wirft Dimanski vor, die Krankheit nicht erkannt und durch hohe Mengen an Schmerzmitteln verschlimmert zu haben. Seit Jahren warten die Beteiligten auf ein Urteil. Weder Dimanski noch Klasnic äußern sich zum laufenden Verfahren.

Mir tun die Spieler leid
Interessant ist hier ein Interview mit dem Ex-Mannschaftsarzt von Schalke 04, Thorsten Rarreck im Handelsblatt. Laut eigenen Erfahrungen hat die Einnahme von Schmerzmitteln nicht nur vor wichtigen Spielen, sondern auch im Training enorm zugenommen. Ibuprofen und Diclofenac stehen dabei ganz oben: sie müssen bei Dopingtests zwar angegeben werden, sind aber handelsübliche Schmerzmittel, die jeder erwerben kann. Allerdings, so Rarreck, sei das bedenklich. Durch kontinuierlichen Einsatz solcher Mittel würden die Regenerationskräfte des Körpers dauerhaft geschwächt bzw. werden unterdrückt. Auf Dauer werden andere Organe angegriffen. Auch Rarreck kann sich ein systematisches Doping in der Bundesliga nicht vorstellen.

Dass jedoch das Gegenteil der Fall ist, beweist die folgende Geschichte:
Wer im Internet nach Doping im Fußball sucht, findet Menschen, die sich über Aufputschmittel unterhalten und über Steroide. Im Amateurfußball. Einer der Kreisliga-Doper meldet sich schließlich. Er habe in einer bayerischen Landesauswahl gespielt und Aufputschmittel genommen, um alles aus sich herauszuholen. „Die Wirkung war teilweise grandios. Aber die Nacht nach den Spielen ging es mir einfach nur verdammt mies.“ Erst ist er bereit für ein Treffen, später meldet sich der anonyme Amateur nicht mehr zurück.

Ganzes Kreisliga-Team auf Ephedrin

Die Aussagen des dopenden Amateurfußballers unterstreicht Mischa Kläber. Der Sportsoziologe der TU Darmstadt hat für seine Doktorarbeit auch mit vier dopenden Kreisliga-Kickern gesprochen. In einem Fall dopte am Ende die gesamte Mannschaft mit Ephedrin. Das Aufputschmittel macht Spieler auf dem Platz aggressiver, schneller, wacher. Kläber berichtet von weiteren Mitteln: Von Speed, von Kokain, in einem Fall auch vom Steroid Nandrolon, das beim Muskelaufbau hilft. Ein Spieler nutzte es nach einem Kreuzbandriss zur Turbo-Genesung. „Ephedrin und verschreibungspflichtige Schmerzmittel sind in den niedrigeren Klassen sehr weit verbreitet“, sagt Kläber. Einen Fußballer in tieferen Klassen hat auch Stefan Matschiner betreut. Auch er besorgte seinem Kunden Ephedrin.

Doping im Fußball, das sind keine Einzelfälle. Doping im Fußball ist Teil des Systems.

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Diesen Text veröffentlichen wir in Kooperation mit der Webseite fussballdoping.de, die sich ausschließlich mit Doping und
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Weiterführende Links

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Stehplatz-Sehnsucht oder: Die Bundesliga als Fan-Utopie https://120minuten.github.io/stehplatzsehnsucht-oder-die-bundesliga-als-fan-utopie/ https://120minuten.github.io/stehplatzsehnsucht-oder-die-bundesliga-als-fan-utopie/#comments Thu, 08 Jan 2015 08:00:03 +0000 https://120minuten.github.io/?p=705 Weiterlesen]]> Die Premier League ist eine internationale Marke, die auch in Deutschland viele Anhänger hat. Spätestens nach dem Gewinn des WM-Titels 2014 werden aber auch die Bundesliga und der deutsche Fußball in England immer beliebter. Warum eigentlich?

Autor: Conor Garratt, Dreierpack Podcast

Aus englischer Sicht gibt es wirklich viel bezüglich des deutschen Fußballs, worüber man sich freuen kann. Als die von Sky so bezeichnete „Liga der Weltmeister“ wird die Bundesliga immer beliebter in Großbritannien und sogar weltweit, besonders, weil wir heutzutage mehr Spiele im Internet und im Fernsehen anschauen können. Eine Liga, die vor ein paar Jahren im Ausland nur der Liebling der Fußballhipster war, ist wegen der Technologie, der europäischen Erfolge von Borussia Dortmund und des FC Bayern und auch der aufregenden Fankultur jetzt in Großbritannien einer der größten ausländischen Ligen geworden – die zweitgrößte hinter der spanischen „La Liga“.

Was hat sich denn hinsichtlich der Bundesliga so verändert, dass sie jetzt weltweit beliebt ist? Zu dieser Frage gibt es keine klare Antwort, aber im folgenden Aufsatz werden wir versuchen, aus englischer Perspektive ein paar Gründe zu finden.

Die Grafik zeigt die Relation von Suchanfragen zu verschiedenen Themen in Großbritannien. Die spanische Liga ist fast so beliebt wie die 2. englische Liga. Das Interesse an der Bundesliga ist gestiegen und sie hat die italienische Serie A überholt.

Taktiker und Charismatiker

Die Geschichte fing eigentlich schon vor vielen Jahren an, aber zuerst müssen wir zugeben, dass die Bundesliga seit 2013 den prominentesten Trainer der Welt hat. Ob damit nun Tayfun Korkut oder doch Pep Guardiola gemeint ist, können die Hannoveraner und Münchner unter sich ausmachen. Auf jeden Fall hilft es aber, das Interesse zu steigern, wenn die Liga jemanden hat, der eigentlich nichts machen muss und trotzdem wird viel über ihn geschrieben. Als Pep Guardiola im selbstauferlegten Exil war, wollte die ganze Fußballwelt wissen, wo genau er nach seine Auszeit hinziehen würde; ob nach England, Deutschland, zu einem anderen spanischen Verein oder vielleicht sogar ganz woanders hin. Zusätzlich hat die Bundesliga seit längerem Persönlichkeiten wie Jürgen Klopp. „Kloppo“ ist wegen seiner lustigen Zitate, seiner Treue und dem tollen Fußball, den Borussia Dortmund seit seiner Ankunft in Dortmund gespielt hat, in England ein Held geworden, obwohl er fast nie Interviews auf Englisch gibt. Man kann es verstehen, aber es wäre vor zehn Jahren oder so komisch gewesen, dass ein deutschsprachiger, deutscher Trainer, der in Deutschland arbeitet beliebter wird als die Mehrheit der englischsprachigen, englischen Trainer in England. Für britische Fans ist die Bundesliga jetzt genau wegen dieser Gründe interessanter. Es gibt viele Trainer, die attraktiven Fußball spielen lassen wollen. Guardiola ist klar, aber Lucien Favre und Christian Streich sind auch gute Beispiele für Taktiker, die Trainer eines Bundesligaklubs sind, und bis zu dieser Saison gab es auch Thomas Tuchel. Fußballfans wollen technisch guten Fußball sehen, und mit diesen Trainern – und auch den Spielern, die auf dem Feld sind – gibt es in der Bundesliga jede Woche viel davon.

Ist die Bundesliga hier „Mainstream“ geworden?

Auch wichtig in der Entwicklung der Liga aus fremder Sicht ist die Qualität des Fußballs; besonders in den letzten Jahren hat sich diese deutlich verbessert. Deswegen ist das Interesse am deutschen Fußball in Großbritannien gestiegen; es gibt endlich eine Alternative zur natürlich noch spannenden und auch immer beliebten englischen Liga, der Premier League. Obwohl nicht so viele Menschen in Großbritannien Deutsch können, ist es seit ein paar Jahren leichter, alle Nachrichten und Kontroversen zu verfolgen. Vor ein paar Jahren hatten wir schon Journalisten, die über die Bundesliga auf Englisch geschrieben haben, zum Beispiel Raphael Honigstein, und es gibt den Podcast „Talking Fussball“, aber jetzt gibt es besonders in letzter Zeit wirklich viele Blogs, Artikel und Fernsehsendungen, die sich auf die Bundesliga konzentrieren und auf Englisch geschrieben oder übertragen werden [1]. Mittlerweile sind die alten Quellen von englischsprachigen Bundesliga-Nachrichten größer, professioneller und sogar „Mainstream“ geworden. Das kann nur gut für den internationalen Ruf der Liga sein. Klar ist aber, dass die Bundesliga hier kein Herausforderer der Premier League ist, was die Anzahl der Betrachter in Großbritannien betrifft. Viele Quellen sind internetweit beliebt, aber das heißt nicht, dass die meisten Fußballfans hier die Bundesliga jede Woche anschauen. Die Bundesliga ist und bleibt für die meisten Menschen nur eine Option von vielen ausländischen Ligen. In diesem Sinn ist sie nicht „Mainstream“ geworden – es ist nur leichter, ein bisschen über die Liga zu wissen und sie als Sesselfan zu verfolgen.
Die Grafik zeigt die Relation von Suchanfragen zu verschiedenen Themen in Großbritannien. Das Interesse an der Bundesliga ist zwar gestiegen, aber einzelne Vereine und Personen sind interessanter als das “Produkt Bundesliga” – insbesondere (und verständlicherweise) wenn im Europapokal die entscheidenden Spiele anstehen.

Die Fankultur steht

Auch gut für den Ruf der Bundesliga ist die Fankultur. Die Atmosphäre bei Fußballspielen ist in England seit den 80er Jahren ruhiger geworden; die Erfahrung in einem englischen Stadion ist heutzutage ganz anders als früher, und auch definitiv ganz anders als die heutige Spieltagserfahrung in Deutschland. Deutschland ist noch laut, man kann da noch stehen; für Puristen ist das wahnsinnig gut. Die Stehplätze – in der Form von sogenannten “Safe-Standing”-Zonen – werden auch in England gefordert, besonders in den unterklassigen Ligen. Auch hier muss man das ganze Spiel über sitzen, obwohl es kostengünstiger wäre, stehen zu bleiben; es kostet Klubs mehr, die Sitze zu kaufen und beizubehalten, als Stehplätze einzurichten, und die Kosten werden an die Fans weitergegeben.

Alle verstehen die Gründe dafür – im 1990 veröffentlichten Taylor-Bericht [2] (der Bericht über Stadionsicherheit nach der Katastrophe von Hillsborough) wurde empfohlen, dass die „Terraces“ (die alten Stehplätze in englischen Stadien) nie mehr benutzt werden sollen. Gut ist, dass englische Stadien heutzutage nicht gefährlich für Zuschauer sind; das ist aber in Deutschland auch so, und die höheren Kartenpreise, die nach dem Taylor-Bericht eingeführt wurden (weil Fußballvereine sich neue Stadien und Sitzplätze leisten mussten) bedeuten, dass es weniger Fans gibt, die jede Woche Karten bekommen können, um ihren Verein stimmungsvoll im Stadion zu unterstützen.

Also, für alles gibt es Vorteile und Nachteile, und Sicherheit ist ganz klar viel wichtiger, als jede Woche dabei zu sein. Aber das hat offensichtlich die Stimmung der Fans verändert – es ist, wie gesagt, heute ruhiger als vorher, aber für englische Fans, die eine tolle Atmosphäre im Stadion erleben möchten, gibt es andere Möglichkeiten. Es ist leicht, von Großbritannien nach Deutschland zu fahren, zufällig gibt es auch jede Woche Spiele, wo die Fans sehr laut sind – und sie stehen! Es gibt ein steigende Anzahl an Briten, die ab und zu – vielleicht einmal pro Saison, vielleicht so oft wie möglich – nach Deutschland reisen, um Fußball zu sehen. Natürlich gibt es davon viele “Fußballtouristen”, aber es gibt auch natürlich eine große Gemeinde von Fans, die eine bestimmte Mannschaft verfolgen. Natürlich sind in der jüngeren Zeit erfolgreiche Klubs wie Borussia Dortmund und Bayern München auf der ganzen Welt beliebt, aber Schalke, Borussia Mönchengladbach und Leverkusen sind auch relativ beliebt, und sogar der SC Freiburg oder auch noch kleinere Mannschaften haben Fans, die aus England stammen.

Im Großen und Ganzen präsentiert sich die Bundesliga für englische Fans als Utopie. Das ist in der Realität offensichtlich nicht so – es gibt immer mehr Einschränkungen für Fans im Stadion. Preise werden immer höher – die Tickets sind nur im Vergleich billiger als in anderen Ligen. Das ist ein Problem, das in Großbritannien oft nicht diskutiert wird; eigentlich ist es nicht immer günstiger in der Bundesliga. Besonders die Trikots sind in Deutschland viel teurer – etwas muss sich ändern, wenn die Bundesliga eigentlich fanfreundlich sein will. Aber im Vergleich zur Premier League ist die Bundesliga relativ gut für Fans, und auch wenn man die Probleme bedenkt, gibt es viele Gründe dafür, über die Bundesliga und ihre Fankultur wirklich glücklich zu sein.

Was die deutsche Fankultur von der englischen unterscheidet
“As a fan of SC Freiburg (mostly by myself), I decided to debut the brand new home shirt at our first game of the season. Many warned me regarding Frankfurt fans’ stupid behaviour and attempted to persuade me not to wear the jersey. Regardless, I ignored them. I sat with a friend and the home fans, in a block quite close to the travelling support and thankfully surrounded by a couple more Freiburg fans. After the painful 1:0 loss the Frankfurt fans decided to, in good spirit, give me and other obvious SC fans a ‘beer shower’ singing and laughing gleefully at the travelling support. Whilst wearing a Freiburg shirt in the home stand was potentially idiotic and dangerous move (or at least, would’ve been in England), the Frankfurt support were well-spirited and avoided causing real trouble, rather letting me stink of beer for the remainder of my afternoon in the city.” Daniel, @dieBreisgauer

Langweilig oder spannend?

Man kann nicht sagen, dass die Bundesliga keine Kritiker in England hat. Es ist eigentlich die Meinung der Mehrheit, dass die Liga langweilig ist; man hört immer Sprüche wie „die Bundesliga ist gar nicht spannend – wie kann man es genießen, wenn die Meisterschale schon im März gewonnen ist?“ Es ist schwierig zu leugnen, dass der FC Bayern den deutschen Fußball beherrscht, und es ist nicht wirklich interessant, dass der gleiche Verein am Anfang der neuen Saison auf den Titel getippt wird – egal ob sie einen guten oder schlechten Sommer hatten oder ob sie in der vorherigen Saison gut gespielt haben.

Natürlich ist Borussia Dortmund momentan immer dabei, wenn man über große deutsche Mannschaften spricht; vor ein paar Jahren waren das Stuttgart oder Bremen. Aber weil es so viele Mannschaften gab, die Bayern kurz herausfordern konnten, aber danach schwach geworden sind, gibt es immer noch einen bitteren Beigeschmack. Wie lange kann Dortmund um die Schale streiten, bis es irgendeine andere Mannschaft gibt, die alles besser macht und Bayern die Schale streitig machen kann?

Zum Glück geht es in der Bundesliga um mehr als den ersten Rang. Der Kampf um Europa wird jedes Jahr noch interessanter – es gibt Klubs, die immer dabei sind – Schalke, Leverkusen und so weiter – aber in den letzten Jahren haben Borussia Mönchengladbach und Eintracht Frankfurt es nach einer langen Pause nach Europa geschafft, in der gleichen Phase haben mittlerweile auch Mainz und Freiburg in Europa konkurriert. Der Abstiegskampf ist auch immer spannend; natürlich sind die Menschen, die die Bundesliga langweilig finden, auch die Menschen, die überrascht sind, dass der Hamburger SV, der VfB Stuttgart und Werder Bremen momentan gegen den Abstieg spielen müssen – oder zumindest in den letzten Jahren spielen mussten.

Es ist schwierig, empirisch zu sagen, wie spannend die Bundesliga für englische Zuschauer ist. Das hängt von jedem Einzelnen ab. Zweifellos ist es aber so, dass die Bundesliga nicht beliebter werden würde, wenn es total langweilig wäre. Die Spiele sind größtenteils unterhaltsam, die Spieler sind interessant und talentiert, und es gibt viel Erfolg in Europa und auch von vielen verschiedenen Klubs in der Liga.

Preiswerte, junge Spieler

Die Preise auf dem Transfermarkt sind nicht immer gute Anzeichen davon, wie preiswert Wechsel wirklich sind. Alles hängt davon ab, wie sehr ein Klub einen Spieler braucht oder wie lang er noch Vertrag hatte – es gibt viel zu beachten. Aber junge deutsche Spieler, oder Spieler, die für Bundesligavereine spielen, kosten immer weniger, als sie kosten würden, wenn sie in England, Spanien oder Italien spielen würden. Das ist eine Tatsache.

Zwei Beispiele, die oft (und auch hier) zitiert werden, obwohl sie gar nichts miteinander zu tun haben, sind André Hahn und Ross McCormack. Hahn wechselte diesen Sommer zu Borussia Mönchengladbach für €2,25 Mio – obwohl er in der vergangenen Saison für die deutsche Nationalelf debütiert und in den letzten eineinhalb Jahren hervorragende Leistungen für den FC Augsburg gezeigt hatte. Im Vergleich hatte McCormack eine gute Saison beim englischen Zweitligisten Leeds United gehabt, aber ein Wechsel von £11 Mio zum aus der Premier League abgestiegenen FC Fulham wurde als lächerlich gesehen.

Es gibt klare Gründe, warum Bundesligaspieler billiger sind als Premier-League-Spieler – oder sogar gute Spieler aus der Championship. Die Premier League hat viel mehr Geld – Milliardäre besitzen die meisten Klubs der Liga und geben viel Geld aus, damit ihr Verein wettbewerbsfähig sein kann. In Deutschland gehören die meisten Klubs – natürlich gibt es dafür Ausnahmen – quasi den Fans. In Deutschland können sich die Klubs, die von der 50+1 Regel nicht betroffen sind, größere Summen leisten – wenn es aber ein ganzes Fußballsystem gibt, das nur von Milliardären besessen wird, steigen die Preise.

Natürlich ist es eigentlich kein Problem für Fans, die Fußball nur im Fernsehen schauen, und wenn die Fans im Stadion es sich leisten können, ist es für sie auch kein großes Problem. Aber es ist ein Grund, warum die Bundesliga Puristen besser gefällt; die Bundesliga ist viel näher an der idealen Version von Fußball, zumindest aus ihrer Sicht.

Wenn Spieler weniger kosten, bedeutet das auch, dass sie gut ersetzt werden müssen. Das Jugendsystem und das Scouting in Deutschland sind viel wichtiger als in Großbritannien, wo man, um Spieler zu ersetzen, nur irgendjemand Neues kauft. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass Menschen im Ausland heutzutage die Bundesliga gucken; es gibt immer tolle, junge Spieler zu sehen.

Kann das schlecht sein? Ja, natürlich: Borussia Dortmund hat in den letzten Jahren mit Shinji Kagawa und Nuri Sahin erfahren, dass man immer gute, wichtige Spieler ersetzen muss, wenn es einen größeren, ausländischen Klub gibt, der die Spieler kaufen möchte. Aber sie wurden ersetzt; erst mit Gündogan, dann mit Reus. Dass sie jetzt zurück bei Borussia sind, ist nicht wichtig – das Scouting und Jugendsystem der deutschen Liga bedeutet, dass die Wiederverpflichtungen von Sahin und Kagawa nur Ergänzungen waren, nicht unbedingt nötig. Womöglich macht das alles interessanter; man weiß, das man immer neue, tolle Spieler sehen wird. Zum Beispiel gibt es momentan bei Bayer Leverkusen den jungen Julian Brandt – vor einem Jahr wusste niemand in England seinen Namen. Jetzt, obwohl er erst achtzehn ist, spielt er sehr gut in der Bundesliga. Brandt ist keine Besonderheit – vorher gab es Max Meyer, und davor Julian Draxler.

Zusammgengefasst

Es ist schwierig, die Bundesliga aus englischer Sicht in allen Details zu beschreiben. Kann ein Land überhaupt nur EINE Sicht von einer Liga haben? Offensichtlich nicht – aber im Großen und Ganzen wird das Ansehen des deutschen Fußballs in England immer höher. Die Weltmeisterschaft hat geholfen, klar, aber es gibt definitiv etwas über die Bundesliga, das die englischen Fans haben wollen. Ob das die Fankultur ist, die Kartenpreise, die junge Spieler, der attraktiven Fußball, wird weiter diskutiert, aber die Tatsache, dass ein englischer Autor (in diesem Fall, ich) über 2000 Wörter auf Deutsch über die Bundesliga geschrieben hat, ist vielleicht einen kleinen Hinweis, dass sich etwas in den letzten Jahren verändert hat. Wäre das vor 10 Jahren passiert? Vielleicht nicht.

Also, warum ist die Liga jetzt beliebter? Wie gesagt, gibt es viele Gründe dafür; meiner Einschätzung nach sind die Erfolge des deutschen Fußballs in diesem Fall sehr wichtig. Wenn das Europapokalfinale zwischen Dortmund und FC Bayern in London vor ein paar Jahren nicht passiert wäre, wäre die Geschichte ganz anders als heute. Aber ehrlich gesagt, gibt es wirklich viele Gründe, und nur ein paar davon wurden in diesem Aufsatz diskutiert. Was glauben Sie? Warum gibt es immer mehr englische Fans?

Referenzen

[1] Siehe zum Beispiel diesen Beitrag von Steward Wood im Guardian, die amerikanische Webseite BundesligaFanatic, den Bundesliga-Teil bei ESPN FC oder auch den Neverkusen Podcast, einen englischsprachigen Podcast zu Bayer 04 Leverkusen.
[2] Den vollständigen Taylor-Report gibt es hier zum Download (PDF).

Weiterführende Links

Jeremy Wilson (The Telegraph): “Premier League v Bundesliga: Which is better?” – Recht aktuell und vergleicht eher die finanzielle Seite des Spiels, unterstützt aber mein Argument bezüglich der günstigen Spielereinkäufe und der freundlicheren Fankultur. Der Beitrag tendiert dazu, die Premier League besser darzustellen, aber das passiert eben in englischen Medien!

James Masters (CNN): “Wiener to Wunderbar: How Germany became uber-cool” – Zugegebenermaßen von einer amerikanischen Quelle, es geht aber um die Wahrnehmung Deutschlands in Großbritannien und wie die in den letzten Jahren besser geworden ist. Sehr viel hat dabei mit Fußball zu tun.

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Der Pariser Fußball: Eine Spurensuche https://120minuten.github.io/der-pariser-fussball-eine-spurensuche/ https://120minuten.github.io/der-pariser-fussball-eine-spurensuche/#comments Wed, 10 Dec 2014 09:30:15 +0000 https://120minuten.github.io/?p=658 Weiterlesen]]> Carsten Pilger lebt in Paris und hat sich auf eine Spurensuche nach dem Fußball in Frankreichs Hauptstadt begeben. Zlatan und Co. spielen dabei eher in der zweiten Reihe und müssen das Spielfeld der Geschichte den kleineren Vereinen überlassen.

Autor: Carsten Pilger, Das FCSblog 2.0

Jeder, der erstmals die Périphérique überschreitet und nach Paris kommt, hat eine ganz eigene Vorstellung davon, was die Seele der Stadt ausmacht. Der Duft von frisch gebrühten Espressi auf dem Boulevard Saint-Germain, der Klang von Musik am Montmartre, die Kulturgüter Europas versammelt im Louvre, die Haute-Couture auf der Pariser Fashion Week. Mit etwas Glück entdeckt jeder für sich etwas von dieser Erwartung unter der dicken Schicht aus Einförmigkeit, Massentauglichkeit und Ruß, unter der Paris begraben liegt. Doch was ist mit Fußball? Es ist eine Suche nach der eigenen Pariser Identität. Ein Wühlen in der Geschichte, ein Verzweifeln an den französischen Eigenheiten, ein Entdecken und Vergessen. Dieser Text soll keine umfassende und allgemeingültige Beschreibung dessen werden, was der Pariser Fußball ist. Es ist vielmehr mein Versuch, einen kaum greifbaren Zustand für mich etwas besser zu verstehen.

Die Konkurrenz der England-Importe

Paris hätte die besten Voraussetzungen gehabt, zur Wiege des französischen Fußballs zu werden. Ende des 19. Jahrhunderts waren es in Frankreich lebende Engländer, die den vergleichsweise jungen Sport über den Ärmelkanal exportierten. Vor allem im Norden und in der Normandie wurde der Fußball nach Regeln der englischen „Football Association“ gespielt und eben auch in der Hauptstadt Paris. Unter dem Dach der Union des sociétés françaises de sports athlétiques (USFSA, dt. Verband französischer Athletiksport-Vereinigungen) wurden die ersten Meisterschaften ausgetragen – es nahmen ausschließlich Pariser Mannschaften teil. 1894 fand im Pariser Vorort Courbevoie das erste Endspiel um den Meistertitel statt. Nach einem 2:2 zwischen den White-Rovers und Standard AC im ersten Spiel, konnte Standard das Entscheidungsspiel mit 2:0 für sich entscheiden. Diese Klubs waren überwiegend mit englischen Spielern besetzt. Erst langsam entstanden auch französische Fußballvereine, die erst jedoch in separaten Wettbewerben antraten.

Nicht nur in Paris begeisterte der Fußball. Auch in anderen Städten fanden Fußballverrückte zu Vereinsgründungen zusammen. Als ältester französischer Verein gilt heute der AC Le Havre, 1872 von britischen Hafenarbeitern gegründet. In den ersten Jahren rollte der Ball allerdings nicht, sondern das „Ei“ wurde geworfen: Rugby breitete sich einige Jahre vor dem Fußball in Frankreich aus. Vor allem im Süden fanden die Menschen eher gefallen an Rugby – was den mitunter schwierigen Stand des „eleganteren“, weniger körperbetonten Fußballs bis heute erklärt.

1899 wurde die Meisterschaft der Pariser Vereine für die „Provinz“ geöffnet. Der AC Le Havre, 1884 zum Fußballverein geworden, erreichte auf Anhieb das Finale. Der Gegner, der Club français, weigerte sich gegen einen Gegner aus der Normandie anzutreten. Kampflos trug der erste nicht-Pariser Verein die französische Meisterschaft davon. Zum ersten Mal wurde der Fußball zum Ort der Auseinandersetzung zwischen Paris und dem Rest Frankreichs. Ein bis heute immer wiederkehrender Konflikt im zentralisierten Staat, der erst in den 1980er Jahren den politischen Willen entwickeln sollte, sich zu dezentralisieren.

Die Glanzjahre des Hauptstadtfußballs

Langsam bildeten sich in ganz Frankreich Fußballvereine – allerdings auch Konkurrenzverbände. Bis zur Gründung der landesweiten Verbands FFF, der Fédération Française de Football, am 7. April 1919, dauerte es noch einige Jahre. Sein erste Präsident, Jules Rimet, der später auch FIFA-Präsident und Namensgeber der ersten Weltmeister-Trophäe werden sollte, war erst mit der Gründung einer der bekannteren Pariser Vereine beschäftigt. 1897 erblickte im siebten Arrondissement der Red Star Club das Licht der Welt, kurze Zeit später sollte er vor die Tore von Paris nach Saint-Ouen ins Stade Bauer ziehen. Red Star, ein Verein im Geiste der Dritten Französischen Republik. Die neue Versammlungsfreiheit ermöglichte den humanistischen Werten folgenden Verein, der vor allem Jugendliche aus ärmeren Familien anzog. Und doch verband man dies mit christlichen Werten, einige Jahre bevor die Republik die Trennung von Staat und Kirche beschloss.

Rimet verließ Red Star, zu großer Funktionärskarriere berufen, nach einigen Jahren. Der Verein erlebte hingegen seine rosigen Zeiten und feierte in den 1920ern vier Pokalsiege feiern. Mit Einführung der Division 1, der Vorgängerin der Ligue 1, gehörte auch Red Star (nach Fusion nun Red Star Olympique) zum erlesenen Kreis der frühen Profivereine.

Red Star Football Club Saint-Ouen 1920
Red Star 1920 via Wiki Commons

Den ersten Pariser Meistertitel in der Division 1 durfte ein anderer Verein in die Höhe stemmen: Der Racing Club, der sich als zweiter Pariser Verein in den 1930ern in der höchsten Spielklasse etablierte. In der Saison 1935/36 feierten die „Pinguine“, so der Spitzname, erstmals den Ligatitel. Mit dabei als Spieler war Auguste „Gustl“ Jordan, späterer Nationaltrainer der kurzlebigen Saarländischen Nationalmannschaft. Es war der letzte Meistertitel einer Pariser Mannschaft für ein halbes Jahrhundert.

Der Abstieg des Pariser Fußballs begann in den Zwischenkriegsjahren. Da der Fußball selbst einer mangelnden Anerkennung seitens der Stadtpolitik und einem eher geringen gesellschaftlichen Anerkennung gegenüberstand, waren die Pariser Vereine im Vergleich zur aufstrebenden Konkurrenz aus der Provinz im Nachteil. Die Vereine konnten ihre Stellung im Fußball nicht halten – die Stadt war hingegen weiter Schauplatz von Pokalendspielen.

In der Besatzungszeit schloss die Division 1 ihre Tore, auf regionaler Ebene wurden die „Championnats de guerre“ ausgespielt. 1940/41 wurde Red Star Meister in der Staffel der besetzten Zone Frankreichs, vor Rouen und Bordeaux. Viele Vereine weigerten sich aufgrund des Krieges, an Wettkämpfen teilzunehmen.

Verfall und künstliche Vereinskonstrukte – der „rote Milliardär“ aus Toulouse

Nach Kriegsende wurde der Profibetrieb wieder aufgenommen. Für Red Star sollte der Platz im Profifußball aber von einer Dauer- zur Ausnahmeerscheinung werden. Sportliche und finanzielle Probleme veranlassten den Verein erst dazu, sich 1950 in den Amateurbereich zurückzuziehen. Die Rückkehr in die Zweitklassigkeit wurde zum Drama, als 1955 der sportliche Aufstieg am grünen Tisch scheiterte – Korruptionsvorwürfe gegen Offizielle und Spieler zogen Sperren nach sich. Erst 1965 gelang wieder der Aufstieg in die Division 1, da ist Red Star aber schon der Fahrstuhlklub der Liga. Nach dem erneuten Abstieg kommt es zu einem Vorgang, der vielleicht im Jahr 2014 nicht weiter für Aufsehen sorgen würde, aber damals vor allem beim Verband dafür sorgen würde, Vereinsfusionen strenger zu reglementieren.

Der Toulouse FC, der damals vom kommunistischen Politiker Jean-Baptiste Doumeng, Spitzname „der rote Milliardär“, als Präsident angeführt wurde, spielte zur gleichen Zeit in der Division 1. Allerdings herrschte zwischen dem roten Milliardär und dem obersten Stadtherren von Toulouse, Louis Bazerque von den Sozialisten, eine angespannte Stimmung. Doumeng belebte die französische Tradition des absolutistischen Herrschers neu, indem er 1967 kurzerhand entschied, seinen Toulouse FC mit dem gerade abgestiegenen Red Star fusionieren zu lassen, inklusive dem Startrecht in der Division 1 und dem Transfer aller Spieler nach Paris. Toulouse, die „ville rose“ an der Garonne im Süden Frankreichs, verlor aufgrund der guten Beziehungen Doumengs mit dem kommunistischen Saint-Ouen kurzerhand seinen Erstligisten. Eine Lücke, die erst in den 1970ern vom neu gegründeten Toulouse FC (der heute noch erstklassig spielt) gefüllt wurde. Die Finanzspritze des „roten Milliardärs“ für Red Star hatte aber nur den Effekt eines Strohfeuers und schob den erneuten Abstieg nur einige Jahre auf. Doumeng zog sich zurück und 1975 war das Kapitel Erstklassigkeit für Red Star abgeschlossen.

Dem Racing Club erging es nicht viel besser. Anfang der 60er Jahre stieg RC in die Division 2 ab, einige Jahre später gingen der sportliche Erfolg und die Zuschauer abhanden. Eine Fusion sollte auch hier die Notbremse ziehen, Partner sollte UA Sedan-Torcy werden. Die Pläne sahen vor, dass die Heimspiele mal in Paris, mal in Sedan (an der französisch-belgischen Grenze) ausgetragen werden sollten. Doch der Verband spielte nicht mit und lediglich einige Spieler, der Präsident und der Name wechselten zum „RC Paris Sedan“. Der Pariser Klub stieg in den Amateurbereich ab, sein „Nachfolger“ aus den Ardennen benannte sich 1970 in CS Sedan Ardennes um und spielt heute nach Jahren zwischen erster und zweiter Liga im viertklassigen CFA, Gruppe A.

Paris Saint-Germain – ein Nebenprodukt des Verbands

Frankreich, dessen Zentralisierung in Sachen Mode, Kultur und Bildung zwangsläufig zur Unterscheidung in Paris und Provinz führt, wurde in den 1960ern und 1970ern von Mannschaften wie Olympique Marseille, dem FC Nantes, den Girondins de Bordeaux oder dem Serienmeister AS Saint-Etienne bestimmt. Dieser Anachronismus im französischen Fußballsystem rief den Verband auf den Plan, der 1969 eine Studie in Auftrag gab, die – wenig überraschend – zu dem Schluss kam, dass Erstligafußball in Paris wünschenswert sei. Hastig wurde der Paris FC gegründet, der zunächst einfach nur existierte, aber nicht am Ligabetrieb teilnahm. Da der Verein auch hastig in die erste Liga wollte, ohne die Ochsentour durch den Amateurbereich mitmachen zu müssen, kam erneut die Idee einer Fusion mit einem Erstligisten auf den Tisch. Der einzige Erstligist in der Nähe von Paris war ironischerweise der CS Sedan Ardennes, der aufgrund der Erfahrung mit Racing ablehnte. Zwangsläufig musste Paris eine Liga tiefer suchen – und dort fand sich Stade Saint-Germain aus Saint-Germain-de-Laye, einem Vorort von Paris. Saint-Germain war eine feste Größe im Amateurbereich und 1970 als Dritter in der Amateurmeisterschaft dazu berechtigt, in die zweite Liga aufzusteigen. Die FFF schaltete sich nun ein, mit dem Ziel, den Pariser Fußball wieder auf ein hohes Niveau zu bringen: Der bislang „virtuelle“ Paris FC und Stade Saint-Germain fusionierten vor der Saison 1970-1971 zum Paris Saint-Germain FC. In der Debütsaison verlief alles nach Plan, es gelang der Durchmarsch in die Division 1.

Doch Paris wäre nicht Paris, wenn das nicht gewisse Probleme ergeben hätte. Denn eigentlich war der neue Paris Saint-Germain FC immer noch ein Vorstadtklub, der die Pariser daran erinnerte, dass die eigenen Versuche, im Profibereich Fuß zu fassen, kläglich gescheitert waren. Die Stadt, Besitzerin des „Parc des Princes“, dem großen Stadion im Westen der Stadt, verweigert dem Verein, innerhalb der Stadtgrenzen zu spielen. Die Lösung: Knapp 18 Monate nach der Zwangsehe die Scheidung. Der Paris FC durfte den Platz in der Division 1 behalten, PSG musste zurück in die Drittklassigkeit, wo bislang die Reserve spielte.

1198px-Maillots_du_PSGInteressante Trikotsammlung von PSG via Wiki Commons

Die Ironie der Geschichte: Obwohl der Planklub Paris FC alle erdenklichen Privilegien bekam, konnte er sich nicht als Pariser Aushängeschild im Profifußball etablieren. 1974 stieg der Paris FC in die Division 2 ab – im gleichen Jahr stieg der PSG ins Oberhaus auf. Geplant war alles anderes, dennoch sollte Paris nun endlich das bekommen, was es immer wollte: Einen Profiverein. Nun lenkte auch die Stadt ein und ließ den „Vorstadtklub“ im Prinzenpark spielen, wo der PSG heimisch werden sollte. Das Trainingsgelände ist dabei allerdings bis heute in Saint-Germain-en-Laye geblieben.

Von den Rosahemden über Canal+ ins Mittelmaß

1973 waren der Modeschöpfer Daniel Hechter, der Schauspieler Jean-Paul Belmondo, der Verleger Francis Borelli und weitere Mitglieder der Pariser High Society. Die Presse verlieh ihnen den Spitznamen „la gang des chemises roses“, die Bande der Rosahemden, als leichte Spöttelei gegen die Neulinge im Funktionärswesen. Doch die Größen aus der Pariser Schickeria legten den Grundstein für den Aufstieg des neuen Pariser Clubs. Hechter selbst entwarf das traditionelle Trikot der Pariser in blau-weiß-rot. Der PSG wurde damals der Verein des „show biz“, konnte sich aber auch im Ligaalltag bewähren. Für Präsident Hechter war das Kapitel PSG bereits 1978 wieder beendet: Eine Affäre um Eintrittskarten kostete ihn das Amt.

Francis Borelli übernahm den Verein und führte ihn 13 Jahre lang. Unter seiner Ägide gewann PSG seine ersten nationalen Titel. 1982 und 1983 gewann Paris den Coupe de France, den französischen Pokalwettbewerb. Maßgeblichen Anteil an den Erfolgen hatten der aus Saint-Etienne 1980 nach Paris gewechselte Angreifer Dominique Rocheteau und der algerische Stürmer Mustapha Dahleb, der bereits seit 1974 den Pariser Aufstieg mittrug. Der ganz große Triumph folgte 1986: 50 Jahre nach dem letzten Pariser Meistertitel durfte der mittlerweile von Gérard Houllier trainierte PSG die Saison als Erster beenden. Mit Spielern wie Luis Fernandez und Safet Susic war nun Paris erstmals seit Jahrzehnten das Zentrum des französischen Fußballs.

Die künstliche Feindschaft

Doch die Konkurrenz ließ nicht lange auf sich warten. In Südfrankreich übernahm der schillernde, wie berüchtigte Bernard Tapie das Ruder bei Olympique Marseille und dominierte Ende der 1980er den französischen Fußball. Zwischen 1989 und 1992 gab es vier Meistertitel in Folge für OM. In Paris herrschte Frust. Der Bezahlfernsehsender Canal+ witterte hingegen eine Chance: Mit einem Einstieg bei PSG würde der Ligafußball wieder an Spannung gewinnen. Canal + übernahm die Mehrheit am Hauptstadtklub und Michel Denisot wurde Präsident. Der Sender profitierte von der viel älteren, tiefer sitzenden Rivalität zwischen den Städten Paris und Marseille. Allein – die Rivalität zwischen beiden Klubs ist damit eher jungen Alters und fußte vor allem auf den ökonomischen Interessen der beiden großen Männer im Hintergrund, Tapie und Denisot.

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PSG Fans beim Pokalfinale 2006 via Wiki Commons

Vielleicht eine tragische Begleiterscheinung dieser Interessen: In den 1980er Jahren schwappte der Ultra-Gedanke von Italien auch nach Frankreich. Mit dem Commando Ultra (1984) aus Marseille und den Boulogne Boys (1985) des PSG fanden auch früh die fanatischen Anhänger beider Klubs ihre Gruppen nach italienischem Vorbild. Allerdings gab es zu dieser Zeit zwischen den Pariser und Marseillaiser Gruppen keine Rivalität – im Gegenteil: Wie das französische Fußballkulturmagazin SO FOOT 2014 berichtete, existierten durchaus freundschaftliche Kontakte auf persönlicher Ebene zwischen Ultras aus Marseille und Paris. Die spätere Rivalität der großen „dirigeants“ übertrug sich erst mit Canal+ auf die Fans – und trug damit zu den unschönen Seiten des französischen Fußballs bei.

Sportlich brachte die Zeit mit Canal+ den PSG zurück an die Spitze – auch begünstigt von einem Bestechungsskandal, der OM kurz nach deren Sieg in der Champions League zurück in die zweite Liga versetzte. Mit David Ginola und George Weah gewann PSG 1994 seinen zweiten Meistertitel. Danach sollte die Ligue 1 in Frankreich allerdings eine wechselhafte Angelegenheit werden. Bis 2002 gewann kein Team zweimal in Folge den Titel, Meister wie der AJ Auxerre, der FC Nantes oder der RC Lens konnten so zwar auf nationaler Ebene das Geschehen bestimmen, auf internationaler Ebene blieben die „Großen“ wie Marseille, Monaco oder eben Paris bestimmend. 1996 sicherte sich der PSG den Europapokal der Pokalsieger – sein bis heute einziger großer Titel auf europäischer Bühne. Es drohte jedoch eine schleichende Marginalisierung. Zwischen 2002 und 2008 hatte Olympique Lyonnais den Meistertitel abonniert.

Die neue Zeitrechnung ab 2011

Im Jahr 2011 änderte sich die Hegemonie im französischen Fußball endgültig, nachdem mit Bordeaux, Marseille und Lille die alten Größen Frankreichs wieder unter Beweis stellten, dass Lyon schlagbar ist. Der PSG, in der Zwischenzeit das Eigentum vom US-Investor Colony Capital, war hoch verschuldet. Das Qatar Sports Investments, ein staatlicher Fonds des Emirats Katar, übernahm die Mehrheit am Pariser Verein und dessen Schulden, um ihn wieder auf ein internationales Niveau zu heben. Nachdem 2012 überraschend der kleine südfranzösische Montpellier HSC das Double aus Meisterschaft und Pokalsieg gewann, stellte sich der erneute Planerfolg ab 2013 mit der ersten Meisterschaft seit 19 Jahren ein, die 2014 prompt verteidigt wurde. Möglich machten dies millionenschwere Neuzugänge wie Javier Pastore, Maxwell, Edinson Cavani und nicht zuletzt Zlatan Ibrahimovic. Sogar David Beckham ließ sich im Spätherbst seiner Karriere zu einem „Cameo“-Auftritt im Prinzenpark überreden, der sportlich kaum der Rede wert war und auch eher in die Abteilung Marketing gehört, da der ehemalige englische Nationalmannschaftskapitän sein Gehalt karitativen Einrichtungen spendete. International regt der Verein die Gemüter: Das finanzielle Engagement des WM-Gastgeberlandes 2022 Katar in Paris wird oft als „Whitewashing“ im Vorfeld des jetzt schon umstrittenen Turniers kritisiert. Zudem beschweren sich Konkurrenten auf internationaler Ebene, allen voran der FC Bayern München, darüber, dass der PSG die Regelungen zum „Financial Fairplay“ umgehe. Zuletzt schloss der PSG einen Sponsoringvertrag mit Katars Tourismusbehörde ab, der dem Verein bis 2016 600 Millionen Euro einbringen soll.

Stars statt Skandalklub

Die jüngsten Entwicklungen stellen die Frage nach dem Platz des Fußballs innerhalb der Stadt. Paris war und ist eine Stadt der Gegensätze, viele sagen sogar: Paris ist nicht das wirkliche Frankreich. Vielleicht geht die These zu weit, denn sie bildet die Gegensätze der französischen Gesellschaft ab: Die bürgerliche Elite, die Jahre ihrer Jugend opfert, um später leitende Positionen in Unternehmen und Behörden einzunehmen, aber auch Einwanderer und die „classe populaire“, die von steigenden Mietpreisen in den Pariser Norden und die Vorstädte gedrängt wird und für die der Alltag in Paris ein täglicher Kampf ist. Genauso war auch Paris Saint-Germain ein verbindendes Element aller Pariser und immer etwas, auf das die Einwohner zumindest in erfolgreichen Zeiten stolz sein konnten.

Allerdings sorgten andere Entwicklungen bereits vor dem Einstieg Katars bei PSG für ein Ende der Fankultur. Traditionell gab es mit dem Kop of Boulogne (KOP) eine rechts orientierte, mit Hooligans gefüllte Kurve, während in der Virage Auteuil (VA) Fans unterschiedlicher Hautfarbe und Religionszugehörigkeit zusammenfanden. Die Spannungen beider Kurven führten bei einem Heimspiel gegen Marseille im Jahr 2010 dazu, dass hunderte Hooligans der KOP Anhänger der Virage Auteuil attackierten – aus Marseille waren aufgrund eines Boykotts keine Ultra-Gruppierungen angereist. Die Angriffe endeten mit schweren Auseinandersetzungen, bei denen ein Hooligan der KOP so schwer verletzt wurde, dass er später verstarb. Für den Verein, der aufgrund früherer Vorfälle bereits auf Kriegsfuß mit seinen organisierten Anhängern stand, war das der Anlass mit dem „plan Leproux“ (benannt nach dem damaligen Präsidenten) praktisch alle bestehenden Ultra-Gruppierungen zu verbieten und künftigen Ultra-Aktivitäten strenge Auflagen vorzugeben.

Während der „plan Leproux“ 2010/2011 noch ernsthaft dazu geeignet war, dem Verein wirtschaftlich zu schaden, da die Zuschauerzahlen drastisch sanken, so erwies er sich mit der Ankunft Katars als Filter, um das Image des Vereins von Anfang an neu zu definieren. Die Nachfolger der verbotenen Ultra-Gruppen traten entweder in den Dauerboykott, die Lethargie oder gingen im nun weitgehend sterilen Prinzenpark akustisch unter. Für den Verein bot der plan Leproux die Möglichkeit, schon vor dem Stadionbesuch die künftigen Stadiongänger zu selektieren – sofern dies noch nicht über die gestiegenen Preise geschehen war. Mit den Transfers von Superstars wie „Zlatan“ nach Paris, stieg nämlich schlagartig auch wieder das Interesse am PSG.

Was bringt die Zukunft?

Die turbulente Pariser Fußballgeschichte scheint nun 2014 dort angekommen, wo sie sich immer wähnte: Ganz oben. Zum Preis einer vielfältigen Fankultur? Mal mehr, mal weniger treue Fans hat der immer noch im Stade Bauer spielende Red Star FC, den außerhalb Frankreichs noch immer der Ruf des „französischen St. Paulis“ ob seiner Fanszene ereilt. Nach Jahren der Pleite und der Bedeutungslosigkeit ist man zumindest zurück in der „National“, der dritthöchsten Liga. Altstars wie zuletzt Steve Marlet oder aktuell David Bellion nähren die Hoffnung der Red-Star-Anhänger auf einen Aufstieg in die Ligue 2. Der zweite Kampf, den die Anhänger selbst ausfechten müssen, ist der um das vom Verfall bedrohte Stade Bauer. Der Präsident Patrice Haddad würde gerne einen Neubau in den Docks von Saint-Ouen ansiedeln – die Fans drängen auf eine Modernisierung der traditionellen Spielstätte.

In einem modernen Stadion, dem Stade Charléty im 13. Arrondissement im Pariser Süden, spielt der ehemalige Planklub Paris FC. Obwohl der PSG aktuell den Platz einnimmt, der für den PFC vorgesehen war, scheint der Wille einiger Stadtherren, den Verein wieder in den Profibereich zu hieven, ungebrochen. Trotz weniger Sponsoren und einer durchschnittlichen Zuschauerzahl im dreistelligen Bereich darf der Verein das moderne Leichtathletik-Stadion nahe der Cité Universitaire nutzen und soll sich zumindest in der Ligue 2 etablieren. Aktuell ist der Paris FC in der Spitzengruppe der National und seinem ersten Etappenziel nahe.

Ob dies zu einer Renaissance der Fankultur führt? Mit Skepsis darf diese Aussicht hinterfragt werden: Als es beim Drittligaderby zwischen Red Star und dem Paris FC zu Auseinandersetzungen zwischen Fangruppen beider Vereine kam, machten lokale Politiker gleich ehemalige Ultras des PSG für die Gewalt verantwortlich. Fans sind in Paris nicht Teilnehmer am Geschehen, sondern seit 2011 vor allem Kunden und Zuschauer – die beim PSG das große Erlebnis bekommen und beim Paris FC vielleicht in ein bis zwei Jahren das entsprechend kleinere zum geringeren Preis. Ultras gibt es nur vor allem noch bei Red Star, in geringerem Maße beim Paris FC und beim von Fans neu gegründeten Ménilmontant Football Club, der von ehemaligen Mitgliedern der Virage Auteil besucht wird.

Obwohl der aktuelle Präsident des PSG, Nasser Al-Khelaïfi, eine Rückkehr der Ultras in den Prinzenpark nicht ausschließt, so hat er doch offen zugegeben, dass dieses Thema für den Verein derzeit keine große Rolle spielt. So verwirklicht am Ende vielleicht doch der Schwede Zlatan Ibrahimovic, längst Figur der Popkultur in Frankreich, wie kein Zweiter das Verhältnis der Pariser zum Fußball: Es geht vor allem darum, dem Rest Frankreichs die eigene, unumstrittene Klasse zu demonstrieren. Nach einer langen Zeit der Leiden.

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Ich möchte jetzt einen Spieltag töten! https://120minuten.github.io/ich-moechte-jetzt-einen-spieltag-toeten/ https://120minuten.github.io/ich-moechte-jetzt-einen-spieltag-toeten/#comments Thu, 30 Oct 2014 07:25:28 +0000 https://120minuten.github.io/?p=490 Weiterlesen]]> Fußball ist ein einfaches Spiel, aber es ist alles gesagt und geschrieben worden. Keine neuen Blickwinkel. Versteht jemand, was ich meine?

Autor: Martin, Der Wochenendrebell

Fußball. Eigentlich ein recht einfaches Spiel. Elf Mann auf jeweils einer Seite eines Spielfelds versuchen, einen Ball durch die gegnerische Hälfte hindurch zu befördern, um ihn final in einem etwas über sieben Meter breiten Gehäuse zu versenken. Okay, es gibt zwei oder drei weitere Regeln und Dinge, die man beachten muss. Und Situationen wie Abseits, die komplex genug sind, um später im TV achtundzwanzig Zeitlupen und vierundsiebzig verschiedene Kameraperspektiven zu benötigen, um entscheiden zu können, ob tatsächlich eine Abseitsposition vorlag. 

Aber eigentlich ist Fußball ein einfaches Spiel. Und fast alles ist dazu schon mindestens einmal gesagt worden. Und weil das so ist, wusste ich zunächst nicht, welches Fußballthema außerhalb der Reisen mit meinem Sohn Grundlage dieses Blogposts werden soll. Denn wie bei der Abseitsregel und ihrer Anwendung gibt’s beim Thema Fußball mindestens drei Mal so viele Perspektiven wie verschiedene Kameraeinstellungen bei komplexesten Abseitsentscheidungsfindungen.

Das eigentlich recht einfache Spiel hat eine relativ vielschichtige Art von Betrachtungsweisen, was mich wiederum zu der Hoffnung geführt hat, dass es vielleicht eine Perspektive gibt, aus der heraus noch nicht über Fußball diskutiert und berichtet wurde.

Es gibt den Blickwinkel des Spielers, des Trainers, des Vereinsvorstands, des Sportmanagers oder des Sportdirektors. Es gibt den Blickwinkel des Schiedsrichters, des Stadionbesuchers, des Ordners vom Stadiondienst und den Blickwinkel der Polizei. Den Blickwinkel des Mannschaftsarztes, des Busfahrers, der Trainerfrau und des Intimus-Journalisten der Vereinsführung. Dazu noch den des Intimfeindes des Journalisten, der vielleicht ohne echte Interna aus der Vereinsführung heraus recherchieren muss.

Es gibt unter all diesen Blickwinkelgruppen auch noch einmal unzählige, ganz persönliche Prägungen, die die Perspektive eines jeden einzelnen Blickwinkelgruppenteilnehmers intensiv beeinflussen. Den tendenziell aggressiven Polizisten versus den besonnen Typen, der ein großes persönliches Interesse daran hat, seinen Job aufrichtig und ehrlich auszuführen, zu deeskalieren, statt Machtspielchen auszufechten. Es gibt den heißblütigen Ultra, der sein Leben dem Verein verschrieben hat und dessen Aufopferungsbereitschaft, sein Privatleben praktisch lahmzulegen, von Profifußballspielern selten ausreichend gewürdigt wird. Ihm gegenüber gibt es den gemütlichen Haupttribünenfan, der, vielleicht dem Gruppenzwang geschuldet, fleißig klatschpappt, brav den ein oder anderen fanlebensnotwendigen Artikel, wie z.B. einen BVB-Schnuller oder FC Bayern München-Weißwürstchendosenöffner im Fanshop kauft und eher als Eventfan, Modefan oder eben halt einfach als „kein echter Fan“, beurteilt wird. Es gibt den verantwortungsbewussten Ordner, der seine Aufgabe ganz bewusst durchführt, ohne durch übermäßigen Einsatz von Kleinkariertheit oder fehlendem Einfühlungsvermögen aufzufallen. Und es gibt den Ordner, dem zu Hause die Gattin seit Monaten das Dosenbier entzieht, um seinen Licherspoiler abzubauen, und der dieses Aufmerksamkeitsvakuum als Ordner durch teils fragwürdiges Verhalten kompensiert. Oder den Ordner, dessen Bildungsniveau es vielleicht einfach nicht zulässt, sich gegenüber einem Mensch wie ein Mensch zu verhalten.

Auch moderne Stadionarchitektur hält interessante Blickwinkel bereit.

Auch moderne Stadionarchitektur hält interessante Blickwinkel bereit.

Wie sie sehen, hat das eigentlich recht einfache Spiel eine relativ vielschichtige Art von Betrachtungsweisen, was mich wiederum zu der Hoffnung geführt hat, dass es vielleicht eine Perspektive gibt, aus der heraus noch nicht über Fußball diskutiert und berichtet wurde. Und seit Tagen zermartere ich mir den Kopf darüber. Aus mittlerweile jedem verdammten Blickwinkel betrachten wir dieses doch recht einfache Spiel von elf meist recht talentierten Profifußballern gegen elf weitere ebenfalls meist recht talentierte Profifußballer, die manchmal angeblich mit Herz bei der Sache sind und manchmal dies natürlich nur des Geldes wegen tun. Söldner quasi. Die Berichterstattung nimmt teils ziemlich abstruse Formen an, denn in so mancher Zeitung lese ich recht wenig über die langfristige Strategie eines Sportdirektors z.B. zur Jugendförderung. Oder über wahrheitsgetreue Details zu Vertragsinhalten, vielleicht sogar ganz transparent in einem Doppelinterview von Spieler und Vereinsverantwortlichen. Stattdessen lese ich von Mutmaßungen oder gezielt von Berater oder Verein lancierten Pseudoinfos, sowie wahnsinnig interessanten Neuigkeiten, angefangen bei Badeerlebnissen mit der Cousine und endend bei den immer skurriler anmutenden Statistiken, wie Ballkontakte, gelaufene Kilometer, Heatmaps oder der Anzahl an gewonnenen Zweikämpfen, dabei ist es doch DER EINE Pass oder DER EINE Zweikampf oder DER EINE Ballkontakt, der das Spiel entscheidet.

Selbst wenn ich professionelle Onlinemagazine dazunehme, lese ich kaum Themen mit bedeutsamer, echter Relevanz zum Spiel. Pressemitteilungen, die vor lauter Inhaltsarmut kurz vor der Bedeutungslosigkeit ihr Dasein fristen sollten, werden zu riesigen Breaking News hochgepusht, oder der Inhalt ist vielleicht schon Wochen vorher hinlänglich bekannt gewesen.

Wenn doch sowieso schon der Bezug zum Spiel fehlt, dann würde mich zum Beispiel interessieren, wie sich so ein Social-Media-Beauftragter fühlt, der sich morgens Manuel Neuers Tweets ausdenkt und der in Wirklichkeit heimliches Mitglied der Burschenschaft Gelsenkirchen-Buer ist. Spannend wäre vielleicht auch ein Interview mit einem der Top-Capos der ersten Fußballbundesliga, der dann im Anschluss in einem Interview beurteilen soll, wie die Mannschaft die vorher transparent und deutlich kommunizierten Aufgaben des Trainers umgesetzt hat. Ich finde, diese Art der Betrachtung hätte vielleicht ein klein wenig Aufmerksamkeit verdient. Schließlich ist der Capo ja jemand, der eventuell keine neunzig Minuten später auch die „Trainer raus“-Rufe befeuert. Sein Weg der Meinungsbildung in den letzten neunzig Minuten, mit dem Rücken zum Spielfeld gekehrt, hätte mich doch sehr interessiert.

Auf der Suche nach einem neuem Blickwinkel auf das Spiel und seinen Rahmen hatte ich ursprünglich die Idee für diesen Blogpost einmal mit jemandem zu sprechen, der unmittelbar an einem Stadion mit Wohngebietsnähe lebt, der jeden Pfiff, jeden Laut aus dem Stadion hört, sich aber überhaupt nicht für Fußball interessiert. Der Fußball vielleicht sogar hasst, weil er samstags um die Uhrzeit lieber ganz in Ruhe zu sanften Radioklängen fernab der NDR-Schlusskonferenz sein Auto wäscht. Ich stelle mir das spannend vor. Ihr nicht? Na ja, zumindest wäre es aufregend im Vergleich zu dem spannenden Content, welcher mir als aufgehypte, frisch durchs Dorf getriebene Sau in Vor-, Zwischen- und Nachberichterstattung serviert wird, dessen Inhaltsstoffe sowohl von öffentlich-rechtlichen Sendern, privaten TV-Unternehmen, sowie auch von allen anderen Sendern, Zeitungen und Magazinen so oft durchgekaut wurden und alle notwendigen medialen Verdauungsorgane durchlaufen haben, um dann final am Sonntagvormittag auf den mit Krombacher gedeckten Tisch geschissen zu werden. Zumindest in diesem Kontext wäre das Interview mit dem Fußballhasser mal frischer, fäkalfreier Input. Für mich ganz persönlich zumindest.

Versteht jemand, was ich meine? Fußball ist ein einfaches Spiel, aber es ist alles gesagt und geschrieben worden. Keine neuen Blickwinkel.

Vielleicht lassen sich ja wenigstens bestehende Störfaktoren beheben?
Ich verlange ja noch nicht einmal, dass jeder seinen Blickwinkel ändert. Das will ich gar nicht. Wenn der Polizist eine aggressive Grundeinstellung hat, juckt mich das nicht. Wenn der Fan neben mir im Stadion Quizduell spielt, ist mir das völlig egal. Wenn ein Erwachsener Mensch die Zahl 1860 nicht aussprechen mag und diese stattdessen nur 1859+1 nennt, dann darf ich das albern finden, aber es beeinflusst nicht meinen Genuss.

Es ist für mich nicht im geringsten wünschenswert, jemanden zu bitten, seine Verbundenheit zum Spiel aus seiner Perspektive heraus anders darzustellen und auszuleben, als sein Herz und sein Verstand ihm das sagt. Ganz im Gegenteil. Ich will diese Vielfalt. Ich will bunte Kurven und Geraden. Demonstrierte Meinungsvielfalt, die mir vielleicht auch hilft, mich deutlicher oder auch genauer zu positionieren.

Ich will kein durchweg uniformiert besetztes Stadion mit ganzheitlichem Rundumversorgungsprogramm, welches nach Plan vorgibt, wann ich Konfetti hoch zu schmeißen habe, ohne dass im gleichen Stadion jemand keinen Platz findet, der, ganz in sich gekehrt, hoch konzentriert und angespannt, aber mit keinem Fetzen weniger Leidenschaft und Herzblut, das Spiel genießt. Jeder, wie er es mag. Mal abgesehen von diesen Drecksnazis, die meinen oder deinen Verein, meinen oder auch deinen Fußball für ihre Zwecke missbrauchen. Verpisst euch einfach.

Das Einzige was ich mir noch wünschen würde, ist, dass jeder von euch seinen Blickwinkel gelegentlich mal überprüft. Seid ihr mit eurem Verhalten, mit eurem Auftreten, tatsächlich in einer so göttlichen Runde, dass es mindestens an Nonkonformität grenzt, sich anders zu verhalten, und ihr daher ausreichend Anlass habt für die Einleitung indoktrinierender Maßnahmen und vorschnelle Urteile zu der Wertigkeit eines Fans? Ist euer Schweigen bei rassistischen Zwischenrufen nicht auch als stille Zustimmung zu interpretieren? Befeuert ihr nicht selbst die Hemmungslosigkeit der Designabteilungen großer Sportartikelhersteller, wenn ihr ihnen in tausenden geposteten Fotos von und Kommentaren von und zu Trikot-„Fehltritten“ die Aufmerksamkeit schenkt, die sonst wertvollen Werbeetat verbrauchen würde?

Ich habe meine Probleme mit Gruppierungen, die mich ihre Erhabenheit spüren lassen. Ich solle mich freuen, das Interview mit Spieler X lesen zu können oder mit Fan Y das Stadion teilen oder mit ihm in der gleichen Kurve zu sitzen oder stehen zu dürfen. Schwierig machen es dann auch völlig zusammenhanglose Interpretationen, die man vermehrt in sozialen Medien lesen kann, was der Spieler eigentlich damit sagen will. Beschwert er sich, dass er keine Einsätze bekommt, ist er ein Quertreiber. Erträgt er still die Bank, hat er keinen Biss.

Du als Fan, Zuschauer oder Konsument kannst ja alle Schiedsrichter hassen, aber schreie es mir nicht ins Ohr, weil du zusätzlich deine Frustration über die vermeintlich ausländische Herkunft des Mannes in schwarz loswerden möchtest. Bei dir als Gruppe oder Einzelperson kann ich eine relativ klare Grenze zu dem ziehen, was inakzeptabel ist, was ich wiederum nicht in allen Fällen so behaupten kann. Darf man heute „Schiri, wir wissen wo dein Auto steht“ singen, oder ist das ein Aufruf zur Sachbeschädigung und Vandalismus und wird strafrechtlich verfolgt? Man weiß es nicht, bzw. man weiß es eigentlich schon, und trotzdem werden Fangesänge harmloserer Art schon mal hypersensibel schnell in die Ecke der schweren Diskriminierung gestellt. Es ist nicht einfach als Fußball-Fan.

Du, als Profifußballer, kannst ja von deinem Berater oder nach dem 14-tägigen Interviewtraining genaueste Instruktionen bekommen haben, um in Interviews zum dutzendsten Mal die gleichen Floskeln rauszuhauen. Oder du führst dein Leben weniger als Profisportler mit Anstand und Niveau, sondern als effektiv Geld verdienendes Produkt, dessen Dank an seine treusten Fans regelmäßig über soziale Medien von findigen Mitarbeitern in Super-Super-Gewinnspielen verbreitet wird. Die richtig guten Social-Media-Heros arbeiten dann mit so cool-hippen Agenturen, die herzzerreißende, anteilnahmsvolle und haarscharf analysierte Statements liefern, wie:

„Hey Fans! Heute war mehr drin, aber euer Support war wie immer der Wahnsinn. Ihr hättet es verdient, dass wir gewinnen, aber wir konnten heute unsere Leistung auch mental nicht hundertprozentig abrufen. Wir müssen jetzt von Spiel zu Spiel denken, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass da nächste Woche eine andere Mannschaft……. blablabla………………. Ihr seid die Besten! Kauft auch jetzt meine neuen Nike X5734 Fußballschuhe in der ProX2015 Edition, die es zur optimalen Gegnerverwirrung auch in den unterschiedlichen, hippen, meist unauffälligen Signal-Trendfarben gibt.“

Immerhin setzt das Maßstäbe in Sachen PR-Limbo, aber selbst für den allerletzten Fan-Zombie dürfte da doch klar sein, wie der Hase läuft. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es ist doch ein recht einfaches Spiel! Ich will ja gar nicht wissen, ob und wann ein Spieler mit welcher Freundin von welchem Mitspieler geknickknackt hat, ich will nicht wissen, wer in der Umkleidekabine der DJ ist und mit welcher Musikrichtung er vor oder nach dem Spiel die Herzen seiner Mitspieler erobert. Sagt dann lieber einfach gar nichts mehr. Das ist besser als dieses allgemeine Gelaber. Vielleicht hören dann auch Medien auf, das Ankommen eines Busses live zu zeigen oder mich über den Speiseplan des Teams zu informieren. Meine Fresse.

Du, als Liebhaber des Spiels, darfst auch der echte Fan sein. Also so der richtig echte. Nicht so ein halber oder ein falscher. Du darfst dein Fan-Leben genau so leben, wie es im Grundgesetzbuch für Fansein von dir oder deinen Urahnen gesetzlich verankert wurde. Das ist o.k. so. Und du bist der Einzige, der es richtig macht. Auch deine Perspektive möchte ich nicht ändern. Ich möchte überhaupt keine Perspektive ändern, denn ich habe ein wenig Bauchschmerzen damit, wenn es Gruppen gibt, die den eigenen Blickwinkel nach außen hin als den einzig korrekten Weg darstellen. Mir ist dabei letztendlich sogar egal, ob der Weg tatsächlich korrekt ist oder nicht. Ich habe grundsätzlich nur das Problem, dass ich Gruppen, gleich welcher Art, gleich welcher Größe, die ihre Perspektive als die einzig richtige erachten, für äußerst problematisch halte. Besonders problematisch ist es übrigens, wenn es sich um Gruppen handelt, die völlig grundlos eine andere Gruppe und ihre Perspektive in ihrem Dasein attackieren, behindern oder sie stören bei dem, was sie tun.

Natürlich wäre es schön, wenn es Spieler geben würde, die nur sagen, was sie denken und nicht das, was sie glauben, was der Fan oder auch der Trainer jetzt hören muss und möchte. Wenn, dann würde mich aber nur die Meinung oder die Einschätzung von Pep Guardiola selbst interessieren, warum seine Deutschkenntnisse nach so fulminantem Start sich doch scheinbar recht kläglich weiter entwickelt haben oder was sich Bremer Amateurspieler beim Jubeln wirklich gedacht haben oder eben warum es heute im Spiel nicht funktioniert hat, die Strategie des Trainers umzusetzen.

Egal welche Information, aus erster und einziger Quelle würde ich sie aufsaugen. So viel Leidenschaft ist dann wohl doch noch da. Da habe ich dann auch überhaupt keine Probleme damit, mich in hemmungsloser Reizüberflutung zu verlieren. Wenn Spieler X persönlich erzählt, mit welcher Spielergattin er verkehrte, oder wer nach dem Spiel welche Musik auflegt. Ganz im Gegenteil. Es gäbe der Nachberichterstattung eine wohlige Erfrischung, wenn Spieler X seine schwache Leistung mit dem außerehelichen Verkehr der Gattin von Spieler Y entschuldigt. Es müsste sich allerdings bei ihm schon auch um einen der beiden Teilnehmer des erotischen Stelldicheins gehandelt haben. Oder wenn sich ein Spieler in einem Interview noch weit vor der Mixed Zone, direkt am Spielfeldrand, äußert und als Besserungsmaßnahme für das nächste Spiel angibt, er freue sich jetzt erst einmal darauf, mit den anderen Jungs in der Kabine das neue Helene-Fischer-Album durchzuhören.

“Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.”

Karl Valentin (1882 – 1948)

Lacht nicht, ich meine das ernst. Das ist nicht die Art und Weise, wie ich möchte, dass sich ein Spieler äußert. Aber das, was ich möchte, darf ein Spieler vielleicht heutzutage gar nicht mehr äußern oder kann sich gar nicht mehr nach außen so darstellen, von daher wären mir diese Aussagen zwar nicht wichtig, aber interessanter als der gesamte Einheitsbrei, der da mittlerweile verwurstet wird. Es hätte etwas Erfrischendes. So aus erster Hand, frei von jeglichen Spekulationen.

Letztendlich geht es aber um die Perspektive und um meinen ganz persönlichen Wunsch, in meiner Art und Weise, Fußball zu sehen, zu fühlen oder zu konsumieren, in Ruhe gelassen zu werden. Ich will niemanden in seiner Art der Zuneigung zum Fußball ändern.

Aber es ist ja auch nun mal so, dass, wenn der Aggro-Proll, gleich welcher Gruppe, sein Gewaltpotential an einer Mauer oder an einem Punchingball los wird, wir gruppenübergreifend, gleich in welchem Lager, schon mal einen gehörigen Schritt weiter wären.

Dies ist kein „Ich fühl mich nicht sicher im Stadion“-Hilferuf, bevor dies von dieser Blickwinkelbetrachtungsgruppe zum Zwecke der Propaganda instrumentalisiert werden kann. Ich fühle mich sehr sicher im Stadion, aber ich habe trotzdem überhaupt keinen Bedarf, dem Schauspiel von angestautem Aggressionspotential beizuwohnen, und hasse es wenn das Stadion für diese Zwecke instrumentalisiert wird. Warum im Stadion? Es ist doch nicht zu viel verlangt, sich andernorts zu treffen um sich gegenseitig recht hohle Köpfe einzuschlagen. Gerne auch recht rechte Hohlköpfe.

Ich möchte dieses Spiel einfach genießen, ohne vom Stadionsprecher semiinteressante Spielinformationen um die Ohren geschlagen zu bekommen, da sie final mit einer doppelt so lauten, verwirrend-krank fußballaffinen Marketingbotschaft präsentiert werden:

„Was ein Drecksspiel. Waschen sie ihr Auto in der Autowaschanlage von Aral“.

Ich wehre mich ja schon so oft wie möglich gegen die feindliche, böswillige Zerstörung meines Blicks auf ein Spiel, indem ich der Halbzeitunterhaltung und dem Spiel-Vorgeplänkel fernbleibe, und zur Nachberichterstattung nur noch sehr wenig Medien konsumiere. Ich möchte mich nicht mit gewürfelten Noten auseinandersetzen müssen oder dem Geheule über eben diese Noten in sozialen Netzwerken beiwohnen.

Medien, die über den aufopferungsvoll kämpfenden Bayern-Gegner berichten, der bis zur 30. Minute mit seiner 9-1-1 Formation ansehnlich mitgehalten hat, sind mir ähnlich suspekt. Ich brauche das nicht. Ich lasse die einfach nicht mehr in meine kleine Fußballblase, sofern mir das möglich ist. Ich kann mir aber schlecht die Ohren zu halten, um diesen teils sexistischen, teils homophoben Dreckskack in manchen Stadien nicht hören zu müssen und man mag mir auch mangelnde Zivilcourage vorwerfen, aber ich sehe mich beim Kauf meiner mittlerweile völlig überteuerten Stadioneintrittskarte irgendwie nicht ständig mit einem offiziellen Auftrag der Maßregelung versehen. Ich muss nicht klatschpappen und ich muss nicht supporten. Ich muss mir auch keine Stadionwurst kaufen, selbst wenn sie nach unserem besten Mittelfeldspieler benannt wurde. Ich muss allerdings auch nicht eine Hand voll Idioten belehren, die im Stadion Schwachsinn singen – was nicht heißen soll, dass ich nicht sofort dabei wäre, selbst mit fünfundsiebzig weiteren Mitstreitern, notfalls auch gerne nur auf fünf kleine Nazi-Männlein einzuwirken, wenn es zu Äußerungen klar rassistisch geprägten Gedankenguts kommt.

Ups. Jetzt greife ich schon fast selbst in die Perspektive eines anderen ein. Aber das zählt nicht. Wir sprachen von dem Blickwinkel von Menschen, also normalen Menschen. Nicht von Nazis. Das ist alles, was ich verlange. Lasst mir meinen Blickwinkel. Ich will nur das einfache Spiel sehen. Nun sitze ich hier immer noch und versuche diesen verdammten Blogpost fertig zu bekommen und euch aus einem völlig neuem Blickwinkel über den schönsten Sport der Welt zu berichten. Aber ich habe keinen gefunden. Das tut mir leid.

Ich habe nicht einmal eine Überschrift, weil ich nicht spezifisch genug auf einen Blickwinkel eingegangen bin, mir selbst vielleicht sogar teils widerspreche, und keine klare Struktur für diesen Text gefunden habe zu sagen, was wir tun können, um die Probleme zu lösen. Sind es überhaupt unsere Probleme? Vielleicht sind es ja zumindest teilweise nur meine Probleme.

Ich könnte die Überschrift „Echte Liebe“ wählen und wir könnten uns alle ein wenig Gedanken machen, was es wirklich ist, was wir an diesem Spiel lieben und dementsprechend mit gesundem Menschenverstand handeln. Ich könnte den Blogpost auch „Miasanmia“ nennen und ich würde damit das Lebensgefühl der letzten kleinen Gruppe von Fans beschreiben wollen, die mit außerordentlicher Gelassenheit und Zielstrebigkeit Gewalt und politisch extreme Parolen sowie homophobe und sexistische Äußerungen im Stadion aktiv unterbindet und somit einen Beitrag leistet, dass unsere Rahmenbedingungen im Fußball, wenn wir sie schon nicht mehr besser machen können, wenigstens nicht mehr schlechter werden.

Wir wären eine selbstbewusste, präzise arbeitende und effektive Gruppe, die medial nicht beeinflussbar und vor keinen politischen Karren zu spannen ist. Der Blogpost könnte auch „Fußball – wir leben dich“ heißen und er würde stehen für die Liebe zum puren Spiel, ohne Marketing-Schnick-Schnack und ohne Sezierung der Rolle, die der auf der Ersatzbank sitzende Spieler X im 5-4-1 hätte spielen können, wenn der Schiedsrichter nicht dem Spieler Y Gelb gegeben und damit dieses perfekte Zweier-Team, welches dann bei null zu eins Rückständen, als diametral abkippendes Doppelrauten-Tandem mit achthundertsechsundzwanzig meist nutzlosen, aber statistisch wertvollen Ballkontakten, zum Einsatz gekommen wäre, verhindert hätte.

Wie ihr seht: Ich tue mich nicht nur schwer, einen Text über Fußball zu schreiben, der nicht mit mir und meinem Sohn zusammenhängt. Ich habe eigentlich auch keine Ahnung von Fußball. Ich lasse das Thema.

Es gibt Punkte, die ich nicht zwingend geändert sehen muss, aber die ich auch nicht vermissen würde, und es gibt einige Aspekte, deren Entwicklung ich für mehr als bedrohlich halte, aber einfach alles ausblenden, was mir nicht gefällt, ist nicht möglich. Oder?

Einfach mal einen Spieltag lang alles abschaffen, was nervt. Einen kompletten Spieltag alles, restlos alles störende, aus dem Rahmen des Fußballspiels entfernen. Das wäre toll. Aber es macht mir auch wieder Angst. Denn würden all meine Wünsche bezüglich eures Verhaltens und der Rahmenbedingungen im Stadion und der Rolle und der Qualität der Medien in Erfüllung gehen, habt ihr vielleicht nicht mehr den Spaß an dem, was an purem Spiel übrig bleibt. Einiges gehört vielleicht für euch dazu, und das muss ich lernen zu akzeptieren, denn sonst wäre vielleicht eure Liga tot und ich wäre der Mörder.

Plötzlich klingt das reizvoller als erwartet.

Ich möchte jetzt einen Spieltag töten!

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Ich ruhe mich aus wenn ich 30 bin https://120minuten.github.io/ich-ruhe-mich-aus-wenn-ich-30-bin/ https://120minuten.github.io/ich-ruhe-mich-aus-wenn-ich-30-bin/#comments Wed, 17 Sep 2014 07:13:50 +0000 https://120minuten.github.io/?p=337 Weiterlesen]]> Michael Owens Karriere begann kometenhaft. Schon als Teenager war er einer der besten Stürmer der Welt. Trotz aller Titel, die er errang, bleibt die Frage, wie seine Karriere ohne die vielen verletzungsbedingten Pausen verlaufen wäre.

Autor: Marco Stein, cavanisfriseur.de

 

‘It would be too much of a waste for me to retire early’ hieß es noch im September 2011. Doch nur etwas mehr als ein Jahr später sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Michael Owen, einer der besten Stürmer die England jemals hervorbrachte, gab bekannt, dass er die Fußballschuhe mit Ende der Saison an den Nagel hängen würde, und das im Alter von 33 Jahren. Dabei fing alles so gut an. Als er bei der Weltmeisterschaft 1998 den 2:1-Treffer gegen Argentinien erzielte, wurde es still in Saint-Étienne. Es waren erst 16. Minuten gespielt, zwischen England und Argentinien stand es 1:1. Doch dann kam der Auftritt des erst 18-Jährigen. Während viele Fußballer in diesem Alter noch vom großen Durchbruch träumen, hatte es Michael Owen bereits in den Kader der Three Lions geschafft. Ein Umstand, der 1998 weitaus ungewöhnlicher war als heute.

Wenige Monate zuvor feierte er bereits sein erstes Tor in der Nationalmannschaft. Es war klar, dass der Jungspund mit großen Spielern wie Alan Shearer nicht konkurrieren könnte und Owen war daher nur als Ergänzungsspieler geplant. So zumindest nach Aussage vom damaligen Trainer Glenn Hoddle. Bereits beim Gruppenspiel gegen Rumänien machte er auf sich aufmerksam, indem er kurz nach seiner Einwechslung den Ausgleichstreffer zum 1:1 erzielte. Das Spiel endete jedoch 2:1 für Rumänien durch ein Tor in der 90. Minute von Petrescu. Auch wenn den Engländern mit einem Pfostentreffer – vom Youngster Michael Owen – der erneute Ausgleich beinahe gelang. Nach diesem Spiel war Glenn Hoddle überzeugt: Der junge Owen hatte bereits jetzt das Zeug zum Stammspieler. Schon beim nächsten Gruppenspiel durfte der 18-Jährige neben Spielern wie David Seaman, Tony Adams, David Beckham oder Alan Shearer von Anfang an ran.

Der junge Engländer machte sich so weltweit erstmals einen Namen, unsterblich machte er sich aber in der 16. Minute des Achtelfinals gegen Argentinien. Nachdem beide Mannschaften jeweils einen Foulelfmeter verwandelten, startete Michael Owen einen Sololauf. Es kam zum Eins gegen Eins zwischen José Antonio Chamot und dem Engländer, aber Owen zog am Lazio-Verteidiger vorbei. Nach ihm folgte mit Roberto Ayala bereits das nächste Hindernis, aber auch dieser wurde einfach stehen gelassen. Es war nur mehr der Tormann vor ihm. Paul Scholes war noch mitgelaufen, doch der Liverpool-Stürmer brauchte seine Hilfe nicht. 2:1, das Stade Geoffroy-Guichard war still. Die Welt hielt den Atem an als ein 18-Jähriger im Alleingang eine Startruppe mit Spielern wie Crespo, Batistuta, Ayala & Co. ausschaltete.

Doch es kam anders. Javier Zanetti gelang in der 45. Minute der Ausgleich, es ging ins Elfmeterschießen, aber selbst da zeigte Michael Owen keine Nerven und verwandelte seinen Elfmeter gegen Torhüter Roa – der beim Elfmeter zuvor mit Gelb verwarnt wurde – beeindruckend mit einem Schuss Richtung Querlatte. Dennoch hieß es „Endstation“ für die Three Lions, als der Elfmeter von David Batty pariert wurde.

Jedoch nicht für Michael Owen, für ihn ging es erst richtig los. Er war der neue Nationalheld, das Ausscheiden im Achtelfinale war schnell vergessen. Man hatte mit Owen einen neuen Star in der Nationalmannschaft, hatte er doch bereits in seiner erst zweiten Saison, im zarten Alter von 18 Jahren, den Golden Boot, den Preis für den Torschützenkönig, und den PFA Young Player of the Year-Award gewonnen. Alle Augen waren auf den Mann in Rot gerichtet. Das viel zu große Trikot von Owen war gefüllt mit Selbstvertrauen. „St. Michael“, wie er in Liverpool genannt wurde, wusste auch nach der Weltmeisterschaft zu überzeugen und holte sich zum zweiten Mal in Folge den Golden Boot. Liverpool war bereits aus dem Titelrennen, doch vielen war klar, dass Michael Owen der einzige Grund war, weshalb es noch halbwegs gut lief. Also verlängerte man seinen Vertrag um weitere fünf Jahre und griff dabei tief in die Tasche. Michael Owen sollte ab sofort 2,5 Millionen Pfund pro Jahr verdienen, was ihn damals zum bestverdienenden Teenager im Fußball machte. Seine Leistungen wurden aber auch international gewürdigt, so wurde er vom World Soccer-Journal 1998 hinter Zinedine Zidane zum zweitbesten Spieler der Welt gewählt, bei der FIFA-Wahl zum weltbesten Spieler wurde er Vierter.

Liverpool spielte kaum eine Minute ohne Michael Owen, das machte sich auch schnell bei seiner Fitness bemerkbar. Immer wieder plagten den jungen Stürmer Schmerzen. Bereits in der Vorsaison fiel er mit einem Muskelfaserriss für einige Wochen aus, doch was ihm wirklich ständig Sorgen machte, war der Oberschenkel. Heute sind sich viele einig, dass Owen überbelastet wurde. Aber der Stürmer biss die Zähne zusammen, kämpfte sich immer wieder zurück. Pausen waren für den kleinen Wirbelwind kein Thema. Heute ärgert er sich darüber.

„Steven [Gerrard] musste mit 14 eine längere Pause wegen seinen Verletzungen machen, das war sein Glück. Sein Körper wurde nicht überbelastet. Ich konnte und wollte auch immer spielen.“

Dies sollte er Jahre später bereuen. Dennoch geht die Karriere von Michael Owen weiterhin steil nach oben. 2001 gewann er mit Liverpool den FA-Cup und UEFA-Cup, im gleichen Jahr wurde er zu Europas bestem Fußballer gewählt. Auch in der Nationalmannschaft netzt der Stürmer Spiel für Spiel. Beim 5:1-Sieg gegen Deutschland erzielte er gar einen Hattrick. Drei Jahre später, ohne Meistertitel und große Vereinserfolge, wurde es Zeit für den nächsten Schritt. Lange war er das Zugpferd von Liverpool, doch musste einsehen, dass ihn die Reds ausbremsten. Also unterschrieb er bei den Königlichen in Spanien. Dabei kam Real Madrid sogar noch recht billig davon. Florentino Perez schwärmte bereits Jahre zuvor vom Engländer und bezeichnete ihn als „einen der besten Spieler der Welt“ und diese „müssen bei Real Madrid spielen“, weshalb der Brasilianer Ronaldo auch für 45 Millionen Euro von Inter Mailand kam. Michael Owen kostete die Galacticos hingegen bloß 12 Millionen Euro.

Als ich das erste Mal die Kabine betrat, wollte ich auf keinen Fall der Erste sein, um mich nicht auf den Platz von Zidane oder Ronaldo zu setzen.

Michael Owen machte dort weiter wo er in England aufgehört hatte. Trotz seiner namhaften Konkurrenz (Raul, Ronaldo und Morientes) kam Michael Owen in seiner ersten Saison auf 36 Einsätze, nur Iker Casillas hatte mehr. Dabei erzielte er 14 Tore und musste in der internen Torschützenliste nur Ronaldo mit 21 Toren den Vortritt lassen. Beachtlich, war der Engländer meist nur als Joker ins Spiel gekommen. Trotz des Erfolges wollte Owen mehr.

„In Liverpool war mein Name immer einer der ersten auf dem Team-Sheets, das war in Madrid nicht so. Das war nicht einfach für mich.“

Ein Jahr bei Madrid voller Verletzungsprobleme und vielen Minuten auf der Bank machten ihm zu schaffen und er wollte keine Schwäche zeigen. Er selbst gibt später zu, jahrelang ein gefühlskalter und cooler Menschen gewesen zu sein, doch langsam taue er auf. Owen sagte jedoch auch, dass es genau diese Eigenschaften waren, die vor dem Tor von Nöten wären.

Die Interessenten standen Schlange. Auch sein Ex-Verein versuchte ihn zurückzuholen, aber das 18-Millionen-Angebot war Real Madrid sichtlich zu wenig. Trotz Angeboten von Arsenal und Manchester United heuerte er bei Newcastle United an. Real bekam 25 Millionen Euro, Newcastle im Gegenzug einen kongenialen Sturmpartner für Alan Shearer.

Taktisch ein guter Transfer, doch erneut plagten Owen die Verletzungen. Tiefpunkt: Der Kreuzbandriss ohne Fremdeinwirkung bei der Weltmeisterschaft 2006, höchstwahrscheinlich eine Folge der ständigen Oberschenkelprobleme. Owen brauchte lang bis er wieder zurückkam, aber auf dem Feld knüpfte er sofort wieder an alte Zeiten an. Wenn er spielte, spielte er gut, doch er spielte zu selten, um Newcastle 2008/09 vor dem Abstieg zu retten. Aus den jubelnden Menschenmassen, die ein Autogramm vom womöglich besten englischen Stürmer aller Zeiten wollten, wurde eine Gruppe von verachtenden Fans. 25 Millionen und dann absteigen? Die Fans waren nicht bereit, Verständnis zu zeigen. Darunter litt er auch der Ruf von Michael Owen, das wusste er. Deshalb nahm er, nachdem sein Vertrag ausgelaufen war, das nächstbeste Angebot an. Nach nur zwei Tagen Vereinslosigkeit unterschrieb er bei Manchester United. Ihm fehlten die Erfolge, Owen wollte Siege und Meisterschaften, doch der Wechsel brach vielen Fans das Herz.

St. Michael unterschrieb ausgerechnet bei Liverpools Rivalen, und das obwohl ihm die Fans sogar verziehen, dass er in seiner Kindheit Everton-Fan war. Manchester United nahm den vereinslosen Star unter Vertrag. Bei den Red Devils musste Owen jedoch eine deutliche Kürzung bezüglich seines Gehalts hinnehmen. Dafür einigte er sich mit Sir Alex Ferguson auf einen leistungsbezogenen Vertrag. Aus dem sympathischen, jungen Weltstar wurde binnen ein paar Jahren ob seiner vielen Verletzungen ein bemitleidenswerter Spieler. Und nun auch noch einer der meist gehassten.

„Ich bin Twitter beigetreten und du liest viele von den Kommentaren. Man beißt sich auf die Lippe und du willst unbedingt antworten, aber du weißt, dass dann eine Schlagzeile kommt und du willst den Leuten nicht diese Genugtuung geben. Klar hatte ich eine tolle Karriere und viel Geld verdient. Das Letzte woran ich dachte ist, dass ich beschuldigt werden würde, für Geld nach Manchester gewechselt zu haben. Ich hätte zu vielen anderen Vereinen wechseln und viel mehr verdienen können“

Owen wollte bei den Red Devils voll durchstarten, doch sein einstiger Fan hatte ihn längst überholt. Wayne Rooney verfolgte im Alter von 12 Jahren den Moment als Michael Owens Stern aufging. Er wollte so sein wie er, wie auch andere Stürmer nach ihm. Das Kapitel „Manchester United“ war zwar kein kurzes, aber im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren ein wenig ereignisreiches. In der ersten Saison wusste er noch einige Male zu überzeugen. Neben einem Hattrick in der Champions League gegen Wolfsburg erzielte er den 4:3-Siegtreffer in der 95. Minute im Derby gegen Manchester City. Erstmals seit langem spürte man wieder den alten Michael Owen. Ein toller Pass auf Owen, ein kurzer Antritt, er schob den Balls ins lange Eck und machte das wichtige Tor zum Sieg im Old Trafford. Das Stadion spielte verrückt. Michael Owen kam nicht aus dem Jubeln heraus.

Ging es etwa wieder bergauf? Nein. Im League Cup-Finale im Februar 2010 gegen Aston Villa durfte er von Anfang an ran, erzielte den Ausgleichstreffer in der 12. Minute, doch musste nur eine halbe Stunde später verletzt ausgewechselt werden. Erneut war es der Oberschenkel. Er musste operiert werden und fiel für den Rest der Saison aus. Alles was sich Michael Owen in den letzten Monaten aufgebaut hatte, wurde zunichte gemacht. In der nächsten Saison fiel es ihm deutlich schwerer, dennoch kämpfte er sich immer wieder zurück, hatte immer wieder Torchancen, doch traf immer seltener. Ständig hatte er mit Beschwerden, Blessuren und Verletzungen zu kämpfen. Da konnte auch Sir Alex Ferguson nicht mehr helfen. Eigentlich sollte er laut eigener Angaben zum Schlüsselspieler im Frühjahr 2011 werden, doch nur wenige Tage nach dieser Aussage, verletze sich Michael Owen erneut. Dennoch hatte er, was er wollte. Auch er durfte sich endlich Mal Premier League-Sieger nennen. Trotz langen Umweges war es geschafft. Sein Ex-Verein Liverpool hatte in dieser Zeit übrigens den FA-Cup, den League Cup und die Champions League gewonnen.

 

Es folgte sein letztes Jahr bei den Reds. Sir Alex Ferguson setzte kaum noch Vertrauen in den alternden Spieler. Er durfte lediglich gegen kleinere Mannschaften ran. Im League Cup gegen den Rivalen Leeds United, gegen den er zwei Tore erzielte, sowie gegen den Viertligisten Aldershot Town, gegen den er auch traf, sowie ein Einsatz im November in der Champions League gegen Otelul Galati – sein letzter Einsatz für Manchester United, denn erneut musste er verletzt ausgewechselt werden. Fit genug für die erste Mannschaft wurde er nie wieder.

Die englische Öffentlichkeit stellte sich die Frage, wie Michael Owens Karriere verlaufen wäre, hätte er sich in jungen Jahren Manchester United angeschlossen – ein Angebot gab es. Owen entschied sich dennoch für Liverpool und ließ dort kein Spiel aus. Bei einem Topklub wie Manchester, so die allgemeine Einschätzung, die auch Owen bis zu einem gewissen Punkt teilt, hätte er mehr Pausen und Zeit zur Regeneration bekommen. Regeneration, die ihn vor der einen oder anderen Verletzung hätte bewahren können.

Nach dem Auslaufen seines Vertrags bei Manchester versuchte er sich bei Stoke City, aber auch hier kam er kaum zu Einsätzen, früh setzte ihn eine Oberschenkelverletzung außer Gefecht. Am 19. Jänner 2013 erzielte Michael Owen sein 150. und letztes Tor in der Premier League. Wenige Wochen später twitterte der Stürmer die für viele schockierende Nachricht:

“Heute ist ein großer Tag. Ich habe entschieden, dass diese Saison meine letzte als Profi-Fußballer ist.“

Erstmals seit langem wurde er wieder geschätzt, es folgten Berichte, Zusammenschnitte seiner Tore und er wurde von (ehemaligen) Kollegen gelobt. Es schien, als würden sich alle noch an den alten Michael Owen erinnern und nicht nur an den Bankwärmer über den man Witze machen konnte.

Es schien, als wäre es eine Erlösung für Michael Owen. Verständlich nach all den Verletzungen, all den Enttäuschungen und all dem Spott. Bereits Jahre zuvor hatte er sich dem Pferdesport zugewandt, ist dort sehr erfolgreich und züchtete einen Ascot-Gewinner. Wie in jungen Jahren ist er euphorisch und bejubelt Erfolge wie seine Tore zur Jahrtausendwende. Der Engländer scheint nicht traurig zu sein, von Unglück will er nichts wissen:

„Bloody hell, wenn Gerard Houllier [damaliger Trainer bei Liverpool] sagte, dass ich nicht immer spielen sollte, kann ich mich erinnern, sagte ich „Ich ruhe mich aus wenn ich 30 bin“. Er hatte wahrscheinlich recht, oder? Einerseits denke ich, dass ich auch der glücklichste Mensch der Welt war. Ich habe für Liverpool, Real Madrid, Newcastle und Manchester United gespielt, rund 90 Einsätze und rund 40 Tore für die Nationalmannschaft, muss nie wieder arbeiten, habe vier wunderbare Kinder. Ich habe nicht so viel Pech!“

Hörenswert:
Ein 30-minütiges BBC-Interview mit Michael Owen zum Ende seiner Profilaufbahn – Danny Mills, Robbie Savage und Darren Fletcher kommentieren (Direktdownload).

 

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Mossley AFC, mein Großvater und ich https://120minuten.github.io/mossley-afc-mein-grossvater-und-ich/ https://120minuten.github.io/mossley-afc-mein-grossvater-und-ich/#respond Tue, 12 Aug 2014 06:43:00 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5 Weiterlesen]]> Es gibt viele Gründe, um ins Stadion zu gehen. Sich ein Fußballspiel ansehen, ist nur einer davon. Der englische Autor Stuart Howard-Cofield erinnert sich an Spiele des Mossley AFC, die er mit seinem Großvater erlebte.

Autor: Stuart Howard-Cofield, grumpyoldfan.net

bottommossley

Blick vom Seel Park nach Bottom Mosley, mit freundlicher Genehmigung von Joe Gibbons

Die kleine Stadt Mossley liegt im Nordwesten Englands, an einem Flecken, wo sich die drei Countys Lancashire, Yorkshire und Cheshire treffen, etwa 14 Kilometer außerhalb von Manchester in Richtung der Pennines Bergkette. Die Stadt gehört zum Bezirk Greater Manchester und liegt am Flüßchen Tame. Mossley erlebte im 18. Jahrhundert seine Blüte durch die Baumwoll- und Wollindustrie. Die Nähe zu Manchester tat ein Übriges für das Wachstum der Stadt.

Der Club, Mossley Association Football Club oder AFC, gegründet 1903, spielt im windumtosten Seel Park. Dieses kleine Stadion liegt auf einer Anhöhe im Stadtteil Top Mossley. Hinter der kleinen Tribüne auf der Gegengeraden fällt der Hügel steil ab in Richtung Bottom Mossley. Der Wind aus den Pennines weht ungebremst ins Stadion und beeinflusst somit den Ausgang des Spieles. Die Kosten für neue Bälle müssen horrend sein, denn es gab und gibt kein Netz hinter besagter Tribüne und die Bälle landeten somit in Bottom Mossley oder endeten auf den Gleisen der nahen Mossley Railway Station. Dieser kleine Club hatte seine Blütezeit in den späten 70er und frühen 80er Jahren als der Mossley AFC regelmäßig unter den Topteams der Northern Premier League (etwa Landesliga in Deutschland) zu finden war. Der Wermutstropfen an diesem ansonsten schönen Stadion ist seine Größe; es erlaubte Mossley nicht in die Football Conference, den semi-professionellen Unterbau der Englischen und Walisischen Football League, aufzusteigen[i]. Ein Ausbau ist zudem nicht möglich, da die umliegenden Wohngegenden direkt an das Stadion angrenzen.

mossley finale

Der größte Erfolg der Clubgeschichte war das Finale der FA Trophy 1980 gegen Dagenham[ii]. Vor 26.000 Zuschauern im Wembleystadion unterlag die Mannschaft des damaligen Trainers Bob Murphy mit 2-1. Man behauptet, die ganze Stadt mit ihren 10.000 Einwohnern, war in Wembley an diesem Tag, um das Team zu unterstützen. Die Euphorie dieses Erfolges im Pokal trug die Mannschaft durch die 1980er Jahre. Eine Dokumentation zeigt die Vorfreude vor dem Spiel und den Stolz auf die Mannschaft trotz der Niederlage im Finale. Die Mannschaft fuhr bei der Rückkehr aus London in einem offenen Doppeldeckerbus durch Mossley und wurde von den Einwohnern gefeiert. Es gab sogar eine öffentliche Zeremonie im Rathaus zu Ehren des Teams. Der Club hat es seither nicht mehr vermocht, an diesen Erfolg anzuknüpfen. Die Erinnerung an diese Saison und diesen Tag in Wembley lebt jedoch weiter.

Es gibt jedoch Spiele im Leben, die vergisst man nicht. Die erste Meisterschaft von Manchester United nach 26 Jahren gegen die Blackburn Rovers im Jahre 1993 zum Beispiel. Oder der Sieg im Endspiel der Champions League 1999 in Barcelona gegen Bayern München. Die Erinnerung an diese Spiele wird trotz der Erfolge von United, bisher und auch in Zukunft, nicht verblassen. Auch erinnere ich mich an ein Spiel im November 1986 gegen Mossleys Lokalrivalen Stalybridge Celtic. Dieses Spiel ist eines, welches ich so schnell nicht vergessen werde. Neben dem fußballerischen Aspekt spielt dabei jedoch ein familiärer Grund eine Rolle.

Neben meiner Leidenschaft für Man United ergab sich durch einen Umzug in die Nähe von Mossley die Möglichkeit, die Spiele der „Lilywhites“ mit meinem Großvater zu besuchen. Mein Großvater Leo war sein Leben lang ein treuer Mossley-Fan. Er gehörte in Seel Park quasi zum Inventar. Logischerweise haben meine Großeltern ihre Goldene Hochzeit auch im Clubhaus im Stadion gefeiert. Als Anerkennung ihrer Treue und Leidenschaft hat ihnen der Club zwei goldene Jahreskarten geschenkt, die ihnen zukünftig freien Eintritt in Seel Park gewährten. Mein Opa meinte später zu mir, dass ein Freund ihn jedes Mal am Eingang durchgelassen hätte und dass er es ihm damit dankte, in dem er an der Bar fleißig seinen Mann stand. Dennoch sah ich ihm an, dass es ein besonderer Moment für ihn und er sehr gerührt von dieser Geste des Clubs war. Für ihn war der Club ein Stück Heimat, ein Stück Zuhause. Und es zeigt den engen Zusammenhalt der Einwohner von Mossley mit ihrem Fußballclub.

Von Natur aus ein eher gemütlicher und jovialer Mensch, konnte sich mein Großvater Leo dennoch sehr über den modernen Fußball aufregen. Meist saß er dazu in seinem Sessel und schwenkte verärgert seine Teetasse herum, sodass das kostbare Getränk über die Lehnen und den Teppich schwappte.

Der AFC spielt seit je her in Seel Park, ein Stadion auf einer Anhöhe gelegen und von drei Seiten umgeben von zeitgenössischen Tribünen. Von der offenen Seite fegt der Wind über den Platz. Da es ihm oft zu zugig wurde, zog sich mein Opa oft an die Bar im Clubhaus, direkt neben der Haupttribüne, zurück, um von dort das Spiel zu beobachten und zu kommentieren. Mit ihm zum Spiel zu gehen, war ideal: Ich traf meine Schulfreunde beim Match und gemeinsam stellten wir uns immer hinter das gegnerische Tor, um während des Spiels den Torhüter mit verbalen Nettigkeiten zu traktieren. Oder wir kickten selber mit irgendeinem Gegenstand und verhielten uns einfach wie Kinder in der Vorteenagerzeit sich eben verhalten.

Haupttribüne Mossley

Haupttribüne im Seel Park heute,
mit freundlicher Genehmigung von Joe Gibbons

Die Bühne für das Spiel gegen Stalybridge war die „Lancashire Footlit League.“ Das Hervorragende an dieser Liga war, dass es viele lokale Derbys gab, das Lebenselixier für kleinere Clubs wie den Mossley AFC oder Stalybridge Celtic, da sie für regen Zuschauerzuspruch sorgten. Das Spiel fand an einem frischen Novemberabend statt. Opa ging wie gewöhnlich in die Bar und ich gesellte mich zu meinen Freunden. Nach einem kurzen Blick zum Souvenirstand, an dem es Portemonnaies und schwarz-weiß-gestreifte Teddybären gab, gingen wir zu unseren Plätzen, wie immer um den Torhüter des Gegners davon in Kenntnis zu setzen, was wir von seinen Fähigkeiten hielten.

An diesem Abend hätte es unserer Zuarbeit nicht bedurft, denn Mossley spielte grandios. Ich kann mich zwar nicht an die Feinheiten und einzelne Begebenheiten des Spieles erinnern, aber völlig überraschend, nach einer bis dato eher durchwachsenen Saison wurde Stalybridge mit einer 5-0 Packung abgefertigt. Nach jedem Tor rannte ich erfreut in die Bar und rief „Opa, Tor!” „Ja, mein Junge!“, war seine Antwort. „5-0 Opa! Hast Du das gesehen?! 5-0!“ rief ich, erschöpft vom Hin- und Herrennen zwischen Bar und meinem Platz. „Es ist nicht jede Woche so, das weißt du sicherlich“, war seine Antwort.

Für etwa zwei Jahre ging ich regelmäßig mit Leo zum Fußball, um Mossley zu sehen. Einmal, nach einem aufregenden 3-3 Unentschieden gegen Hyde FC wurde ich anschließend Augenzeuge eines Platzsturmes mit einer anschließenden Schlägerei. Die örtlichen Jugendlichen kopierten die Hooligan-Exzesse, die allwöchentlich in und um die Stadien der großen Clubs in den oberen Ligen stattfanden. Opa beschimpfte die sich Prügelnden, legte seinen Arm schützend um mich und zog mich weg in Richtung Ausgang. „Das hat mit Fußball nichts zu tun, mein Junge. Einfach nicht hinschauen!“

Normalerweise wurden während eines Spieles nicht viele Worte zwischen uns gewechselt. Opa saß im Clubhaus, ich stand draußen. Es genügte oft ein versichernder Blick durch das Fenster, gepaart mit einem Lächeln und einem Nicken. Hinterher saßen wir bei ihm im Wohnzimmer und freuten uns, wenn Mossley bei Grandstand[iii] erwähnt wurde.

Vor einigen Jahren lag Opa im Krankenhaus und ich entschied mich für einen spontanen Besuch, statt auf einen Tag zu warten, an dem ich gemeinsam mit der Familie hingehen würde. Er empfing mich freudig und war zu Scherzen aufgelegt. Wir sprachen über die Kinder, die Arbeit und über meine Pläne für die Zukunft. Und natürlich sprachen wir auch über den Mossley AFC. Ich versprach ihm, ihn alsbald mal wieder mit zu einem Spiel zu nehmen. Zwei Tage später erhielt ich einen Anruf, dass er verstorben sei. Ich fühlte mich taub und war nicht in der Lage, noch einmal ins Krankenhaus zu gehen, um ihn ein letztes Mal zu sehen. Ich wollte mich an den lebhaften Menschen erinnern, den ich zwei Tage zuvor noch getroffen hatte.

Schuld und Bedauern sind Gefühle, die sicherlich uns alle überkommen, wenn wir nahe Verwandte oder gute Freunde verlieren. Wir wünschen uns, mehr Zeit mit ihr oder ihm verbracht zu haben und sie besser gekannt und verstanden zu haben. Aber der Altersunterschied von 50 oder mehr Jahren war mitunter schwer zu überbrücken. Das geht wohl jedem Teenager so und ist durchaus normal. Trotz ihrer Kürze waren wir glücklich, die Verbindung mit und über den Fußball gehabt zu haben. Es ist mein Fehler, dass diese Verbindung nicht länger anhielt beziehungsweise, dass sie nicht tiefer wurde. Im Lauf der Zeit habe ich festgestellt, dass das, was auf dem Platz geschah, für meinen Opa überhaupt nicht wichtig war. Ergebnisse waren für ihn nebensächlich. Warum er zum Fußball ging, der Grund, warum er immer wieder an der Bar des Clubhauses in Seel Park ging, war das Gefühl der Zugehörigkeit, der Gemeinschaft. Hier fühlte er sich zu Hause. Es gibt mir jetzt Ruhe und inneren Frieden, zu wissen, dass ich ein Stück davon mit ihm geteilt habe, ja, selbst ein Stück davon war.

Nach seinem Tod hat meine Großmutter seine Asche auf dem Rasen von Seel Park verteilt. Der Wind trug sie in die Ecke des Stadions, wo auch das Clubhaus liegt. Er hätte es gemocht, sagte ich zu mir.

Was mir von dem Spiel gegen Stalybridge in Erinnerung geblieben ist und was es so besonders gemacht hat, waren Opas Worte. Als ich das Clubhaus nach dem 5. Tor wieder verließ, hörte ich ihn in den Bierschaum murmeln:

„5-0 und ich habe jedes
dieser verdammten Dinger verpasst.“

Spielfeld Mossley

Kurz vor Anpfiff im Seel Park, mit freundlicher Genehmigung
von Joe Gibbons


 

Joe Gibbons ist Groundhopper und bloggt bei http://gibbos92.wordpress.com/. Die Bilder von seinem Besuch im Seel Park 2012 hat er uns für diesen Text zur Verfügung gestellt – vielen Dank dafür!


 

[i] Die Football League ist die älteste Fußballliga der Welt und wurde schon 1888 gegründet. Bis 1992 waren die Division 1 bis 4 unter dem Dach der Football League organisiert. Mit der Gründung der Premier League umfasst die Football League nun die ehemaligen 2-4. Ligen. Diese wurden auch umbenannt in Championship (ehemals Division 2) League One (div. 3) und League Two (div.4). Darunter spielt die Football Conference, die ebenfalls in 3 Ligen aufgeteilt ist: die Conference Premier, Conference North und die Conference South. In der Conference Premier sind alle Clubs professionell, die anderen beiden Ligen semi-professionell.

[ii] Der Club Dagenham FC spielt heute unter dem Namen Dagenham & Redbridge FC nachdem Dagenham und Redbridge Forest 1992 fusionierten. Die Daggers, so der Spitzname, spielt heute in League Two, der 4. Liga Englands.

[iii] Grandstand war eine britische Sportsendung, die von 1958 bis 2007 ausgestrahlt wurde. Für mehr als 40 Jahre war die Sendung die wichtigste Nachrichtenquelle für Sport- und insbesondere Fußballergebnisse in Großbritannien. Durch den Anstieg interaktiver Konkurrenzangebote sah sich die BBC gezwungen, die Sendung einzustellen. Ein Bestandteil der Sendung war “Final Score”, der auch heute noch läuft: Die Reporter berichten von den jeweiligen Stadien ins Fernsehstudio während in der unteren Bildschirmhälfte die Ergebnisse der anderen Ligen durchlaufen.

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https://120minuten.github.io/mossley-afc-mein-grossvater-und-ich/feed/ 0 5
Für mehr modernen Fußball https://120minuten.github.io/fur-mehr-modernen-fussball/ https://120minuten.github.io/fur-mehr-modernen-fussball/#comments Tue, 29 Jul 2014 06:48:00 +0000 https://120minuten.github.io/?p=7 Weiterlesen]]> Die Autoren von Vert et Blanc mit einer Kritik zur Kritik am modernen Fußball. Der ist komplex. Und so hilft auch kein einfaches Gut-und-Böse-Denken, um die Entwicklungen einzuordnen.  

Autor: Vert et Blanc – Vert-et-Blanc.net

»This is the modern world, we don’t need no one to tell us what’s right or wrong.«

The Jam

»Nous n’avons jamais été modernes.«

Bruno Latour

Der sogenannte »Moderne Fußball« und seine Auswirkungen auf Fans, Vereine und Verbände sind allgegenwärtig und nicht zu übersehen. Überall dort, wo die schönste Nebensache der Welt in professioneller Weise betrieben wird, treten seine Konsequenzen heute mehr oder weniger offen zu Tage: bei Stadionbesuchen und Fernsehübertragungen, in den nationalen Ligen und bei internationalen Pokalwettbewerben, nicht zuletzt im Rahmen der Mega-Events wie Europa- oder Weltmeisterschaften. Munter werden Anstoßzeiten zugunsten der übertragenden TV-Sender verschoben, die Namensrechte der Spielstätten vermarktet, Stehkurven weichen Sitzplätzen oder VIP-Logen, Eintrittspreise steigen stetig und etablierte Clubs werden zum Luxusspielzeug oder zur Geldanlage finanzkräftiger Investoren, die selbst vor dem Wechsel der Vereinsfarben oder -namen nicht zurückschrecken. Effizient nutzt man jede freie Minute für die Präsentation von Sponsoren oder für die Ausstrahlung penetranter Werbeblöcke per Videoscreen. Und ja: Das nervt. Auch wir mögen bezahlbare Stehplätze, familiäre U23-Heimspiele in der Regionalliga oder Trikots ohne dubiose Brustsponsoren. Aber das ist nur eine Seite der Medaille.
modern-footie1Denn genauso allgegenwärtig wie die unbestreitbar negativen Folgeerscheinungen des »Modernen Fußballs« ist mittlerweile seine offene Ablehnung – zumindest überall dort, wo sich das Publikum »kritisch« wähnt. Das gilt in besonderem Maße für jene Fans, die sich unter dem Label »Ultrà« versammeln und deren selbst erklärtes Ziel die Entkommerzialisierung und Retraditionalisierung des Sports und der Fankultur ist. Ein omnipräsenter Slogan bringt die Ablehnung deutlich auf den Punkt: »Gegen den Modernen Fußball!« prangt trotzig auf Spruchbändern, die sich heute auch in der letzten Fankurve der Welt finden lassen. Die Aussage repräsentiert eine Haltung, die nicht ohne Rückgriff auf die kritische Gegenkultur der Ultràs verstanden werden kann; denn die rigide Ablehnung des »Produkts Fußball«, wie man im Jargon verkündet, ist essentiell und identitätsstiftend für das Selbstverständnis vieler Ultrà-Gruppen – sie eint sogar sportlich oder politisch verfeindete Szenen. Dabei ist im Einzelfall nicht immer klar, wogegen man agitiert und und was man sich unter dem »Modernen Fußball« im Detail vorzustellen habe. Die ganze Angelegenheit ist unübersichtlich und widersetzt sich eindeutigen Antworten. Doch das hält selbsternannte Kritiker nicht davon ab, mit grob vereinfachten Antworten auf komplizierte Fragen aufzuwarten. Im Gegenteil. Und spätestens damit fangen Probleme ganz eigener Art an.

Als Fußballblogger beschäftigen wir uns vor allem mit den Geschehnissen rund um den SV Werder Bremen. Aber auch der »Moderne Fußball« ist uns ein regelmäßiger Begleiter geworden – nicht nur praktisch im Stadion, sondern auch in theoretischer Hinsicht: Von Anfang an veröffentlichen wir auf unserer Seite vert-et-blanc.net Artikel über Formen der Kritik am »Modernen Fußball« und über die in unseren Augen ebenso notwendige Kritik an der Kritik. Das kann in Form ausschweifender Texte geschehen, garniert mit »Soziologensprech und Angebervokabeln« (P. Köster). Wir nähern uns der Angelegenheit aber mindestens ebenso gerne augenzwinkernd, etwa durch das Spiel mit szenetypischen Codes (zum Beispiel durch den Druck von Stickern mit der Parole »Für mehr modernen Fußball!«). So oder so: Unser Interesse sorgt für Irritation. Regelmäßig erreichen uns Fragen, ob das denn ernst gemeint sei, unsere Liaison mit dem »Modernen Fußball«. Oder überhaupt ernst gemeint sein könne. Und ob wir das nicht alles »mal kurz erklären« könnten. Und so gerne wir das täten – immer wieder fehlt uns ein einführender Text, der die Eckpunkte unserer Unbequemheit mit der geläufigen Art der Kritik am »Modernen Fußball« aufzeigt.

Dass die Herausgeber von »120minuten« mit einer Anfrage nach Texten für ihre neue Seite an uns herantraten, stellt insofern einen willkommenen Anlass dar, verschiedene zuvor in einzelnen Texten veröffentlichte Aspekte der Diskussion in einem einführenden Text zu versammeln. Soweit der Vorrede – worum geht es konkret? Ausgehend vom Import der Ultràkultur und der damit einhergehenden Öffnung des Horizonts für eine kritische Auseinandersetzung mit der Verfasstheit des Fußballs wollen wir zunächst einmal ein Schlaglicht auf die Gefahr kurzschlüssiger Kapitalismuskritik und ihre Nähe zum häufig miss- oder gar nicht verstandenen Konzept des »strukturellen Antisemitismus« werfen. Anschließend wird an typischen Unterscheidungen der kritischen Szene (»wahre Fans« vs. »Erfolgsfans«, »Traditionsvereine« vs. »Plastikclubs«, »Vereinstreue« vs. »Söldner«) das zugrundeliegende Beobachtungsschema beispielhaft aufgezeigt und problematisiert. Wir hoffen, dass der Artikel Anlässe für eine weitere Diskussion und Reflexion im Zuge der Auseinandersetzung mit jenem unbekannten Wesen darstellt, das wir »Moderner Fußball« nennen.

The Kids are ultrà!

»Das Ultra-Phänomen spiegelt im Fußball die Kleinräumigkeit von Restbindung und auch die infantile Neigung, nicht mehr andere, sondern allein sich selbst […] mit Zuneigung zu bedenken […]. Hier gibt es die Eigenen und die Anderen in einer derartigen Beengtheit, dass hier […] die aggressiv-paranoide Seite der Selbstfeier sichtbar wird.«

Uli Krug

Seit sich Anfang der 1990er Jahre auch in Deutschland erste Gruppierungen unter dem aus Italien geborgten Label »Ultrà« zur Unterstützung von Bundesligavereinen formierten, hat sich insbesondere seit der Jahrtausendwende eine leidenschaftliche Jugendkultur herausgebildet, die bisweilen zu eigensinnigen Superlativen taugt: Thorsten Schaar etwa bezeichnete Ultrà jüngst als »die wichtigste Jugendkultur in Deutschland seit Punk und Techno« (Intro #223, S.57). Jenseits oberflächlicher Kennzeichen, in Hinsicht auf den vorherrschenden Dresscode oder die Trends zu Dauergesängen, Doppelhaltern oder riesigen Schwenkfahnen, fällt es schwer, den Begriff und das Konzept inhaltlich exakt zu bestimmen. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Gruppierungen, nicht zuletzt durch regionale und politische Unterschiede. Vermutlich ist es aber gerade diese inhaltliche Unterbestimmtheit, die dazu beiträgt, dass Ultrà sich länder- und fanszeneübergreifend als so besonders jugendkulturell anschlussfähig erweisen konnte und kann.

Was verschiedene Gruppen bei allen Differenzen eint, ist der Anspruch, den eigenen Club durch aktiven Support auch über die obligatorischen neunzig Minuten hinaus besonders leidenschaftlich und bedingungslos zu unterstützen. Variantenreich wird betont, dass Ultrà mehr bedeute als schlichtes Fansein – es handele sich um eine besondere Haltung zum Fußball oder gar zum Leben. Mehr noch: Es ist diese Haltung selbst, die in den Fokus der Aufmerksamkeit der Ultrà-Fans rückt, der Fußball markiert lediglich den Kontext. Aus diesem Selbstverständnis speist sich nicht selten die Selbstwahrnehmung als »bessere« oder »wahrere« Fans: Fans, die Fußball nicht »bloß konsumieren«, sondern unbedingt »leben«.

»Le Football moderne?«

Mit diesem Selbstbild geht eine deutliche Anlehnung der Kommerzialisierung des Sports einher, die in deutlichem Widerspruch zur »Tradition des Fußballs« stehe und diesen in seinem Wesenskern bedrohe – sinngemäße Textpassagen lassen sich in fast allen schriftlichen Selbstdarstellungen finden. Stellvertretend für Viele sei an dieser Stelle auf ein Beispiel aus München verwiesen:

»Auf den Punkt gebracht ist der ›moderne Fußball‹ für uns die Entwicklung, dass das Interesse der Profitmaximierung über alle anderen Interessen im Fußball gestellt wird. […] Entsprechend verstehen wir die Fußballvereine als das Gut der Fankurven und damit der Jugendlichen einer Stadt/Region, die sich mit diesen identifizieren. Die Fußballvereine gehören ihren Fans, die diesen schon Jahre überall hin folgen und ihr Herzblut dafür geben. Sie sollten kein Spielball von Profil neurotischen [sic!] Managern und Investoren sein, kein Spekulationsobjekt für Aktionäre und Konzerne. Sie sollten sich nicht nach dem Diktat der TV-Sender und den Vermarktungsinteressen der Bosse richten müssen.«

Schickeria München

Der »Moderne Fußball« bedroht die heile Fußballwelt. Man weiß zwar nicht so ganz genau, wann es die mal gab und was man sich darunter vorzustellen habe – aber ehrlicher, echter und weniger kommerziell war es auf jeden Fall. Häufig wird bei dieser Gelegenheit auf die Legende vom Fußball als Proletariersport verwiesen. Die kulturpessimistische Argumentationsfigur ist keinesfalls unbekannt, neu ist lediglich ihre Anwendung auf den Fußball: Die romantische Verklärung (ländlicher) Beschaulichkeit und Einfachheit war stets die Kehrseite urbaner Kultur kapitalistischer Prägung. Die Suche nach dem Ursprünglichen und Unverfremdeten, kurz: eine Sehnsucht nach vorzivilisatorischen Zuständen, muss als pathologische Reaktion auf die Überkomplexität moderner, funktional differenzierter Gesellschaften begriffen werden. Und als Artikulation der je eigenen Unbequemheit damit. Aber es steht mehr auf dem Spiel als subkulturelle Distinktionsgewinne: Das zugrundeliegende Deutungsmuster ist in seiner Verkürzung gefährlich. Um diesen Punkt deutlich zu machen erscheint es uns ratsam, ein kurzes Schlaglicht auf zwei zentrale Aspekte der kurzschlüssigen Argumentation zu werfen. Sie bedient sich auch im Fall des »Modernen Fußballs« – wie die meiste verkürzte Kapitalismuskritik – der personalisierten Zurechnung tatsächlich abstrakter Herrschaftsverhältnisse. Dies geschieht typischerweise in zwei Schritten:

  • Abstrakter Kommerz. Als »böser Kern« der Fußballkultur kapitalistischer Prägung wird das abstrakte »Finanzkapital« bzw. die kapitalistische Finanzzirkulation ausgemacht. Beispielsweise wenn »die Finanzmärkte« als ein Akteur an sich beschrieben werden (die konkrete Lohnarbeit des »ehrlichen Arbeiters«, die in der unseligen Dichotomie vom »raffenden« und »schaffenden Kapital« als Positivwert auftritt, wird dagegen in der Regel nicht als problematisch wahrgenommen…).

 

  • Konkrete Projektionsflächen. In einem zweiten Schritt wird die gleichermaßen falsche wie unterkomplexe Abstraktion wieder auf konkrete Personen zugerechnet. Sobald die vermeintlich Verantwortlichen identifiziert worden sind, können sie in einem simplen Schema von gut und böse gefasst werden. Auf den Fußball gewendet bedeutet das: »gut« sind die lokal-traditionellen Fans und Vereine (die ihr Herzblut für den Verein geben und ein angestammtes Recht auf ihren Boden in den Kurven haben), »böse« sind dagegen die »Eventfans«, windige Manager und Investoren, Plastikvereine und Großkonzerne.

Der Prototyp des verabscheuungswürdigen (Finanz-)Kapitals ist der Spekulant. Warum ist die Abspaltung einzelner Aspekte des Kapitalverhältnisses (Zirkulationssphäre, Geld, Zins…) sowie die anschließende Zurechnung auf Einzelpersonen oder Institutionen so hochgradig problematisch? Auch und gerade, wenn sie unbewusst mitgeführt wird? Solche Argumentation bewegt sich in schlechter Nachbarschaft. Sie fügt sich nämlich mustergültig in ideologische Denkmuster, die anschlussfähig für einen strukturellen (oder mit leicht anderer Drift: latenten) Antisemitismus sind, der auch und gerade im Fußball immer wieder in offenen Antisemitismus umschlägt. Als »strukturell antisemitisch« bezeichnen wir diese Deutungsmuster, weil sich ihre Vertreter nicht explizit gegen Juden richten, sich ihre Begrifflichkeit und Argumentationsstruktur aber mit konventionell antisemitischen Ideologien deckt. Die Proponenten dieses strukturellen Antisemitismus sind sich der Tatsache um Parallelen und Deckungsgleichheiten in Denkfiguren in der Regel nicht bewusst und weisen einen solchen Vorwurf entsprechend empört von sich.

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»Für mehr modernen Fußball!«

»Die Fußballvereine gehören ihren Fans, die diesen schon Jahre überall hin folgen und ihr Herzblut dafür geben. Sie sollten kein Spielball von Profil neurotischen [sic!] Managern und Investoren sein, kein Spekulationsobjekt für Aktionäre und Konzerne.«

Schickeria München

Es bedienen sich nicht nur Ultrà-Gruppierungen solcher Deutungsmuster. Aber das macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. Verkürzte Kritik mit offener Flanke zu antisemitischen Denkfiguren ist in weiten Teilen der sogenannten globalisierungs- oder kapitalismuskritischen Bewegungen jüngerer Zeit anzutreffen. Die Deutungsmuster haben eine jahrhundertealte Geschichte: Spätestens seit dem 13. Jahrhundert wurden immer wieder Juden mit den aus der Anwendung dieses Erklärungsmusters resultierenden Stereotypen identifiziert und als Wucherer, Spekulanten, Betrüger oder ausbeuterische Kapitalisten denunziert. Mehr und mehr wurden sie dabei als parasitäre Feinde eines ansonsten gesunden »Volkskörpers« begriffen.

»Kauft nicht bei Geschäftemachern, die auf dem Rücken unserer Kurve Kohle machen!«

Schickeria München

In aller Deutlichkeit: Es geht uns nicht um eine (pauschale) Verurteilung der Ultrà-Bewegung. Es geht uns schon gar nicht darum Ultràs oder Fußballtraditionalisten als Antisemiten zu denunzieren (auch wenn uns das oft vorgeworfen worden ist). Ob die verhängnisvolle Nähe bewusst oder unbewusst mitgedacht wird, muss im konkreten Einzelfall entschieden werden. Und wir kennen persönlich eine Menge Ultràs, die sich dieser Problematik sehr bewusst sind. Es geht uns eher darum, im Zuge ideologiekritischer Beobachtung zu fragen, welche Implikationen die antimoderne Ablehnung des »Modernen Fußballs« unter der Hand mit sich führt. Deutlich ist, dass eine verkürzte Kapitalismuskritik der oben skizzierten Form immer und notwendig eine offene Flanke zum Antisemitismus besitzt und an ein einfältiges Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse appelliert, das nicht in der Lage ist, abstrakte Strukturen als solche zu begreifen. Wer »modernen Fußball« als Resultat einer über die Stadien einbrechende Kommerzialisierung kritisiert und dabei diffuse Kapitalismuskritik als konkrete Finanzkapitalkritik ausbuchstabiert, hat die Denklogik des Antisemitismus bereits internalisiert.

Dabei mangelt es nicht an Anlässen, die stutzig machen sollten. Im Folgenden soll die Kritik der Kritik an zwei konkreten Beispielen ausbuchstabiert werden: In der Unterscheidung »wahrer« und »unwahrer Fans« sowie dem Vorwurf des Söldnertums in Richtung »ehrloser« Profifußballer.

»Wahre Fans« – der Fußballjargon der Eigentlichkeit

»Hier geht es um Ehre, Stolz, Loyalität, Fanatismus, Leidenschaft, Liebe, Hingabe, Aufopferungsbereitschaft, Intensität, Identität, Emotionen, Enthusiasmus, Leiden, Glaube, Wille, Kampfbereitschaft, Geilheit, Stärke, Macht – um Ultras.«

Steffen Krapf

In verhängnisvoller Weise verschränkt sich die verkürzte Form der Kapitalismuskritik mit dem elitären (Selbst-)Bild vieler Fußballtraditionalisten. Dabei sollte man Vorsicht walten lassen, wann immer die Unterscheidung von gut und böse normativ auf die soziale Wirklichkeit projiziert wird. Das gilt, pars pro toto, auch für den Fußball: Gerade hier wird immer wieder munter zwischen guten und schlechten Fans unterschieden (»Ultràs vs. Erfolgs- oder Eventfans«), zwischen Spielern besseren oder schlechteren Charakters (»Vereinstreue« vs. »Söldner«), zwischen echten und künstlichen Vereinen (»Traditionsclubs« vs. »Werks- oder Oligarchenclubs«). Immer droht »das Eigentliche« und »das Echte« unterlaufen zu werden und diese Entwicklung bringt die eigene Identität in Gefahr: Wahlweise wird die Fankultur als solche als bedroht wahrgenommen (zu der man sich selbstverständlich dazurechnet), mal die eigene Mannschaft beziehungsweise der eigene Verein, gerne auch die traditionelle Verfasstheit der jeweiligen Liga und nicht zuletzt der Fußball höchstselbst. Das Gefühl einer Bedrohung rechtfertigt eine bisweilen aggressiv vorgetragene
(Selbst-)Verteidigung.

Die normative Unterscheidung von gut und böse wird totalisiert, indem sie in das Schema von Freund und Feind übertragen wird: Das bedrohliche und unheimliche Andere, nun zum Feind deklariert, darf und muss zur eigenen Selbsterhaltung bekämpft werden. Dieser Übertrag erweist sich als besonders verhängnisvoll: Denn eben jene Freund/Feind-Unterscheidung ist es, die der Staatsrechtler und »Kronjurist des Dritten Reiches« (Gurian) Carl Schmitt in seiner erstmals 1927 veröffentlichten und für Hitler mehrfach überarbeiteten Schrift »Der Begriff des Politischen« als »die spezifisch politische Unterscheidung« bezeichnete. Die Anwendung dieser »äußersten Unterscheidung« erlaubte es Schmitt und seinen Nazi-Gefolgsleuten, »das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle [als] die Negation der eigenen Art Existenz« zu beschreiben und seine Bekämpfung zu rechtfertigen »um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.«

»Herzblut und Boden«

»Doch bei vielen scheint alles so gezwungen und aufgesetzt zu sein. Wo sind die wahren, echten Gefühle? Allein im Stadion muss ich mich manchmal wundern, wie wenig Herzblut und Leidenschaft von den Leuten verkörpert wird. Wenn unsere Elf nach vorne stürmt, wenn die Gesänge in der Kurve angestimmt werden! Wo ist euer Stolz? Wo ist eure Ehre?«

Steffen Krapf

Nicht jeder Ultrà-Fan landet bei Schmitt. Aber dort ist die verhängnisvolle ideengeschichtliche Tradition zu verorten, in die man sich begibt, wenn man es sich allzu leicht macht mit der Kritik. Wenn man seinen traditionalistischen Fußball gentrifiziert sieht durch Familienväter in den Kurven, durch »uneigentliche« Erfolgsfans auf den Sitzplätzen, durch Bosse und Yuppies in ihren VIP-Logen und sie allesamt zu parasitären Widersachern des wahren Fußballs deklariert: Da werden Kurven rein gehalten und die eigene Scholle verteidigt. Wenn das Herzblut der authentischen Fußballkultur mit dem vorgeblichen Anrecht der »echten Fans« auf ihren Platz in der Kurve verquickt wird, tritt hervor, was solchen Argumentationsmustern immer schon latent zu Grunde liegt: eine kollektivistische Blut-und-Boden-Ideologie.

Spätestens wenn diese verkürzten Theoreme unter dem Eindruck existenzieller Negation der eigenen Art wirksam werden, ist dem anti-modernen Mob der Weg zur Legitimation körperlicher Gewaltanwendung geebnet. Im Marodieren und Wüten tritt der Kern der modernitätsfeindlichen Weltanschauung überdeutlich zu Tage: gewalttätige Triebabfuhr gegen den Anderen ist die konsequente Zuspitzung des halbgaren Geredes von der Reinheit der eigenen Fankultur. Soweit muss es nicht in jedem Fall kommen. Das ideologische Fundament ist aber immer schon dort präsent, wo man sich anmaßt, zwischen »besseren« und »schlechteren« Fans sortieren zu können.

»Söldner«

Dieses Beobachtungsschema lässt sich auch bei der Beurteilung von Spielern entdecken: Gegen Sportler richtet sich eine eigene Spielart antimoderner Kritik, die einen diffus als »Entwurzelung« empfundenen Bedeutungsverlust regionaler und sozialer Nähe anprangert. Im Zuge der fortschreitenden Professionalisierung des Sports rückten Kategorien wie Herkunft oder Milieu gegenüber nun relevanteren Faktoren für die Verpflichtung eines Spielers zunehmend in den Hintergrund. Taktische und finanzielle Erwägungen, Marketinggesichtspunkte, Spielerprofile etc. spielen heutzutage für Spieler wie Clubs eine entscheidendere Rolle als die Frage, in welcher Vorstadt man geboren wurde.

Für die Fans eines Vereins aber werden Vereinswechsel häufig moralisch aufgeladen (dies gilt in der Regel übrigens nur dann, wenn der je eigene Verein verlassen wird – das Gegenteil scheint weniger problematisch zu sein…): »Söldner!« ruft der enttäuschte Fan dem abtrünnigen Spieler entrüstet hinterher. Es ist in solchen Fällen regelmäßig von der »Illoyalität« des Spielers oder gar von »Verrat« die Rede und natürlich von der »Geldgier« des wechselwilligen Spielers – Vorwürfe, die Söldnern immer schon entgegengebracht worden sind: Waren diese treulosen Gesellen doch jederzeit bereit, ihre Auftraggeber für eine passende Summe zu verraten und die Seiten zu wechseln. Ein unerhörtes wie unehrenhaftes Betragen (augenscheinlich ist der Gegenpart des Söldners der Soldat, dem das Wechseln der Fronten unmöglich ist ohne als Deserteur oder »Vaterlandsverräter« zu gelten). Dem Söldner ist nicht zu trauen, seine grundlegende Illoyalität schlägt sich in seiner Käuflichkeit nieder und es ist denn wohl auch kein Zufall, dass die Anwendung der Unterscheidung vom treuen Vereinsspieler und dem ehrlosen Söldner eine Spiegelung der Differenz zwischen »wahren Fans« und »bloßen Kunden« ist.

»Gegen den vormodernen Fußball!«

»Um das eigene Dasein jedoch nicht in Frage stellen zu müssen und um jedweden Zweifel an jenen Gewissheiten und Zwängen zu vertreiben, die ihm das Leben zur Hölle machen, bedarf es […] des Angriffs auf die Abweichler. Diesen wird genau das unterstellt, wovon der Konformist selbst träumt, was er aber verdrängt und sich versagt. Die Kommerzialisierung und die Transformation des Fußballs in einen Bestandteil der Popkultur sind als Motor einer überfälligen Liberalisierung zweifellos zu begrüßen.«

Alex Feuerherdt

Was bleibt? Wer argumentativ auf Pfaden jenseits des Fußball-Mainstreams wandelt, sollte aufmerksam nach links und rechts blicken. Jenseits des »Modernen Fußballs« lauern Horden, Sippen, Stämme, Blut oder Boden. Das Flirten mit dem antimodernen Unsinn ist ein spätestens seit Rousseau gerne wiederholter Fehler sich non-konform und anti-kapitalistisch gerierender »Kritiker«. Viele negative Folgen der Kommerzialisierung des Sports sind offensichtlich; für die negativen Folgen einer zu schlichten Kritik gilt das nicht. Wir sprechen uns nicht für solche Begleitphänomene einer zunehmenden Kommerzialisierung des Sports aus – sondern gegen eine zu kurz gedachte, unterkomplexe Kritik daran. Denn diese ist mindestens so gefährlich wie der Gegenstand der Kritik selbst und mit ihr wollen wir nicht gemeinsame Sache machen.

rubbish-blueEs gibt am Ende noch Positives zu vermelden, bescheiden zwar, aber fraglos bemerkenswert: Nur schwerlich kann von der Hand gewiesen werden, dass die »Gentrifizierung« der Fußballstadien und die damit einhergehende Veränderung des Publikums zivilisierende Effekte hatte und hat. Dumpfe Parolen, gegrölt aus tausend Kehlen, sind seltener geworden – für Entwarnung ist es aber zu früh. Denn regelmäßig bedient sich das notwendig falsche Bewusstsein heute subtilerer Kanäle und nutzt aktualisierte Chiffren für seine Atavismen – das gilt für Homophobie, Antisemitismus und Rassismus in ähnlicher Weise. Jenseits des Blitzlichtgewitters, in den unteren Ligen der Republik und im antimodernen Habitus adoleszierender Männerbünde, herrschen nach wie vor erschreckende Zustände. Dort, wo der anachronistische Wunsch nach Gemeinschaft und (kollektiver) Identität am virulentesten wirkt, bedarf es noch immer des Anderen als Kontrastfolie eigener Überlegenheit. Die Zivilisierung der oberen Spielklassen ist nicht abgeschlossen; sie ist laufendes Projekt. Eine Zivilisierung der unteren Ligen liegt in weiter Ferne. Ihre notwendige Bedingung ist ein Bewusstsein für das falsche Bewusstsein.

In diesem Sinne, etwas augenzwinkernd:

»Für mehr modernen Fußball!«

 

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Die Fußballnationalmannschaft aus Bosnien-Herzegowina https://120minuten.github.io/die-fussballnationalmannschaft-aus-bosnien-herzegowina/ https://120minuten.github.io/die-fussballnationalmannschaft-aus-bosnien-herzegowina/#respond Mon, 16 Jun 2014 12:48:46 +0000 https://120minuten.github.io/?p=124 Weiterlesen]]> Auf der Suche nach nationaler Einheit und Identität. Das „Drachen“ genannte Team ist das erste Mal bei der WM dabei – und soll ein Land vereinen, das kaum vereinbar ist. 

Autor: Ulrike Bertus, @isntfamous

Als am 15. Oktober der Stuttgarter Vedad Ibisevic Bosnien-Herzegowina zur Weltmeisterschaft in Brasilien schoss, da jubelte in der Heimat nicht jeder. Im Großteil der Republik Srpska war es, so Beobachter, ruhig. Keine Freude, keine Autokorsos. Die Hunderttausende, die die siegreiche Mannschaft am Flughafen in Sarajevo empfingen, waren kaum bosnische Serben – eine Ausnahme bildete der Sport-Reporter Marian Mijajlovic, der feiernd aus seiner Kabine auf das Spielfeld rannte.

Bosnien-Herzegowina ist gespalten. Seit der Gründung des Landes 1992 und dem Dayton-Abkommen 1995 gibt es zwei Länder in einem, zwei Nationen, die in einem Staat zusammenleben und – vor allem nach Ansicht der Republik Srpska – zusammenleben müssen. An dem Gefühl der Uneinigkeit ändert auch der Fußball, in vielen Ländern ein verbindendes Element, nichts. Um das zu verstehen, um die riesige – sowohl politische als auch gesellschaftliche – Aufgabe des 21. der Fifa-Rangliste zu begreifen, muss man einige Jahrzehnte zurückgehen. 

Auf dem Gebiet, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine Teilrepublik Jugoslawiens war, leben und lebten vor allem drei Ethnien: Bosniaken, Serben und Kroaten. Den größten Teil machten, auch in Srpska, die Bosniaken aus. Mit dem Zerbrechen Jugoslawiens und dem darauffolgenden Bosnienkrieg kam es zum Konflikt zwischen den Ethnien. Die bosnischen Serben waren für einen Verbleib in der jugoslawischen Föderation und einen engen Verbund mit Serbien; die Bosniaken hingegen sprachen sich für einen unabhängigen Staat aus. Die Minderheit der Kroaten, die im westlichen Herzegowina lebte, wollte zu Kroatien gehören. Die Konflikte eskalierten, die so genannten ethnischen Säuberungen (beispielsweise 1995 in Srebrenica, ausgeübt durch die bosnischen Serben an den Bosniaken) waren trauriger Höhepunkt des Krieges. 

Die größten Verluste gab es in Srpska, von wo Bosniaken durch die Serben vertrieben oder getötet wurden. Ziel sei es gewesen, so Experten, dadurch die Anzahl der Bosniaken zu senken und so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die Region an Serbien anzugliedern. 

Insgesamt starben zwischen 97.000 und 107.000 Menschen, vor allem unter den getöteten Zivilisten (rund 40 Prozent) gab es auf Seiten der Bosniaken viele Opfer; 90 Prozent der toten Zivilisten gehörten dieser Bevölkerungsgruppe an. Viele flüchteten jedoch – entweder in die Nachbargebiete oder aber ins Ausland.

Bosnia and Herzegovina, administrative divisions - de (entities) - colored.svg

Die Republik Srpska ist eine der zwei Teilrepubliken des Staates Bosnien und Herzegowina, 90 % der Bevölkerung in Srpska sind Serben, Bosnia and Herzegovina, administrative divisions – de (entities) – colored von TUBS – Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Alle Spieler der Nationalmannschaft Bosnien-Herzegowinas, die bei dieser WM antreten, gehören der Generation an, die den Krieg und die Folgen bewusst erlebten. Edin Džeko, ehemaliger Spieler des VfL Wolfsburg und nun Stürmer bei Manchester City, geboren 1986, erlebte den Krieg als Bosniake in Sarajevo, gemeinsam mit seiner Großfamilie in einer Ein-Raum-Wohnung. Sejad Salihović, geboren 1984 und Stammspieler bei der TSG Hoffenheim, flüchtete 1991 mit seinen Eltern nach Berlin. Vedad Ibisevic, geboren 1984, zog mit seiner Familie während des Krieges nach Tuzla, wo die Mehrheit wie auch seine Familie zu den Bosniaken zählte. Nach Kriegsende immigrierte die Familie erst in die Schweiz, dann in die USA. Asmir Begović, Torwart bei Stoke City und 1987 geboren, flüchtete mit seinen Eltern nach Deutschland und ging später nach Kanada – ein Werbespot gemeinsam mit Adidas geht auf die Flucht und den Krieg ein.

“Jeder hat seine eigene Story, aber irgendwie verbindet uns die gleiche Geschichte mit der Kriegszeit.
Das überträgt sich dann auf dem Platz.“

Ermin Bicakcic
Nur wenige der Spieler verdienen ihr Geld in Bosnien-Herzegowina, ein Großteil ist im Ausland aktiv. Auch nach dem Krieg kommt das Land nicht zur Ruhe. Eine Arbeitslosenquote von 44 Prozent (im serbischen Teil rund 50 Prozent, rund 40 Prozent im restlichen Land), politische Konflikte und Bestechung machen das Land wenig attraktiv; auch im Fußball sind Bestechungen der Schiedsrichter normal, wie sich an der abnorm hohen Quote der Heimsiege ablesen lässt1). Die Offiziellen werden bezahlt oder bedroht, immer wieder werden Absprachen nach dem Motto „Wir gewinnen bei uns, dafür lassen wir euch bei euch auf dem Platz gewinnen“ getroffen. Für Spieler, die bekannt werden wollen, ist das keine gute Ausgangslage. Und auch die Fans bekommen keine spannenden Spiele geboten – und das, obwohl der Fußball im Land eine der beliebtesten Sportarten ist.


Auch in der Republik Srpska ist der Sport beliebt; nur eben nicht die Nationalmannschaft, in der nur zwei Serben spielen
2)– einer von ihnen ist der Rekordnationalspieler Zvjezdan Misimović, der ehemalige Bundesligaprofi (unter anderem Bayern München und VfL Wolfsburg) und nun bei Guizhou Rehne in China unter Vertrag stehende Mittelfeldspieler. Die Bosniaken stellen den großen Teil der Spieler, das wird von kroatischer wie auch von serbischer Seite kritisiert. Spieler und Trainer aber betonen in Interviews immer wieder, dass die Herkunft in der Mannschaft kein Thema ist und man sich gut versteht. Das Miteinander des Teams könnte als Vorbild für ein ganzes Land dienen. 

Der Konflikt im Land ist ethnischer Natur und die Auswirkungen zeigen sich auf allen Ebenen. Die bosnischen Serben wollen kein erzwungenes Land gemeinsam mit den Kroaten und den Bosniaken, die Bosniaken haben unter dem Krieg gelitten und die Kroaten sehen sich als vernachlässigte Minderheit. Auch 19 Jahre nach dem Dayton-Abkommen gibt es keine gemeinsame Identität des Landes. Es gibt getrennte Klassen in den Schulen, kaum eine natürliche Durchmischung. Hinzu kommt erschwerend, dass der Krieg mit den Vergewaltigungen, Vertreibungen und den ethnischen Säuberungen immer noch nicht hinreichend verarbeitet oder nur aufbereitet ist. Von rund 8.000 Opfern des Massakers in Srebrenica sind immer noch nicht alle Leichen identifiziert, Schuldige sind nicht betraft, das Hochwasser im Mai 2014 hat zudem die Minenproblematik noch einmal erschwert und wieder aktuell gemacht. 12.000 Landminen sind noch im ganzen Land verteilt, das Hochwasser hat die markierten Minenfelder über- und die Waffen vermutlich weggeschwemmt

Die Drachen fahren für einen Staat nach Brasilien, den es nur auf dem Papier gibt. Selbst einen eigenen Fußballverband hat der serbische Teil, die Vorbereitungen für eine eigene Nationalmannschaft im Stile des katalanischen Teams laufen; der Großteil der Fans drückt der serbischen – und für die WM nicht qualifizierten – Nationalmannschaft von Serbien die Daumen. Im kroatischen Teil sieht es ähnlich aus: dort unterstützt man die kroatische Nationalmannschaft.

Eine nationale Identität zu entwickeln, positiv aufgeladene Erinnerungsorte gemeinsam zu haben, das braucht seine Zeit. Der Politikwissenschaftler Arthur Heinrich nannte den Sieg des Weltmeistertitels 1954 für Deutschland die „wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik“. Plötzlich war man wieder wer, hatte etwas, auf das man stolz sein konnte. Erinnerungen sind einer der wesentlichen Punkte für die Entstehung von Identität und Selbstverständnis. Es braucht Erinnerungsorte, die in Personen, Emotionen, positiv aufgeladenen Botschaften oder aktuellen Ereignissen manifestiert werden3) und so eine gemeinsame Erinnerung und ein gemeinsames Gefühl schaffen. Einen ähnlichen Effekt wie 1954 erhoffen sich nicht wenige auch von der Teilnahme an der WM. Wenn die Mannschaft um den Leverkusener Kapitän Emir Spahic auch nicht als klarer Favorit gehandelt wird, stehen die Chancen nicht schlecht, die Vorrunde zu überstehen. Mit Argentinien hat man zu Beginn zwar sofort einen starken und vor allem beeindruckenden Gegner, die zwei anderen Gruppenteilnehmer Iran und Nigeria könnten aufgrund auch der individuellen Stärke durchaus zu schlagen sein. Immer wieder wurde in den vergangenen Wochen der Vergleich mit Kroatien bemüht: bei seiner ersten WM-Teilnahme 1998 in Frankreich belegte das Team sofort den dritten Platz (nachdem 1994 noch alle Länder Ex-Jugoslawiens aufgrund des Krieges von der FIFA gesperrt waren). 

Je weiter man kommt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass der Euphorie-Funke im eigenen Land überspringt – auf Serben, Kroaten und Bosniaken. Dem Fußball rechnet man die größte Chance zu, das Land zu einen

“Für mich sind da keine Serben,
keine Kroaten, keine Bosniaken.
Wir sind eins.“

Nationaltrainer Safet Susic über sein Team im November 2013
Die Möglichkeit für eine Veränderung sind größer denn je. Anfang des Jahres gingen die Einwohner des Landes gemeinsam auf die Straßen. Gegen Korruption, gegen die Arbeitslosigkeit und den Stillstand in der Politik. Der bosnische Frühling sollte wach rütteln und endete in Gewalt, die von allen Seiten kritisiert wurde. Aber immerhin: Erstmals nach dem Krieg versammelten sich alle Ethnien, um für ein Ziel zu demonstrieren, in vielen Städten bildeten sich Arbeitsgruppen. Denn auch die Einwohner wissen: Auch wenn sich die Serben eine Ausgliederung wünschen: Bezahlen kann das kaum jemand. Bosnien-Herzegowina gehört zu den wirtschaftlich schwächsten Ländern in Europa, man ist kaum überlebensfähig. Das Bruttoinlandsprodukt sinkt und die Schere zwischen Arm und Reich wächst zusehends.


Der Fußball könnte als verbindendes Element fungieren, wenn die Mannschaft denn erfolgreich in Brasilien ist. Jugoslawien war bis zum Zusammenbruch eine der stärksten Ligen Europas, die Erinnerungen an die erfolgreiche Nationalmannschaft lebt auch in den anderen ehemaligen Teil-Republiken überall fort. Dejan Savicevic, einer der bekanntesten Spieler von Roter Stern Belgrad in den 1990er Jahren und Teil der unglückseligen Nationalmannschaft von 1992, ist heute Präsident des montenegrinischen Fußballverbandes. Der Trainer Bosnien-Herzegowinas Safet Sušić war mit 343 Einsätzen und 85 Toren lange Rekordspieler bei Paris Saint-Germain. Und der ehemalige Nationaltrainer Kroatiens Slaven Bilic war in der Zeit von 1987 bis 1993 einer der erfolgreichsten Spieler bei Hajduk Split, heute trainiert er Besiktas Istanbul. Es gibt eine gesamtjugoslawische Fußballverbundenheit.

“Die Drachen
können die Völker Bosnien-Herzegowinas einen.“

Titel der Financial News in Großbritannien nach der erfolgreichen Qualifikation
Besonders nach dem Ende Jugoslawiens und kurz vor dem Krieg wurde der Fußball immer mehr zum Spielfeld politischer Forderungen und Konflikte. In den 1980ern Jahren war die Stimmung in den Stadien nationalistisch, kurz vor dem Krieg eskalierte am 13. Mai 1990 das Pokalspiel von Dinamo Zagreb gegen Roter Stern Belgrad so sehr, dass das Spiel nicht angepfiffen werden konnte4)


Die Grenze zwischen Gemeinschaftsgefühl/nationaler Identität und Nationalismus ist schmal. Während Nationalismus andere Gruppen generell abwertet, gibt es das bei nationaler Identität nicht. Für Bosnien-Herzegowina gilt es, das eine zu entwickeln und das andere nicht. Der Beitrag, den die Nationalmannschaft dazu leisten wird, wird wohl nicht gering sein. Die Weltmeisterschaft in Brasilien wird zeigen, inwiefern sich eine Art nationaler Identität entwickeln kann und wird und ob der Sport vielleicht das tut, das man ihm so häufig zuschreibt: Grenzen überwinden. 

Name Ethnie Verein Position
Asmir Avdukic FK Borac Banja Luka Tor
Asmir Begovic Bosniake Stoke City Tor
Jasmin Fejzic VfR Aalen Tor
Muhamed Besic Bosniake Ferencvaros Budapest Abwehr
Ermin Bicakcic Bosniake Eintracht Braunschweig Abwehr
Sead Kolasinac Bosniake Schalke 04 Abwehr
Mensur Mujdza Kroate SC Freiburg Abwehr
Ognjen Vranjes Serbe Elazigspor Abwehr
Avdila Vrsajevic Hajduk Split Abwehr
Anel Hadzic Sturm Graz Mittelfeld
Ized Hajrovic Bosniake Galatasaray Istanbul Mittelfeld
Senad Lulic Bosniake Lazio Rom Mittelfeld
Haris Medunjanin Bosniake Gaziantepspor Mittelfeld
Zvjezdan Misimović Serbe Guizhou Rehne Mittelfeld
Miralem Pjanic Bosniake AS Rom Mittelfeld
Sejad Salihovic Bosniake TSG 1899 Hoffenheim Mittelfeld
Emir Spahic Bosniake Bayer Leverkusen Mittelfeld
Toni Sunjic Kroate Zorja Lugansk Mittelfeld
Tino Sven Susic Bosniake Hajduk Split Mittelfeld
Senijad Ibričić Kroate Erciyespol Mittelfeld
Edin Visca Istanbul BB Mittelfeld
Edin Dzeko Bosniake Manchester City Sturm
Vedad Ibisevic Bosniake VfB Stuttgart Sturm






1) Biermann, Christoph: Die Fußballmatrix – Auf der Suche nach dem perfekten Spiel; Kiepenheuer & Witsch; 1. Auflage 2011.

2) In der Nationalmannschaft spielen, aufgeteilt nach Ethnien: Bosniaken – 13. Kroaten – 3. Serben – 2. Nicht recherchierbar – 5.

3) Vgl: Groll, Michael, Über den Zusammenhang zwischen Fußball, nationaler Identität und Politik, in: Mittag, Jürgen, Nieland, Jörg-Uwe (Herausgeber): Das Spiel mit dem Fußball – Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen; Klartext Verlag, Ausgabe 2007, Seite 179 ff.

4) Vgl. Ballesterer Nummer 29 – August/September 2007, Seite 19 ff.


Bildnachweis:
Vedad Ibisevic, CC BY-SA 3.0, jeollo von http://www.vfb-exklusiv.de – Eigenes Werk, Neuzugang 2012: Ibisevic bei seinem ersten VfB-Training.

Edin Dzeko of Manchester City kicks off. Jon Candy, http://www.flickr.com/people/37195744@N03

Zvjezdan Misimovic, October 2011, CC BY-SA 3.0, Степиньш Ольга – http://www.soccer.ru/gallery/45617

Beitragsbild: Cracked Wall, Leonardo Aguiar (sensechange) via Flickr
























Als am 15. Oktober der Stuttgarter Vedad Ibisevic Bosnien-Herzegowina zur Weltmeisterschaft in Brasilien schoss, da jubelte in der Heimat nicht jeder. Im Großteil der Republik Srpska war es, so Beobachter, ruhig. Keine Freude, keine Autokorsos. Die Hunderttausende, die die siegreiche Mannschaft am Flughafen in Sarajevo empfingen, waren kaum bosnische Serben – eine Ausnahme bildete der Sport-Reporter Marian Mijajlovic, der feiernd aus seiner Kabine auf das Spielfeld rannte.

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Der vergessene Triumph https://120minuten.github.io/der-vergessene-triumph/ https://120minuten.github.io/der-vergessene-triumph/#comments Mon, 16 Jun 2014 04:55:00 +0000 https://120minuten.github.io/?p=21 Weiterlesen]]> Bei den olympischen Sommerspielen 1976 konnte die Fußballnationalmannschaft der DDR ihren ersten und einzigen Titelgewinn feiern, der heute etwas in Vergessenheit geraten ist.

Autor: Fedor Freytag, stellungsfehler.de

1976. Welch ein Jahr! Mao starb, das Politbüro der SED feuerte Wolf Biermann und in einem kalifornischen Kaff namens Los Altos gründeten drei Nerds eine Garagenfirma mit dem kapriziösen Namen Apple. Sollte alles noch seine Bedeutung haben. Vorerst eher weniger. Mein Soundtrack des Jahres: „Bohemian Rhapsody“. Immer wenn Freddie Mercury sang, war ich von mir selbst ergriffen: I’m just a poor boy and nobody loves me. Mit anderen Worten: Ich pubertierte, dass es nur so krachte. An einem Abend Ende Juni verwies mich Vater – meiner notorischen Streitsucht wegen – der heimischen Stube. Was mir gleichgültig gewesen wäre, wenn nicht gerade auf dem einzigen Fernseher die 2. Halbzeit des EM-Halbfinals zwischen Deutschland und Jugoslawien begonnen hätte. Und nein, Livestreams waren vorerst keine Alternative. So verpasste ich Dieter Müllers sensationellen Hattrick, der den nicht mehr für möglich gehaltenen Finaleinzug bedeutete. Jedoch auf tragische Weise sinnlos blieb, weil sich Ulrich Hoeneß im Finale gegen die Tschechoslowakei den Fehlschuss des Jahrhunderts leistete. Zumindest was den deutschen Fußball anbelangt. Apropos Jahrhundert. 1976 war – laut Wikipedia – einer von dreizehn (sic!) Jahrhundertsommern dieses Säkulums.

Nun waren Große Ferien. Die Olympischen Spiele in Montreal dominierten Bildschirme und Schlagzeilen beiderseits des Eisernen Vorhangs. Meine Eltern waren sicher nicht böse, ihren nervenden Mini-Che-Guevara für einige Wochen los zu sein. Den größten Teil der Ferien verbrachte ich bei Großmutter. Die schlau genug war, mich mit Hingabe zu verwöhnen, ansonsten aber in Ruhe zu lassen. Ausschlafen, ins Schwimmbad gehen, bis in die Morgenstunden Olympia gucken. Jugend, unbeschwert, Ausgabe Ost.

 

Olympia-Kader der DDR 1976
Jürgen Croy (T, BSG Zwickau)
Hans-Ulrich Grapenthin (T, Carl Zeiss Jena)
Bernd Bransch (A, Hallescher FC)
Dixie Dörner (A, Dynamo Dresden)
Wilfried Gröbner (A, Lok Leipzig)
Gerd Kische (A, Hansa Rostock)
Lothar Kurbjuweit (A, Carl Zeiss Jena)
Konrad Weise (A, Carl Zeiss Jena)
Reinhard Häfner (M, Dynamo Dresden)
Reinhard Lauck (M, BFC Dynamo)
Hartmut Schade (M, Dynamo Dresden)
Gerd Weber (M, Dynamo Dresden)
Gert Heidler (S, Dynamo Dresden)
Martin Hoffmann (S, 1. FC Magdeburg)
Wolfram Löwe (S, Lok Leipzig)
Dieter Riedel (S, Dynamo Dresden)
Hans-Jürgen Riediger (S, BFC Dynamo)
Georg Buschner (Trainer)

Der letzte Wettkampftag der Spiele begann mit einem der spektakulärsten Erfolge der DDR-Sportgeschichte. Ein Typ mit dem kuriosen Namen Waldemar Cierpinski lief – zur Überraschung aller – als Führender auf die Tartanbahn des Olympiastadions und gewann souverän den Marathonlauf. Der Höhepunkt des Tages – jedenfalls für mich – stand erst um 21.30 Uhr Montrealer Zeit an: das Finale des Fußballturniers. DDR gegen Polen. Also saß ich halb vier Uhr nachts erneut vor Omas Fernsehgerät. Ein Schwarzweiß-Röhrenmonster, Typ Stella, zusammengelötet im VEB Fernsehgeräte Staßfurt. In der Nachbarschaft war alles dunkel. Ich fühlte mich elitär.

Bei olympischen Fußballturnieren durften nur Amateure antreten. Deshalb galten – und gelten – diese Spiele nicht als offizielle Länderspiele der FIFA, sondern als Vergleiche von Olympiamannschaften. Der DFB ignoriert diese Sichtweise bis heute, indem er manche Spiele der DDR-Olympiamannschaft als Länderspiele wertet. Dem kann eine gewisse Berechtigung kaum abgesprochen werden. Zwar traten alle Teams der westlichen Länder ohne Profis und mithin ohne ihre besten Spieler an. Die Länder des Ostblocks durften jedoch ihre Elite-Mannschaften aufbieten1), weil deren Spieler nominell als Amateure galten.

Eine abenteuerliche Sichtweise. Leistungssportler im Osten waren Vollprofis und wurden vom Staat bezahlt. Allerdings wurde dies stets dementiert und bis ins geringste Detail raffiniert camoufliert. Fußballer in der DDR erhielten Scheinverträge von Betrieben oder staatlichen Institutionen, in die sie nur einen Fuß setzten, wenn sie ihre Gehaltsschecks abholten oder mit den „Kollegen“ einen saufen gingen. Im Resultat führte diese Regelung des IOC dazu, dass die westlichen Länder bei olympischen Fußballturnieren chancenlos blieben. Bei allen Sommerspielen zwischen 1952 und 1988, an denen sie teilnahmen, errangen Mannschaften aus dem Ostblock den Titel. Wenn man so will, handelte es sich um eine Mini-WM des Warschauer Pakts. FIFA und UEFA betrieben diese Entwertung des Olympiaturniers engagiert im Hintergrund. Sie wollten den Glanz ihrer Premiumprodukte – WM und EM – bewahren. Das ist noch heute so.

Wenn im öffentlichen Bewusstsein von diesem Turnier etwas haften blieb, dann dieses Endspiel. Oder vielmehr der Umstand, dass die DDR es gewann. Gegen die gleichen Polen, die zwei Jahre zuvor im Halbfinale der WM (ich nenne es hier mal so, obwohl es nur das entscheidende Gruppenspiel war) den späteren Weltmeister Deutschland an den Rand einer Niederlage brachten und WM-Dritter wurden. Die beste polnische Mannschaft aller Zeiten, Olympiasieger 1972, der Titelverteidiger. Sie traten mit ihrer stärksten Mannschaft an, nur ihr brillanter Libero Jerzy Gorgon verletzte sich beim Warmlaufen. Trotzdem rechnete ich mir einiges aus, denn die Mannschaft von Trainer Georg Buschner hatte sich im Laufe des Turniers gesteigert. Im ersten Spiel kamen die vom Jetlag geschwächten DDR-Kicker gegen die brasilianische Auswahl über ein torloses Remis nicht hinaus. Daraufhin wurden sie vom Präsidenten des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), Manfred Ewald, mit einer Wutrede traktiert. Napola-Zögling Ewald, jahrzehntelang der mächtigste Funktionär des DDR-Sports, war kein Freund des Fußballs. Zu viel Aufwand für zu wenig Erfolg.

“Das Auftreten und die Art und Weise eueres Spiels
war eine Schande und eine Beleidigung
für die DDR-Olympioniken.”

DTSB-Präsident Manfred Ewald nach dem 0:0 zum Auftakt gegen Brasilien.

Die DDR gewann – und erdopte – bei diesen Spielen unglaubliche 90 Medaillen – davon 40 goldene. Selbst im günstigsten Fall konnten die Fußballer nur einen marginalen Beitrag leisten. 18 Mann und eine mögliche Medaille – das war dem Effizienzdenken des sich im Goldrausch befindlichen NOK-Chefs zuwider. Das schwache Spiel gegen die Brasilianer (diesem Fußball-Entwicklungsland, wie Ewald wusste) bot einen willkommenen Anlass zur Triebabfuhr. Buschners Jungs ertrugen es gelassen. Sie kannten die Animositäten Ewalds und ließen die Tirade über sich ergehen, gewannen das nächste Gruppenspiel gegen Spanien und siegten im Viertelfinale gegen die Franzosen (für die der junge Platini auflief) 4:0.

Das Minimalziel war erreicht. Mehr zu erwarten wäre vermessen gewesen. Jetzt wartete im Halbfinale die Sowjetunion. Neben den Polen der andere Turnierfavorit. Die UdSSR verstand sich darauf, die Vielvölkerigkeit ihres Reiches effektiv zu verwerten. Zumindest im Sport. Ihre Olympiamannschaft entsprach dem sowjetischen Nationalteam und das setzte sich überwiegend aus Spielern des ukrainischen Vereins Dynamo Kiew zusammen. Dynamo Kiew, dieser legendäre Fußballgolem, erlebte Mitte der siebziger Jahre seine erste internationale Blüte. 1975 gewannen die Ukrainer den UEFA-Pokal und schlugen Bayern München im Finale des Supercups. Den Bayern gelang in den zwei Finalspielen kein Tor (0:1, 0:2). Dass sie erfolgreich spielten, erklärt jedoch nur einen Teil des Dynamo-Kiew-Mythos. Der andere, heute wesentlichere, lag in der Art und Weise wie diese Mannschaft Fußball spielte. In vielem glich das System, dass der Trainer und Fußballkybernetiker Walerij Lobanowskyj spielen ließ, dem Totaalvoetbal, als dessen Erfinder gemeinhin die Herren Rinus Michels und Johan Cruyff gelten. Wer sich da von wem was und ob überhaupt abgeschaut hat, darüber streiten Taktikfreaks bis heute. Von all dem wusste ich damals nichts. Demutsvoll, überrascht und erfreut nahm ich den verdienten 2:1-Erfolg der DDR im Halbfinale zur Kenntnis.

So kam es, dass gegen 03:40 MEZ der uruguayische Schiedsrichter Barreto die Nationalmannschaften Polens und der DDR zum Fußballfinale aufs durchweichte Geläuf des Montrealer Olympiastadions führte. Die Platzverhältnisse waren schwierig, irregulär waren sie nicht. Im Gegensatz zur Frankfurter Wasserschlacht zwischen Polen und der Bundesrepublik bei der WM zwei Jahre zuvor rollte der Ball, ohne von quadratmetergroßen Binnenseen jäh gestoppt zu werden. Die DDR startete furios mit einer Art Überrumpelungstaktik. Nach 14 Minuten stand es 2:0.

Vor allem Schade und Häfner erkämpften, erliefen und erspielten im Mittelfeld die Hoheit über das Geschehen. Dem hatten die Polen über weite Strecken der ersten Hälfte nichts entgegenzusetzen. Ihre langen Bälle auf die Spitzen Lato und Szarmach wurden leichte Beute der aufmerksamen Verteidigung um Libero Hans-Jürgen „Dixie“ Dörner, der sich zudem um den initialen Spielaufbau bemühte. Mittelstürmer Riediger und Rechtsaußen Wolfram Löwe ließen sich wechselweise ins Mittelfeld fallen, wo sie für die Duracellhasen und Ballverteiler Schade und Häfner einfach anzuspielen waren. Diese wiederum schalteten sich auf der ganzen Breite des Platzes ins Angriffsspiel ein, was zu Überzahlsituationen auf den Flügeln und im Zentrum führte. Logische Folge: Hartmut Schade schoss das erste Tor, Reinhard Häfner bereitete das zweite mit einem unwiderstehlichen Sololauf über den halben Platz vor. Es sollte nicht seine letzte großartige Aktion an diesem Montrealer Abend bleiben.

Abschweifung zu Reinhard Häfner: Neben Peter Ducke ist er für mich der beste Fußballer, den die DDR hervorbrachte und der seine Karriere überwiegend (oder ausschließlich) dort bestritt. Wären die Zeiten andere gewesen, er hätte in jeder Mannschaft der Welt spielen können. Sieht man sich seine Spielweise an – gerade auch in diesem Finale – so ist er ein Prototyp dessen, was heute als moderner Sechser gilt. Defensiv wie offensiv gleich gut, laufstark, körperlich robust und extrem passsicher. Zudem war er ein eleganter Stilist, ein seltenes Attribut für zentrale Mittelfeldspieler. Als einziges Manko galt, dass er zu wenige Tore schoss.

Erzielt hatte das zweite Tor der große Unvollendete2) des DDR-Fußballs, der Magdeburger Linksaußen Martin Hoffmann. Häfners Vorlage vollendete er direkt mit einem lehrbuchmäßigen Außenristschuss, unhaltbar für Jan Tomaszewski. Das polnische Torhüteridol ließ sich in der 19. Minute auswechseln. Es darf spekuliert werden, ob tatsächlich die offizielle Begründung „Übelkeit“ ursächlich war, oder ob er nur vermeiden wollte, im Zentrum einer sich anbahnenden fußballerischen Katastrophe zu stehen.

Denn zunächst änderte sich wenig. Die Polen hatten nun zwar größere Spielanteile, was sie nicht hatten waren: Torchancen. Dafür vergaben Riediger und Löwe zwei hundertprozentige Gelegenheiten. Die Statik des Spieles änderte sich erst gegen Ende der ersten Halbzeit. Kazimierz Deyna – the magic men – entzog sich zunehmend der von Buschner verordneten Manndeckung durch den Berliner Reinhard „Mäcki“ Lauck. Es schien, als ob der enorme Laufaufwand der DDR-Mannschaft frühzeitig Wirkung zeigte. Indizien dafür: Kmiecik und Deyna boten sich gute Möglichkeiten; seine Kontergelegenheiten spielte das DDR-Team nur noch mangelhaft aus.

Dann war Halbzeit.

 

Vorrunde Viertelfinale Halbfinale Finale
Brasilien – Israel 4:1
Polen – Brasilien 2:0
Polen – Nordkorea 5:0
DDR – Polen 3:1
DDR – Frankreich 4:0
UdSSR – DDR 1:2
UdSSR – Iran 2:1

Ich wusste: Hier war noch nichts entschieden. Wie glänzend die Polen Fußball zu spielen verstanden, war mir seit der WM 1974 klar. Wären sie in Deutschland Weltmeister geworden, niemand hätte von Glück zu sprechen gewagt. Bange und hellwach zitterte ich – in the heat of the night – der zweiten Hälfte entgegen.

Das Zittern hätte ich mir sparen können. Wenn, ja wenn, Wolfram Löwe Sekunden nach Wiederanpfiff die mit Abstand größte Chance des Spiels genutzt hätte. Eigentlich machte er alles richtig, Verteidiger und Torwart waren ausgespielt, ich hatte den Torschrei bereits auf den adoleszenten Lippen, als ein heranschlitternder polnischer Abwehrspieler den Ball noch von der Linie schubste. Das wäre die Entscheidung gewesen.

Ein Jammer, denn nun nahm das Spiel den erwartbaren Verlauf. Die Polen drückten. Angetrieben vom unermüdlichen Henryk Kasperczak rollte Angriff auf Angriff in Richtung Croys Tor. Den focht das nicht an. Der Zwickauer Stoiker bestritt in diesem Finale eines von sehr, sehr vielen tadellosen Spielen seiner Karriere. Buschners Mannschaft hielt mit allem was sie hatte dagegen. Fußballerisch wie kämpferisch. Der befürchtete konditionelle Kollaps fand nicht statt. Die Chancen der Polen wurden trotzdem hochwertiger. Powerplayska. Großchance Kmiecik, Croy währt zur Ecke ab. Deyna flankt den Ball nach innen, Grzegorz Lato – ungedeckt, am kurzen Pfosten hochsteigend – köpfte zum Anschlusstreffer ins Tor. Ich sank in den großelterlichen Sessel, fluchte und erbat zugleich den Beistand höherer Mächte. Nicht sehr durchdacht von mir, zugegeben. Es blieb auch ungehört, die Polen drehten weiter auf und in der 65. Minute gab es einen dieser großartigen, magischen Fußballmomente. Die nur genießen kann, wer diesen Sport so respektiert, dass er die Könnerschaft des Gegners als solche akzeptiert. Deyna spielte – in der Vorwärtsbewegung – mit einem Hackenpass Szarmach hoch(!) an, der den Ball via Seitfallzieher aufs Tor katapultierte. Ein ästhetisches Meisterwerk – Sixtinische Kapelle nichts dagegen – das einen schlechteren Torwart als Jürgen Croy verdient gehabt hätte. Der parierte mit einem sensationellen Reflex zur Ecke. Von der dieses Mal keine weitere Gefahr ausging.

Abschweifung zu Kazimierz Deyna: Die Polen wählten ihn zum Fußballer des Jahrhunderts. Für den Kicker war er 1974 der Weltfußballer des Jahres. Eine bemerkenswerte Entscheidung des deutschen Fußballmagazins, nach einer WM im eigenen Lande bei der man den Titel errang und angesichts des Superstars Franz Beckenbauer. Heute ist Deynas Name nur noch wenigen ein Begriff. Was wohl in erster Linie dem Umstand geschuldet ist, dass er seine besten Jahre als Fußballer bei Legia Warschau verbrachte und nicht in Barcelona, München oder Mailand. Die Rekordsummen gezahlt hätten, um ihn zu verpflichten. Kazimierz Deyna war keinen Jota schlechter als Johan Cruyff. Er war begnadet. Ein offensiver Spielmacher, dessen Spielweise noch heute ungemein dynamisch wirkt. Eben nicht so elegisch wie die von Netzer, Overath oder Rivelino, ohne diesen an technischer Raffinesse nachzustehen. Er starb 1989 bei einem Verkehrsunfall in den USA. Seine Rückennummer 10 wird bei Legia Warschau nicht mehr vergeben.

Draußen war es Tag geworden. Die letzten 10 Minuten des Spiels begannen. Den Polen gelang nicht mehr viel. Sie waren platt. Auch Katholiken sind schließlich nur Menschen. Andererseits stand da eine Mannschaft auf dem Platz, die aus dem Nichts ein Tor erzielen konnte. Zur Entspannung bestand kein Anlass. Aber ich musste nicht bis zum Schlusspfiff zittern. Hartmut Schade lief in ein schlampiges Zuspiel der polnischen Abwehr, passte auf Häfner, der plötzlich nur noch den Keeper vor sich hatte, in den Strafraum eindrang und aus 12 Metern den Ball an Mowlik vorbei ins Tor schob. Abgebrüht und kalt wie eine Tasse Mitropa-Kaffee. In den verbleibenden Minuten passierte nichts Erwähnenswertes. Die Schlacht war geschlagen. Barreto pfiff ab. Platzsturm der DDR-Equipe, die ihren Sieg euphorisch feierte, dabei aber die olympische Contenance wahrte. Manfred Ewald befand sich nicht im Stadion.

Es war der erste Titel einer DDR-Fußballnationalmannschaft und es wird für alle Zeit der einzige bleiben. Der Nachruhm für die Beteiligten hielt und hält sich in engen Grenzen. Das ist ungerecht. Dieser Olympiasieg wurde gegen erstklassige sportliche Konkurrenz3) errungen, erkämpft und erspielt. Von einer großartigen Mannschaft, die technisch wie taktisch auf der Höhe ihrer Zeit und ihres Metiers agierte.

Inzwischen war es 5.45 Uhr. (Nein, es gibt hier jetzt keinen geschmacklosen historischen Kalauer.) Großmutter, eine notorische Frühaufsteherin, blickte mich ungläubig an, war aber zufrieden einen glücklichen, wenn auch übermüdeten Enkel vor sich zu haben und schickte mich zu Bett. Vor dem Einschlafen dachte ich bestimmt daran, dass die Hälfte der Ferien bereits vorüber war und womöglich, spürte ich diese leichte Leere, die sich bei mir bis heute nach großen Sportereignissen einstellt.


1) Diese Spiele der DDR gegen andere Ostblockmannschaften zählt der DFB in seinen Statistiken zu den Länderspielen.

2) Martin Hoffmann war ein großartiges Talent und zum Zeitpunkt des Endspiels erst 21 Jahre alt. Leider wurde seine aktive Laufbahn immer wieder von schweren Verletzungen beeinträchtigt. Er bestritt 1981 gegen Kuba sein letztes Länderspiel.

3) Schon die Qualifikation für das Turnier hielt mit der CSSR einen dicken Brocken parat. In zwei umkämpften Spielen trennte man sich jeweils Unentschieden, so dass am Ende das bessere Torverhältnis in der Qualifikationsgruppe für die DDR den Ausschlag gab. Die CSSR konnte sich völlig auf die im Juni stattfindende Europameisterschaft konzentrieren und tat das mit großem Erfolg: Sie wurde Europameister. Durch ein 5:3 (nach Elfmeterschießen) im Finale gegen die Bundesrepublik. Ihr wisst schon: Uli, Belgrad, Elfmeter, Abendhimmel.

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