Ballack Begins

Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den langersehnten Weltmeistertitel – ohne den Capitano. Was bleibt nach eineinhalb Jahrzehnten Profitum? Eine Retrospektive in drei Teilen.

Autor: Sebastian Kahl

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“Michael Ballack” (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

Prolog

Was sollte Urs Meier auch machen? Fast schon entschuldigend zückt er die gelbe Karte und zeigt sie dem Übeltäter. Was hätte der aber auch machen sollen? Zwanzig Minuten vor Schluss, beim Spielstand von 0:0, hatten sich die Südkoreaner zum Konter aufgemacht. Die deutschen Angreifer wünschten gute Fahrt und ihrer Hintermannschaft gutes Gelingen. Kurz vor dem Strafraum lässt der ballführende Chun Soo Lee mit einem Haken Carsten Ramelow aussteigen, sieht vor sich drei Rote gegen zwei Weiße… Und wird von hinten zu Fall gebracht. Urs Meier notiert sich in seinem Block die 71. Spielminute: Gelb für Nummer 13, Deutschland. Das Herz der Fußballnation sinkt, die Bauchbinde der Weltregie informiert die Uneingeweihten nüchtern, bürokratisch: „Michael Ballack – Misses next match“. 

In dem Sprint zurück liegen die Strapazen von 50 Saisonspielen für Bayer Leverkusen; elf Länderspielen: Kopf gesenkt, ungewohnt steif. Und trotzdem schneller als Torsten Frings, der als einziger Kollege den Weg mitgeht. Minuten später zieht er wieder einen Lauf übers halbe Feld an, dieses Mal in den gegnerischen Strafraum. Von rechts kommt die Flanke, er verwandelt den Abpraller zum entscheidenden 1:0. Michael Ballack ist im Sommer 2002, im Alter von 25 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Schaffens: physisch imposant, doch geschmeidig, beidfüßig, schussgewaltig, kopfballgefährlich; kurz: der komplette Spieler. 29 Saisontore für Verein und Land, allein drei in den Playoffs gegen die Ukraine. Folgerichtig „Fußballer des Jahres“, seine erste von insgesamt drei Auszeichnungen. Ein Versprechen in die Zukunft, dass eine darbende Nationalmannschaft vom Titel im eigenen Land träumen konnte. In Japan/Südkorea hievten Kahn und Ballack die Deutsche Auswahl bis ins Finale.

„Vielleicht ist es ein gutes Omen, dass ich nicht spielen kann.“

~ Ballack unmittelbar nach dem Halbfinale [1]

Heimat

Michael Ballack wird am 26. September 1976 in Görlitz geboren. In der Grenzstadt zu Polen verdienten sich u.a. so bedeutende Spieler wie Dixie Dörner, Heiko Scholz und Jens Jeremies ihre ersten Sporen. Familie Ballack zieht aber samt Filius im Frühjahr 1977 nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigem Chemnitz. Das Wohngebiet „Fritz-Heckert“, benannt nach einem hiesigem KPD-Politiker, wird Ballacks erste Spielstätte. Ein Viertel aller Einwohner von Karl-Marx-Stadt wohnt in der modernen Plattenbausiedlung. Betonwände und Wäschestangen dienen den Knirpsen als Tore. Mit sieben Jahren läuft er für die Jugendmannschaft des Lokalvereins BSG Motor Fritz Heckert Karl-Marx-Stadt auf. Die Herrenabteilung spielt immerhin in der zweitklassigen DDR-Liga. Ballack dominiert die Nachwuchsrunde: Als Zehnjähriger erzielt er 57 Tore in 16 Spielen, gegen Crimmitschau soll er zwölf Tore in fünfzig Minuten Spielzeit geschossen haben.

„Ich sah gleich, dass da ein außergewöhnlicher Spieler heranwächst. Er hatte von Anfang an eine gehörige Portion Talent und konnte schon damals mit rechts und links schießen. Ein Ballgefühl, als hätte er schon fünf Jahre Training hinter sich. So was nennt man wohl Naturtalent.“

~ Steffen Hänisch, Jugendtrainer Ballacks bei MFK Karl-Marx-Stadt [2]

Im System des DDR-Sport bleibt so ein Talent nicht unentdeckt. Noch weniger wird einem solchen Talent erlaubt, nicht im größten Verein der Stadt zu spielen. Ab 1988 streift er sich also das himmelblaue Trikot des FC Karl-Marx-Stadt über. Gleichzeitig besucht er die Kinder- und Jugendsportschule. Zwischen Schule und Verein sind Unterricht und Training abgestimmt, der Tag ist durchgeplant. Eine Infrastruktur, über die heute fast jeder Profiverein verfügt. In den 80er-Jahren war es modern. Stephan Ballack, Michaels Vater, beurteilte die Förderung später als vorbildlich: „Das gesamte System dort war gut durchdacht, das war vom Feinsten. Der ganze Unterricht hat sich am Fußball orientiert, ohne das Lernniveau zu vernachlässigen. Nicht nur die sportliche, auch die schulische Begabung musste stimmen.“ [3] Die Schule schließt Ballack mit dem Abitur ab.

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde sowieso Fußballprofi.“

~ Zehntklässler Ballack angesprochen auf mäßige Schulnoten, überliefert von seiner ehemaligen Lehrerin Margita Teuscher [4]
Michael Ballack und Kevin Meinel
Wie nah Glück und Unglück beieinander liegen, zeigt das Schicksal von Ballacks Teamkamerad Kevin Meinel. Gemeinsam spielten die beiden in der Jugend vom FCK/CFC, verstanden sich auf und abseits des Platz bestens. Bei einem Hallenturnier im Januar 1991 erleidet Meinel während eines Spiels einen Schlaganfall, ist anschließend zeitweise halbseitig gelähmt. Die Karriere des hoffnungsvollen Talents ist beendet. Auch Ballack – damals 14 – ist mitgenommen: „Er wollte sogar das Fußballspielen aufgeben – wegen meiner Krankheit“ so Meinel. „Der Micha sprach mir unendlich viel Mut zu. […] Er kümmerte sich um mich in dieser schweren Zeit.“ [5]

Mit 16 hätte für Ballack auch alles schon vorbei sein können, Diagnose: Knorpelschaden im linken Knie! Das Karriereaus drohte. Es folgten neun Monate Pause, Sondertraining, ein halbes Jahr Reha ganz ohne Ball. CFC-Jugendtrainer Ullus Küttner macht ihn wieder fit und führt ihn an die Herrenmannschaft heran. Der Lohn: Profivertrag beim Chemnitzer FC, mit 18. Ballack debütiert in der Zweiten Bundesliga gleich am ersten Spieltag (4.8.1995), kommt insgesamt fünfzehn Mal zum Einsatz. Ein Treffer bleibt ihm vergönnt. Den Abstieg des CFC in die drittklassige Regionalliga Nordost kann er nicht verhindern. Indirekt profitiert er aber davon, 15 Spieler verlassen den Verein.

Ballack wird in der Saison 96/97 Stammspieler, ist bei jeder Partie dabei und erzielt zehn Tore. Ab März ’96 bestreitet er außerdem 19 Spiele für die U21-Nationalmannschaft, trifft dabei sieben mal. Zu dieser Zeit schult man Spieler noch als Libero. Ballack glänzt in der Rolle. Das und sein aufrechter Laufstil, seine Spielübersicht bringen ihm den Spitznamen „Der kleine Kaiser“ ein, in Anlehnung an Franz Beckenbauer. Andere schimpfen ihn dafür einen „Schönspieler“. Der CFC landet auf Platz vier, verpasst den Aufstieg um 18 Punkte. Ballack nicht.

König Otto

Hans-Peter Briegel soll als Erster Ballack als potentiellen Neuzugang ins Gespräch gebracht haben. Briegel war von Sommer ’96 bis Oktober ’97 Sportlicher Leiter beim 1. FC Kaiserslautern. Gerade Kompetenzgerangel bei Spielerverpflichtungen schadete jedoch dem Verhältnis zwischen Briegel und Trainer Rehhagel, sodass Briegel zum Zeitpunkt von Ballacks Verpflichtung schon zurückgetreten war. Rehhagel hatte der Familie in Chemnitz einen persönlichen Besuch abgestattet und den Wechsel gen Westen schmackhaft gemacht. Der FCK war soeben mit zehn Punkten Vorsprung Zweitligameister geworden, ließ sich das Talent 150.000 DM kosten. Dass der Wind in der Belle Etage steifer weht, dürfte dem 19-jährigen Ballack klar geworden sein, als auf seiner Position ebenfalls Ciriaco Sforza verpflichtet wurde, für 6,7 Mio. DM. Der Schweizer trat zu seinem zweiten Stint in Kaiserslautern an. Rehhagel hatte ihn 1995 schon zu den Bayern geholt. Mit dessen vorzeitiger Entlassung verließ auch Sforza München. Bei Inter Mailand wurde er anschließend nicht glücklich, kehrte nach zwei Stationen in zwei Spielzeiten in die Pfalz zurück.

Für Ballack bedeutet das zunächst eine Reservistenrolle. Zudem fällt ihm der Sprung von der Regionalliga direkt in die höchste Klasse des deutschen Fußballs schwer. Sein Bundesliga-Debüt gibt er am siebten Spieltag in Karlsruhe, kommt bis Rundenwechsel lediglich auf 17 Spielminuten. In Bremen wird er eingewechselt und fliegt noch mit Gelb/Rot vom Platz. Wie beim CFC gelingt ihm in der ersten Spielzeit kein Tor. Immerhin ist er beim 4:0 gegen Wolfsburg am vorletzten Spieltag von Beginn an dabei. Der FCK macht da die Meisterschaft 1998 fest: als Aufsteiger, ein Novum der Bundesliga-Geschichte. Ballack beeindruckt die richtigen Leute: Im September wird er erstmals von Vogts für die A-Nationalmannschaft nominiert. Das mühsame 2:1 der Deutschen gegen Malta muss er von der Bank mitansehen.

In Chemnitz gelang ihm im zweiten Jahr der Durchbruch und der Sprung in die Stammformation. Im zweiten Kaiserslauterer Jahr ist er zunächst in der Hinrunde in jedem Spiel dabei. Rehhagel lässt ihn jedoch nur sieben Mal durchspielen. Insgesamt kommt er auf 39 Pflichtspieleinsätze und vier Tore. Dem sensationellen Meistertitel folgt auf dem Betze die Ernüchterung. Zwar übersteht man die Gruppenphase in der Champions League als Erster vor Benfica, Eindhoven und Helsinki. Im anschließenden Viertelfinale setzt es aber zwei Niederlagen gegen die Bayern (2:0 und 0:4). Die Bayern dominieren die Liga, stehen bis auf zwei Spieltage immer an der Tabellenspitze und werden mit fünfzehn Punkten Vorsprung Meister. In der Abschlusstabelle der Bundesliga landet der FCK auf einem guten fünften Platz.

Die 'Causa Sforza'
Doch innerhalb des Vereins stimmt es nicht. Der Unmut bricht sich in Form von Sforza Bann: Zum Saisonende kritisiert er die Sportliche Leitung und Kaderplanung. Das Politikum sollte noch die Folgesaison (99/00) überschatten. Sforza lederte im September nach, Rehhagels Trainingsgestaltung sei veraltet, die Mannschaftsführung fragwürdig. Rehhagel suspendiert den Schweizer zunächst, kommentiert das Verhalten seines nun ehemaligen Kapitäns so: „Er hat mich nicht kritisiert, sondern diffamiert und den Vereinsfrieden brutal verletzt. Noch niemals habe ich mich in einem Menschen so getäuscht.“[6] Sforza steht zwar kurz danach wieder im Kader, der Bruch ist aber nicht mehr zu kitten. Im Sommer 2000 wechselt er erneut zu den Bayern. Ein Kritikpunkt Sforzas: Rehhagels Umgang mit den jungen Spielern, u.a. Michael Ballack.

Ballacks Vertrag lief zum Ende der Saison 99/00 aus. Bereits im Frühjahr ’99 – also mehr als ein Jahr vorher – unterschrieb er bei Bayer Leverkusen einen Vorvertrag für die Folgezeit. Der FCK sah in der Vorgehensweise Bayers einen „eklatanten Verstoß gegen die Regeln der FIFA“. Rehhagel nahm ihn aus der Mannschaft, von allen Seiten wurde ein sofortiger Wechsel im Sommer ’99 angestrebt.

„Wie soll noch eine Zusammenarbeit möglich sein, wenn immer wieder neue Lügen über mich erzählt werden? Ich wollte hier nicht weg. Herr Rehhagel ließ mich nicht mehr regelmäßig spielen, als ich Leverkusen zugesagt hatte.“

~ Ballack im Juli ’99 [7]

Ballack wechselt somit im Sommer 1999 für 8,2 Millionen DM zu Leverkusen. Mit Boshaftigkeit könnte man ihm unterstellen, er habe den Wechsel forciert. Mit Wohlwollen, sein Stellenwert bei Kaiserslautern war einem Talent wie ihm nicht angemessen. Im gleichen Zeitraum – genau: am 28. April ’99 – kam er denn auch zu seinem ersten Auftritt im DFB-Dress. Unter der Ägide von Erich Ribbeck verliert Deutschland in Bremen gegen Schottland mit 0:1. Ballack wird nach einer Stunde für Hamann eingewechselt. Beim Confederations Cup im Sommer ist Deutschland als Europameister qualifiziert. Ballack steht im Aufgebot, gibt im Gruppenspiel gegen Brasilien sein Startelf-Debüt.

Wieder hatte er es geschafft, die richtigen Leute zu beeindrucken.

„Ich habe wesentlich lukrativere Angebote vom FC Chelsea und vom AC Florenz vorliegen gehabt. Auch Bayern wollte mich. Aber das Geld hat für mich keine Rolle gespielt. Allein das Sportliche zählt. In Leverkusen habe ich die besten Chancen, Stammspieler zu werden und in die Nationalelf zu kommen.“

~ Ballack nach seinem Wechsel zu Leverkusen [8]

Legendenbildung

Der 20. Mai 2000, 15.30 Uhr: Zum Anpfiff des letzten Bundesliga-Spieltags steht Bayer 04 Leverkusen an der Tabellenspitze. Der Vorsprung auf die Bayern beträgt drei Punkte. Die haben zwar das bessere Torverhältnis. Bayer reicht aber ein Unentschieden bei der SpVgg Unterhaching, um erstmals Meister zu werden. Haching war längst im Mittelfeld der Tabelle gesichert, sollte der Werkself also nicht im Weg stehen. „Millennium-Meister“ stand auf den mitgebrachten Plakaten der Gästefans geschrieben.

15.46 Uhr, unweit entfernt in München: Bayern führt nach einer guten Viertelstunde bereits 3:0 gegen Werder Bremen.

15.50 Uhr: Schwarz flankt den Ball für Haching aus dem rechten Halbfeld in den Leverkusener Strafraum. Ballack ist in die letzte Abwehrreihe eingerückt. Der Ball fliegt in seine Richtung, nicht mit viel Schnitt, aber er spürt in seinem Rücken Rraklli. Gleichzeitig kommt Torhüter Matysek aus seinem Kasten, Ballack ist schneller. Beim Versuch zu klären, wischt er über den Ball und bugsiert ihn aus acht Metern ins leere Tor.

Markus Oberleitner erhöht in der 72. Spielminute auf 2:0 für die SpVgg. „Unterhaching“ wird zum Synonym des Favoritensturz, Bayern mit einem 3:1-Sieg über Werder Bremen aufgrund der besseren Tordifferenz doch Deutscher Meister.

Dabei fing die Saison für Leverkusen im Duell mit Bayern so erfolgversprechend an: Bereits am zweiten Spieltag kommt es zum direkten Aufeinandertreffen. Leverkusen gewinnt das Heimspiel mit 2:0. Ulf Kirsten und Oliver Neuville besorgen die Tore. Ballack ist nicht dabei. Im ersten Spiel in Duisburg spielt er 90 Minuten. Danach zieht er sich jedoch einen Innenbandriss im Knie zu. Ein Rückschlag für den Verein, kam Ballack doch mit viel Vorschusslorbeeren. Er gilt als größtes deutsches Talent. Manager Rainer Calmund zieht ebenfalls die Parallelen zu Beckenbauer.[9] Trainer Christoph Daum befindet sein Neuzugang sei ein „unheimlich vielseitig verwendbarer Spieler“. Erst Ende November kommt er wieder zur Kurzeinsätzen. Derweil hadern die Bayern mit sich selbst. Im Training werden Matthäus und Lizarazu handgreiflich, Mario Basler gar in einer Schänke in Regensburg. Basler wird umgehend entlassen, Matthäus – mittlerweile auch 38 Jahre alt – im Winter gegangen.

Zwar grüßt München meist von der Tabellenspitze, der Vorsprung auf Leverkusen beträgt kaum mehr als zwei, drei Punkte. Zur Rückrunde mischt auch Ballack wieder voll mit. Ausgerechnet gegen die Bayern erzielt er sein erstes Tor für den neuen Verein. Sein Freistoßtreffer ändert allerdings nichts an der 4:1-Auswärtsniederlage. Dennoch: Leverkusen setzt in der Folge zu einer Serie von elf Siegen und zwei Unentschieden in 13 Spielen an. Darunter ein fulminantes 9:1 in Ulm, was Trainer Christoph Daum im Interview veranlasst zu deklarieren: „Leverkusen ist nicht aufzuhalten“. Um dann mit einem Lachen hinzuzufügen: „Da können Sie die Uhr nach stellen, dass der Herr Hoeneß versuchen wird, mich zu attackieren. […] Vielleicht ist es das, was die Bayern brauchen.“

Die ungeschlagene Serie von 13 Spielen bringt die Tabellenführung. Das vierzehnte Spiel findet in Unterhaching statt. Der Titel geht an Bayern.

Im Sommer steht die Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden an. Es wird die vielleicht dunkelste Stunde der Nationalmannschaftsgeschichte. Jammern auf hohem Niveau, aber: Deutschland ist Titelverteidiger und scheidet bereits in der Vorrunde aus. Noch dazu als Gruppenletzter. Gelingt zum Auftakt noch ein 1:1 gegen Rumänien, setzt es Niederlagen gegen England (0:1) und Portugal (0:3). Das einzige Tor: ein Freistoß von Mehmet Scholl. Ballack wird gegen England eingewechselt, gegen Portugal ist er von Beginn dabei. Die Portugiesen sind vor der Partie schon für die nächste Runde qualifiziert. Trainer Humberto Coelho schickt eine bessere B-Elf aufs Feld. Die deutsche Mannschaft ist ein Sammelsurium an Altgedienten: Matthäus, Linke, Bode. Auch Scholl und Rehmer gehen auf die 30 zu. Spielwitz und Esprit versprüht der 20-jährige Deisler. Es fehlt allgemein an Bewegung und Geschwindigkeit im deutschen Spiel. Ballack geht gegen Portugal ebenso unter wie der Rest. Mutmacher sind kaum in Sicht. Von der Bank kommen Jungspunde wie Kirsten und Häßler (beide 34). Ballack muss zur Pause gar Paulo Rink weichen. Der gebürtige Brasilianer würde noch zwei weitere Länderspiele bestreiten. Verwalter des Niedergangs war Erich Ribbeck. Am Tag nach dem Ausscheiden tritt er vom seinem Amt zurück, geht als erfolglosester Trainer der Nationalelf in die Annalen ein. Sein designierter Nachfolger: Christoph Daum.

Zum 1. Juni 2001 hätte der Leverkusen-Trainer beim DFB übernehmen sollen. Der gebürtige Oelsnitzer (Erzgebirge) wächst in Duisburg auf, wird Deutscher Amateurmeister mit der Zweiten Mannschaft des 1. FC Köln. Seine aktive Laufbahn endet früh, mit 27 macht er den Fußball-Lehrer des DFB. Er wird Trainer und Vorreiter einer neuen Garde: studiert, Wissenschaftler und Motivator. Als Trainer des 1. FC Köln pinnt er die Meisterprämie von 40.000 DM an die Kabinentür. Die Bundesliga-Krone holt er dann 1992 mit dem VfB Stuttgart. In Leverkusen baut er gemeinsam mit Manager Rainer Calmund über Jahre eine gestandene Mannschaft auf. Jens Nowotny, Robert Kovac, auch Carsten Ramelow reifen unter seiner Ägide zu Spielern gehobener oder internationaler Klasse heran. Calmund beweist mit Emerson, Zé Roberto, später Lucio den richtigen Riecher für den südamerikanischen Markt. Leverkusen war für Spieler aus der ehemaligen DDR schon kurz nach der Wende eine gute Adresse. Und auch zehn Jahre nach dem Mauerfall stehen noch Stefan Beinlich, Bernd Schneider, Ulf Kirsten und eben Michael Ballack im Kader. Medienwirksam lässt Daum seine Spieler über Glasscherben laufen. Doch der Erfolg gibt ihm recht: In seinen fünf Spielzeiten fährt Leverkusen drei respektable Vizemeisterschaften ein. Bayer löst Ende der 90er Dortmund als zweite Kraft neben den Bayern ab.

Christoph Daum und die Kokain-Affaire
Nach Ribbecks Abgang bei der Nationalelf sollte Rudi Völler interimsweise den Trainerposten füllen, im Sommer 2001 würde Daum übernehmen. Solange lief sein Vertrag in Leverkusen. Doch bereits im Oktober 2000 ist Schluss. Uli Hoeneß brachte den Stein ins Rollen. Die Fehde der beiden Fußballmacher geht bis Ende der 80er, in Daums Kölner Zeit zurück. Hoeneß kritisiert die Wahl des DFB, Daum zum Nationaltrainer zu machen vage, fragt wie das mit einer gleichzeitigen Antidrogenkampagne zusammenpasse. Daum weist die Vorwürfe des Drogenkonsums zurück, lässt sich kurz darauf doch auf einen Haartest ein. Seine Deklaration auf der zugehörigen Pressekonferenz geht in den allgemeinen Sprachgebrauch über: „Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe.“ Die Testergebnisse strafen ihn Lügen. Daum wird von seinem Amt bei Bayer Leverkusen entbunden. Der Vorvertrag mit dem DFB wird aufgelöst. Daum taucht in den USA unter, muss sich später vor Gericht verantworten.

Nach der Kokain-Affäre bleibt Daum lange Zeit Persona non grata in Fußballdeutschland. Ballack wird sich im Rückblick durchweg positiv äußern, nennt Daum einen „besonderen“, einen „Ausnahmetrainer“.[10] In den knapp eineinhalb Jahren unter Daum reift Ballack zum gestandenen Bundesligaspieler, findet seine Position im zentralen Mittelfeld. Gleichzeitig lässt ihm das taktische Konstrukt genügend Freiheiten seine später legendäre Torgefährlichkeit zu entwickeln.

“Christoph Daum hat als Erster diese [Leverkusener] Mannschaft geformt. Er war auch der vielleicht wichtigste Trainer in meiner Karriere, weil ich unter ihm mit 22 oder 23 Jahren den Durchbruch zum Stammspieler auf diesem Niveau geschafft habe.”

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Christoph Daum [11]

Ist die Mannschaft geschockt, so lässt sie es sich nicht anmerken. Leverkusen gewinnt fünf der nächsten sieben Spiele. Zunächst übernimmt Rudi Völler die Trainingsleitung, anschließend Berti Vogts. Das Meisterrennen ist eng wie selten. Noch Ende April liegen die ersten fünf in der Tabelle nur drei Punkte auseinander – Bayern, Schalke, Dortmund, Leverkusen und Hertha. Den längsten Atem haben erneut die Bayern, bis zur letzten Minute der Saison. Im Fernduell müssen die Schalker mitansehen, wie München in der Nachspielzeit noch den Ausgleich beim HSV erzielt. Erneut war Unterhaching am letzten Spieltag Gegner des Vizemeisters. Das Schalke sein Spiel mit 5:3 gewinnt ist dabei nur ein schwacher Trost.

Für Leverkusen bleibt nur Platz vier. Immerhin berechtigt das zur Teilnahme an der Qualifikation zur Champions League. Und es ist vielleicht auch ein Grund, dass Michael Ballack eine weitere Saison in Leverkusen verbleibt. Denn mittlerweile jagt halb Europa den 24-Jährigen. Real Madrid und Chelsea machen Angebote. Bayern München war schon vor seinem Wechsel zu Leverkusen dran. Ballacks Vertrag läuft eigentlich bis 2005, aber im Sommer 2002 greift eine Klausel, nach der er vergleichsweise billig wechseln kann. So soll es einen Vorvertrag mit den Bayern geben. Nationalmannschaftskollege Deisler – Neuzugang für ’02 – bekam für seine Zusage ein fürstliches Handgeld. Zudem kündigte Effenberg nach dem CL-Sieg seinen Abgang mit Ablauf seines Kontrakts an; ebenfalls im kommenden Sommer.[12] Bis dahin wird der Tiger zum Politikum, Sündenbock einer verkorksten Münchener Saison.

Bayer verstärkt sich nochmals punktuell. Yildiray Bastürk (22J.) kommt vom VfL Bochum und wirkt als kreatives Pendant im Mittelfeld zu Ballack und Ramelow. Zoltan Sebescen (25J.) kostet umgerechnet 6 Millionen Euro, kann mehrere Positionen in Abwehr und Mittelfeld einnehmen. Neue Nummer eins im Tor wird Hans-Jörg Butt. Er kommt mit der Empfehlung von 19 Elfmetertoren in drei Spielzeiten ablösefrei aus Hamburg.

Der wichtigste Neuzugang nimmt aber auf der Bank Platz. Klaus Toppmöller ist der neue Trainer. Der Pfälzer spielte knapp ein Jahrzehnt Erste Bundesliga für Kaiserslautern, später in der Zweiten und unterklassig für den FSV Salmrohr. Dort fungierte er zum Ende als Spielertrainer. Über weitere Stationen, u.a. Bochum, mit denen er in den UEFA-Cup einzieht, landet er als Nachfolger Vogts’ bei Leverkusen. Unter Toppmöller spielt die Werkself nochmal schneller, direkter, etabliert das Umschaltspiel. Das System mit offensiven Außenverteidiger prägt noch Jahre später den europäischen Fußball.[13] Ballack ist eine der wichtigen Säulen in einem Team, das mehr als nur die Summe seiner Einzelteile war.

„Toppi hatte seine Stärken in der Mannschaftsführung. [Er konnte ein] Vertrauensverhältnis zwischen Trainer und Spieler [aufbauen]. Das hat er mit Emotionalität, Charme und auch einer gewissen Witzigkeit hinbekommen.“

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Klaus Toppmöller [11]

Vizekusen

Nach der durchwachsenen Vorsaison gehört Leverkusen nicht zu den Meisterfavoriten. Schalke war denkbar knapp dran, Bayern ist amtierender Champions League-Sieger. Dortmund wirft mit Geld um sich. Allein Marcio Amoroso kostete 50 Millionen DM. Doch bis zum Dezember verliert Bayer kein Ligaspiel. An Spieltag 13 steht man erstmals an der Tabellenspitze. Im gleichen Zeitraum gelingt der Einzug in die zweite Gruppenphase der Champions League. Nach Barcelona, Lyon und Fenerbahce warten nun Juventus, La Coruna und Arsenal. Zwischendurch schießt Ballack Deutschland zur WM. In der Quali-Gruppe belegte Deutschland hinter England den zweiten Platz, musste also in die Play-offs. Beim Hinspiel in der Ukraine (1:1) besorgt Ballack den Ausgleich. Im Rückspiel (4:1) steuert er zwei Treffer bei. Leverkusen wird Herbstmeister, Ballack hat mit bis dahin neun Toren entscheidenden Anteil. Am Ende wird er 17 auf seinem Konto haben, der Bestwert in seiner Mannschaft.

Das größte Weihnachtsgeschenk legt aber Uli Hoeneß den Bayern-Fans unter den Baum. Just zum Start der Winterpause wird der Wechsel von Ballack offiziell, für vergleichsweise schmale 28 Millionen DM. Das Timing ergibt Sinn: Der beste deutsche Feldspieler landet beim größten deutschen Verein. Einige Jahre zuvor wäre der Schritt möglicherweise zu früh gekommen, der junge Ballack im Münchner Starensemble untergegangen. Nun hätte er sich wohl den neuen Verein in ganz Europa selbst aussuchen können. Andere hätten sicher mehr Gehalt gezahlt. Sein Berater Michael Becker ließ sich zuvor schon zitieren: Ballack könne „allein nach sportlichen Aspekten entscheiden“.[14] Hoeneß machte ihm den Wechsel mit der anstehenden Weltmeisterschaft im eigenen Land zusätzlich schmackhaft, schwärmte ihm von seinen eigenen Erfahrungen 1974 vor. Im Vorfeld ins Ausland zu gehen, sei unsinnig, danach noch Zeit genug.

Zwar avancierte Ballack innerhalb weniger Jahre zum Shootingstar und Hoffnungsträger des deutschen Fußballs. In fremden Stadien wurde er deswegen jedoch nicht von allen geliebt. So ist der Wechsel zu den Bayern auch Wasser auf die Mühlen derer, die in Ballack ohnehin den Schnösel sehen. Seine Selbstsicherheit abseits des Platzes wird ihm als Arroganz ausgelegt.

So stehen in Leverkusen die Zeichen auf Abschied. Ballack tritt zu seiner letzten Runde in Leverkusen an. Und was für eine es werden sollte! Nach einer kurzen Schwächephase zum Jahreswechsel folgen zehn ungeschlagene Spiele. Am 24. Spieltag übernimmt Leverkusen nach einem fulminanten 4:0 gegen den bisherigen Primus Dortmund wieder die Tabellenspitze. Anfang März schlägt man im Halbfinale des DFB-Pokals die Rivalen vom 1. FC Köln (3:1 n.V.). Auch in der Champions League stehen K.O.-Spiele an: Im Viertelfinale muss Bayer zunächst auswärts an der Anfield Road antreten, verliert dort mit 1:0. Im Rückspiel besorgt Ballack zweimal die Führung, Leverkusen gewinnt 4:2. Erneut geht es im Halbfinale nach England. Manchester United wird mit zwei Unentschieden (2:2 und 1:1) ausgeschaltet. Ballack ist mit sechs Toren Bayers Toptorschütze im Wettbewerb.

Alles deutet auf einen triumphalen Saisonabschluss hin. Mit dem Ligaspiel gegen Bremen nimmt das Unheil seinen Lauf. Vor dem 32. Spieltag steht Leverkusen an der Tabellenspitze, hat fünf Punkte Vorsprung auf Dortmund, sieben auf Bayern. Bremen kämpft noch um den Einzug in den UEFA-Cup, schockt Leverkusen, siegt auswärts 1:2. In der Woche drauf muss Bayer nach Nürnberg. Der Club macht mit einem 1:0 den Klassenerhalt klar. Schlimmer noch: Dortmund gewinnt seine Spiele, übernimmt die Tabellenführung. Zwar schlägt Leverkusen am letzten Spieltag Hertha mit 2:1. Durch Dortmunds Sieg über Bremen (2:1) ist das nur Makulatur, der BVB wird Meister. Mit dieser Hypothek geht Leverkusen sieben Tage später in das DFB-Pokalfinale, Ballack angeschlagen. Bayer geht zwar in Führung. Mit Seitenwechsel nimmt Schalke Fahrt auf, bezwingt Butt viermal. Kirstens Treffer kurz vor Schluss ist nur noch Ergebniskosmetik. Leverkusen verliert 2:4.

Am 15. Mai 2002 macht Ballack in Glasgow sein (zunächst) letztes Spiel für Leverkusen. Nur vier Tage nach dem verlorenen DFB-Pokalfinale geht es um die nächste Trophäe. Ballacks Fuß ist aufgrund des Einsatz vom Samstag geschwollen. Doch wer irgends laufen kann, spielt auch ein Champions League-Finale. Der Werkself steht niemand geringeres gegenüber als Real Madrid. Zu dieser Zeit firmieren die Königlichen als die Galaktischen. Präsident Florentino Perez machte es sich zur Aufgabe, die besten Spieler der Welt nach Madrid zu holen. Koste es, was es wolle. Die Mannschaft hatte bereits 1998 und 2000 die CL gewonnen. Der Kader ist mit großen Spielern wie Fernando Hierro, Roberto Carlos, Claude Makelele oder Raul bereits bestens besetzt. Perez fügte ihr Luis Figo und Zinedine Zidane hinzu, später Ronaldo und David Beckham. Auf dem Papier war Real eine Übermacht. So geht Madrid bereits nach acht Minuten in Führung, Raul war Lucio entwischt. Doch Leverkusen ergibt sich nicht dem Schicksal, sondern hält dagegen. Ballack fordert die Bälle, ist überall zu finden. Nach einer Viertelstunde holt er auf der Außenbahn einen Freistoß heraus. Die anschließende Hereingabe verwandelt Lucio mustergültig zum 1:1. Bayer spielt schnell und direkt, der Stil ist ausgefeilt. Eine Halbzeit kann Leverkusen mehr als nur mithalten. Die Arbeitsteilung im Mittelfeld stimmt: Ramelow erobert die Bälle, Ballack schleppt und verteilt, Bastürk zaubert. Kurz vor dem Pausenpfiff zeigt Zidane, warum er mit 150 Millionen DM der teuerste Spieler der Welt, das Prunkstück der Galaktischen ist. Mit einem Geniestreich stellt er die Partie auf den Kopf. Auf links gewinnt Roberto Carlos ein Laufduell mit Sebescen, schnalzt den Ball zurück auf Höhe des Strafraums. Zidane ist ungedeckt, Zivkovic kommt zu spät aus der Kette, Ballack aus dem Mittelfeld. Zizou nimmt den Ball volley mit links, zieht ihn aus 16 Metern ins Kreuzeck.

Die weitere Partie wird eine Demonstration des dreimaligen Weltfußballers. Zidane gibt in Halbzeit zwei den Ton an, lässt Bayer am ausgestreckten Arm verhungern. Leverkusen kommt zwar noch zu Chancen, allein ein erneuter Ausgleich gelingt nicht. So gewinnt Real gewinnt den dritten CL-Titel in fünf Jahren. Leverkusen „verspielt“ den dritten Titel innerhalb weniger Wochen, erntet den Spitznamen „Vizekusen“. Dennoch: Bayer unterlag in einem großen Spiel einer großen Mannschaft. Die Art der Niederlage, die Art Fußball zu spielen bringen auch Sympathien. Die Saison als Ganzes war erfolgreich, auch wenn ihr die Krönung verwehrt blieb. Klaus Toppmöller wird Deutschlands Trainer des Jahres 2002. Ballack wird ins UEFA Team des Jahres gewählt.[15] Sechs Spieler der Mannschaft landen in Bayers Jahrhundertelf.[16]

Rainer Calmund würde später einmal sinngemäß sagen, er wird lieber fünf Jahre Vizemeister und spielt regelmäßig Champions League, als einmal Meister zu werden und dann abzusacken. Leverkusen verband beide Szenarien. Das Fenster, um Titel zu gewinnen war schmal. Wie so häufig für nationale Herausforderer der Bayern schloss es nach wenigen Jahren. In kurzer Folge wechselten Robert Kovac (’01), Zé Roberto (’02), Michael Ballack (’02) und später Lucio (’04) von Leverkusen nach München. Hinzu kommen schwere Verletzungen u.a. bei Nowotny und Sebescen, sodass Leverkusen in der Folgesaison nur knapp dem Abstieg entgeht und am Ende auf Platz 15 landet.

Japan/Südkorea

Ballacks Saison 2002 war damit noch nicht vorbei. Nach 50 Saisonspielen für Leverkusen reist er mit der Nationalmannschaft nach Japan und Südkorea zur Weltmeisterschaft. Dass dort noch viele Saisonspiele hinzukommen würden, dachten nach der desaströsen EM 2000 wohl die Wenigsten. Allein die Kadernominierung sorgte – naturgemäß – für Diskussionen. Teamchef Rudi Völler hatte eigentlich kaum Auswahl, ließ dennoch mit Martin Max den Torschützenkönig der Bundesliga daheim. Stattdessen fuhr Carsten Jancker mit, dem in 18 Saisonspielen für Bayern kein Treffer gelang.

Einigermaßen souverän, wenn auch nicht schön, überstand man die Gruppenphase. Saudi Arabien war im ersten Gruppenspiel der beste Aufwärmgegner. Miroslav Klose erzielt drei Tore beim 8:0-Kantersieg. Auch Carsten Jancker trifft. Das hohe Ergebnis trügt über die fußballerische Klasse. In den weiteren Spielen werden die spielerischen Defizite offensichtlich. Im zweiten Spiel leisten die Iren mehr Gegenwehr. Zwar geht Deutschland nach knapp zwanzig ordentlichen Minuten in Führung, wieder durch Klose. In der Folge lässt man sich jedoch immer weiter zurückdrängen, dass Irland schließlich in der Schlussminute noch zum Ausgleich kommt. Im letzten Gruppenspiel gegen Kamerun geht es für beide Mannschaften ums Weiterkommen. Dementsprechend ruppig wird es auf dem Platz. Schiedsrichter Lopez Nieto verwarnt insgesamt 14 Spieler, verweist zwei des Platzes. Bode und Klose sorgen auf Seiten Deutschlands für Jubel und den 2:0-Sieg. Kleine Rache für den Leverkusener Block in der Nationalmannschaft: Sowohl Titelverteidiger Frankreich rund um Zidane als auch Portugal mit Figo scheiden in der Vorrunde aus.

Völler hatte in der Vorrunde dreimal mit der gleichen Startelf begonnen, musste aber zum Achtelfinale nach der Kartenflut notgedrungen wechseln: Rehmer, Bode und Jeremies kamen für die gesperrten Hamann, Ziege und Ramelow. Neuville ersetzte zudem Jancker. Ballack hatte aufgrund von Wadenproblemen mit dem Training aussetzen müssen, konnte aber gegen Paraguay auflaufen.[17] Viel hätte er nicht verpasst. Beide Mannschaften agieren passiv, zuweilen müde. Auch Ballack schleppt sich durch die Partie, kann keine klare Linie ins Spiel bringen. Die besseren Chancen hat eher noch Paraguay, Kahn ist der Rückhalt. Als „typisch Deutsch“ beschreibt der große Cesare Maldini, Trainer der Paraguayer, dann das Weiterkommen der DFB-Auswahl. Bernd Schneider war die rechte Außenlinie durchmarschiert, flankte in die Mitte, wo sein Leverkusener Teamkollege Oliver Neuville aus kurzer Distanz vollendete; in der 88. Minute. Auch Teamchef Völler zeigte sich kritisch nach dem Spiel: „Wir haben in der ersten Halbzeit schlecht Fußball gespielt, eigentlich haben wir gar keinen Fußball gespielt.“[18]

Im Viertelfinale gegen die USA wird es wenig besser. Kehl hatte sich nach seiner Einwechslung im Achtelfinale festgespielt, sodass von den zuvor Gesperrten nur Hamann und Ziege zurück ins Team kamen. Auch Neuville wurde mit einer erneuten Startaufstellung belohnt. Die USA bestimmen das Spiel, verbuchen gleich zu Beginn mehrere Großchancen. Kahn klärt unter Bedrängnis. Erneut ist Deutschland zu passiv, kommt offensiv nur über Standards zur Geltung. Bezeichnenderweise fällt das 1:0 durch einen Freistoß. Ziege bringt ihn aus dem rechten Rückraum, Ballack verwandelt per Kopf (39′). Die Führung brachte kaum Sicherheit. Ein ums andere mal ließ sich die Hintermannschaft mit simplen Kombinationen aushebeln. Doch das späte Gegentor wie noch gegen Irland bleibt aus. Die Gazetto dello Sport titelt nach dem Spiel „Kahn bewirkt Wunder“.

Zurück auf Anfang: Seoul, Austragungsort des Eröffnungsspiels, sieht auch das Halbfinale zwischen Gastgeber Südkorea und Deutschland. Und den bis dahin besten Auftritt der deutschen Elf. Gleich von Beginn gibt die Truppe um Ballack den Ton an, wieder mit Ramelow statt Kehl. Zwar gescholten für seine bisherigen Auftritte, machte er nun auf der ungewohnten Abwehrposition eine gute Partie. Zumindest bis zur 71. Minute: Bei einem Konter der Koreaner geht Ramelow nicht entschieden genug in den Zweikampf, Ballack muss ausbügeln, sieht Gelb. Es ist die dritte im laufenden Wettbewerb, was eine Sperre für das nächste Spiel – das Finale – nach sich zieht. Doch dort sind die Deutschen noch nicht. Das Mittelfeld mit Ballack und Hamann harmonierte und dominierte das Spiel, das Chancenplus konnten sie aber noch nicht vergolden. Zumindest bis zur 75. Minute: Neuville treibt den Ball auf dem rechten Flügel tief in die gegnerische Hälfte, flankt blind in den Strafraum. Dort lauert Bierhoff, reagiert auf den kommenden Ball zu langsam. Aus dem Mittelfeld spurtet Ballack heran, nimmt den Ball aus dem Lauf mit rechts, trifft Torwart Lee. Der Abpraller landet wieder bei ihm. Dieses mal verwandelt er mit links zum 1:0-Siegtreffer, schießt die Deutschen damit ins Finale.

Epilog

„Einen Spieler der Klasse Ballack können wir nicht adäquat ersetzen, das trifft uns jetzt ganz brutal.“

~ DFB-Trainer Rudi Völler über Ballacks Sperre im Finale [1]

Es ist ein interessantes „Was wäre, wenn…?“-Szenario der deutschen Fußballgeschichte: Hätte die Nationalmannschaft gegen Brasilien im Finale gewonnen, wenn Michael Ballack dabei gewesen wäre? In der Erinnerung bleibt, wie Kahn Rivaldos Schuss nach vorne prallen lässt und Ronaldo abstaubt. Die Stunde zuvor hatte Deutschland stark gespielt, besser gestaltet, als man es ihr nach den bisherigen Auftritten zugetraut hätte. Bis zum Finale hatte Deutschland gegen mäßige Kontrahenten biedere Leistungen gezeigt. Die mannschaftliche Geschlossenheit glich die spielerischen Limitationen aus. Die individuelle Qualität von Kahn und Ballack sicherte das Weiterkommen. Brasilien war der stärkste Gegner und die deutsche Elf machte ihr bestes Spiel. Hamann und Jeremies – für den gesperrten Ballack – hielten im Mittelfeld die starken Kleberson und Ronaldinho zeitweise in Schach, entwickelten jedoch kaum Torgefahr. Neuville hatte die Führung auf dem Fuß bzw. Kopf. Ballack muss von außen mitansehen, wie Ronaldo Turniertreffer sieben und acht markiert. Brasilien gewinnt 2:0, wird zum fünften mal Weltmeister. „Brasilien [war] bei diesem Turnier die beste Mannschaft und ist deshalb auch verdient Weltmeister“, so Völler nach dem Spiel. Kahn, Ballack und Klose werden ins All-Star-Team des Turniers gewählt, Ballack außerdem zu Deutschlands Fußballer des Jahres 2002. Seine Kritiker ließ das nicht verstummen.

„Ein Weltstar ist er längst noch nicht. Er braucht noch eine Zeit, um so groß zu sein, wie er jetzt in den Medien dargestellt wird. Die ganz großen Spieler haben nämlich große Titel geholt, und daran muss er noch arbeiten.“

~ Otto Rehhagel nach Ballacks Auszeichnung zum Fußballer des Jahres 2002 [3]

In weiteren Teilen: Die Chelsea-Jahre und Michael Ballacks Abschied aus der Nationalmannschaft.

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei aquafisch für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von aquafisch gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-NC 2.0

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