Gesänge, Blockfahnen, Spruchbänder und Doppelhalter – seit jeher gehören diese und noch einige weitere Utensilien fest zur Fankultur in deutschen Stadien. Meist kreativ, manchmal daneben, häufig lustig, eigentlich immer auf den Punkt, mitunter aber auch recht deutlich unter der Gürtellinie, werden sie nicht nur als Stilmittel zur Unterstützung der eigenen Mannschaft, sondern auch als Ausdrucksform der aktiven Fanszene gegenüber sportlichen Gegnern, dem eigenen Verein oder dem Deutschen Fußball-Bund genutzt. Immer häufiger werden allerdings die Medienberichte davon bestimmt, dass der DFB eben diese Form der Meinungsäußerung mit Geldstrafen sanktioniert. Von “Schmähgesängen” ist dann die Rede, oder von Diffamierung und unsportlichem Verhalten, sodass sich dem geneigten Beobachter durchaus die Frage aufdrängen kann, wie es eigentlich so bestellt ist mit der Meinungsfreiheit im Stadion. Ein Debattenbeitrag.
(Hinweis: Ergänzend zum Text finden sich am Ende der Seite Auszüge aus der Rechts- und Verfahrensordnung des Deutschen Fußball-Bundes sowie ein Interview mit Dr. Andreas Hüttl, einem Anwalt für Strafrecht aus Hannover)
Autor: Lennart Birth, 120minuten
Der Besuch eines Fußballspiels gehört für tausende Deutsche zu einem normalen Wochenende dazu. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten pilgern regelmäßig in die Stadien; soziale Disparitäten, Sorgen und Nöte sind für die Dauer des Spiels vergessen, der Fußball als Volkssport Nummer eins verbindet uns nachhaltig. Der gemeine Fan fährt zu Heimspielen, lässt sich mit der Familie auf der Gegengerade nieder und verbindet den Besuch im Stadion vielleicht noch mit einem gemeinsamen Mittagessen an der Bratwurstbude. Der „Allesfahrer“ ist jedes Wochenende auf Achse, reist quer durch die Republik seiner Mannschaft und den eigenen Farben hinterher. Er scheut weder Strecke noch Wetter und versucht, so viele Spiele wie möglich live in einer glänzenden Arena oder einem kultigen und zugigen Stadion mitzuerleben. Der betagte Fan schwelgt derweil in Erinnerungen und nimmt kein Blatt vor den Mund, er hat viel erlebt und weiß viel zu erzählen. Und zuletzt der Ultra, er lebt und liebt seinen Verein und investiert Stunden an ehrenamtlicher Arbeit, um den Verein und die Fanszene voranzubringen. Auch er scheut es nicht, den Mund aufzumachen und teilt gegen Gegner, Vorstände, andere Fans oder die Verbände aus.
Auf den ersten Blick könnten die Charaktere, die hier grob gezeichnet wurden, unterschiedlicher nicht sein, wenn man mal von dem offensichtlichen Aspekt absieht, dass es sich bei jeder der stereotypisierten Persönlichkeiten um einen Fußballfan handelt. Eine bedeutende Sache sollte man in der Betrachtung dieser Menschen jedoch nicht außer Acht lassen, zwei große Gemeinsamkeiten weisen alle auf, auch wenn diese im ersten Moment nicht sofort ersichtlich scheinen:
- Eine Stimme, im Sinne der Möglichkeit und Fähigkeit, sich verbal im Stadion zu äußern und zu kritisieren, zu loben oder zu appellieren und sich somit lautstark oder leise in das Geschehen neben dem Fußballplatz einzumischen und mit anderen Stadionbesuchern zu interagieren und zu kommunizieren.
- Eine freie Meinung, die laut Artikel fünf unseres Grundgesetzes jedem zusteht und die man jederzeit kundtun kann, ohne Konsequenzen für Leib und Leben fürchten zu müssen.
Artikel 5 (1) GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“
Der Stadionbesucher oder auch die Stadionbesucherin, egal, welcher der oben angeführten Kategorien nun angehörig, hat das Recht, rund um das Geschehen auf dem Platz die eigene Meinung zu äußern und diese verbal oder schriftlich, zum Beispiel in Form eines Banners oder Spruchbandes, zu kommunizieren. In der Theorie hat er oder sie keine Konsequenzen zu befürchten; das Gesagte, Gerufene oder Geschimpfte bleibt nach Abpfiff im sich leerenden Rund zurück. Die üble Beleidigung, die vor wenigen Minuten noch Gegenspieler oder Schiedsrichter zugerufen wurde, ist schnell vergessen.
Und in der Praxis? Da ist das alles nicht ganz so einfach, denn das Recht eines jeden Fans auf freie Meinungsäußerung besteht zwar faktisch, nur leider nicht, ohne dass diese von einer Instanz kontrolliert und eingeschränkt wird. Die Rede ist vom Deutschen Fußball-Bund (DFB), der in den letzten Jahren zu wachsender Besorgnis von Fans, Fangruppen und Fanhilfen systematisch damit begonnen hat, ebenjenes eigentlich unveräußerliche Grundrecht im Stadion massiv einzuschränken. Der Trend geht hin zur absoluten Kontrolle, zur Abschaffung des Meinungspluralismus rund um den Ballsport und zu einem Fußballereignis, in dem aneckende Kritik immer mehr an Einfluss zu verlieren droht.
„Ein düsteres Bild“, mag sich der Leser dieser Zeilen jetzt denken und dabei den Verdacht äußern, der Autor nähere sich der Problematik auf einer einseitigen und sturen Ebene mit einer festgesetzten Haltung, die weder von Vernunft noch Verstand beeinflussbar ist. Doch so ist es nicht, ich versuche, mich dem Thema so differenziert wie möglich zu nähern und dabei eine kontroverse Debatte anzustoßen, die Fans und Funktionäre gleichermaßen anregen soll, das Geschehen in den deutschen Stadien kritisch zu hinterfragen und hinter die Kulissen zu schauen. Die Frage, die sich durch diesen Debattenbeitrag ziehen soll: Wie ist es um unsere Meinungsfreiheit im Stadion bestellt?
Beginnen sollte man etwas theoretisch, denn erst einmal sollte sich der Leser im Klaren darüber sein, was denn unter einer Meinungsäußerung rund um ein Spiel zu verstehen ist und welche Akteure dabei eine wichtige Rolle spielen. Es gibt eine Vielzahl an Wegen, seine Haltung zu einem bestimmten Thema, ob nun sportlich, gesellschaftlich oder politisch, im Stadion kundzutun.
Die wohl offensichtlichste dieser sich bietenden Möglichkeiten ist der Gesang.
In verschiedenen Liedern, Hymnen oder anderen fußballspezifischen Textmelodien können einzelne Fans oder ganze Fangruppen ein lautstarkes Sprachrohr nutzen, um ihre Meinung mit den anderen Besuchern im Stadion, Spielern, aber auch den Menschen an den Fernsehern zu teilen. Der wohl üblichste Fangesang ist dieser, in dem die eigene Mannschaft vorangetrieben und motiviert wird, um einen positiven Einfluss auf das Spielgeschehen zu nehmen. Er ist durch keinerlei Zensur gekennzeichnet und soll deswegen einmal außen vor gelassen werden. Problematischer wird es, wenn der verbale Ausdruck dazu genutzt wird, andere zu beleidigen oder zu attackieren. Gegenspieler oder gegnerische Fans, jeder bekommt im Stadion wohl mal sein Fett weg und manche dieser Schmähgesänge sind einfach nur trauriges Indiz dafür, wie ignorant und intolerant einige Fußballfans teilweise auftreten. Klar ist, dass insbesondere geschmacklose Schmähgesänge, in denen gezielt Minderheiten diffamiert werden („Jude“, „Zigeuner“), nichts auf den Traversen unserer Fußballstadien zu suchen haben, denn mit unserer Meinungsfreiheit sind diese Hassbotschaften garantiert nicht vereinbar. Regelmäßig werden jedoch auch Gesänge im Stadion durch den Deutschen Fußball-Bund bestraft, die fälschlich in diese Kategorie eingeordnet werden. Hierbei verbietet sich jedoch nicht, die Verbandsurteile kritisch zu hinterfragen: Begriffe wie „Arschloch“ oder „blinde Sau“ fallen keinesfalls in das Subgenre Schmähkritik und sind wohl in Anbetracht der oft erhitzten Gemüter auf Platz und Rang irgendwie verständlich und entschuldbar. Trotzdem werden sie immer wieder mit vorher genannten Schmähungen gleichgesetzt. Ist dies sinnvoll? Nein, denn es muss klar zwischen offenem Antisemitismus, offener Islamfeindlichkeit oder jeder anderen Form der rassistischen Äußerung und den anderen Gesängen unterschieden werden. Diese mögen teilweise sicherlich den einen oder anderen verbal provozieren, sind jedoch keinesfalls mit Hasstexten gleichzusetzen. Für solche Liedtext-Einordnungen ist Weitsicht notwendig, die leider nicht immer vom Deutschen Fußball-Bund an den Tag gelegt wird.
Der 1. FC Köln, bekannt für seine lautstarken und kreativen Fans, musste 2017 diese leidliche Erfahrung machen. Die kritische Auseinandersetzung mit Dietmar Hopp, Mäzen der TSG 1899 Hoffenheim, sorgte bei dem Verein aus Sinsheim für Entrüstung, eine DFB-Strafe droht. Die Kölner Fans haben schon eine Weile vorher die Konsequenzen „beleidigender Gesänge“ erfahren müssen und befürchten nun, dass sich die Sanktionierung dieser Fälle in Zukunft häufen wird. Damals ließ die Reaktion aus dem DFB-Hauptquartier nicht lange auf sich warten, ein Vorfall wurde zusammen mit anderen Vergehen satt bestraft, eine Rechnung in Höhe von 34.000€ flatterte in den Kölner Briefkasten. Auffällig dabei ist, wie fehlende Transparenz von Seiten des DFB dafür sorgt, dass man keine genauen Aussagen dazu treffen kann, mit welchem Anteil am gesamten Strafgeld „beleidigenden Gesänge“ zu Buche schlagen. Dass der DFB enormen Druck auf die Vereine auszuüben scheint, die sich lieber von den eigenen Fans distanzieren, um etwaige Strafen abzumildern, anstatt sich ebenfalls kritisch mit Problemen auseinanderzusetzen, ist auch ein erheblicher Faktor für das sorgenvolle Stirnrunzeln bei den Anhängern des Clubs vom Rhein. Mittlerweile fordert der Verein sogar, dass sich Verantwortliche für Choreografien melden müssen und bei DFB-Strafen die Haftung übernehmen.
„Wie solche Urteile zustande kommen, lässt sich dabei nur erahnen. Es gibt weder eine transparente Definition, welche konkreten Tatbestände zu einer Sanktionierung führen noch wonach sich die Höhe der Strafe bemisst. Dass die Akzeptanz eines solchen Urteils dazu dient, einer Verurteilung in anderen Sachverhalten zu entgehen, kann nur noch als Klüngelei bezeichnet werden. Wäre die Tatsache allein, dass beleidigende Gesänge oder Spruchbänder durch eine Instanz wie den DFB bestraft werden, nicht schon absurd genug, spätestens der Prozess der Sanktionierung ist inakzeptabel. Es werden in diesem Zusammenhang weder gefährliche oder sachbeschädigende Aktionen, sondern Inhalte sanktioniert. In anderen Fällen wurden Vereine bereits für Doppelhalter („Scheiss Red Bull“ [Chemnitzer FC, Anmerkung der Redaktion]) oder Spruchbänder („Alles aus Frankfurt ist scheiße“) ihrer Fans zu Strafen verurteilt. Der DFB versucht auf diese Weise, die Meinungsfreiheit der Zuschauer im Stadien massiv einzuschränken. […] Diesen Versuchen der Zensur muss entschieden entgegen getreten werden. Deutlich zeigt sich auch, dass es bei den Urteilen schon lange nicht mehr um die Sicherheit in den Stadien geht.“
Südkurve Köln e.V. in einer Stellungnahme
Auch andere Vereine wurden schon für das vage definierte Vergehen des „beleidigenden Gesanges“ zur Kasse gebeten. Oft werden die Gesänge im gleichen Zusammenhang mit anderen Vorfällen sanktioniert. Eine DFB-Strafe zum Thema Meinungsäußerung summiert sich somit meistens mit weiteren Vergehen, wie der Nutzung von Pyrotechnik – Fans und Medien ist es folglich kaum möglich, den Durchblick zu behalten, was genau mit wie viel Euro bestraft wurde.
„Zudem stimmten Hannoveraner Zuschauer mehrmals beleidigende Gesänge an.“
DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 48.000€ Strafgeld für Hannover 96
„Darüber hinaus skandierten Dortmunder Zuschauer während des Bundesligaspiels bei der TSG 1899 Hoffenheim am 16. Dezember 2016 mehrmals Schmähgesänge.“
DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 100.000€ Strafgeld und der Sperrung der Südtribüne für Borussia Dortmund
Eine weitere Kategorie des Gesanges ist besonders in der Ultrabewegung sehr beliebt und erfreut sich einer regelmäßigen Verwendung: gesungene Kritik gegenüber den meist verhassten Fußballverbänden und ihren Funktionären. „Schweine-DFB“ oder auch „Schieber“ hallt es regelmäßig durch die Kurven der Republik, kritisiert werden Strafen gegenüber dem Verein oder auch strittige Entscheidungen des vom Verband eingesetzten Schiedsrichtergespanns. Wie ist mit solcher verbalen Kritik umzugehen? Sie fällt eindeutig in den Bereich der Meinungsfreiheit, sofern auf eine konstruktive Art und Weise geäußert, und ist meist nicht gegen einzelne Personen, sondern eher das große Ganze, also den Verband und seinen Funktionärsapparat gerichtet und kann somit in der Regel nicht als Angriff auf einzelne Personen verstanden werden. Trotzdem lässt es sich hier in Deutschland insbesondere der DFB nicht nehmen, kritische Töne gegen die eigene Institution zu sanktionieren und dabei das Recht der freien Meinungsäußerung einzuschränken.
Würde man dieses fragwürdige Rechtssystem auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen, würden wohl bei vielen Journalisten hohe Abmahnungen wegen angeblicher Diffamierung der Staatsgewalten in die Postkästen flattern, denn Kritik wäre unerwünscht. In einer Demokratie unvorstellbar, im Fußball für Fans und Vereine jedoch traurige Realität. Womit wir schon beim nächsten Punkt angelangt wären, denn Kritik wird im Stadion nicht nur verbal geäußert, sondern häufig auch in schriftlicher Form geübt. Besonders Banner und Spruchbänder sind ein beliebtes Mittel, um sich gegenüber gegnerischen Vereinen, Fans oder den Verbänden zu positionieren. Darüber hinaus nutzen viele Fanszenen den schriftlichen Weg, um Kritik in einem konstruktiven und sachlichen Maß anzubringen und versuchen dabei, Debatten über bestimmte Probleme anzustoßen.
Ein gutes Beispiel liefert der 1. FC Magdeburg. Nach einer hohen Strafe von 40.000€ für verschiedene Vergehen reagierten Teile der Fanszene des Drittligisten und zeigten am 13.02.2016 eine Reihe von Spruchbändern, die das Strafmaß und den Umgang des DFB mit Fanszenen kritisierten.
Die Fans legten dabei den Finger in eine Wunde. Der DFB stand zum damaligen Zeitpunkt selbst wegen der WM-Vergabe in der Kritik und hatte mit negativen Schlagzeilen zu kämpfen. Trotzdem nahm es sich der Verband nicht, über Fans zu urteilen und sich trotz des eigenen Fehlverhaltens zum gerechten Richter und Wahrer der Sportlichkeit zu stilisieren, Ergebnis bekannt. Doch anstatt es dabei zu belassen und die durchaus berechtigte Kritik zu akzeptieren, konnte es der Verband nicht lassen und musste unbedingt nachtreten, um es in einer gewissen Sportmetaphorik auszudrücken. In einem weiteren Urteil (4.000€) prangerte der DFB die Banner an und sanktionierte die geübte Kritik.
„Vor dem Meisterschaftsspiel gegen den SC Fortuna Köln am 13. Februar 2016 wurden im Magdeburger Zuschauerblock drei Banner mit verunglimpfenden Aufschriften gezeigt.“
DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 4.000€ Strafe für den 1. FC Magdeburg
Der Duden definiert den Begriff „verunglimpfen“ als „schmähen, beleidigen; mit Worten herabsetzen; diffamieren, verächtlich machen“, aber ist dies in obigem Beispiel tatsächlich gegeben? Nein, denn die Banner sind nicht beleidigend, sondern kritisieren lediglich die Verbandsgerichtsbarkeit des Deutschen Fußball-Bundes im Zusammenhang mit der WM-Vergabe 2006, die unter dubiosen Umständen erfolgt sein soll. Offensichtlich versucht der Verband, medienwirksame Kritik an der eigenen Institution zu bestrafen und einzuschränken. Ein Bruch mit der Meinungsfreiheit?
„[…] Mit welchem Recht will der DFB oder die DFL einem Klub untersagen, sich politisch zu äußern? Mit welchem Recht kann jemand sagen: Hier im Stadion dürfen bestimmte Plakate nicht aufgehängt werden? Es ist offensichtlich, dass dies nur aus Eigenschutz geschieht, um die wirtschaftliche Ausbeutung nicht zu gefährden. […]“
Ewald Lienen (Trainer des FC St. Pauli) gegenüber der FAZ
Im Frühjahr 2017 sorgte das Aufeinandertreffen von Borussia Dortmund und RasenBallsport Leipzig, einem Verein, der in wenigen Jahren dank Red Bull-Millionen in die Bundesliga katapultiert wurde, im Dortmunder „Signal Iduna Park“ für reichlich Gesprächs- und Zündstoff. Nachdem schon zahlreiche Fanszenen Kritik am Verein aus der Messestadt geübt hatten, trieben Dortmunder Anhänger auf der Südtribüne die Auseinandersetzung auf ein neues Niveau. Dutzende Spruchbänder dienten den Fans und Verfechtern des Traditionsfußballs dazu, ihre Kritik am Konstrukt aus Sachsen zu kanalisieren. Der Verband reagierte: neben einer hohen Geldstrafe von 100.000€ sperrte der Deutsche Fußball-Bund die Südtribüne für das folgende Ligaheimspiel und sprach somit eine Kollektivstrafe aus. Ein Urteil, das zeigt, wie sehr die Meinungsfreiheit im Stadion in Gefahr ist. In Anbetracht durchaus makabrer Statements (zum Beispiel „Burnout Ralle: Häng dich auf“) mag eine solche Konsequenz erst einmal plausibel und gerechtfertigt erscheinen und ja, einige der gezeigten Spruchbänder gingen eindeutig zu weit. Trotzdem möchte ich darauf verweisen, dass der DFB auch in diesem augenscheinlich klaren Fall die falschen Schlüsse gezogen hat. Statt es bei der Geldstrafe für Borussia Dortmund zu belassen, beschloss der Fußball-Bund, alle Fans, die auf der Südtribüne ihre Mannschaft unterstützten, unter Generalverdacht zu stellen. Ergebnis: die größte Stehplatztribüne Europas wurde in der Ligapartie gegen den VfL Wolfsburg geschlossen und somit eine Kollektivstrafe verhängt. Ein falsches Zeichen, das auch unbeteiligte Fans und harmlose Plakate zu Unrecht bestrafte (zum Beispiel „Geboren auf Vorstadtwiesen mit nem Traum, nicht aus Geldgier in nem Vorstandsraum“). Wieder also ein Schritt in die falsche Richtung und ein Akt der Verzweiflung ob der Machtlosigkeit gegenüber den kritischen Stimmen aus den Fanblöcken der Republik.
“Eine derartige Verunglimpfung und Diffamierung von einzelnen Personen und Vereinen durch Transparente und Schmähgesänge ist nicht hinnehmbar und muss konsequent sanktioniert werden. Dasselbe gilt auch für den Einsatz von Pyrotechnik. In beiden Punkten gab es gravierendes Fehlverhalten von Teilen der Dortmunder Zuschauer, das ein massiveres Eingreifen der DFB-Organe erfordert.”
Dr. Anton Nachreiner, Vorsitzender des DFB-Kontrollausschusses (Quelle: Focus Online)
Der Aussage von Seiten des DFB könnte man nun folgendes Zitat entgegen halten und dabei die freundliche Bitte anfügen, der Verband möchte doch erst einmal vor der eigenen Tür kehren, wie es so schön heißt, bevor derlei Pauschalverurteilungen getätigt werden.
„Ein Verband, der weder ein Interesse daran hat seine eigenen Verwicklungen in Schwarz- und Schmiergeldaffären aufzudecken, den Vorwürfen von Wettbetrug und Doping systematisch nachzugehen und ein mafiöses System wie das der FIFA mitträgt und unterstützt, schwingt sich zum Kläger und Richter über Fans und Vereine in Personalunion auf. Diesem Gebaren muss endlich Einhalt geboten sein. Das willkürliche Vorgehen der Verbandsfunktionäre schädigt diesen Sport nachhaltig.“
Südkurve Köln e.V. in einer Stellungnahme
Auch Braunschweiger Fans wurden für ein Transparent verurteilt, in dem sie RB Leipzig kritisierten. 3.000€ Strafe, die wohl auch bei der Polizei Braunschweig mit zufriedenem Nicken zur Kenntnis genommen wurden. „Scheiss Bullen“, so argumentierte man bei der Staatsgewalt zuvor, sei schließlich an die Beamten gerichtet; auch dass die Farbgebung des Banners eher an den Verein aus Leipzig erinnerte, wollte man nicht einsehen. Inwiefern diese verhältnismäßig harmlose Aussage nun Grenzen der Meinungsfreiheit überschritt, ist unklar und wird wohl auch immer unklar bleiben.
Beispiele wie diese lassen sich schier endlos fortsetzen und zeigen: der DFB bemüht sich, aus dem Ereignis Fußballspiel ein bestmöglich zu vermarktendes Produkt zu schaffen. Alles, was dem sauberen Image des Volkssports schaden könnte, soll aus den Stadien verbannt werden. Schmähgesänge und Kritik am Verband oder seinen Entscheidungen gehören ebenso dazu, wie politische Statements von Fans. Weiterhin ist man in der Frankfurter Zentrale darum bemüht, die Kontrolle über die Stadionbesucher zu behalten, welche Missstände häufig in einem öffentlichkeitswirksamen Maß anzuprangern wissen. Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Reaktionen der Verbandsfunktionäre noch mit unserem Grundgesetz und dem darin verankerten Recht auf Meinungsfreiheit vereinbar sind. Ist es wirklich gerecht, den Vereinen Unsummen an Geld dafür abzuknöpfen, dass einige Fans den Mut besessen haben, den DFB anzuprangern? Ist es wirklich gerechtfertigt, für Beleidigungen Einzelner Kollektivstrafen auszusprechen? Oder steckt dahinter einfach der ökonomische Gedanke einer zuverlässigen und nie versiegenden Geldquelle? Die letzte Frage muss der Leser wohl für sich selbst beantworten.
Was bleibt, ist die Sorge, dass diese Kontrolle und Einschränkungen in den kommenden Jahren weiter wachsen und die freie Meinungsäußerung im Stadion stetig eingeengt werden wird. Ein Erfolgsrezept gegen diese Entwicklungen ist schwer zu liefern, doch eines sollten Fans aller Vereine tun: weitermachen. Weiter kritisieren, weiter anecken und weiter den Finger in die Wunde legen. Denn nur so bleibt uns der Meinungspluralismus im Stadion auf Dauer erhalten. Und das ist etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Weiterlesen:
- „Wie DFB-Strafen und Regressforderungen die Fankultur bedrohen“ |
effzeh.com - „(DFB-)Staat im Staate?“ | Faszination Fankurve
- Rechts- und Verfahrensordnung des DFB (PDF) | Deutscher Fußball-Bund
- „BGH Urteil: Krawallmacher haften für Strafen der Fußballvereine“ | Frankfurter Allgemeine Zeitung
- „Etwas ist faul im Staate DFB“ | Transparent-Magazin
- „Das wird man doch wohl noch zeigen dürfen!“ | Junge Wissenschaft im öffentlichen Recht
- “Die Fans wenden sich ab” | 11Freunde
Bildrechte
Sämtliche Rechte an den Fotografien liegen bei den angeführten Bildrechteinhabern.
Die Verwendung der im Text eingebauten Bilder geschah mit ausdrücklicher Genehmigung der betreffenden Personen bzw. Institutionen, wofür wir uns herzlich bedanken möchten!
Beitragsbild: “Fans im Visier” / SurfGuard via Flickr | CC-BY-NC-SA 2.0
Diesen Artikel sollte der Justizminister auf den Tisch bekommen…vllt. öffnet sich dann sein verklebtes Auge, das seit Jahren blind ist für die Machenschaften der DFB-Riege! Kein Verein in Deutschland steht über dem Gesetz, sie bestehen auf Grund unserer Gesetze!
1. Zur Grundfrage: nein. Meinungsfreiheit mag ein hohes Gut und wirksames Schlagwort sein, ist in diesen Fällen aber überhaupt nicht berührt. Letztendlich sind Fußballspiele, trotz aller Öffentlichkeit, private Veranstaltungen, bei denen ein Hausrecht gilt.
2. Darf der DFB das? Scheinbar hat der DFB irgendwo zwischen Lizenzvergabe, Fernsehgeldern und gemeinsamem Marketing ausreichend Hebel, um Vereine sanktionieren zu können. Das wird irgendwo vertraglich geregelt sein und abgesehen von der Monopolstellung des DFB sehe ich da erst mal nichts, was direkt dagegen spricht (ich will jetzt auch nicht auf das juristische eingehen). Offensichtlich ist, der DFB kann es, immerhin fügen sich die Vereine (inklusive einer AG, deren Aktionäre ein verbrieftes Recht darauf haben, dass ihre Geldanlage gesichert wird) ja auch klaglos.
Die Strafhöhen würde ich mal außen vor lassen, aber recht offensichtlich orientieren die sich auch daran, wie zahlungskräftig der Verein ist, auch andere Faktoren wie Schwere des Vergehens und Anzahl der Wiederholungen lassen sich durchaus erkennen. Das ist vielleicht nicht vollkommen transparent, aber ist von der Idee her nichts, was ein ordentliches Gericht anders tut (vgl. Tagessätze).
Ich verstehe, dass man da Willkür unterstellen kann, immerhin kann ich auch nicht alle Entscheidungen nachvollziehen (zB zahlen manche Spieler 10000€ nach einer roten Karte, andere nicht, aber das System dahinter erschließt sich mir nicht). Aber offensichtlich ist der Hebel des DFB groß genug, um auch damit durchzukommen.
2a. Welches Ziel verfolgt der DFB? Diese Frage ist im Artikel vollkommen ausgeklammert, dabei ist sie ja eigentlich essentiell. Immerhin ist eine recht klare Linie zu erkennen: es gibt keinen Bußgeldkatalog für bestimmte Begriffe, sondern es geht auch um die Augenhöhe. Wenn sich rivalisierende Fanlager im Derby gesanglich anfeinden, dann wird das erst mal so weit toleriert. Daher wohl auch ein gewisser Gewöhnungseffekt.
Damit ist aber nicht zu vergleichen, wenn einzelne Vereine oder gar einzelne Personen von mehreren Fanlagern angefeindet werden. Die im Artikel geäußerte Unverständnis über dieses Vorgehen kann ich also nicht ganz nachvollziehen. Letztendlich will der DFB Frieden stiften – ob sie dafür geeignet sind oder geeignete Mittel einsetzen, mal außen vor, aber das Ziel ist doch erkenntlich. Damit meine ich auch ausdrücklich den DFB als Institution und nicht einzelne Personen, die sich im Ruhm sonnen und die Taschen vollstopfen.
3. Was ist eigentlich mit “den Fans”? Das ist für mich ganz schwer nachzuvollziehen, da es ein klarer Fall einer “lauten Mehrheit” ist. Die Leute, die Schmähgesänge anstimmen oder beleidigende Plakate malen, sind letztendlich eine ganz kleine Minderheit. Der Rest singt eben mit und weiß im Zweifelsfall gar nicht, was überhaupt auf den Plakaten steht. Ebenso gibt es eine kleine Minderheit, die sich öffentlich eloquent für Fankultur aussprechen, die in der Realität aber eher die Gemäßigten sind.
Die große Mehrheit sind aber ganz normale Leute, die Abschalten wollen, sich für ihre Mannschaft begeistern und so weiter. Die einfach ihre Freunde innerhalb der Gruppe haben, auch mal beim Straßenfest Getränke ausschenken und deren Herz nicht unbedingt daran hängt, sich strinkt von anderen Gruppen abzugrenzen. Die während dem Spiel vielleicht Hurensohn-Lieder mitsingen und auch absolut für das Recht sind, Hurensohn zu singen, aber nach dem Spiel auch problemlos mit dem Kontrahenten ein Bier trinken würden. Die, wegen denen Kollektivstrafen immer ungerecht sind.
Es ist schwierig, da eine einheitliche Meinung rausfiltern. Aber ich stelle mal die gewagte These auf: eine große Mehrheit könnte locker auf alle Schmähgesänge verzichten, die über harmlose oder freundliche Sticheleien hinausgehen. Das scheint mir zumindest deutlich wahrscheinlicher als die Gegenthese, dass eine Mehrheit der Fußballfans die Art Mensch sind, die unbedingt ungestraft Hurensohn-Lieder singen will.
Aber eins sei noch angemerkt: In der Summe kommen die Fans enorm billig weg. Würde die eh schon anwesende Polizei konsequent alle Ordnungswidrigkeiten und Straftaten verfolgen (zB: Vermummung, Beleidigung, Gefährdung durch Böller, geworfene Pyro oder andere Feuer, Körperverletzung und Raub – im Jargon “abziehen” genannt), dann würden sie in der Summe deutlich schlechter dastehen, als aktuell. In gewissem Sinne sind Stadien und das Umfeld von Fußballspielen durchaus eine rechtsfreie Zone.
4. Wer ist eigentlich schuld? Bisher hat jede Partei in meinen Augen zumindest glaubhafte Motive bzw eine nachvollziehbare Dynamik. Mit Ausnahme derer, die noch nicht genannt wurden, nämlich die teilnehmenden Vereine. Fakt ist nunmal, dass sich die Fans verschiedener Vereine gravierend unterschiedlich verhalten. Viele Vereinsvertreter machen es sich da einfach und betrachten das als “Naturgewalt”, auf die sie keinen Einfluss haben. Das halte ich für Unsinn, diese Vereine sind sich nur zu schäbig, anständig in die Betreuung ihrer Fans zu investieren. Gefühlt liegt die durchschnittliche Quote bei 1 Fanbetreuer pro 10000 Stadionbesucher, falls überhaupt. Im Vergleich zu den Umsätzen, die dort gemacht werden, ist das lachhaft, einen so niedrigen Kundendienst gibt es sonst in keiner Branche – und letztendlich zahlen die Fans alles, seit es direkt am Ticketschalter, Fan-Shop oder Pay-TV oder auch indirekt, indem sie die beworbenen Biere, Wetten und Privatkredite konsumieren, sind also auch die alleinigen Kunden.
Genau da, also bei den Vereinen, setzt auch der DFB mit seinen Kollektivstrafen an. Nur leider sind sie dabei so (gelinde gesagt) ungeschickt und wenig vorbildlich, dass sie selbst den Zorn der Fans auf sich ziehen. Natürlich haben die Fans auch eine größere Bindung zum eigenen Vereins als zum DFB, das ist da auch ein Faktor. Aber Vereine, die Strafen an einzelne Fans weitergeben, anstatt sich um die Ursachen zu kümmern, helfen dadurch natürlich auch, das Feindbild beizubehalten.
Was müssten also die Vereine tun? Sich um ihre Fans kümmern und sich wirklich mit ihnen auseinander setzen, Stimmungen erfassen, auch über den Fußball hinausgehende Events veranstalten, den Fans zuhören und ihre Wünsche erfüllen (vielleicht nicht im geschäftlichen Bereich, aber bei Dingen wie zB Trikotfarben), Ansprechpartner anbieten, … Das alles würde die Grundstimmung verbessern und jeder einzelne Verein kann sich da verbessern. Wenn die Fans eine starke Gemeinschaft sind, dann werden auch keine Fan-Blöcke mehr von Randalierern oder Neo-Nazis unterwandert. Dann kann man auch gewisse Dinge wie Pyro erlauben, weil man weiß, dass sie nicht aus dem Ruder laufen. Stattdessen bekommt man permanent Trikots und Scheiß verkauft.
Aber bei den aktuell verhärteten Fronten sind auch die anderen Parteien gefragt. Der DFB muss demütiger und behutsamer auftreten und die Fans einige Feindbilder abbauen (und nicht nur gemeinsam den DFB hassen).
Meinungsfreiheit hin oder her. Das Grundgesetzt gilt für alle – nicht nur für ausgewählte Personen. Die Chaoten mit ihrer Pyrotechnik gehören zwar aus dem Stadion vertrieben. Aber bitte keine Kollektivstrafen mehr! Auch wenn das selbstverständlich viel schwerer ist als z.B. einfach mal die ganze Südribüne in Dortmund zu sperren!