Buchbesprechung: “Damals auf dem Waldsportplatz…”

Wer an das mittelhessische Gießen denkt, einigermaßen sportbegeistert ist und nicht aus der Gegend kommt, dem werden vermutlich zuerst die BBL-Basketballer der Gießen 46ers einfallen. Mit Fußball bringt man die Stadt – zumindest überregional – nicht unbedingt sofort in Verbindung, und das, obwohl mit dem “ewigen Hessenligisten” VfB 1900 ein ausgewiesener Traditionsverein dort beheimatet ist. Man dribbelte nicht nur von 1951 bis 1982 durchgängig in Hessens höchster Spielklasse (der heutigen 5. Liga) auf, sondern maß sich in dieser Zeit im heimischen Waldstadion auch mit Mannschaften wie dem SV Darmstadt 98 oder dem FSV Frankfurt im Punktspielbetrieb. Uwe Bein (1997-1998) schnürte einst für die Mittelhessen die Töppen, ein gewisser Sonny Kittel begann dort seine fußballerische Ausbildung und mit Matthias Hagner stand 2011/2012 sogar ein Ex-Bundesliga-Spieler als Trainer an der Seitenlinie.

Dass es beim VfB 1900 viel um die Vergangenheit geht, kommt nicht von ungefähr, liegen die großen Zeiten doch deutlich hinter dem Club, heißt die Realität heute Verbandsliga und tragen die Gegner Namen wie FV 09 Breidenbach, TUS Dietkirchen oder TSG Wörsdorf. Derzeit ist man dabei, eine neue und deutlich günstigere Mannschaft aufzubauen als die, die 2015/2016 lange um den Aufstieg in die Hessenliga mitspielte. Der Grund: Ein spürbar kleinerer Etat, nachdem in der Winterpause (mal wieder) Gerüchte über finanzielle Probleme die Runde machten, man sich nunmehr auf die gute Jugendarbeit und Spieler aus der Region mit einem hohen Identifikationspotential konzentrieren wolle.

Um die Fußball-Vergangenheit Gießens im Allgemeinen und die Geschichte des VfB 1900 im Speziellen geht es auch in Christian von Bergs 336 Seiten starken und ausgiebig bebilderten Werk “Damals auf dem Waldsportplatz…”, das deutlich mehr ist als einfach nur eine Chronik über einen Verein, der 1963 Landesmeister war und seit mehr als 30 Jahren versucht, sich auf die überregionale Fußballlandkarte zurück zu arbeiten. Wenn der Autor die Geschichte des schönen Spiels in Gießen bis in die 1950er Jahre nachzeichnet, die Zeit in der Hessenliga ausgiebig würdigt, Hessenauswahl-, Pokal- und Freundschaftsspiele bespricht und den Weg des Clubs nach 1982 aufzeigt, erfährt man immer auch etwas über die Stadtgeschichte, die Form der Sportberichterstattung in den einzelnen Jahrzehnten und darüber, wie eng der Fußballsport auch auf regionaler Ebene mit dem gesellschaftlichen Leben verbunden sein kann. Von Berg, selbst gebürtiger Gießener, lässt in seine Darstellungen nämlich immer wieder Auszüge aus Spielberichten, Zeitzeugenaussagen und jede Menge Archivmaterial einfließen. Im Zuge der Aufarbeitung der Gießener Fußball- ist damit auch gleich ein äußerst interessantes Buch zur Regionalgeschichte entstanden, indem beispielsweise im über 100 Seiten starken Abschnitt zur Hessenliga-Zeit der Rückblick auf jede Spielzeit stets mit einem kurzen Schwenk darauf beginnt, was in jenem Jahr in Gießen und umzu sonst noch so wichtig war.

In ebenjener Verbindung von Stadt- und Fußballgeschichte liegt dann auch eine der Stärken des Werkes, wodurch es sich von manch anderer ‘reiner’ Vereinschronik deutlich unterscheiden dürfte. Eine andere liegt in der umfangreichen Darstellung des Spielbetriebs zwischen den Kriegen und während der NS-Zeit, über die man nicht nur einen guten Einblick in die Rolle des Sports in diesem eher düsteren Abschnitt der deutschen Geschichte erhält, sondern quasi nebenbei auch noch Wissenswertes darüber lernt, wie die politischen Verhältnisse und das Kriegsgeschehen die Ligenstrukturen und -zusammensetzungen immer wieder durcheinander wirbelten und wie es gerade auch der Fußball war, der den Gießenern nach der schlimmen Zerstörung der Stadt wieder ein wenig Hoffnung, Mut und Zerstreuung gab.

Auch wenn der Autor an der einen oder anderen Stelle etwas zu sehr ins Detail geht und – als Beispiel – der Mehrwert detaillierter Mannschaftsaufstellungen in Anekdoten über einzelne Spielzeiten und Begebenheiten nicht sofort ersichtlich ist, ist das Buch alles in allem interessant geschrieben und bietet auch Leserinnen und Lesern, die möglicherweise nicht aus dem mittelhessischen Raum stammen, ein anregendes Leseerlebnis. Empfohlen sei “Damals auf dem Waldsportplatz…” damit all jenen, die sich für die Entwicklung des Fußballs in Deutschland vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts bis heute interessieren und dabei nicht nur die großen Linien, sondern insbesondere auch den lokalen und regionalen Bereich in den Blick nehmen wollen. Auch Anhänger des Amateurfußballs kommen deutlich auf ihre Kosten, erzählt von Bergs Buch am Beispiel des VfB 1900 Gießen doch die Geschichte und die Entwicklung eines Traditionsvereins mit allen ihren Höhen und Tiefen, wie sie sich so oder so ähnlich mit einiger Sicherheit auch in anderen Regionen zugetragen haben könnte.

“Damals auf dem Waldsportplatz… Der VfB 1900 und der Fußball in Gießen” von Christian von Berg ist im Verlag Die Werkstatt erschienen und kostet im Hardcover 24,90 €. Bezogen werden kann das Buch unter anderem direkt über die Verlags-Homepage. (as)

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