a Alexander Schnarr – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Thu, 06 Jun 2019 13:52:30 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 WM 2019 – 24 Spielerinnen, die die Welt verändern – Gruppe A https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-a/ https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-a/#respond Sat, 01 Jun 2019 07:00:07 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5961 Weiterlesen]]> Mit Norwegen und Nigeria treffen in WM-Gruppe A zwei Nationalteams aufeinander, die bisher noch keine einzige Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen verpasst haben. Reichlich Erfahrung also, was man von Gastgeber Frankreich (bisher 14 WM-Partien) und den Südkoreanerinnen (7 Weltmeisterschaftsspiele) nicht unbedingt behaupten kann. Trotzdem dürften Les Bleues die Favoritenrolle für sich reklamieren, wenngleich Nationaltrainerin Corinne Diacre wohl nicht ganz zu unrecht von einer “schwierigen Gruppe” spricht.

Corinne Diacre – Pionierin, Trainerin, Hoffnungsträgerin

“Je größer die Herausforderung ist, desto größer wird meine Bereitschaft, sie anzunehmen”, so Corinne Diacre im Juni 2017 in einem Beitrag für das Socrates-Magazin. Zu jenem Zeitpunkt steht die heutige französische Nationaltrainerin noch bei Clermont Foot unter Vertrag und trainiert dort die Männer – als erste Französin im heimischen Profifußball überhaupt.

Ohnehin ist “Erste” ein Label, das zu vielen Punkten in Diacres Karriere passt. 2014 war sie die erste Frau, die das höchste Übungsleiter*innen-Diplom in Frankreich erwarb und mit dem sie fortan auch im professionellen (Männer-)Fußball arbeiten konnte. Im November 2002 erzielte sie das Siegtor in einem Qualifikationsspiel gegen England, das der französischen Frauen-Nationalmannschaft das erste WM-Ticket in der Geschichte des Verbandes sicherte. Diacre war außerdem die erste Frau, die über 100 Mal für Frankreich spielte, bis 2008 war sie Rekordnationalspielerin ihres Landes. Es ist sicherlich nicht vermessen, zu behaupten, dass Corinne Diacre im französischen (Frauen-)Fußball eine Vorreiterinnen-Rolle einnimmt.

Dass das nicht immer einfach ist, illustrieren Erinnerungen an ihre Anfangszeit bei Clermont:

“Die ersten Wochen verliefen alles andere als positiv. Nach fünf Spieltagen unter meiner Regie hatten wir keinen Sieg errungen. Ich spürte bereits die Egos mancher Spieler und die Unzufriedenheit mir gegenüber, weil ich eine Frau bin. Der Druck war immens. Für ein halbes Dutzend unserer Spieler war ich nicht wirklich legitim, eine solche Position auszuüben, nur mit dem Argument, dass ich eine Frau bin.” (Socrates-Magazin)

Mit dem Druck weiß Diacre umzugehen. Einerseits, weil Clermont nicht ihr erster Trainerinnen-Job ist, andererseits, weil sie sich während ihrer gesamten Zeit im Club der Rückendeckung von Vereinspräsident Claude Michy sicher sein kann. Im Winter trennt sich Diacre von fünf Spielern und führt den Verein in ihrem ersten Jahr zum Klassenerhalt. In der darauffolgenden Saison spielt Clermont lange um den Aufstieg in die Ligue 1 mit und wird am Ende Siebenter – ein großer Erfolg für einen Verein, der mit verhältnismäßig geringen Mitteln auskommen muss. Für Diacre persönlich bringt die gute Arbeit bei Clermont die Auszeichnung als “Bester Zweitligatrainer des Jahres” (sic!) im Dezember 2015.

Die Fußballleidenschaft wurde Diacre in die Wiege gelegt: Ihr Vater arbeitete als Sportlehrer und nahm seine Tochter regelmäßig mit auf den Fußballplatz. Bald beginnt die heutige Trainerin selbst mit dem Kicken und spielt ab ihrem 12. Lebensjahr in gemischten Mannschaften. Das ist Mitte der 80er Jahre, der Frauenfußball in Frankreich steckt allenfalls in den Kinderschuhen.

“Am Anfang waren meine Eltern nicht gerade begeisterte Anhänger des Frauenfussballs. Aber mein Vater, der ein leidenschaftlicher Fußballanhänger ist, wurde bald auf mein fußballerisches Talent aufmerksam. Seitdem hat er mich eigentlich nur unterstützt, ohne jemals Druck auf mich auszuüben.” (FIFA.com)

Die Unterstützung geht so weit, dass die Eltern ihre Tochter 220 Kilometer nach Soyaux fahren, damit sie dort in einer reinen Frauenfußball-Mannschaft spielen kann. Diacre tut das von 1988 bis 2007, die Association Sportive Jeunesse Soyaux ist der einzige Verein im Erwachsenenbereich, für den sie die Töppen schnürt. In dieser Zeit erlebt sie die Entwicklung des französischen Frauenfußballs hautnah mit; mehr noch: sie ist eine der Protagonistinnen, die ihn in dieser Zeit deutlich prägen. Dass Diacre als Spielerin nie einen Titel gewann, stört sie rückblickend nicht:

“Ich habe nichts gewonnen. Es ist kaum zu glauben, aber ich habe weder mit meinem Klub noch mit der französischen Nationalmannschaft einen Titel gewonnen. Für mich ist das nicht frustrierend. Ich hätte jederzeit zu einem größeren und finanzkräftigeren Verein als Soyaux wechseln können, das stimmt. Auch wurde mir angeboten, in der U.S.-Liga zu spielen, aber ich habe das abgelehnt. Auch diese Entscheidung habe ich mir, wie übrigens alle, die ich in meinem Leben getroffen habe, reiflich und lange überlegt.” (FIFA.com)

Wie lange die Entscheidung reifte, Clermont Foot im September 2017 zu verlassen und den Cheftrainerinnen-Posten der Nationalmannschaft zu übernehmen, ist nicht überliefert. Bekannt ist hingegen, dass der französische Verband Diacre bereits ein Jahr zuvor als Nachfolgerin von Philippe Bergeroo verpflichten wollte. “Man geht im September nicht von Bord seines Schiffes”, hatte die Trainerin seinerzeit noch gesagt, zwölf Monate später dann aber doch beim Verband angeheuert. Davon, dass auch diese Entscheidung reiflich überlegt war, darf allerdings ausgegangen werden.

Die Mission für Diacre und ihr Team im Sommer 2019 ist eindeutig: Bei der Heim-Weltmeisterschaft soll der Titel her, nachdem die Mannschaft bei den letzten Turnieren jeweils im Viertelfinale gescheitert war. Insofern ist dieser Job nun die bisher vielleicht größte Herausforderung in der Karriere der Corinne Diacre. Mit Blick auf ihre bisherige Laufbahn und die letzten Ergebnisse des französischen Nationalteams spricht vieles dafür, dass die Ex-Nationalkapitänin und -Rekordspielerin auch dieser Herausforderung gewachsen sein wird.


Zur Person: Alex Schnarr ist Teil der 120minuten-Redaktion und beschäftigt sich dort mit den gesellschaftlichen Zusammenhängen in und um den Fußball.

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Cho So-hyun – “Ich muss auf dem Platz eine Anführerin sein”

Cho So-hyun wird die koreanische Auswahl in Frankreich als Kapitänin aufs Feld führen. Das Turnier in Frankreich ist die zweite WM-Teilnahme für Südkorea. Wir sprachen mit Cho So-hyun über ihren Wechsel nach England, ihren Spielstil und die Erwartungen an das WM-Turnier.

Was war Ihr Beweggrund, von Korea nach Europa zu wechseln und insbesondere zu West Ham?

Es war immer mein Ziel, in England zu spielen. Ich habe gespürt, dass ich mich durch einen Wechsel hierher als Spielerin weiterentwickeln kann. Ich erhoffe mir auch, dass ich anderen koreanischen Spielerinnen zeigen kann, dass es möglich ist, in Europa Fuß zu fassen. Ich denke, es würde unserer Nationalmannschaft helfen, wenn mehr Spielerinnen hier aktiv wären. Es gab Interesse von anderen englischen Klubs, aber nachdem ich mit meinem Agenten gesprochen hatte, war klar, wie stark das Interesse von West Ham war, und dass ich gut ins Team passen würde. Der Manager suchte eine Box-to-Box-Spielerin für das Mittelfeld – meine Paraderolle. Es fühlte sich gut an, bei West Ham zu unterschreiben. Ich denke, wir haben bereits durch das Erreichen des FA-Cup-Finals bewiesen, dass der Wechsel für alle Beteiligten ein Erfolg war.

Cho So-hyun im FA-Cup-Finale gegen Manchester City (Foto: Tom Seiss)

Wie würden Sie Ihren Spielstil beschreiben?

Ich gebe immer mein Bestes. Ich bin Kapitänin der koreanischen Auswahl und muss auf dem Platz eine Anführerin sein. Mir wird nachgesagt, dass ich den Ball gut behaupten kann, über ein gutes Passspiel verfüge und das Spiel lesen kann. Koreanische Spielerinnen sind immer zurückhaltend und haben Freude am Fußball. Wir haben immer ein Lächeln im Gesicht – auch in schwierigen Situationen. In England hat man sich über mein Lächeln gewundert, als ich zum entscheidenden Elfmeter anlief, der uns das FA Cup Finale sicherte – ich war dabei nicht nervös und schoss den Elfmeter wie jeden anderen.

Füllen Sie im Verein eine andere taktische Rolle oder Position als in der Nationalmannschaft aus?

Am liebsten spiele ich als Acht. Als ich zu West Ham kam, gab es einige Verletzte im defensiven Mittelfeld, deshalb habe ich in einigen Spielen eher auf der Sechs gespielt. Das wird sich ändern, sobald die verletzten Spielerinnen zurück im Team sind. West Ham wird mich auf der Acht spielen lassen und ich kann das Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff sein. In der Nationalmannschaft hatte ich eine eher defensivere Rolle, da wir eine sehr junge Mannschaft haben und der Trainer meine Erfahrung in der Defensive benötigte. Das ist nicht meine Lieblingsposition, aber ich stelle mich immer in den Dienst der Mannschaft und spiele dort, wo ich dem Team weiterhelfen kann – auch wenn das bedeutet, meine Qualitäten in der Offensive nicht voll ausspielen zu können.

Wie konnten Sie sich so schnell einen Stammplatz bei West Ham sichern?

Wegen meiner Erfahrung wurde mit mir von Anfang an als Stammspielerin geplant. Am besten gewöhnt man sich an den englischen Fußball, indem man Spielerfahrung auf dem Platz sammelt und Pflichtspiele bestreitet. Ich bin noch damit beschäftigt, mich an den Fußball hier zu gewöhnen und weiß, dass ich mich noch verbessern kann. Meine besten Leistungen für West Ham werde ich erst noch zeigen.

Können Sie beschreiben wie sich der koreanische Fußball seit Ihrem ersten A-Länderspiel 2007 entwickelt hat?

Die letzte Weltmeisterschaft hat uns Selbstbewusstsein eingeimpft, aber im Achtelfinale wurden uns Grenzen aufgezeigt. Frankreich spielte sehr guten Fußball und wir lernten, dass wir uns noch entwickeln müssen. Wir können uns mit unserem aktuellen Leistungsstand noch nicht zufrieden geben.

Wie schneidet die koreanische WK League im Vergleich zur englischen Liga ab?

Der englische Fußball ist schneller, das gilt auch für das Umschalten zwischen Abwehr und Angriff. In der koreanischen Liga wird mehr Wert auf Taktik gelegt und viel am Spielaufbau gearbeitet. Auch die Kommunikation läuft ganz anders ab. Koreanische Spielerinnen wollen keinen Ärger machen. Wenn jemand einen Fehler macht, dann nehmen wir das hin und versuchen einfach, zu helfen. Englische Spielerinnen äußern sich viel öfter, wenn ihnen etwas nicht passt. Es wird viel Wert darauf gelegt zu zeigen, was man selbst auf dem Platz möchte und was man von seinem Team erwartet. Die koreanische und die englische Herangehensweise – beides hat Vor- und Nachteile.

Wie populär ist Frauenfußball in Südkorea und hat es in den letzten Jahren diesbezüglich eine Entwicklung gegeben?

Es hat in letzter Zeit keine großen Veränderungen gegeben. Der Fußball muss sich immer noch weiter entwickeln. Wie in England gibt es große Unterschiede in der Bezahlung und der Behandlung zwischen weiblichen und männlichen Fußballer*innen. Das macht sich in Korea, wo das Interesse am Frauenfußball nicht so ausgeprägt ist, noch stärker bemerkbar. So gibt es zum Beispiel Gehaltsobergrenzen, die auch für die Nationalmannschaft gelten.

Können Sie die Spielphilosophie der koreanischen Auswahl erläutern – gibt es einen bestimmten Stil, den Ihr Coach etablieren möchte?

Wir befinden uns gerade im Umbruch. Mehr junge Spielerinnen werden in die Auswahl berufen, um sich dort weiterzuentwickeln. Als wir mehrere Verletzte hatten, bedeutete das, dass ich in einigen Freundschaftsspielen defensiver spielen musste, weil hinten die Erfahrung fehlte. Nichtsdestotrotz, sobald die Stammspielerinnen zurückkehren, werde ich auch wieder im Mittelfeld spielen, wo ich am effektivsten bin. Meine Aufgabe ist es oft, das Team anzutreiben und die Intensität unseres Spiels hoch zu halten – dafür muss ich mit gutem Beispiel vorangehen.

Welche Erwartungen haben Sie an das Turnier in Frankreich? Denken Sie, die koreanische Auswahl kann besser abschneiden als 2015?

Unser erstes Spiel haben wir gegen den Gastgeber – das wird eine schwierige Aufgabe, um ehrlich zu sein. Aber wir sehnen uns danach, uns mit spielstarken Teams zu messen. Ich freue mich auf das Spiel gegen Frankreich und kann es kaum erwarten. Bei der letzten WM in Kanada haben wir es bis ins Achtelfinale geschafft. Ich hoffe, dass wir diesmal eine Runde weiterkommen und ich in einem wichtigen Spiel ein Tor erzielen kann.

Zur Person: Das Interview hat die 120minuten-Redaktion geführt.

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Caroline Graham Hansen – Top-Vorbereiterin mit klarer Haltung

2017 gab die damals gerade 22-jährige Weltfußballerin Ada Martine Stolsmo Hegerberg ihren vorzeitigen Rücktritt aus der norwegischen Nationalmannschaft bekannt. Zuvor waren die Norwegerinnen, die sich in der Qualifikation den Gruppensieg erkämpft hatten und damit zum Kreis der potenziellen Titelaspirantinnen zählten, bereits in der Vorrunde der Europameisterschaft punkt- und torlos ausgeschieden – ein historisches Novum.

2019 meldeten sich die Norwegerinnen dann eindrucksvoll zurück: Nachdem sie am 4. September 2018 durch einen 2:1- Sieg gegen die amtierenden Europameisterinnen aus den Niederlanden die direkte Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Frankreich geschafft hatten, sicherten sie sich ein halbes Jahr später den Sieg beim Algarve-Cup mit einem souveränen 3:0-Sieg gegen Polen.

Doch nicht etwa die amtierende Gewinnerin des Ballon d’Or hat den Norwegerinnen die Teilnahme an der Weltmeisterschaft in Frankreich oder den Titel beim Algarve-Cup gesichert – ihren Namen sucht man dort ebenso vergeblich wie in dem von Trainer Martin Sjögren veröffentlichten Kader für die bald beginnende Weltmeisterschaft in Frankreich. Wie kam es dazu, dass eine derart erfolgreiche Spielerin wie Ada Hegerberg im Team fehlt?

Ada Hegerberg (Foto: Tom Seiss)

Nach der verpatzten Europameisterschaft 2017 wäre es für Hegerberg aufgrund ihrer Referenzen ein Leichtes gewesen, an der Weltmeisterschaft 2019 teilzunehmen. Ein Rücktritt vom Rücktritt wurde ihr seitens des norwegischen Fußballverbandes mehrfach angeboten – bislang jedoch erfolglos. Es drängt sich die Frage auf: Wieso?

Hegerberg wollte mit ihrem Rücktritt ein Zeichen setzen. Sie sprach sich offen gegen den norwegischen Verband aus und forderte mehr Gleichberechtigung und bessere Bezahlung, prangerte an, dass man den Frauenfußball in Norwegen nicht genügend respektieren würde. Nur wenige Monate später einigte sich der norwegische Verband NFF mit dem Spielerverband NISO auf bessere Bezahlung für die Fußballerinnen.

Das Honorar der Frauenfußball-Nationalmannschaft wurde dem der Herren angeglichen. Wie der NFF damals mitteilte, sollen die Fußballerinnen für ihre Länderspiel-Einsätze insgesamt sechs Millionen norwegische Kronen bekommen, was in etwa 640.000 Euro entspricht. Außerdem tritt das norwegische Team der Herren knapp über eine halbe Million Kronen ab, die die Auswahl durch Werbeaktivitäten einnimmt.

Die gleiche Bezahlung sei zwar ein erster Schritt, aber die strukturellen Probleme lägen tiefer: „Ich wäre nicht die Spielerin, die ich heute bin, wenn ich nicht für meine Werte, meine Leidenschaft und meinen Glauben einstehen würde. Manchmal muss man schwierige Entscheidungen treffen, um sich selbst treu zu bleiben“, erläuterte Hegerberg in einem Interview mit The Guardian. Derzeit ist eine Einigung zwischen Hegerberg und dem Norges Fotballforbund nicht absehbar.

Die sportliche Lücke, die Hegerberg in der Nationalmannschaft hinterlassen hat, musste jedoch geschlossen und andere Spielerinnen mussten in die Verantwortung genommen werden. Eine davon ist Caroline Graham Hansen vom frisch gekrönten deutschen Double-Gewinner VfL Wolfsburg. Die 24-Jährige zählt schon lange zu den besten Spielerinnen der Welt, überzeugt mit ihrer unverwechselbaren Technik. Die in Oslo geborene Flügelflitzerin kann jedes Spiel entscheiden und ihre Mitspielerinnen in Szene setzen, glänzt aber auch selbst mit einem starken Abschluss.

In der vergangenen Frauen-Bundesliga-Saison bereitete sie stolze 28 Treffer vor und bildete gemeinsam mit Pernille Harder und Ewa Pajor das gefährlichste Offensiv-Trio der Liga. Hansen, die ihre Nichtteilnahme an der Weltmeisterschaft vier Jahre zuvor aufgrund eines anhaltenden Patellaspitzensyndroms noch mit „Natürlich bin ich enttäuscht, aber ich habe die besten Jahre noch vor mir“, kommentierte, ist bereit bei ihrer nun anstehenden ersten WM mit der A-Nationalmannschaft zu zeigen, was sie 2015 mit diesen „besten Jahre[n]“ meinte.

Hansen, die bis 2010 für Lyn Oslo spielte, wechselte wenige Monate nach ihrem 15. Geburtstag zum norwegischen Erstliga-Frauenfußball-Verein Stabæk FK in Bærum. Gleich in ihrem ersten Jahr bei Stabæk FK konnte sie die Meisterschaft in der Toppserien gewinnen. 2013 wagte Hansen dann den Schritt von Stabæk FK in die Damallsvenskan zu Tyresö FF, wo sie an der Seite von Ikonen wie Marta und Caroline Seger spielen durfte. Jedoch währte dieses Glück nicht lange, denn der Verein musste kurze Zeit später Insolvenz anmelden.

Es folgte eine kurze Rückkehr zu Stabæk FK, ehe sich Hansen 2014 für einen Wechsel in die Allianz Frauen-Bundesliga zum VfL Wolfsburg entschied. In fünf Jahren reifte sie dort zu der Führungsspielerin heran, die sie heute ist. Mit den Wölfinnen durfte sie drei Mal die Meisterschale und fünf Mal den DFB-Pokal in die Luft stemmen.

Caroline Graham Hansen im Spiel gegen den FC Bayern München (Foto: Tom Seiss)

Doch Hansen verdiente sich nicht nur auf dem Feld Respekt, sondern bewahrt auch daneben ihre klare Haltung. Im März 2018 kritisierte die 24-Jährige öffentlich FIFA-Chef Gianni Infantino. Infantino hatte im Iran das Derby zwischen den Männerteams Esteghlal und Persepolis Teheran besucht, bei dem 35 Frauen der Zutritt zum Stadion verwehrt wurde. Die Frauen wurden vor dem Stadion festgenommen und abgeführt. „Es ist sehr hoffnungslos, an einem Sport festzuhalten, bei dem unsere Hauptverantwortlichen sich dafür entscheiden, ein Land zu unterstützen, das Frauen unterdrückt, weil sie Frauen sind“, erklärte Hansen damals.

Infantino, der sich nach dem Spiel noch mit dem iranischen Präsidenten Rohani traf, versuchte diesen zwar zu einem Umdenken zu bewegen und auch Frauen den Zutritt zu Fußballspielen der Männer zu gewähren, verkündete aber gleichzeitig, dass die Fifa keinerlei Sanktionen wegen dieser Vorkommnisse gegen den Iran verhängen werde. Hansen rief daraufhin am letztjährigen Weltfrauentag via Twitter zur Solidarität mit Frauen weltweit auf, die nur deswegen benachteiligt werden, weil sie Frauen sind. Sie rief dazu auf, dass diese Frauen, die sie als ihre größten Vorbilder bezeichnete, nicht aufgeben – und weiterhin für ihre Rechte kämpfen sollten.

Klar ist schon jetzt: Die überwiegend in der Toppserien aktiven Spielerinnen der norwegischen Frauenfußballnationalmannschaft werden alles dafür tun, nach dem Gewinn des Algarve-Cups ihren zweiten Titel in diesem Jahr zu gewinnen, um so die Schmach der letzten Europameisterschaft endgültig vergessen zu machen. Die Chancen für die derzeit auf Platz zwölf in der Fifa-Weltrangliste gesetzten Norwegerinnen stehen hierfür auch dank Spielerinnen wie Caroline Graham Hansen, die zur kommenden Saison zum FC Barcelona wechselt, nicht schlecht. Immerhin haben sie der Offensivspielerin in gewisser Weise auch die Qualifikation zu bedanken: die 24-Jährige stand in allen acht Quali-Spielen auf dem Platz und erzielte sechs Tore.

Zur Person: Jasmina Schweimler schreibt als Journalistin unter anderen für die WAZ und den Sportbuzzer über Frauenfußballer und gehört zum Podcast-Kollektiv-FRÜF.

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Faith Ikidi – Routine, Ruhe und Erfahrung

„Gibt nicht auf, der Anfang ist immer schwer!“ Solche Motivationssprüche zieren in den vergangenen Wochen häufig das Instagram-Profil der nigerianischen Nationalspielerin Faith Ikidi. „Nicht das Ergebnis, das wir wollten, aber wir werden weiter hart arbeiten“, steht unter einem Mannschaftsfoto, das sie nach der 1:2-Niederlage im Vorbereitungsspiel gegen Kanada gepostet hat. Die nigerianische Nationalmannschaft hat es nicht immer leicht: Auf dem afrikanischen Kontinent ist sie unbestritten das beste Frauen-Team. International lässt der Erfolg jedoch auf sich warten. Mit der WM in Frankreich nehmen sie zum achten Mal an einer Weltmeisterschaft teil. Nur einmal, 1999, schafften sie es über die Vorrunde hinaus bis ins Viertelfinale.

Auch in der WM-Gruppe für dieses Turnier zählen sie deutlich zu den Underdogs: Frankreich, Norwegen und Korea lauten die Namen ihrer Gegnerinnen. Nur sechs der nigerianischen Nationalspielerinnen spielen im eigenen Land – der Rest verdient sein Geld im Ausland. So zog Asisat Oshoala dieses Jahr mit dem FC Barcelona ins Champions-League-Finale ein. Und Ikidi ist schon seit vielen Jahren in der schwedischen „Damallsvenskan“ zuhause – und verzeichnet immer mehr Erfolge.

Gemeinsam mit jungen, talentierten Spielerinnen zu spielen, macht sie froh. Das sagte Faith Ikidi vor drei Jahren gegenüber dem nigerianischen Guardian. Heute ist sie nach wie vor Teil des Nationalteams und nach Kapitänin Onome Ebi eine der Mannschaftsältesten. 2004 lief sie das erste Mal für ihre Nationalmannschaft auf. Sie ist die Routinier. Die Abwehrspielerin, die Ruhe und jahrelange Erfahrung in die Mannschaft bringt. Doch beim Afrika-Cup in Ghana im vergangenen Jahr musste sie sowohl im Halbfinale als auch im Finale auf der Bank sitzen. Ihre Mannschaft gewann den Pokal trotzdem.

Mit der Vorbereitung zur WM in Frankreich tauchte sie wieder in der Startelf auf: immer als Verteidigerin, mal innen, mal außen. Ikidi hat eine bemerkenswerte Vita – aber leicht hatte sie es trotzdem nicht immer. Im Jahr 2006 waren Ikidi, Maureen Mmadu und Yinka Kudaisi – beides ebenfalls nigerianische Nationalspielerinnen – die ersten Spielerinnen mit afrikanischem Hintergrund, die es in die schwedische Liga schafften und um die Meisterschaft mitspielen durften. Damals standen alle drei bei QBIK Karlstadt unter Vertrag und machten direkt eine schlechte Erfahrung: Sie hatten gerade der Nationalmannschaft geholfen, zum fünften Mal den Afrika-Cup zu gewinnen, waren noch vor Ort und feierten, als sie erfuhren, dass ihr Club ihre Verträge beendet hat. Sie hatten ohne Erlaubnis des Clubs in ihrem Heimatland gespielt. Diese hätten sie aber gebraucht, da die Afrikameisterschaft nicht im internationalen Spielkalender steht.

Aus heutiger Sicht ein klarer Fall von Diskriminierung, denn das Turnier fungiert als Qualifikation für die Weltmeisterschaft. Der nigerianische Fußballverband bat den schwedischen Verein, das nicht durchzuziehen, doch die Spielerinnen verloren diesen Kampf. Im Nachhinein entschädigte der Verband seine Spielerinnen für das verlorene Gehalt durch den Verlust ihres Jobs mit 10.000 US-Dollar pro Person.

Für Ikidi hatte das auch fünf Jahre später noch Folgen: Während sie nach QIBK zuerst bei Eskilstuna United DFF, dann bei Linköpings FC und ab 2011 Piteå IF spielte, pausierte sie in der Nationalmannschaft: Der Zeitplan der schwedischen Liga ist mit dem des Nationalteams nicht mehr vereinbar. „Viele Leute sagen, dass die Verpflichtung gegenüber der Nation zuerst kommt. Da stimme ich zu. Aber ich will, dass diese Menschen auch wissen, dass es die Clubs sind, die unser Gehalt zahlen“, sagte sie rückblickend gegenüber dem Guardian. Erst ab 2016 ist sie wieder Teil des Kaders. Sie handelt jedoch vorsichtiger, wenn sie für das Nationalteam einberufen wird.

Und das, obwohl die „Super Falcons“, wie die Mannschaft auch genannt wird, in Nigeria ein echtes Vorbild sind: Die Frauennationalmannschaft gilt als das beste Team auf dem afrikanischen Kontinent und viele Mädchen und Frauen schauen zu den Spielerinnen auf, auch, weil sie Vorurteile und Rollenklischees bekämpfen. Dreizehn Mal wurde der Africa-Cup bereits gespielt, elf Mal haben sie ihn gewonnen. So triumphierten die Super Falcons gegen Südafrika im vergangenen Jahr beim Elfmeterschießen im Finale im Accra Sports Stadium in Ghana. Die Super Falcons sind durch ihre Erfolge bekannt und genießen ein gewisses Ansehen unter den Nigerianer*innen.

Was Geld und den eigene Wert betrifft, sind die Spielerinnen ebenfalls ein Vorbild: Als sie 2016 keine Siegprämie für den Afrika-Cup erhalten sollten, protestierten sie gegen den Verband, indem sie zehn Tage lang in einem Hotel in Abuja verharrten und nicht gehen wollten, bevor sie bezahlt würden. Auch Ikidi nahm an der Aktion teil. Der Protest hatte seine Berechtigung: Während die Männermannschaft für jede WM-Teilnahme Boni erhielt, sollten die Frauen bei ihrem zehntem Africa-Cup-Titel leer ausgehen. Für einen Tag organisierten sie sogar einen Protest-Marsch, für den sie mit Plakaten am Parlament vorbeizogen. Dieser zeigte seine Wirkung: Die Regierung gab dem Verband Geld, so dass am Ende jede Spielerin 23.650 Dollar erhielt.

Die Infrastruktur vor Ort ist allerdings immer noch schlecht. Nur sechs Nationalspielerinnen spielen in der nigerianischen Liga. Sie bekommen zwar ein festes Gehalt, doch manchmal kann der Club nicht zahlen und ihr Lohn wird erst später ausgezahlt. Auch bietet die nigerianische Liga wenig Attraktivität, da es lediglich die Ligaspiele gibt, aber keine Pokalspiele oder etwas, das mit der Champions-League vergleichbar wäre.

Erfolge verzeichnet Ikidi nicht nur mit den Super Falcons: 2015 bekam sie die Auszeichnung zur Abwehrspielerin des Jahres in Schweden. Mit Pitea IF holte sie 2018 für den Club erstmals den Meistertitel in der Schwedischen Liga. Und beim entscheidenden Meisterschaftsspiel zeigte Ikidi eine so gute Leistung, dass sie zur Spielerin des Spiels gewählt wurde. Ob sie das bei der kommenden WM als eine der Ältesten auch schaffen kann? Wir werden sehen.

Zur Person: Tamara Keller ist Journalistin und schreibt für die Badische Zeitung. Zu hören ist sie bei FRÜF – Frauen reden über Fußball.

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“Allmächtige Corinthians-Girls”: Wie brasilianische Fußballfans gegen Sexismus kämpfen https://120minuten.github.io/corinthias-girls-brasilien-kampf-gegen-sexismus/ https://120minuten.github.io/corinthias-girls-brasilien-kampf-gegen-sexismus/#respond Sat, 20 Apr 2019 08:00:20 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5871 Weiterlesen]]> Als leidenschaftliche Fußballfans gründen brasilianische Frauen feministische Gruppen, um Sexismus im Sport zu bekämpfen. Dabei scheuen sie auch nicht die Auseinandersetzung mit Giganten, zeigt das Beispiel Corinthians.

Von Rosiane Siqueira
Übersetzung: Alexander Schnarr

Movimento Toda Poderosa Corinthiana: Eine feministische, brasilianische Gruppe weiblicher Corinthians-Fans, die gegen Sexismus im Fußball kämpfen.

Frauen auf der ganzen Welt wünschen sich die Freiheit, tun zu können, was sie möchten – und das beinhaltet, ihre Stimme für diese eine Liebe zu erheben: den Fußball. Brasilien sieht sich im Rahmen der letzten politischen Ereignisse einer radikalkonservativen Welle gegenüber, allerdings sind das reaktionäre Verhalten und diffuser Seximus nichts Neues für das Land: Zwischen 1941 und 1983 war es Frauen gesetzlich verboten, Sport zu treiben, mit der Begründung, dass sportliche Aktivitäten „mit ihrer Natur nicht kompatibel“ seien.

Es sind erst 36 Jahre vergangen, seitdem dieses Gesetz abgeschafft wurde. Viele der weiblichen Anhänger sind älter als 36 und haben ihre Passion über eine lange Zeit unterdrücken müssen. Heutzutage fühlen sie sich durch feministische Bewegungen in verschiedenen Bereichen bestärkt und verändern die Fußball-Szene in Brasilien.

Die furchtlosen Corinthians-Anhängerinnen

Die Bewegung namens „Movimento Toda Poderosa Corinthiana“ („Die allmächtige Corinthians-Mädchen-Bewegung, als Referenz auf den Spitznamen des brasilianischen Teams Sport Club Corinthians Paulista, „Die allmächtigen Corinthians“) ist eine der größten Gruppen weiblicher Fans im Land und verantwortlich für verschiedene Initiativen, die Respekt einfordern und Sexismus innerhalb des Fußballs bekämpfen.

Die Gruppe erlangte erstmals 2016 große Aufmerksamkeit, nachdem sie einen Offenen Brief gegen die Titelseite einer der berühmtesten brasilianischen Sportzeitungen, Lance!, veröffentlichten. Bei der Zeitung hatte man sich dazu entschieden, die Schönheit eines kurvigen Team-Models hervorzuheben, anstatt auf den beeindruckenden Sieg der Mannschaft am Abend vorher einzugehen. Der Brief wies auf die „Objektivierung“ von Frauen und den Sexismus im Leitartikel hin, der sich stets nur an eine männliche Leserschaft richtet. Die Zeitung hat auf die Kritik nie geantwortet.

Keine Angst vor Nike

2017 entschloss sich die Gruppe dazu, den Kampf gegen einen Giganten aufzunehmen: Nike. Nach der Vorstellung der Corinthians-Trikots für die neue Saison informierte der Ausstatter darüber, dass das Auswärtstrikot nicht in einer Frauenversion produziert werden wird. Das Unternehmen gab an, dass es dafür nicht genügend Nachfrage geben würde. Das Thema erhielt dank des Protests der Gruppe gewaltige Resonanz via Facebook, Instagram und Twitter: „Nicht genügend Nachfrage, Nike? Hold my beer….“ 1:0 für die Damen. Nach einem Monat intensiver Online-Angriffe überlegte Nike es sich anders und begann damit, Frauen-Versionen der Auswärtstrikots über die Webseite und in allen Corinthians-Läden zu verkaufen.

Die Aktionen, die durch die Bewegung initiiert wurden, dauern an und adressieren allgemeine Probleme innerhalb des Sports. So gab es eine Kampagne gegen Sexismus während der letzten Weltmeisterschaft in Russland oder es werden interne Entscheidungen der Vereinsführung hinterfragt, wie z.B., als Corinthians beschloss, einen Spieler zu verpflichten, dessen körperliche Aggressionen gegenüber seiner Freundin öffentlich bekannt waren.

Weibliche Fans zwischen Männern auf der Tribüne im Corinthians-Stadion in Sao Paolo, Brasilien. Auf der Fahne steht: Corintians-Mädchen gegen Sexismus.

Der Verein selbst achtet auf die Forderungen der Mädchen. Corinthians sind Pioniere im Engagement gegen Sexismus und Gewalt gegenüber Frauen in Brasilien, auf und neben dem Platz. Anfang 2019 unterzeichnete Corinthians gemeinsam mit zwei anderen großen Clubs des Landes, Palmeiras und São Paulo, eine Kooperationsvereinbarung mit der Stadtverwaltung von São Paulo. Sie verpflichteten sich dazu, sich dem Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen anzuschließen und weibliche Opfer von Aggressionen innerhalb der Familie und des häuslichen Umfeldes zu schützen.

Die wachsende, feministische Revolution im brasilianischen Fußball

Es sind nicht nur die weiblichen Fans von Corinthians, die gegen Sexismus in Brasilien kämpfen. Zahlreiche Gruppen und Kollektive von Frauen sind in letzter Zeit im Land entstanden, jede mit Verbindungen zu ihrem jeweiligen Herzensteam. Bei einigen Clubs findet man sogar mehr als eine Gruppe, die sich entwickelt und sich für verschiedene Themen engagiert. Trotz der Rivalität zwischen den Vereinen interagieren die Mädchen und ihre Gruppen in der Regel miteinander. Letzten Endes haben sie alle das gleiche Ziel: Respekt von Männern und das Recht, ihr Team zu lieben und frei zu unterstützen.

Gemeinsam glauben alle an ein simples und wichtiges Prinzip des Feminismus: Empathie. Kein Mädchen verdient es, belästigt zu werden, sich schämen zu müssen oder Angst davor zu haben, das zu tun, was es liebt: sein Team anzufeuern. Brasilien erlebt mehr und mehr, wie Frauen an den Fußball-Ritualen teilhaben, zu den Spielen gehen, in Sportlerinnen-Karrieren investieren, das Thema als Fan oder Journalistin diskutieren, den Sport selbst ausüben und Akteurinnen sind in etwas, das traditionell männlich ist.

Beitragsbilder: Die Fotos wurden von der Autorin zur Verfügung gestellt.

The Almighty Corinthians Girls Movement: How Brazilian football fans fight sexism

Der Text in der englischen Originalfassung/ English original version

Passionate for football, brazilian women are creating feminist groups to fight against sexism in the sport.

Women from all around the world desire the freedom to do whatever they like – and it includes speaking up their voices about one true love: football. Brazil faces a radical conservative wave in its recent political events but the reactionary behavior and diffused sexism are not something new to the country: from 1941 until 1983, a law forbade women from practicing sports under the argument that the sports practices were “incompatible with their nature”.

It has been only 36 years since this law was repealed. Many of the female supporters are older than that and have repressed their passion for a long period of their lives. Nowadays, feeling more and more empowered by feminist movements in different spheres, those women are changing the scenario of the football in Brazil.

The fearless Corinthians female supporters

The Movement named “Movimento Toda Poderosa Corinthiana” (The Almighty Corinthians Girls Movement, in a reference to how the Brazilian Team, Sport Club Corinthians Paulista, is called: The Almighty Corinthians) is one of the biggest collective of female supporters in the country and has created different initiative to demand respect and fight the sexism within football.

The Group got the attention widely for the first time in 2016 after releasing a public letter against one cover page from the most famous Brazilian sports newspaper, Lance!. The edition opted to highlight the beauty of the curvy muse model of the team instead of the impressive victory the team had done the night before. The letter pointed the “objectification” of the women and sexism of its editorial, always considering only its male audience. The newspaper never answered about the critics.

In 2017, the Collective decided to fight a battle against a giant: Nike. After launching the Corinthians uniforms for that season, the brand informed that the second uniform would not be produced in female versions. The company claimed that there was insufficient sales demand for that. The topic got massive repercussion through Facebook, Instagram and Twitter thanks to the protest created by the group. “Not enough female demand, Nike? Hold my beer…” 1×0 for the ladies. After one month of intense online attacks, Nike changed his mind and started to sell the female versions at the website and at all Corinthians stores.

And the campaigns created by the Movement go on, addressing general issues within the sport, such as the campaign against sexism during the World Cup in Russia, or questioning internal decisions and the management of the team, such as when Corinthians decided to hire a player who has a public record of physical aggression against his girlfriend.

The Club itself has paid attention to the demand of the girls. Corinthians has been one of the pioneering teams to engage into campaigns against sexism and violence against women in Brazil, inside and outside the field. At the beginning of this year, Corinthians together to other two of the biggest clubs in Brazil, Palmeiras and São Paulo, signed a cooperation agreement with the city hall of São Paulo. They committed to join in the fight against violence against women and to protect women victims of aggression in the family and residential environment.

The growing feminist revolution in Brazilian football

Not only Corinthians female supporters are fighting the sexism in Brazil. Numerous groups and collectives of women has emerged recently in the country, each one related to their heart team. For some of them, it is possible to find even more than one group emerging and being engaged into various topics. Despite the rivalry among them, the girls and their groups normally interact with the others. After all, they all aim the same: respect from the men and the right to love and support their team freely.

Commonly, they all believe in a simple and important principle from feminism: empathy. No girl deserves to be harassed, shamed or afraid to do something they love to: cheer for their team. More and more, Brazil sees women taking part of the football ritual, going to games, investing in a sports career, debating the topic as a fan or a journalist, practicing the sport and being the protagonist of something traditionally manly.

Although this feminist wave seems to be a breakthrough in Brazilian football, there is still a lot to be explored and debated within a society that shows signs of flirtation with regression when it comes to social rights and prejudice. Sexism, racism, homophobia and violence are still ghosts in every stadium of the country.

Every small initiative helps to create a safer environment for every human being with its own differences and particularities. And the girls know that very well! Holding each other’s hand, they do not intent to rewrite the world football history but to help writing new chapters.

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Ins Heft geschaut: ballesterer Nr. 141 https://120minuten.github.io/ins-heft-geschaut-ballesterer-nr-141/ https://120minuten.github.io/ins-heft-geschaut-ballesterer-nr-141/#respond Fri, 19 Apr 2019 08:00:24 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5866 Weiterlesen]]> “Gönner, Geld und Glitzer – Die wilden 90er” – ballesterer, Ausgabe 141

Die neunziger Jahre waren eine wilde Zeit – in Deutschland genauso wie in Österreich. Dort veränderte eine Generation von Managern den Fußball für immer. Die Folgen sind bis heute spürbar, berichtet der ballesterer in seiner aktuellen Ausgabe.


Techno, Glitzer und große Träume – die neunziger Jahre waren wilde Zeiten. Auch in Österreich, wo sich eine Generation windiger Manager auf den Weg machte, den dortigen Fußball dauerhaft zu verändern. Von den kurzfristigen Erfolgen blieb oft nicht viel, sieht man von riesigen Schuldenbergen ab. Die Auswirkungen einer Zeit, in der Geld keine Rolle zu spielen schien, sind bis heute zu spüren.

Das Fußballmagazin ballesterer, dessen Redaktionsmitglieder zum Teil selbst in den Neunzigern groß wurden, hat sich auf Spurensuche begeben. Unter dem Titel “Die große Illusion” erfährt man in Ausgabe 141 viel über die damaligen Begebenheiten. “Mit den neuen Gönnern und Präsidenten hält auch ein neuer Geist Einzug: Marketing ist das
Gebot der Stunde.” So lassen sich viele Entwicklungen der damaligen Zeit zusammen fassen. Stadien wurden neu gebaut und riesige Fanshops zum Standard in Österreichs Fußballstädten.

Dass die hochtrabenden Pläne eigentlich nie aufgingen, ist Teil der Geschichte. Der ballesterer erzählt sie mithilfe mehrerer Porträts und Interviews mit den Machern der damaligen Zeit.

Neben dem Titelthema präsentiert der ballesterer in Ausgabe 141 eine Reihe weiterer lesenswerter Storys. So geht es unter anderem um die stückweise Professionalisierung des Frauenfußballs in Spanien, um einen unnötigen Polizeieinsatz bei einem Europapokalspiel von Eintracht Frankfurt und um den langen Weg, den Anhänger von Mainz 05 für ihr Fanhaus gegangen sind.

Wo ist das Ding? Da ist das Ding!

Den ballesterer 141 bekommt ihr seit dem 19. April in Österreich im gut sortierten Zeitschriftenladen und einige Tage später in Deutschland im Bahnhofsbuchhandel. Alternativ könnt ihr das Heft auch bestellen, falls euch der Fußweg zu weit ist. Oder gleich abonnieren.

I werd narrisch!

Den ballesterer gibt es nicht nur zu lesen, sondern auch auf die Ohren. In Kooperation mit 120minuten erscheint monatlich eine Podcast-Folge – der “ballesterer in 120minuten”. Dort vertiefen Autor*innen des Magazins, Expert*innen und Gäste das Titelthema der jeweiligen Ausgabe. Die nächste Folge erscheint Anfang Mai. Darin diskutieren Moderator Alex Schnarr, ballesterer-Redakteur Moritz Ablinger und Gast Tanja Hufschmidt über Österreichs Fußball in den Neunzigern und die Entwicklungen in Deutschland. Ältere Folgen könnt ihr hier nachhören.

(Transparenzhinweis: Der aktuelle „ballesterer“ wurde uns von der Chefredaktion unentgeltlich und vorab zur Besprechung zur Verfügung gestellt.)

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Bildet Banden! https://120minuten.github.io/bildet-banden/ https://120minuten.github.io/bildet-banden/#comments Wed, 16 Jan 2019 08:00:23 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5494 Weiterlesen]]> Sportjournalistinnen in der Fußballberichterstattung

40 Prozent der Fans von Bundesligamannschaften sind weiblich, aber nur etwa 10 Prozent der im Fußballjournalismus Tätigen sind Frauen. Woran liegt das? Und wie blicken Sportjournalistinnen eigentlich selbst auf ihr Arbeitsfeld? Ein Text über Selbstvertrauen, Mut, Vorbilder und: Netzwerke.

© Arne Müseler / arne-mueseler.de / CC-BY-SA-3.0

Alexander Schnarr, 120minuten.github.io | Januar 2019

Welches Geschlecht hat der Fußball?

Als ich das erste Mal über diese Frage nachdachte, kam die Antwort ziemlich schnell und aus dem Bauch heraus. Sie lautete: Für mich ist der Fußball männlich. Grammatikalisch sowieso, klar, aber eben auch im übertragenden Sinne.

Die Gründe für diese spontane Antwort liegen, zumindest bei näherer Betrachtung meines eigenen Fußballkonsums, auf der Hand: Erstmal bin ich selbst ein Mann, der fast ausschließlich Männern bei dem Versuch zusieht, das Runde ins Eckige zu befördern. Und der sich lange überhaupt gar keine Gedanken darüber machte, warum mir der Sport nahezu ausschließlich von Männern näher gebracht wird. Dann kommt dazu, dass im öffentlichen Raum Einigkeit darüber zu herrschen scheint, dass per se die „Männerversion“ gemeint ist, wenn irgendwo der Begriff „Fußball“ fällt. Geht es um Kontexte, in denen Frauen dem runden Leder hinterher jagen, spricht man wie selbstverständlich von „Frauenfußball“. Gleichzeitig würde aber wohl kaum jemand auf die Idee kommen, beispielsweise die alle vier Jahre stattfindende FIFA-WM als „Männerfußball-Weltmeisterschaft“ zu bezeichnen. Außerdem hat meine spontane Zuschreibung des Fußballs als männlich möglicherweise viel damit zu tun, dass in der Berichterstattung über (Männer-)Fußball eben hauptsächlich Männer sichtbar werden. Gemeint sind hier nicht diejenigen, über die geredet wird, sondern diejenigen, die medienseitig für das Reden bzw. das Berichten verantwortlich sind.

Beispiele gefällig? Bei der (Männerfußball-)Weltmeisterschaft 2018 gab es mit Claudia Neumann genau eine Frau, die für das deutsche Fernsehpublikum Spiele kommentierte. Die Spielberichts-Einspieler in der Sportschau und im „aktuellen sportstudio“ werden von Männern gesprochen. Beim Streaming-Anbieter DAZN werden die Kommentatoren von ehemaligen Spielern als Experten und eben nicht die Kommentatorinnen von ehemaligen Spielerinnen als Expertinnen unterstützt. Das ist, nebenbei bemerkt, allein schon deshalb erstaunlich, weil die Fußball-Nationalmannschaft der Frauen in den letzten Jahrzehnten deutlich erfolgreicher war als die der Männer. Man sollte also annehmen, dass es genug ehemalige Spielerinnen gibt, die kompetent und vor Fernsehpublikum über ihren Sport sprechen können. Vermutlich gibt es die auch, nur eben nicht im deutschen Fernsehen. Stattdessen erklären uns zum Beispiel Benjamin Lauth, Ralph Gunesch und Jonas Hummels bei DAZN das Spielgeschehen. Das tun sie auf fachlich hohem Niveau und das soll darum auch gar nicht als Kritik verstanden werden. Unter dem Strich bleibt aber der Eindruck: Männer erklären Männern, wie (Männer-)Fußball funktioniert.

Noch deutlicher als im Fernsehen fällt die Diskrepanz im Print-Bereich aus. Marcus Bölz forschte im Rahmen seiner Dissertation, die 2013 bei Springer VS erschien, zum Fußballjournalismus in Deutschland. Sein Zugang war ein ethnographischer, was bedeutete, loszugehen und mit denjenigen zu sprechen, die Fußballjournalismus betreiben. Eine Aussage aus dem sehr erhellenden Werk unter anderem: „Für den Sportteil [einer der untersuchten Regionalzeitungen, A.S.] arbeiten ausschließlich Männer. Auf Nachfrage, ob es denn eine freie Mitarbeiterin gebe, stutzen sie und erinnern sich erst nach einiger Zeit an den einen oder anderen Namen. Nur bei Randsportarten gibt es weibliche freie Mitarbeiter, und diese sind dann auch Teil der Mannschaften, für oder über die sie berichten. Jedoch haben sie eine Fotografin, die häufig und gerne für sie die Fotos von den lokalen „Top-Spielen” der Woche macht. Genauso wie bei [Regionalzeitung 3] waren auch bei [Regionalzeitung 1] und [Regionalzeitung 2] keine Frauen mit einer innerredaktionellen fußballjournalistischen Tätigkeit befasst.“ (Bölz 2013, 102) Das ist natürlich nur ein Schlaglicht, allerdings auch ein Befund, der während der Recherchen zu diesem Text von mehreren Akteur*innen bestätigt wurde.

„Stop, Moment mal“, mag der eine oder die andere spätestens jetzt einwenden, „zumindest im Fernsehen sind doch ständig Frauen in Sportsendungen zu sehen!“ Das stimmt natürlich: Katrin Müller-Hohenstein und Dunja Hayali moderieren beispielsweise „das aktuelle sportstudio“, womit 50 Prozent des Moderator*innen-Teams dort weiblich sind. Die Sportschau kommt auf eine Quote von knapp 30 Prozent, hier übernehmen laut Webseite Julia Scharf und Jessy Wellmer im Wechsel mit fünf männlichen Kollegen die Moderation. Auch im Pay-TV ist die Anzahl an Frauen vor der Kamera verhältnismäßig hoch. Trotzdem handelt es sich dabei statistisch gesehen um Ausnahmen: Frauen im Sportjournalismus machen schon seit Jahrzehnten nur 10 Prozent der in diesem Bereich Beschäftigten aus. Nimmt man jetzt noch ernst, dass sich über die Hälfte der Beiträge im deutschen Sportjournalismus um Fußball drehen, wie es der International Sports Press Survey 2011 erhob, wird auch anhand der Zahlen klar: Fußballjournalismus ist eine Männerdomäne.

Hier noch ein weiterer statistischer Fakt: Frauen in der Fußball-TV-Berichterstattung sind im Schnitt rund zehn Jahre jünger als ihre männlichen Kollegen. Ob das bedeutet, dass Frauen im Fernsehen im Gegensatz zu Männern neben fachlicher auch so etwas wie optische Kompetenz mitbringen müssen, lässt sich bei einer so subjektiven Kategorie wie „Aussehen“ zwar nicht seriös feststellen. Das Nachdenken darüber lohnt sich aber allemal.

Bleibt noch die Frage, ob das alles denn überhaupt ein Thema ist. Es rennen doch eh nur Männer zum Fußball. Das letzte Refugium. Der Nachmittag oder die Tour mit den Jungs. Bier trinken, rumgrölen und ungestraft auch mal eine Träne verdrücken dürfen, wenn der Herzensverein vielleicht gerade in die nächst tiefere Spielklasse abgestiegen ist. Nun, auch hier offenbart der Blick in die Statistik ein ganz anderes Bild: Laut einer Erhebung im Jahr 2018 beträgt der Anteil an weiblichen Fußballfans unter denjenigen Menschen, die Interesse an mindestens einem Verein der (Männer-)Bundesliga haben, 40,3 Prozent.

Wenn 90 Prozent der Sportjournalisten männlich, aber mehr als 40 Prozent der Fans weiblich sind, verliert die Berichterstattung da nicht eine ziemlich große Zielgruppe aus dem Blick? Und woran liegt es, dass das Sportressort dasjenige ist, in dem die Wahrscheinlichkeit, eine Frau zu treffen, mit weitem Abstand zu allen anderen Journalismus-Bereichen am geringsten ist? Über diese und andere Fragen habe ich mit verschiedenen Akteur*innen aus dem Sportjournalismus gesprochen.

Es heißt ja auch nicht ‚Königin Fußball‘

Um einen Eindruck davon zu bekommen, ob mich mein Gefühl hinsichtlich der Frage, wer über Fußball schreibt, nicht vielleicht gänzlich täuscht, griff ich zunächst in das Regal der von mir abonnierten Monatszeitschriften. Neben „Socrates“ füllt dort der „ballesterer“ aus Österreich mittlerweile schon mehrere Stehordner. Spontan und wahllos mal elf Ausgaben durchgeblättert und siehe da: Sieben verschiedene Autorinnen sind dort (allerdings in sehr unterschiedlicher Quantität) mit Beiträgen vertreten. Bei „Socrates“ ist der Befund ein anderer: In zehn Ausgaben konnte ich drei verschiedene Autorinnen zu Fußballthemen finden, sechs der von mir betrachteten Hefte enthielten keine Fußballtexte von Frauen. Allerdings muss man natürlich dazu sagen, dass bei „Socrates“ eine ganze Bandbreite an Sportarten Raum bekommt, was das Ergebnis möglicherweise verfälscht. Stichprobenartig schaute ich mir zusätzlich noch die „SportBild”, die „11Freunde“ und den „kicker“ an und fand meine Vermutung dort deutlich bestätigt: Über Männerfußball schreiben vor allem Männer.

Warum das beim „ballesterer“ etwas anders ist, erklärt mir die stellvertretende Chefredakteurin Nicole Selmer so: „Wir suchen zwar nicht explizit nach Frauen, aber die Leute sehen schon, dass bei uns eben auch Texte von Frauen erscheinen. Vielleicht gibt es dadurch eine größere Offenheit.“ Wenn es darum geht, Autor*innen für Themenschwerpunkte zu finden, spielt das Geschlecht zwar nicht primär eine Rolle, aber: „Mir fallen auch Frauen ein, weil ich natürlich selbst Frauen-Netzwerke habe“, so Selmer. Generell bestätigt sie den Umstand, dass im Sportressort und gerade im Fußball vor allem Männer für die Produktion von Beiträgen verantwortlich zeichnen. Weil wenige Frauen da sind, kommen eben auch wenige Frauen nach und das liegt möglicherweise daran, dass sich in diesem Bereich schon sehr früh Männernetzwerke bilden. Selmer dazu: „Man spielt zusammen, man guckt zusammen und irgendwann schreibt man vielleicht auch drüber.“ Schließlich heißt es ja auch nicht ‚Königin Fußball‘.

Das Thema „Netzwerke“ spricht auch Stefanie Opitz an, deren Diplomarbeit 2001 den Titel „Allein unter Männern. Berufssituation von Sportjournalistinnen“ trug und die heute sowohl in der Journalist*innen-Ausbildung an der TU Dortmund als auch in der Redaktion des „aktuellen sportstudios“ tätig ist. Auf die Frage, wie sich die Situation ihrer Wahrnehmung nach seit 2001 verändert hat, fällt die Antwort deutlich aus: „Generell sind die Redaktionen stark männlich geprägt, die Zahlen zeigen das ja auch. Es gibt viel zu wenig Frauen im Sportressort, mit Ausnahme vielleicht im Fernsehbereich. Im Print-Bereich hat sich da wenig bewegt, wenngleich es einfacher geworden ist, als Frau im Sportjournalismus Fuß zu fassen. Dadurch, dass der Bereich stark männlich besetzt ist, was die Kommunikatoren und die Medieninhalte betrifft, ist er für Frauen nicht so interessant. Viele Männer finden ja auch den Weg in den Sportjournalismus über den Sport an sich. Da mehr Männer als Frauen Fußball spielen, landen auch mehr Männer in diesem Ressort, die dann dort ihre Netzwerke haben. Es fehlt an Vorbildern.“

Dieses Phänomen stellt sie auch in ihrem eigenen journalistischen Arbeitsbereich fest: „Zu uns in die Redaktion kommen eher Hospitanten als Hospitantinnen.” Ähnlich äußerte sich auch Sportredakteur Andreas Rüttenauer von der Tageszeitung taz: „Jede Frau, die sich in den vergangenen Jahren bei uns um ein Praktikum beworben hat, haben wir auch genommen. Es waren insgesamt vier.“

Denkt man an mögliche weibliche Vorbilder im Sportjournalismus, könnte einem die bereits genannte Katrin Müller-Hohenstein einfallen. Das „aktuelle sportstudio“ moderiert Müller-Hohenstein bereits seit 2006, neben Länderspielen der deutschen (Männer-)Fußball-Nationalmannschaft begleitet sie für das ZDF regelmäßig auch andere Sport-Großereignisse. Auf die Frage, wie sich der Sportjournalismus heute für Frauen darstellt, antwortet sie so: „Ganz ehrlich? Ich kann die Frage nach der Frau in der Männerdomäne nicht mehr hören. Das klingt für mich jedes Mal so, als seien wir irgendwelche bedauernswerten Exoten. Was ist denn das ‘Feld für Frauen’? Gibt es auch das ‘Feld für Männer?'”.

„Ja, klar!“ ruft mir die Statistik entgegen, wenngleich Müller-Hohenstein in ihrer Antwort darauf verweist, dass eben die Diskussion um den Gegenstand der Berichterstattung stärker im Vordergrund stehen sollte als die Frage, welches Geschlecht diejenigen haben, die diesen Gegenstand bearbeiten. Darüber hinaus bezieht sich Katrin Müller-Hohenstein hier vor allem auf ihre eigenen Erfahrungen in ihrem Arbeitsgebiet, die sie als durchweg positiv beschreibt (das ganze Kurzinterview gibt es in der Klappbox am Ende dieses Textes).

„Ich habe mich immer sehr wohl gefühlt“

Eigene positive Erfahrungen in der Branche schildert auch Jana Wiske, die viele Jahre als Redakteurin beim kicker gearbeitet hat und inzwischen als Professorin an der Hochschule Ansbach lehrt. Für sie war immer klar, im Sportjournalismus arbeiten zu wollen, “weil es einfach ein spannender Bereich ist”. Auf die Frage, wie sie selbst ihre Tätigkeit als Sportjournalistin erlebt hat, antwortet sie so: „Ich habe mich immer sehr wohl und sehr gut aufgehoben gefühlt“. Gleichwohl weiß sie auch um das Image des Berufsfeldes: „Die Branche hat ihren Ruf weg und wenn das so ist, ist das auch in der Berufswahl schwierig. Selbstverständlich arbeitet man viel mit Männern zusammen und braucht dann auch jemanden, der einen fördert. Das ist in den letzten Jahren aber besser geworden, weil inzwischen bewusst gefördert wird.“

Die taz und die Idee eines 'feminineren Sportjournalismus'

Eine ganz eigene, progressive Idee zur Förderung von Frauen im Sportjournalismus verfolgt die taz, wie mir Sportredakteur Andreas Rüttenauer erklärte. Im eigenen Haus führte man vor zwei Jahren eine Evaluation durch und stellte fest: „Wir haben im Prinzip überall 50 Prozent Journalistinnen, nur nicht im Sport. Die Sportredaktion hat sich irgendwie so entwickelt, dass es eben nur Männer sind und klar, das kann man natürlich auch kritisieren. Bei drei Mannsbildern in der Redaktion fällt es nicht immer leicht, die feminine Perspektive mitzudenken.“ Als Reaktion auf die hausinterne Evaluation kam unter anderem der Gedanke auf, sich in Form eines eher niedrigschwelligen Zugangs (angehende) Sportjournalistinnen direkt ins Haus zu holen. „Im Prinzip war das so eine Girls’-Day-Variante“, so Rüttenauer. „Wir holen uns die Nachwuchsjournalistinnen her, lernen sie besser kennen und bilden sie dann gegebenenfalls auch für unsere Redaktion aus.“ So entstand unter anderem zusammen mit der taz Panter Stiftung zur (Männer-)Fußball-Weltmeisterschaft 2018 der Workshop „Frauen und Fußball“, in dem sich zehn Journalistinnen dem Thema „Nähe“ widmeten.

Eine andere Reaktion war die, sich im Sportbereich so ein bisschen von der (Männer-)Bundesliga zu entfernen, wobei Rüttenauer auch verdeutlicht, dass die taz ohnehin keine Verlaufs-, sondern eher eine “Spotlight-Berichterstattung” mit einer Seite am Tag bzw. zwei Seiten am Wochenende macht. Die Themensetzung richtet sich dann auch danach, wer verschiedene Themen gut bearbeiten kann; die Bundesliga kann da schon mal den Kürzeren ziehen. „Wenn wir eine Frau haben, die über das Thema „Turnen“ etwas schreiben kann, dann bringen wir das eben auch.“

Allerdings verweist er im Gespräch auch auf zwei interessante Probleme: „Alles, was wir machen, führt dazu, dass die Leute noch mehr von uns wollen. Beispiel Frauenfußball: Wenn wir da was bringen, dann sagen die Leute: Die machen ja doch nur Geschichten, aber keine kontinuierliche Berichterstattung darüber.“ Und, um beim Beispiel Frauenfußball zu bleiben: „Wenn man Frauensport so ernst nimmt wie Männersport, dann muss man auch so darüber schreiben, trifft dann dort aber auf eine Szene, die darauf gar nicht vorbereitet ist.“ So war für Manuel Neuer, Jerome Boateng, Timo Werner und Co. vielleicht absehbar, welches mediale Echo ihr Ausscheiden in der Vorrunde der letzten WM auslösen würde. Die Kritik der taz an der Frauenfußball-Nationalmannschaft nach deren WM-Aus wurde dort, so Rüttenauer, deutlich expliziter wahrgenommen als üblicherweise bei den männlichen Kollegen.

Auf die Frage, was „femininerer Sportjournalismus“ aus taz-Perspektive insgesamt bedeutet, antwortet Andreas Rüttenauer so: „Es geht dabei vor allem um frauenbestärkende Initiativen, die Suche nach best practice und eben auch um den Schritt weg von der klassischen Sportberichterstattung. Letztlich ist die Frage der Berichterstattung ja auch Teil einer Emanzipationsgeschichte. Eigentlich geht es eher darum, andere, „weiblichere“ Themen zu setzen, als Frauen zum Beispiel über Männerfußball berichten zu lassen. Das kann bei uns auch bedeuten, dass wir drei Männer auch mal einen Schwerpunkt zum Frauensport gestalten.“

Interessant ist beim Ansatz der taz auch noch ein anderer Punkt, der wieder zum eigentlichen Thema dieses Textes zurückführt. Die Zeitung fördert Frauen aktiv, will dem Thema „Frauen in der Sportberichterstattung“ viel Platz einräumen (so berichtet z.B. Alina Schwermer für die taz über den Lokalsport in Berlin) und auch Entwicklungsmöglichkeiten geben. Die Erfahrung ist allerdings: „Wenn wir gute Leute ausbilden, kann es uns passieren, dass die schnell wieder weg sind.“ Eigentlich logisch in einem Bereich, in dem Frauen deutlich unterrepräsentiert sind. Damit bleibt auch für die taz das Thema „Förderung und Entwicklung“ ein durchaus ambivalentes.

2015 führte Jana Wiske eine Vollerhebung unter Sportjournalist*innen durch, die den Befund verschiedener anderer Studien hinsichtlich der Geschlechterverteilung bestätigte und weitere interessante, empirische Einblicke in das Berufsfeld bietet. So konnte sie unter anderem ermitteln, dass das Durchschnittsalter der Sportjournalist*innen 2015 bei 48 Jahren lag, 62,8 Prozent der 1006 Befragten fest angestellt waren und 41,1 Prozent ihre Haupttätigkeit bei der Zeitung hatten (vgl. Sportjournalist 5/2017, S. 15). Auch den eingangs geschilderten Befund zur TV-Berichterstattung kann Wiske empirisch untersetzen: „So arbeiten anteilig deutlich mehr Frauen beim Fernsehen (14,8 Prozent) als generell im Sportjournalismus (9,5 Prozent). Hier dürfte das optische Erscheinungsbild eine wichtige Rolle spielen, oftmals verleihen Frauen als Moderatorinnen den Fußballübertragungen Leuchtkraft“ (ebd., S.17).

Die Gründe dafür, dass der Anteil an Frauen im Sportjournalismus über die Jahrzehnte hinweg konstant niedrig ist, sieht Jana Wiske im Gespräch mit 120minuten auch in den Arbeitsbedingungen: „Es gibt im Prinzip kein Wochenende, da ist es mit sozialen Kontakten dann schwierig. Es ist große Flexibilität gefordert, vor allem auch, was den Zeitplan der Sportler angeht. Ich hatte beim kicker mal am Montag ein Gespräch mit meinem Chefredakteur und saß dann am Dienstag direkt im Flugzeug nach L.A..“

Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist auch für Erich Laaser, den Präsidenten des Verbandes Deutscher Sportjournalisten, ein Punkt, der Frauen möglicherweise von einem Einstieg in den Sportjournalismus abhält. Im Gespräch mit Juliane Schiemenz vom journalistinnenbund sagt er dazu Folgendes: “Die Vereinbarkeit ist natürlich schlecht, man muss wissen, worauf man sich einlässt, wenn man das macht. Wenn man mit Kollegen spricht, Ü 40, die eine Familie haben, die verheiratet sind – da ist das alles arrangiert. Aber in den Zwanzigern, wenn man grad erst anfängt in dem Job, da einen Partner zu finden, der sagt: ‘Okay, dann machen wir das so, das funktioniert schon’ – das halte ich für schwer.“

Auch Jana Wiske berichtet davon, dass es gerade als Frau im Fußballkontext nicht immer einfach ist. „In Deutschland heißt Sportjournalismus ja vor allem Journalismus rund um den Fußball und das ist das Liebste, was die Männer haben. Da muss man es als Frau abkönnen, dass man da nicht immer auf große Gegenliebe stößt. Es wird einem unter Umständen wenig zugetraut und ja, man kann es leichter haben im Leben.“ Andererseits: „Ich habe mich damals bewusst dafür entschieden und dann gilt es auch, nicht zu jammern.“

Das Thema „Geschlecht“ sieht auch Nicole Selmer vom ballesterer ambivalent, wenn es um die eigenen Erfahrungen in der Fußballberichterstattung geht: „Manchmal spielt es schon eine Rolle, dass ich eine Frau bin, obwohl ich dazu sagen muss, dass wir beim ballesterer natürlich keinen klassischen Tagesjournalismus machen. Was mich manchmal ärgert, ist, dass ich schriftlich als „Herr Selmer“ angesprochen werde, weil die Leute im Fußballjournalismus offenbar automatisch denken, ich wäre ein Mann. Mitunter glaube ich auch, dass Menschen mir Dinge erklären, die sie Männern nicht erklären würden. Das ist aber nicht unbedingt schlecht, weil man so eben mehr Infos bekommt. Und: Die Leute erinnern sich an mich, das ist dann natürlich auch gut – und gleichzeitig auch schwierig, wenn man Fehler macht.”

„Wichtiger als das Geschlecht ist es, Qualitätsjournalismus im Sportressort zu machen”

Was braucht es nun aber, um als Frau in der Männerdomäne Fußballberichterstattung Fuß zu fassen? Eine Quote, so zumindest Jana Wiske und Stefanie Opitz, jedenfalls schon mal nicht: “Ich möchte nicht für einen Job ausgewählt werden, weil ich eine Frau bin, sondern weil ich etwas kann“, so Wiske. „Eine Quote würde den extremen Kritikern doch in die Karten spielen, weil es dann heißen würde: ‘Die hat den Job nur wegen ihres Geschlechts.’ Leistung und Kompetenz müssen sich durchsetzen und nichts anderes. Dass heutzutage eine gewisse Hilfestellung da sein muss, verstehe ich, gleichzeitig will ich diese Hilfestellung aber nicht. Das ist durchaus ein Dilemma.”

Kompetenz und Qualität sind die Themen, die auch Stefanie Opitz betont: „Das Sportressort hat ja mehr zu bieten als nur Ergebnisberichterstattung. Man sollte grundsätzlich über die Qualität kommen, auch mal hintergründige Sachen machen und sportpolitische Themen wie Korruption, Doping etc. stärker aufgreifen. Wichtiger als die Frage des Geschlechts ist es, Qualitätsjournalismus im Sportressort zu machen und auch in der Ausbildung für kritische Sportberichterstattung zu motivieren.“ Opitz fehlen vor allem alternative, inhaltliche Konzepte, insbesondere in der Lokalsport-Berichterstattung. “Man ist nicht mutig genug, auch mal auf andere Zielgruppen zu fokussieren, da wünsche ich mir tatsächlich mehr Mut in den Redaktionen. Gegebenenfalls würde sich auch die Themensetzung bei der Berichterstattung verändern, wenn mehr Frauen Sportthemen machen.“ Gleichzeitig weiß Stefanie Opitz aber auch: „Frauen müssen immer unter Beweis stellen, dass sie Ahnung haben. Männer haben es da leichter.”

Das unterstellte Kompetenzdefizit hebt auch Medienjournalistin Diemut Roether im Gespräch mit dem journalistinnenbund hervor und thematisiert dazu noch einen weiteren interessanten Punkt: “Eine Untersuchung in Österreich zeigte, dass die befragten Sportjournalistinnen sowohl fachlich als auch journalistisch besser ausgebildet waren als ihre männlichen Kollegen. Trotzdem sahen sie sich häufig mit dem Vorurteil konfrontiert, dass Frauen nicht die notwendige Kompetenz für das Sportressort mitbringen und mussten mehr leisten als die Männer, um sich zu behaupten. In der Befragung wurde häufig über ein schlechtes Arbeitsklima in den Sportredaktionen geklagt. Dennoch sprachen sich die befragten Frauen mehrheitlich dagegen aus, mehr Frauen einzustellen. […] Offensichtlich hatten die Sportjournalistinnen große Angst vor weiblicher Konkurrenz. Auch die ZDF-Sportreporterin Claudia Neumann sprach sich kürzlich in einem Interview mit dem Journalist gegen Frauenquoten im Sportjournalismus aus. ‘Bitte nicht’, sagte sie, ‘ich bin für ein glasklares Leistungsprinzip. Wenn es gute Frauen gibt, werden die sich auch im Sportjournalismus durchsetzen. Die ganze Quotendiskussion ist überflüssig.‘”

Bildet Banden!

Der Fußball als des Mannes liebstes Spielzeug, familienunfreundliche Arbeitszeiten (die aber für Sportjournalisten genauso gelten), Männernetzwerke, die Frauen möglicherweise von einem Einstieg in den (fußballbezogenen) Sportjournalismus abhalten, wenige weibliche Vorbilder – auf diese Punkte ließen sich über alle Gesprächspartner*innen hinweg die Gründe zusammenfassen, die zu einer 10-zu-90-Prozent-Verteilung zwischen Frauen und Männern in der Sport- und Fußballberichterstattung führen. Trotzdem, da waren sich alle interviewten Journalistinnen einig, sind Sportjournalismus und insbesondere der Fußball spannende Arbeitsfelder. Was also ist ihr Rat für Frauen, die über diesen Bereich als mögliches Tätigkeitsfeld nachdenken?

„Selbstbewusst auftreten!“ ist die Antwort von Stefanie Opitz auf diese Frage. „Frauen sollten in die Redaktionen gehen, sich zeigen und deutlich machen: ‚Das ist mein Ding, hier will ich arbeiten.‘ Von männlichen Netzwerken sollte man sich nicht abschrecken lassen, sondern sich gegebenenfalls eine Nische suchen, dort starten und dann eben eigene Netzwerke aufbauen. Wenn man einmal drin ist, kann man sich gut auch woanders ins Gespräch bringen.“

In eine sehr ähnliche Richtung argumentiert auch Nicole Selmer: „Zunächst sollte man sich erst einmal klar machen: Was sind meine Themen, was interessiert mich überhaupt, worüber kann und will ich schreiben? Dort sollte man sich dann ein eigenes Netzwerk schaffen. Vielleicht sollte man auch einfach gar nicht so viel darüber nachdenken, dass man als Frau in einer Männerdomäne arbeitet. Andererseits kann das aber natürlich auch gut sein, weil man als Frau zum Beispiel Geschlechterdifferenzen eher sieht und für Dinge, die Männern selbstverständlich erscheinen, eventuell noch mal einen anderen Blick hat.“

Das Thema „Motivation“ spricht auch Katrin Müller-Hohenstein an: „Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam. Aber ich würde Frauen als erstes raten, ihre Motivation zu überprüfen. Ist es tatsächlich das Thema, das sie interessiert? Oder geht es ihnen in erster Linie darum, sich selber zu präsentieren. Dann sind sie hier falsch. Sie brauchen ein ehrliches Interesse an der Sache, große Einsatzbereitschaft – und manchmal auch ein dickes Fell.“

Auch Jana Wiske plädiert für Mut, Selbstbewusstsein und eben: Netzwerke. „Man sollte als Frau auf jeden Fall versuchen, in dem Bereich Fuß zu fassen, aber man sollte es auch gut versuchen. Das bedeutet, seine Hausaufgaben zu machen, Netzwerke zu bilden und eben auch fachlich kompetent zu sein. Angst ist fehl am Platz, stattdessen hilft ein selbstbewusstes Auftreten. Und man sollte sich nicht entmutigen lassen, wenn mal ein Missgeschick passiert.“

Die Frage, wie mehr (sichtbare) Frauen in der Fußballberichterstattung dessen inhaltliches Erscheinungsbild verändern könnten, muss selbstverständlich (vorerst) eine hypothetische bleiben. Dennoch gibt es natürlich bereits erste Tendenzen, die eine größere Themenvielfalt, andere Schwerpunktsetzungen und viele spannende Geschichten zumindest andeuten. Im Übrigen kann sich auch die 120minuten-Redaktion von einer ziemlich einseitigen, nämlich einer männlichen, Perspektive auf den Fußball nicht freisprechen; bisher sind auf 120minuten.github.io erst ganze vier Texte von Autorinnen erschienen. Und ja, es ist im Jahr 2019 durchaus Zeit, das zu ändern.

Bleibt noch die Überlegung, ob der fußballbezogene Sportjournalismus nicht eine größere Zielgruppe, die der weiblichen Fans nämlich, aus dem Blick verliert, wenn vorwiegend Männer über (Männer-)Fußball reden und schreiben. Hier konnten meine Gesprächspartner*innen für diesen Beitrag ebenfalls nur spekulieren. Möglicherweise ist das aber auch noch einmal eine ganz eigene Geschichte, die ein andermal erzählt werden wird.

Interview mit Katrin Müller-Hohenstein

Was waren Beweggründe dafür, in den Sportjournalismus zu gehen und wie verlief der Einstieg?

Ich habe vor meinem Engagement beim ZDF viele Jahre beim Radio gearbeitet. Ich hatte dort eine tägliche Magazinsendung, in der alles thematisiert wurde, was aktuell und relevant war. Von Politik über Gesellschaft bis hin zu Sport. Und am Wochenende habe ich die Fußballsendung am Samstagnachmittag moderiert. Das hat mir mit am meisten Spaß gemacht. Der Sport war also immer schon da, wenn auch nicht ausschließlich. Das aktuelle Sportstudio habe ich schon als Kind geschaut und bereits damals meinen Eltern mitgeteilt, dass ich diese Sendung irgendwann einmal moderieren werde. Ich wollte nur diese Sendung – keine andere. Der Einstieg lief dann allerdings ein wenig anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Nach zehn Jahren wieder die erste Frau zu sein, die diese Traditionssendung moderiert, war offenbar ein riesiges Thema. Entsprechend war das Medienecho. Ich weiß noch heute, wie ich mir damals gedacht habe: Was wollen die denn alle, ist doch nur eine Fernsehsendung. 🙂

Wie stellt sich das Feld für Frauen aus ihrer Perspektive dar und wie hat es sich seit dem Berufseinstieg ggf. auch verändert?

Ganz ehrlich? Ich kann die Frage nach der Frau in der Männerdomäne nicht mehr hören. Das klingt für mich jedes Mal so, als seien wir irgendwelche bedauernswerten Exoten. Was ist denn das „Feld für Frauen“? Gibt es auch das „Feld für Männer“? Ich kann Ihnen nur meine Perspektive schildern – und die ist durchweg positiv. Ich habe noch nie auch nur ansatzweise Vorbehalte bei Spielern, Trainern oder anderen Verantwortlichen aus der Welt des Sports gespürt. Ein einziges Mal hatte ich sogar einen erkennbaren Vorteil. Das war, als ich Louis van Gaal im Sportstudio zu Gast hatte. Der meinte, es sei schon clever vom ZDF gewesen, ihm eine Frau da hinzusetzen. Da sei er gleich viel freundlicher gewesen. Zum Glück gibt es in den letzten Jahren immer mehr Frauen im Sportjournalismus. Da hat sich das Thema hoffentlich bald von alleine erledigt.

Über 40 Prozent der Stadiongänger*innen sind Frauen, aber nur etwa 10 Prozent der Sportjournalisten sind weiblich. Verliert der Fußballjournalismus da nicht eine wichtige Perspektive? Inwiefern würde sich die Berichterstattung über Fußball aus ihrer Sicht verändern, wenn mehr Frauen in den Redaktionen arbeiten würden?

Sie glauben gar nicht, wieviele Frauen beim ZDF in der Sportredaktion arbeiten. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mal an einem Samstagnachmittag in Mainz in der Redaktion saß – um mich herum nur Frauen – und ich mir damals dachte: Das musst Du Dir jetzt aber echt merken, wenn mal wieder so eine Frage kommt. Dass es noch nicht genug sind, steht außer Frage. Aber daran können vor allem die Frauen selber etwas ändern.

Was würden sie angehenden Journalistinnen raten, die über den (fußballbezogenen) Sportjournalismus als Arbeitsfeld nachdenken?

Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam. Aber ich würde ihnen als erstes raten, ihre Motivation zu überprüfen. Ist es tatsächlich das Thema, das sie interessiert? Oder geht es ihnen in erster Linie darum, sich selber zu präsentieren. Dann sind sie hier falsch. Sie brauchen ein ehrliches Interesse an der Sache, große Einsatzbereitschaft – und manchmal auch ein dickes Fell.

Weiterlesen:

Beitragsbild: © Arne Müseler / arne-mueseler.de / CC-BY-SA-3.0

In unserer Reihe zum Sportjournalismus sind außerdem erschienen:

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Buchbesprechung: Mirco von Juterczenka – Wir Wochenendrebellen https://120minuten.github.io/buchbesprechung-mirco-von-juterczenka-wir-wochenendrebellen/ https://120minuten.github.io/buchbesprechung-mirco-von-juterczenka-wir-wochenendrebellen/#respond Wed, 06 Dec 2017 15:37:22 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3974 Weiterlesen]]>

“Die Scheiße kannst du alleine fressen.”

Kapitel, die so beginnen, können nicht in schlechten Fußballbüchern enthalten sein – wobei “Wir Wochenendrebellen” von Mirco von Juterczenka eigentlich gar kein Fußballbuch im engeren Sinne ist. Der Untertitel (“Ein ganz besonderer Junge und sein Vater auf Stadiontour durch Europa”) lässt zwar eine Aneinanderreihung von Groundhopping-Episoden erwarten, schnell wird beim Lesen allerdings deutlich, dass das eigentliche Thema ein ganz anderes ist. Es geht um Autismus (genauer: um das Asperger-Syndrom von Sohn Jason), darum, wie die Diagnose den Alltag der Familie von Juterczenka beeinflusst (hat) und um die Rolle, die die gemeinsamen Stadiontouren von Vater und Sohn in dieser Gemengelage nicht nur für die Protagonisten, sondern für die ganze Familie spielen.

Besagte Touren und die damit verbundenen Erlebnisberichte in 17 Kapiteln dienen dementsprechend eher als Rahmen denn als Haupthandlung, was gleichzeitig aber auch eine besondere Stärke des Buches ist. So erfährt man beispielsweise nach dem eingangs zitierten Einleitungssatz, warum bereits die Bestellung einer Mahlzeit in einem ICE-Bordbistro unter den gegebenen Umständen für Jason, aber auch für Vater Mirco eine besondere Herausforderung darstellen kann. Oder warum der Besuch einer Pizzeria in Kiel schon auch mal eine abendfüllende Veranstaltung wird, an deren Ende ein überzeugendes Argument des Sohnes und ein völlig übersättigter Vater stehen. Oder was eine Bierdusche in Freiburg mit einem Vierbett-Abteil im Nachtzug und einem, nun ja, etwas anderen Toilettengang im Hamburger Millerntor-Stadion zu tun hat.

Besonders großartig ist “Wir Wochenendrebellen” an den Stellen, an denen die Leser*innenschaft die Stadionbesuche in Dortmund, Gelsenkirchen, Aue oder Hoffenheim aus der Perspektive von Jason erlebt bzw. an denen deutlich wird, auf welch besondere Weise Jason die Stadionerlebnisse wahrnimmt. Da können dann – aus guten Gründen – die Betonstufen in Hoffenheim oder die Fangesänge in Aue schon auch mal deutlich interessanter sein als das Spiel an sich. Gleichzeitig stellen genau diese Episoden Vater Mirco immer wieder vor Herausforderungen, sei es, weil das Verhalten des Sohnes mitunter für unwissende Umstehende nicht immer plausibel erscheint und durchaus auch mal in unschönen Formen der Selbsterniedrigung enden kann oder weil über allem ja irgendwie auch noch die Aufgabe steht, Jason seinen Lieblingsfußballclub finden zu lassen. Alles nicht so einfach, dafür aber schonungslos ehrlich erzählt, was beim Lesen zu herzhaftem Lachen, ungläubigem Kopfschütteln, aufrichtiger Bewunderung und ja, auch dem einen oder anderen feuchten Auge führt.

Müsste man “Wir Wochenendrebellen” in drei Sätzen zusammenfassen, ginge das eigentlich nicht besser als mit den Worten von Juterczenkas auf Seite 209:

“Die Welt braucht keinen weiteren weißen Mann, der Minderheiten und behinderten Menschen sagt, was sie dürfen und können oder gar wert sind. Mir war es ein Bedürfnis, meinen wunderbaren Sohn vorzustellen, die Behinderungen und “Behilflichkeiten” aufzuzeigen, vielleicht mit unseren Erlebnissen zu unterhalten, zu überraschen und klarzustellen, dass Fußballstadien mit ihren Fans ein Mikrokosmos der Gesellschaft sind, in dem man unabhängig von Nationalität, Hautfarbe oder sexueller Orientierung sehr viele großartige Menschen kennenlernen kann. Fußballfans, die uns auf unserer Suche halfen, und von denen einige heute Freunde sind.”

Nach der äußerst kurzweiligen Lektüre des 242 Seiten starken Buches lässt sich kurz und knapp festhalten: Dieses Anliegen ist vollumfänglich geglückt, zumal die Berichte durch ein Vorwort und ein ausführliches Glossar von Jason gerahmt werden und die Leser*innenschaft so auch die Gelegenheit bekommt, seine Perspektive einzunehmen.

“Wir Wochenendrebellen” ist bei Benevento Publishing erschienen und ja, das ist eine Marke der Red Bull Media House GmbH. Eine klare Kaufempfehlung gibt es trotzdem, und wer die 20 Euro investieren möchte, tue dies am besten über diesen Link: http://www.wochenendrebellen.de/bestellen. Jeder Kauf unterstützt so die Neven-Subotic-Stiftung.

Ein Exemplar des Buches wurde uns zur Rezension vom Autor kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Beitragsbild: (c) Sabrina Nagel, www.siesah.de

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Das vergessene Wunderteam https://120minuten.github.io/das-vergessene-wunderteam/ https://120minuten.github.io/das-vergessene-wunderteam/#comments Fri, 30 Jun 2017 15:00:52 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3454 Weiterlesen]]> Es gibt Geschichten, die sind fast schon zu kitschig, um wirklich wahr zu sein. Diese hier handelt von einer Handvoll Jungs, Jahrgang 1940, die zusammen in der noch jungen DDR aufwachsen. Die im gleichen Viertel groß werden, sich aus dem Schutt des Krieges einen eigenen Fußballplatz an ihrer Straße bauen, dort die Spielansetzungen gegen die Teams aus den anderen Straßen an die Wände schreiben. Die schließlich als Klassenmannschaft 1954 den Titel des “Stadtmeisters der Magdeburger Schulen” erringen, um anschließend auf Bezirksebene erst im Finale zu unterliegen. Eine Handvoll Freunde, die nach der 8. Klasse geschlossen in einen Verein eintreten, dort die B-Jugend-Konkurrenz zwei Jahre lang nach Belieben dominieren und denen schließlich, als aus Jungen Männer werden, für eine Karriere im höherklassigen Fußball die damaligen Strukturen im Wege stehen. Einer dieser Jungs ist mein Vater. Das ist auch seine Geschichte.

Alexander Schnarr, nurderfcm.de | 120minuten.github.io

Magdeburg, Anfang der 1950er Jahre. Die heutige Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts wurde am 16. Januar 1945 durch einen verheerenden Luftangriff der alliierten Streitkräfte stark zerstört, 90% der Altstadt fielen den Bomben zum Opfer, über 2.000 Menschen starben, mehr als 190.000 wurden ausgebombt. Die Auswirkungen sind noch deutlich zu spüren, die Aufräum- und Aufbauarbeiten kommen nur langsam voran. Wenige Jahre zuvor war ein neuer Staat gegründet worden; Magdeburg liegt nun auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates. Die Helden unserer Geschichte kümmern die politischen Umstände freilich wenig und die sozialen wie ökonomischen nur insofern, als dass man im Alltag einfach gewaltig improvisieren und mit dem klarkommen musste, was man eben so vorfand. Das war zwar nicht allzu viel, reichte aber trotzdem, um sich mit den für damalige Verhältnisse typischen Aktivitäten die Zeit zu vertreiben: Man ging zur Schule, half den Eltern mit Haus und Hof und spielte ansonsten vor allem Fußball. Immer. Die ganze Zeit. Und: bereits in jungem Alter erstaunlich selbstorganisiert. Glaubt man den Erzählungen, müssen das große Schlachten gewesen sein damals, die die Jungs aus der “Wedringer” in Magdeburg-Neustadt zum Beispiel gegen die Friedrich- oder die Kurze Straße geschlagen haben, auf einem Fußballplatz, den man sich auf einem Trümmergrundstück selbst hergerichtet hatte. Die Duelle wurden auf Häuserwänden angekündigt und Sieg oder Niederlage machten einen entweder zum König des Viertels oder zum Gespött der anderen. Eine Zeitlang zumindest, bis zum nächsten Duell.

Magdeburgs Beste und Vize im Bezirk

Die Talente der Jungs blieben natürlich auch den Erwachsenen nicht verborgen und so kam der eine oder andere schon im jungen Alter mit dem Vereinsfußball in der Nachbarschaft in Kontakt. Wirklich ernsthaft gekickt wurde aber überwiegend weiter auf der Straße mit den Freunden aus dem Viertel, die neben Mannschafts- irgendwann zu Schulkameraden wurden. Und das war – zumindest in fußballerischer Hinsicht – ein großes Glück für die Truppe, denn: organisierter, wettbewerbsorientierter Fußball war in jenen Jahren unterhalb der B-Jugend lediglich auf Schulebene möglich, weil sich die Strukturen im Jugendfußball, wie so vieles in dem noch jungen Staat, gerade erst im Aufbau befanden:

“Bis zur Gründung der DDR gab es erst eine zentrale Veranstaltung für den Nachwuchs: die Meisterschaften für die 16- bis 18jährigen Fußballspieler (A-Jugend). Ein Jahr später folgte der “Junge-Welt”-Pokal, im Jahr 1949 vom Zentralorgan der FDJ zur Förderung des Berliner Nachwuchsfußballsports ins Leben gerufen, nun ein als Einladungsturnier im Republikmaßstab ausgeschriebener Wettbewerb. In der Saison 1951/1952 kamen die Meisterschaften der 14- bis 16jährigen (B-Jugend) und der FDGB-Wanderpokal, zunächst für die A- und ab 1955 für die B-Jugend, sowie Ende des Jahres 1952 das Hallenfußball-Schülerturnier um den “Wanderpokal des 13. Dezember”, anläßlich des 4. Jahrestages der Pionierorganisation “Ernst Thälmann” aus der Taufe gehoben, in Dippoldiswalde hinzu.” (Schulze 1976, S. 77)

Mit anderen Worten: Wollte man als Zehn-, Elf- oder Zwölfjähriger Anfang der Fünfziger Jahre in der DDR wettbewerbsorientiert Fußball spielen, ging das im Prinzip nur über die Schule. So ist denn auch im Zusammenhang mit dem besagten Wanderpokal ausschließlich von Schulmannschaften die Rede:

“Am 13. Dezember 1952 schließlich fand dann in der Jahnturnhalle das erste große republikoffene Hallenturnier statt, das der Dresdner Hallenmeister, die 7. Grundschule Dresden, durch einen 5:2-Endspielsieg über die Ernst-Thälmann-Schule Kirschau gewann. Der wertvolle “Wanderpreis des 13. Dezember” wurde im nächsten Jahr von der 7. Grundschule Grimma errungen.” (ebd., S. 78)

Auch die Jungs aus der Wedringer Straße in Magdeburg kickten dementsprechend zusammen in der Schulmannschaft, die genau genommen eigentlich eine Klassenmannschaft war, rekrutierte sich das Team doch im Wesentlichen aus der “a”, also der Klasse meines Vaters und dem großen Teil seiner Freunde. Enorme Unterstützung erfuhr das Team vom damaligen Direktor der Schule, einem absoluten Fußballfanatiker, der die Jungs mitunter schon auch mal einfach trainieren ließ, wenn eigentlich Unterricht anstand. Waren Vergleiche mit den anderen Magdeburger Schulen angesetzt, konnte auch mal auf wundersame Weise der Unterricht ausfallen; zum Stadtmeisterschaftsfinale 1954 war komplett schulfrei, während alle Kinder gleichzeitig angehalten waren, sich am Endspielort im Süden der Stadt einzufinden, um die eigene Mannschaft zu unterstützen. “Weitere Privilegien in dem Sinne haben wir eigentlich keine gehabt”, erzählte mir Wolfgang Bäse, Vizekapitän der ‘54er Stadtmeistermannschaft, im April 2017 bei einem Gespräch im Wintergarten meiner Eltern, “aber es konnte durchaus schon mal vorkommen, dass man, wenn man eine Arbeit verhauen hatte und deswegen eigentlich nicht hätte spielen dürfen, die Unterschrift der Eltern erst ein, zwei Tage nach dem Spiel vorzeigen musste.”

Ähnlich wie früher auf der Straße, ging es nun auch in der Schulmeisterschaft in jedem Spiel um alles, war der Wettbewerb doch als K.O.-Turnier organisiert und konnte dementsprechend jede Partie die letzte sein. Und wie früher im Viertel gab es nun auch im organisierten Wettkampfbetrieb hartnäckige Konkurrenz, die es zu schlagen galt. Wie ernst auch die Zuschauer die Begegnungen zwischen den Schulen nahmen, illustriert eine Anekdote aus dem Halbfinale: Mittelfeldspieler Manfred Schnarr will eine Ecke schlagen, wird aber in der Ausführung zu Fall gebracht – von einem Rentner im Publikum, der mit seinem Krückstock ausgeholt hatte und dem jungen Kicker mitten in der Bewegung das Bein wegzog.

Diesen und anderen Widrigkeiten zum Trotz stieß das Team bis ins Finale vor und gewann es schließlich auch – vielleicht nicht unbedingt als technisch und taktisch beste Mannschaft, wohl aber als vermutlich eingespielteste Truppe im Teilnehmerfeld. Ein Pfund, mit dem man auch später im Verein noch gewinnbringend würde wuchern können. Als “Stadtmeister der Magdeburger Schulen” war man nun auch berechtigt, die eigenen Farben auf Bezirksebene zu vertreten. Plötzlich kamen die Gegner nicht mehr von der Richard-Dembny-Schule in Magdeburg-Ottersleben oder der Martin-Schwantes-Schule in Magdeburg-Sudenburg, sondern aus der Magdeburger Börde und der Altmark. Auch hier waren die Jungs, die einst auf der Straße zusammen kickten und plötzlich als beste Magdeburger Jugendmannschaft am Bezirkspokal teilnahmen, überaus erfolgreich und scheiterten erst im Finale. Dennoch ein Riesenerfolg für die Truppe der Thomas-Müntzer-Schule aus Magdeburg-Neustadt: Man stellte im Jahr 1954 die zweitbeste Schülermannschaft im gesamten Bezirk, also der nördlichen Hälfte des heutigen Sachsen-Anhalt.

Die Stadtmeister 1954

Wie sich erst viel, viel später herausstellen sollte, würden diese Erfolge die einzig zählbaren für das Team um Wolfgang Bäse, Manfred Schnarr, Günther Warras, Hansi Lorenz, Ingo Bode und Co. bleiben. Und das, obwohl man nach dem Verlassen der (damals noch achtjährigen) Grundschule im Jahr des Stadtmeisterschaftsgewinns nahezu geschlossen in die B-Jugend der BSG Einheit Magdeburg wechselte, dort zwei weitere Jahre lang äußerst erfolgreich zusammen kickte und unter anderem im Rahmen eines Einladungsturniers im Jahr 1956 die Altersgenossen der Stuttgarter Kickers besiegen konnte. Das heißt, genau genommen wechselte man nicht in die B-Jugend, man war die B-Jugend des Clubs. Oder noch genauer: Man war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich die einzige Jugendmannschaft, die für die BSG Einheit Magdeburg um Punkte kämpfte – und das sollte, was zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls noch nicht absehbar war, für den weiteren Werdegang der Bezirksvizemeister von 1954 entscheidend sein.

Betriebssport “von oben”

Bevor wir diesen Punkt wieder aufgreifen, lohnt an dieser Stelle vielleicht ein kleiner Ausflug in den leistungsorientierten DDR-Fußball zur damaligen Zeit und zur Bedeutung Magdeburger Fußballmannschaften im republikweiten Vergleich. Organisiert gekickt wurde sowohl in der sowjetischen Besatzungszone als auch bundesweit nach dem 2. Weltkrieg relativ schnell wieder; für den Osten Deutschlands ist bereits ab Herbst 1945 wieder ein geregelter Wettkampfbetrieb dokumentiert, der allerdings zunächst lediglich auf Stadt- und Kreisebene stattfand und sich nur langsam auf überregionale Vergleiche ausdehnte. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Entwicklung des Sports in der ehemaligen DDR immer auch eng mit dem Versuch der Entwicklung der Gesellschaft als Ganzer verwoben war. Mit anderen Worten: Der Aufbau von Strukturen im DDR-Fußball war immer auch eine politische Veranstaltung. Gut zeigen lässt sich das anhand des Umstandes, dass zunächst der kommunistische Jugendverband FDJ (“Freie Deutsche Jugend”) mit der Organisation und Leitung des Spielbetriebs betraut war: “Anstelle einer Aufsicht durch die Sportämter trat die politische Führung des Sports durch die einheitliche, antifaschistisch-demokratische Jugendorganisation. Die Beschränkungen des Sportverkehrs auf das Kreisterritorium wurden durch einen Befehl der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) aufgehoben.” (ebd., S. 16).

Im Oktober 1948 trat der “Freie Deutsche Gewerkschaftsbund” (FDGB) neben der FDJ als weiterer Träger der im politischen Vokabular der DDR-Führung so bezeichneten “demokratischen Sportbewegung” hinzu; gemeinsam mit dem FDGB-Vorsitzenden Hans Jendretzky verkündete ein gewisser Erich Honecker, Ende der 1940er Jahre Vorsitzender des Zentralrats der FDJ, bereits am 1. August 1948 folgendes:

“Die Zeit des Aufräumens und der Vorbereitung ist nun vorbei. Endlich können wir an den Aufbau einer einheitlichen demokratischen deutschen Sportbewegung herangehen… Wir rufen auf, in allen Dörfern, Städten und Großbetrieben Sportgemeinschaften ins Leben zu rufen, an deren Spitze die besten und bewährtesten antifaschistischen Sportler treten sollen. Die demokratischen Sportler, vereint in den Sportgemeinschaften, sollen ihre ehrenvollen Aufgaben in der Gesundung unseres Volkes sowie der Wiederherstellung einer friedlichen Wirtschaft erblicken… Wir wollen unseren Sport so entwickeln, daß er der Gesunderhaltung des Körpers und der Leistungssteigerung im Beruf dient und damit Freude, Frohsinn und Entspannung von der täglichen Arbeit schafft. Die Sportler und Sportlerinnen werden gemeinsam mit den Millionen organisierter fortschrittlicher Menschen den Kampf gegen den Faschismus und für den Frieden führen. Unsere demokratische Sportbewegung wird der Wiederherstellung des Ansehens Deutschlands in der Welt und der Freundschaft der Jugend aller Völker dienen.” (ebd., S. 20)

Mit dieser Initiative einer “demokratischen Sportbewegung” endete im Osten Deutschlands gewissermaßen auch endgültig die Zeit bürgerlicher Vereine (die mit Kriegsende ohnehin verboten und weitestgehend aufgelöst worden waren), stellte man doch im weiteren Verlauf auf “Betriebssport” in Trägerschaft der staatlichen Unternehmen, der sogenannten “volkseigenen Betriebe”, um. Fortan traten die Teams also als Betriebssportgemeinschaften (BSG) gegeneinander an, wobei die Vereinsnamen anzeigten, zu welcher Organisation die Mannschaften jeweils gehörten. Während die Paarungen in der Saison 1949/1950 beispielsweise “BSG Waggonbau Dessau” gegen “BSG Märkische Volksstimme Babelsberg” oder “ZSG Horch Zwickau” gegen “ZSG Industrie Leipzig” lauteten, spielte später ‘Traktor’ gegen ‘Aktivist’ und ‘Chemie’ gegen ‘Lokomotive’.

Dominanz sächsischer Teams in den Anfangsjahren des DDR-Fußballs
Magdeburger Mannschaften sucht man übrigens an der Spitze der DDR-Liga-Pyramide bis 1960 vergebens; erst in der (unterjährig ausgespielten) Saison 1959 konnte sich der SC Aufbau Magdeburg erstmals seit der Gründung der DDR für die höchste Spielklasse qualifizieren. Dominant waren in der Anfangszeit des DDR-Fußballs vor allem sächsische Teams. Horch Zwickau stellte den ersten DDR-Meister 1949, in den Jahren 1950 bis 1954 waren stets mindestens 2 sächsische Sportgemeinschaften unter den ersten 3. In der Spielzeit 1952/1953 belegten mit Dynamo Dresden, Zentra Wismut Aue, Motor Zwickau und Rotation Dresden sogar gleich vier Vereine aus Sachsen die vordersten Plätze.

Auch wenn der Magdeburger Fußball zunächst überregional überschaubar erfolgreich war, erfreute er sich in der Stadt doch ausgesprochen großer Beliebtheit. In der 2. Liga erreichten der SC Aufbau bzw. seine Vorgänger, die BSG Krupp-Gruson und Motor Mitte, einen Zuschauerschnitt von knapp 11.700 Menschen (Saison 1953/1954). In den Ligen darunter kämpften 1954 vor allem die Teams von Turbine, Aufbau Börde, Traktor Süd-West (Bezirks- und damit 3. Liga) oder Motor Magdeburg-Neustadt (Bezirksklasse) um Punkte. Die BSG Einheit, das Team der Stadtverwaltung, bei der unsere Magdeburger Stadtmeister von 1954 inzwischen den Nachwuchs bildeten, sucht man allerdings in den ersten vier DDR-Ligen vergeblich.

Das lag allerdings weniger an einem Mangel an fußballerischer Qualität, als vielmehr an den insbesondere für die Anfangszeit des DDR-Fußballs typischen Umorganisations-, Umbenennungs- und Delegationsmaßnahmen. Die Mannschaft war nämlich eigentlich im Magdeburger Fußball recht erfolgreich, trat 1949/1950 noch unter dem Namen “BSG Grün-Rot Stadt Magdeburg” in der zweitklassigen Landesklasse Nord Sachsen-Anhalt an und belegte dort den 6. Rang. Ab 1950/1951 hieß man dann eben “Einheit”, spielte drittklassig und sollte schließlich 1952/1953, nach einer weiteren Ligenreform, in der (ebenfalls drittklassigen) Bezirksliga Magdeburg an den Start gehen. Allerdings wechselte die komplette Fußball-Sektion des Stadtverwaltungsteams noch vor Saisonstart zur eben schon erwähnten BSG Aufbau Börde, die fortan den Bezirksligaplatz einnahm – ein Schicksal, das im DDR-Fußball alles andere als untypisch war und in weitaus größerem Maßstab später beispielsweise auch Empor Lauter aus dem Erzgebirge ereilen sollte. Deren Fußballabteilung musste nicht nur in eine ganz und gar andere Stadt, sondern gleich in einen völlig anderen Landesteil umziehen und ging plötzlich als SC Empor Rostock an den Start. Bei Einheit Magdeburg wurde indes zwar weiter Fußball gespielt, aber eben irgendwo unter “ferner liefen” in den Niederungen des Magdeburger Stadtfußballs.

“Wir sind vergessen worden”

Und in dieser Situation stießen nun eben unsere Stadtmeister als neue B-Jugend zum Verein. Über die Frage, warum es ausgerechnet “Einheit” wurde, lässt sich nach über 60 Jahren nur noch spekulieren – der Umstand, dass es enge personelle Verknüpfungen zwischen dem Sektionsvorstand “Fußball” im Verein und dem für Sport in Magdeburg zuständigen Stadtvorstand gab, der auch die Auszeichnung der Schulmannschaft für ihre Kreis- und Bezirksmeisterschaftserfolge vorgenommen hatte, dürfte aber keine unwesentliche Rolle gespielt haben. Wie das als neue und gleichzeitig einzige Jugendmannschaft eines Vereins dann so ist, starteten die Jungs konsequenterweise auch ganz unten in der Ligapyramide – und da man nun bereits seit gut 10 Jahren zusammen Fußball spielte, war man der Konkurrenz trotz des Status’ als Neuling ob der eigenen Eingespieltheit um Längen überlegen. Dementsprechend pflügte man der Legende nach durch die eigene Staffel, nur, um in der Saison darauf wieder in der gleichen Spielklasse antreten zu müssen. Weil es bei Einheit keine weiteren Jugendmannschaften gab, die irgendwie hätten aufrücken können, blieb den Jungs der sportlich eigentlich errungene Aufstieg schlicht und ergreifend verwehrt. Das und der Umstand, dass dem Verein die erfolgreiche Herren-Mannschaft 1952/1953 durch den Wechsel zu Aufbau Börde verlustig gegangen war, erklärt vielleicht auch, warum die Stadtmeister von 1954 nie als A-Jugend-Vereinsmannschaft um Punkte kämpften: Als es soweit war, dass man eigentlich in die höhere Altersklasse hätte aufrücken sollen, wurde gar nicht erst ein A-Jugend-Team gemeldet – die Jungs, die aus dem 54er Team noch übrig waren (und nicht aufgrund von Ausbildungen oder Umzügen ohnehin schon irgendwo anders spielten oder ganz mit dem Fußball aufgehört hatten) rutschten mit 17, 18 Jahren direkt in die unterklassig antretende Herrenmannschaft – und damit wohl endgültig aus dem Fokus des leistungsorientierten Fußballs, zumal sie in so jungen Jahren im Männerbereich “einfach untergingen” (Mittelfeldspieler Hansi Lorenz).

Die Geschichte könnte an der Stelle eigentlich enden, würde nicht eine entscheidende Frage offen bleiben. Eine, die mich umtreibt, seitdem mir mein Vater vor vielen, vielen Jahren erstmals von dieser Mannschaft erzählte, diesem “Wunderteam”, das 1954 das beste der Stadt und später in seiner Spielklasse im Jugendfußball konkurrenzlos war: Warum, zum Teufel, ist aus diesem Team niemand im höherklassigen Magdeburger Fußball angekommen? Schaut man sich den Kader des SC Aufbau an, des Vorgängervereins des heutigen 1. FC Magdeburg, dem 1959 der Erstliga-Aufstieg gelang, findet man dort Namen wie Uwe Meistring und Jürgen Isleb, ebenfalls Jahrgang 1940 und bereits mit 18, 19 Jahren mit Einsatzzeiten in Liga 1 und 2. Die Namen “Bode”, “Schnarr”, “Jungmann” oder “Lupner” findet man dort nicht – und das, obwohl es ja in der Laufbahn der ‘54er Stadt- und Bezirksvizemeister durchaus Begegnungen mit späteren Magdeburger Fußballgrößen wie Rolf “Bolle” Retschlag oder Rainer Wiedemann gab, mit denen der eine oder andere in der Jugend-Bezirksauswahl kickte; trainiert übrigens von “Anti” Kümmel, der zunächst vor allem für den Nachwuchs und die 2. Mannschaft des FCM-Vorgängers verantwortlich zeichnete und ab 1962 sogar Cheftrainer der Ersten war.

Die Antwort geben mir Wolfgang Bäse, Ingo Bode, Hansi Lorenz und mein Vater, Manfred Schnarr, im gemeinsamen Gespräch. Und sie ist erstaunlich einfach: “Wir sind vergessen worden”. Ein Sichtungssystem, wie man das heute kennt, bei dem junge Talente schon frühzeitig entdeckt werden, schnell in die entsprechenden Nachwuchsleistungszentren wechseln und dann dort unter professionellen Bedingungen technisch, taktisch und persönlich auf höchstem Niveau ausgebildet werden, war Mitte, Ende der fünfziger Jahre in der jungen DDR noch vollkommen undenkbar. Hinzu kamen die bereits erwähnten strukturellen Defizite, die längere Zeit unterhalb der B-Jugend keinen vereinsseitig organisierten Jugendfußballbetrieb vorsahen. Zwar gab es in Magdeburg ab dem Schuljahr 1953/1954 eine “Allgemeinbildende Schule mit erweitertem Unterricht im Fach Körpererziehung” (Malli/Laube 2000, S. 20), die später zur “Kinder- und Jugendsportschule” wurde und damit in das DDR-System der Nachwuchsförderung im Sport eingebunden war, allerdings kam deren Gründung für unsere Magdeburger Stadtmeister zu spät – oder die eigene Geburt zu früh, je nachdem, wie man es sehen will. Denn noch einen anderen Aspekt darf man nicht außer Acht lassen: In der Entwicklung des DDR-Sports hatte der Fußball anfangs einen schweren Stand, waren es doch eher die Einzelsportarten, die gefördert wurden, weil sie im Vergleich zu einem erst aufwändig zu entwickelnden Mannschaftssport die schnelleren (internationalen) Erfolge versprachen.

Und so kommt es, dass vier Männer Ende 70 im April 2017 irgendwo in Magdeburg gemeinsam beim Kaffee sitzen, sich an die gute, alte Zeit erinnern und im Laufe der Diskussion irgendwann die Erkenntnis reift, dass es sicherlich nicht unbedingt (nur) mangelndes Talent, sondern vor allem die zur damaligen Zeit vorherrschenden Strukturen waren, die den ganz großen Wurf und eine Karriere als Fußballer in den höchsten Spielklassen der DDR verhindert haben. Aber was heißt das schon, ‘großer Wurf’? Denn auch in diesem Punkt sind sich alle einig: Trotz der Entbehrungen, trotz der vielleicht verpassten Chancen, trotz der sicher nicht immer ganz einfachen Jahre nach dem Krieg war es rückblickend doch eine schöne Zeit. Kindheit und Jugend eben, die man weitestgehend bolzend und als eingeschworene Truppe verbrachte. Oder um es mit den Worten von Außenverteidiger Ingo Bode zu sagen: “Das waren unsere besten Jahre.”

Und es bleibt eine Stadtmeisterschaft, an die sich heute vielleicht wirklich nur noch die Spieler erinnern, die damals selbst dabei waren, die ihnen aber trotzdem niemand je wird nehmen können.

Literatur:

Malli, Hans-Joachim/Laube, Volkmar (2000): 1. FCM – Mein Club. Magdeburg: ESV Verlagsgesellschaft mbH.

Schulze, Gerhard (1976): 1949-1956/57. In: Zöller et al.: Fußball in Vergangenheit und Gegenwart. Band 2: Geschichte des Fußballsports in der DDR bis 1974. Berlin: Sportverlag.

Weitere Quellen:

Husmann, Rolf/Buss, Wolfgang (2007): “Das war gar nicht so einfach” – Fritz Gödicke und der Fußball in der DDR. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.5446/19126.

Deutscher Sportclub für Fußballstatistiken e.V. (2015): DDR-Fußballchronik. Band 1: 1949/50-1956. Berlin.

Deutscher Sportclub für Fußballstatistiken e.V. (2006): DDR-Fußballchronik. Band 2: 1957-1962/63. Berlin.

Teichler, Hans Joachim (2006): Fußball in der DDR. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/apuz/29767/fussball-in-der-ddr?p=all.

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Sicher gibt es bessere Zeiten https://120minuten.github.io/sicher-gibt-es-bessere-zeiten/ https://120minuten.github.io/sicher-gibt-es-bessere-zeiten/#comments Thu, 24 Nov 2016 07:00:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2601 Weiterlesen]]> Fußballliteratur als Erinnerungsort in der DDR-Oberliga

Gern besinnen sich Fußballvereine ja auf ihre so genannten ‘Tradition’ – was interessanterweise offenbar vor allem dann passiert, wenn die richtig großen Erfolge der Vereinsgeschichte schon einige Jahre zurückliegen und die Gegenwart weit weniger glamourös daherkommt als die sportlich goldenen Zeiten, die man heute allenfalls noch aus verklärenden Erzählungen kennt. In der deutschen Fußballgeschichte sicher einzigartig ist dabei die Situationen der “Klasse von 1990/1991”, jener Gruppe von Mannschaften, die zum Ende der DDR die letzte Meisterschaft eines Verbandes ausspielten, der in ebendieser Saison und 32 Jahre nach seiner Gründung aufhörte, zu existieren. In welcher Form beziehen sich diese Clubs auf ihre eigene Geschichte, welcher Stellenwert kommt der ‘Tradition’ in diesem Zusammenhang heute noch zu und: welche Rolle spielt möglicherweise die Literatur als Erinnerungsort für Vereine, die sich Zeit ihres Bestehens mehr als nur einer tiefgreifenden Zäsur ausgesetzt sahen? Diese Fragen sind Ausgangspunkt und Zentrum des folgenden Longreads.

Autoren: Alexander Schnarr (nurderfcm.de), Julien Duez (footballski.fr), Christoph Wagner, (anoldinternational.co.uk)

Schaut man sich die Tabelle der letzten DDR-Oberligasaison 1990/1991 an, kommt einem als im Osten Deutschlands sozialisierter Fußballfan zu allererst ein Begriff in den Sinn: “Traditionsvereine”. Neben allseits bekannten Clubs, die auch heute im Profifußball (wieder) eine Rolle spielen, stritten während des Abgesangs auf den organisierten DDR-Fußball so klangvolle Namen wie die BSG Stahl Brandenburg, der 1. FC Lokomotive Leipzig oder der Eisenhüttenstädter FC Stahl um Punkte; Vereine, die heute in den Amateurligen der Republik zuhause sind und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch noch eine ganze Weile sein werden. Ihre Bedeutung für den gesamtdeutschen Fußball ist inzwischen allenfalls marginal, trotzdem sind die Erfolge dieser Mannschaften im und für den DFV, das DDR-Pendant zum Deutschen Fußball Bund, nicht von der Hand zu weisen: Lok Leipzig spielte einst vor 100.000 Zuschauern im Zentralstadion, dribbelte mit einiger Regelmäßigkeit im Europapokal auf und konnte 1987 sogar das Finale des Pokalsiegercups erreichen. Stahl Brandenburg und Eisenhüttenstadt traten ebenfalls jeweils eine Saison im Europapokal an.

Gemeinsam haben diese Clubs mit (wieder erwachten) Größen und ehemaligen Liga-Konkurrenten wie dem 1. FC Magdeburg und der SG Dynamo Dresden, dass die glorreichen Zeiten der nationalen Erfolge mit dem Fall der Mauer mehr oder weniger enden; die Wiedervereinigung nicht nur als historischer Meilenstein in der Weltgeschichte, sondern auch als Zäsur für den ostdeutschen Fußball. Und dennoch: Im kollektiven Gedächtnis der Fußball-affinen DDR-Sozialisierten wird man mit dem 1. FC (früher Vorwärts) Frankfurt/Oder, der BSG Chemie Leipzig oder dem Eisenhüttenstädter FC Stahl nicht zuvorderst Amateurclubs aus der Nachbarschaft, sondern den eben schon genannten Begriff der ‘Traditionsvereine’ verbinden, womit sie letztlich eben doch in einer Reihe stehen mit dem BFC Dynamo, dem FC Carl Zeiss Jena, dem 1. FC Magdeburg oder dem FC Rot-Weiß Erfurt.

Was genau verbirgt sich aber hinter dem Begriff der ‘Tradition’ und: Inwiefern ist es überhaupt legitim, von ‘Traditionsvereinen’ zu sprechen, wo doch die Traditionslinie, auf die man sich notwendigerweise berufen muss, (sport)politisch spätestens 1991 endet? Ein Umstand übrigens, der für Vereine im Osten der Bundesrepublik gleich im doppelten Sinne gilt:

“Für die Ostvereine gab es […] eine weitere Zäsur, die mit der Besatzung durch die Rote Armee 1945 begann und nach der DDR-Gründung fortgeführt wurde. Alle Verbindungslinien in die Vergangenheit, auch die vor Hitler, sollten gekappt werden. Das gelang beeindruckend gut. Danach begann ein großes Wirrwarr von Neugründungen, Zusammenlegungen, Neu-Neugründungen etc. bis dann 1966 der DDR-Fußball durch die Erschaffung von Fußballklubs seine endgültige Form annahm. Wie widersprüchlich das alles ist, kann man gut daran erkennen, dass am 26. Januar [2016] der FC Rot-Weiß Erfurt seinen 50. Geburtstag feierte. Am darauf folgenden Wochenende laufen die Spieler des Vereins mit einem Trikot auf, das mit einen Stern und der Ziffer zwei darin geschmückt ist. Die beiden solcherart zur Schau getragenen Meisterschaften wurden 1954 und 1955 gewonnen, mithin mehr als 10 Jahre vor der Vereinsgründung. Darüber kann man leicht Witze machen, es ist aber andererseits sehr schwierig, eine wirklich belastbare Verbindung zum 1895 gegründeten Cricket Club Erfurt nachzuweisen, der die ersten Fußballspiele in Erfurt durchführte und in seinem Nachfolger SC Erfurt schnell auch überregionale Erfolge feierte.” (Fedor Freytag, stellungsfehler.de)

Ähnlich verhält es sich mit dem 1. FC Magdeburg. In der Statistik stehen sieben FDGB-Pokalsiege zu Buche. Damit hat der Club von der Elbe gemeinsam mit Dynamo Dresden die meisten Pokalsiege in der ehemaligen DDR. Dabei wird aber übersehen, dass der Verein zwei dieser sieben Erfolge vor 1965 erzielt hat. Das ist insofern wichtig, als dass die Größten der Welt vor dem 22. Dezember jenen Jahres noch als SC Aufbau Magdeburg aufliefen und in rot-grünen Trikots spielten. Erst nach diesem Datum hieß der Club 1. FC Magdeburg und spielt seitdem in blau-weiß.

Nähert man sich dem Begriff der Tradition, ohne an dieser Stelle eine differenzierte theoretische Diskussion beginnen zu wollen, wissenschaftlich, so sind nach Götte drei Verwendungsweisen unterscheidbar: “In der einen wird der Traditionsbegriff zur Klärung normativer Fragen genutzt, in der zweiten wird er als Gegenbegriff zur Rationalität verwendet und in der dritten Verwendungsweise werden erfundene von echten Traditionen unterschieden.”[1] Alle drei Lesarten seien hier mit Beispielen aus der Welt des Fußballfantums kurz erläutert:

Ein normativer Traditionsbegriff verhandelt im Wesentlichen die Frage, was genau eigentlich der ‚richtige’ Gegenstand von Tradition ist und wie die Überlieferung bzw. die Weitergabe dieses Gegenstandes zu gestalten sei. Hier rücken, häufig unhinterfragt, die Erfolge früherer Tage ins Blickfeld: Die oben zitierten Meisterschaften des FC Rot-Weiß Erfurt, bevor es überhaupt einen FC Rot-Weiß Erfurt gab, oder auch der Europapokalsieg des 1. FC Magdeburg im Jahre 1974, der noch dazu mit einer Auswahl an Spielern errungen wurde, die alle aus dem gleichen Bezirk stammten. An der Stelle interessieren weniger die (gesellschaftlichen und/oder strukturellen) Rahmenbedingungen, als vielmehr die Erfolge an sich, die für ganze Fan-Generationen zu einem konstitutiven, identitätsprägenden Element werden – und sich dann eben beispielsweise auch in Form von Meisterschaftssternen auf aktuellen Trikots wiederfinden können.

Als Gegenbegriff zur Rationalität bezeichnet der Traditionsbegriff in einer vor allem soziologischen Perspektive Handlungen, die vorreflexiv, also ohne darüber nachzudenken bzw. sie zu hinterfragen, ausgeführt werden, weil man ‘es eben immer schon so gemacht hat’. Hierunter fallen beispielsweise gelebte Rivalitäten zu anderen Fangruppen, deren Ursprung für den Einzelnen sehr häufig gar nicht mehr bestimmbar sind – und auch gar keine Rolle spielen. Da hasst man dann als 18jähriger Fan des 1. FC Magdeburg mal eben den BFC oder ist sich als Anhänger des FC Erzgebirge Aue spinnefeind mit dem Nachbarn, der es mit dem Chemnitzer FC hält. “Traditionen verdanken ihre Geltungskraft also ihrer “lebensweltlichen Authentizität”, sobald aber ihr Inhalt oder auch ihr Prozess explizit zum Gegenstand der Reflexion und Überprüfung gemacht werden, werde damit die Sphäre der Tradition verlassen.”[2]

Für den Fußball generell, für Vereine aus der ehemaligen DDR-Oberliga aber in besonderem Maße interessant ist das Konzept der ‘erfundenen Traditionen’, wie es 1983 von Hobsbawm und Ranger eingeführt wurde. “Das Charakteristikum “erfundener Traditionen” ist – wie das Wort schon sagt – die erstaunliche Tatsache, dass die Kontinuität mit der historischen Vergangenheit, auf die in solchen Traditionen Bezug genommen wird, weitgehend künstlich ist. Mit anderen Worten: Es ist ein erfundener Zusammenhang, ein konstruierter.”[3] Nun wird niemand bestreiten, dass nationale Meisterschaften und Pokalsiege oder europäische Titel, auf die man sich in Memorabilia oder Liedgut beruft, lediglich ausgedacht waren. Natürlich gehören sie genauso zur Vereinsgeschichte einer SG Dynamo Dresden oder eines 1. FC Magdeburg wie die entsprechenden Pokale im Vitrinenschrank. Was – auf dieser Basis – konstruiert wird, ist vielmehr eine Aura des bruchlos Ewigen, eine Legitimation als “wahrer Traditionsclub” auf der Grundlage einer genau genommen gerade einmal fünfzigjährigen Vereinsgeschichte, die noch dazu nach 1991 einen tiefgreifenden Einschnitt erfahren hat. “Fußballfolklore” sagen die Einen, “das, was wir sind” die Anderen.

Fußballliteratur als Erinnerungsort

Unabhängig davon, wie man Tradition nun verstehen will, bleibt unbestritten, dass die eigene Geschichte, gerade dann, wenn sie Brüche aufweist, die nicht zuletzt mit massiven gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhängen, Orte der Erinnerung benötigt. Das kann, wie z.B. im Fall des F.C. Hansa Rostock, ein Vereinsmuseum sein, aber eben auch Literatur, in der vergangene Erfolge lebendig bleiben.

Der Begriff Erinnerungsorte geht auf den französischen Historiker Pierre Nora zurück, der in den 1980er Jahren eine Aufsatzsammlung unter dem Titel Les Lieux des Mémoire veröffentlichte.[4] Die Aufsätze befassen sich mit Themen wie “Kaffee”, “Vichy” oder “Der König” und stellen eine Sammlung von Erinnerungsträgern dar, die in verschiedenen Konstellationen das Gedächtnis französischer Individuen und zugleich eine einheitliche Geschichte unter dem Begriff des Französischen bilden. Für die Bundesrepublik gibt es ein ähnliches Werk; Deutsche Erinnerungsorte und auch die DDR wurde so untersucht.[6] Allen drei Werken ist gemein, dass der Sport als Erinnerungsort darin vorkommt: Für Frankreich ist es die Tour de France, für die BRD ist es die Bundesliga und für die DDR das Sparwasser-Tor.

Das Sparwasser-Tor von 1974

Schaut man etwas weiter, so kamen weitere interessante Werke zutage. Dennoch blieb ein Eindruck: es besteht eine Unwucht im Literaturmarkt, was Oberliga-Vereine angeht. Es gibt sie, die historische Literatur zum Ostfußball, sie ist nur etwas schwerer zu finden, betrachtet man die Angebote der Sport- und anderen Verlage. Auch wenn die breite Masse an Büchern nicht vorliegen mag, so ist doch der DDR-Sport erforscht und ist darüber geschrieben worden.

Den Rahmen bilden hierbei Werke, die die Steuerung des Sports durch die SED hervorheben und sich selbstverständlich auch mit der Thematik Doping beschäftigen. Hervorgetan hat sich hier Giselher Spitzer mit einem historischen Überblick zum Doping in der DDR bzw. dem Einfluss der Stasi auf den Sport. Vergessen wird in dem Zusammenhang gern, dass es in der BRD auch ein breit angelegtes Dopingsystem gab, welches Spitzer ebenfalls erforscht und monographisch festgehalten hat. Die Verbindung Mielkes auf das runde Leder hat auch Hanns Leske untersucht.[7]

Des weiteren bietet der Werkstatt-Verlag mit Sitz in Göttingen Nachschlagewerke und Übersichtsdarstellungen zum DDR-Fußball an, jedoch ist die Diskrepanz enorm, sodass man durchaus von einer literarischen Unwucht sprechen kann. Allein von den Hamburger Vereinen kann man sich mit 10 Werken eindecken, ebenso gibt es 3 Bücher vom MSV Duisburg. Vom FSV Zwickau dagegen findet man kein Buch. Warum Duisburg und Zwickau? Zwickau war der erste DDR-Meister 1950 (damals noch als Horch Zwickau) und 1975 gewannen sie den FDGB-Pokal. Im Pokalsiegercup scheiterten die Westsachsen erst an RSC Anderlecht, dem späteren Sieger, im Halbfinale. Keine schlechte Bilanz und weitaus mehr, als die Zebras auf nationaler und europäischer Bühne vorzuweisen haben. Ein anderes Beispiel: Die Stadt Leipzig kann getrost als die Wiege des Fußballs bezeichnet werden. Hier wurde 1900 der DFB gegründet; der VfB Leipzig wurde 1903 der erste deutsche Fußballmeister überhaupt. Dazu findet sich kein Werk im Verlagsprogramm. Wir haben beim Verlag nachgefragt und standen mit Christoph Schottes in Kontakt. Seine Antwort war nicht ganz zufriedenstellend. Man habe zwar den Mangel festgestellt, könne aber keine Erklärung liefern. Der Rückbezug auf eine Westverschiebung nach 1989 ist etwas dünn, denn die gab es schon vorher. Zu Länderspielen der BRD in den Ostblock fuhren beispielsweise die DDR-Fans in Scharen; so waren 1971 bei einem Spiel in Polen mehr Anhänger aus der DDR als aus der BRD vor Ort.[8] Die Titel zur DDR im Verlagsprogramm seien immer gut gelaufen, versichert er in der Korrespondenz. Die Unterbelichtung sei da und sie wird wahrgenommen, doch das Angebot sei vorhanden, wenn auch weniger stark öffentlichkeitswirksam und stärker regional geprägt. Schottes erwähnt einen ‘kleinen regionalen Verlag aus Berlin’, der Bände über Union und Babelsberg veröffentlicht hat.

Er spricht von der Fußballfibel, die von Frank Willmann herausgegeben wird und im Culturcon medien-Verlag erscheint. Lok Leipzig, die BSG Chemie und Hansa Rostock haben schon einen Band in dieser kleinen, aber feinen Serie erhalten ebenso der 1. FC Magdeburg. Auf die Frage, wie viele Vereine denn diese ‚Bibliothek des Deutschen Fußballs’ genannte Reihe umfassen solle, antwortete Willmann im Juni 2016 bei einem Bier ganz trocken und eindeutig: “Alle.” Sein Verleger Bernd Oehlschlaeger fügte im nächsten Atemzug hinzu, dass das Konzept funktioniert. Dieses stammt von Willmann selbst und sieht vor, ähnlich (aber doch mit anderer Ausrichtung) wie in der „111 Gründe…“-Reihe des Verlags Schwarzkopf & Schwarzkopf, Fußballbücher aus Fanperspektive schreiben zu lassen, da die üblichen Nachschlagewerke Tabellen, Daten und Namen abfeierten, aber letztendlich blutleer sind. Für Fans sind Fußballvereine doch viel mehr als Zahlen und Fakten. Man denke nur an das bekannte Zitat von Bill Shankly! Der Titel “Bibliothek des Deutschen Fußballs” ist dabei als augenzwinkernder Größenwahn zu verstehen, das Ziel ist aber eindeutig: den deutschen Fußball in seiner gesamten Bandbreite abzubilden und dazu gehören nun mal die Fans.

Neben den oben erwähnten akademischen Werken zur Geschichte des DDR-Fußballs im Werkstatt-Verlag gibt es aber auch Ansätze, einzelne Vereine gezielt zu untersuchen. Die Dissertation von Michael Kummer, Ex-Herausgeber von OstDerby, ist hier beispielhaft zu nennen, der die Beziehungen von Rot-Weiß Erfurt und dem FC Carl Zeiss Jena untersuchte.[9] Sein Fazit: Die Jenaer wurden über Jahrzehnte wenn nicht bevorzugt, so doch genossen sie einen gewissen Bonus an den entscheidenden Stellen. Kummer untersucht die gesamte Zeit der DDR. Einen Blick von außen gibt es von Alan McDougall, der eine wunderbare Kulturgeschichte des Fußballsports geschrieben hat.[10]

Trotzdem bleibt die Frage, wie ehemalige DDR-Oberligisten selbst ihre eigene Tradition verstehen, verhandeln und pflegen. Deutlich werden müsste das, so unsere Idee bei den Überlegungen zu diesem Text, an der Art und Weise, wie jene Vereine und die heute handelnden Personen auf die eigene Geschichte Bezug nehmen. Anlass genug für uns, bei der “Klasse von 1990/1991” einfach einmal nachzufragen.

Zwischen Nachschlagewerk, Vereinsmuseum und Fan-Engagement

Wir haben die Clubs der letzten Oberliga-Saison in der Geschichte des DDR-Fußballs angeschrieben und jeweils um Antwort auf die folgenden 2 Fragen gebeten:

Welche Buchpublikationen zur Geschichte des Vereins sollte man unbedingt gelesen haben?

Wie ist das Thema ‚Traditionspflege und Erinnerungsarbeit‘ im Verein verankert? Gibt es z.B. eine Traditionsmannschaft, eine Dauerausstellung, regelmäßige Veranstaltungen mit Bezug zur Vereinsgeschichte…?

Geantwortet haben auf diese Anfrage der F.C. Hansa Rostock, der FC Rot-Weiß Erfurt, der Chemnitzer FC, der FC Carl Zeiss Jena, die BSG Chemie Leipzig und, nach telefonischer Nachfrage, der FSV Zwickau. Dazu haben wir noch Fedor Freytag und Uwe Busch, ihres Zeichens Fans des FC Rot-Weiß Erfurt bzw. des F.C. Hansa Rostock, um ihre Einschätzung zu den o.g. Fragen gebeten. Nachfolgend ihre Antworten:

F.C. Hansa Rostock
„Es gibt sehr viele Bücher über den F.C. Hansa Rostock, hier nur eine kleine Auswahl der beliebtesten und informativsten Bücher:

„IMMER HART AM WIND: 40 Jahre F.C. Hansa Rostock“ von unserem langjährigen, mittlerweile leider verstorbenen Vereinschronisten Robert Rosentreter.

„Hansa ist mein Leben: 50 Jahre F.C.Hansa Rostock“ von Björn Achenbach (keine klassische Chronik, aber aufgrund der Zeitzeugen sehr informativ)

„F.C. Hansa Rostock – Wir lieben dich total!“ von Andreas Baingo und Klaus Feuerherm

Das Hörbuch „Ein Schuss, ein Tor – für Hansa: 50 Jahre F.C. Hansa Rostock im Radio“ (die Geschichte des F.C. Hansa in spannenden Radioreportagen und Zeitzeugen-Berichten)

2) Im Zuge unseres 50-jährigen Jubiläums gab es verschiedene Aktionen, die ich hier mal stichpunktartig nenne:

Jubiläumsmagazin “50 Jahre F.C. Hansa Rostock“: auf insgesamt 110 Seiten wird die spannende und vor allem hoch emotionale Geschichte der Vereins erzählt, zahlreiche einzigartige Aufnahmen, viele (Hintergrund-)Stories, sechs Autoren führen nicht nur durch die Zeit von 1965 bis 2015, sondern starten bereits 1954 – im Gründungsjahr des SC Empor Rostock; zudem über zehn Seiten voller Zahlen und Fakten rund um den F.C. Hansa.

Jubiläumstrikot: Anlässlich des 50. Vereinsgeburtstages trägt das Heimtrikot der Profimannschaft in dieser Saison ein Sonderlogo, bei dem die Hansa-Kogge von einem goldenen Ehrenkranz und einer blau-weiß-roten Schärpe umschlungen wird. Als weiteres Highlight wurde die Hansa-Kogge großflächig Ton in Ton auf das Trikot sublimiert. Für alle Nostalgiker besteht die Möglichkeit, einen Abdruck der Porträts der 50 erfolgreichsten Hansa-Spieler in Form einer “50” auf dem Trikot-Rücken zu bestellen.

Eröffnung „Hanseatentreff-Tradition erleben“ im November 2015: Jubiläums-Kabinett/Hansa-Museum mit den wichtigsten Stücken der Vereinsgeschichte, wie z.B. Trikots und Bilder. Die Location kann auch für Events gebucht werden.

Jubiläums-Kollektion im Fanshop und natürlich ein offizielles Jubiläumslogo 50 Jahre F.C. Hansa

große Tribünen-übergreifende Jubiläums-Choreographie beim ersten Heimspiel 2016 gegen den VfL Osnabrück am 30.01.2016.

Generell wird die Traditionspflege beim F.C. Hansa und seinen Fans sehr groß geschrieben. Dazu gehört auch unsere Traditionsmannschaft/ Oldies, die bereits mehrfacher Deutscher Ü 40-Meister geworden ist.“

Hansa-Fan und 120minuten-Autor Uwe Busch zeichnet ein etwas differenzierteres Bild:

„[A]ls ein Standardwerk zur Geschichte des F.C. Hansa gilt allgemein “Immer hart am Wind” (Robert Rosentreter). Das Buch aus der Feder des langjährigen Vereinschronisten erschien 2005 zum 40. Vereinsjubiläum. Das Buch ist heute nicht mehr im Handel zu bekommen, seitdem ist meines Wissens nichts Vergleichbares erschienen, obwohl gerade der 50. Geburtstag Ende 2015 nach einer Fortsetzung oder wenigstens aktualisierten Neuauflage geradezu geschrien hat. Derzeit ist im Rahmen der neuen Reihe “Die Fußballfibel” (Hrsg. Frank Willmann) ein Buch zum F.C. Hansa in Arbeit, Autor ist Marco Bertram, das Buch soll noch 2016 erscheinen [Anmerkung der Redaktion: ist inzwischen geschehen]. Wenn das Buch an die bereits erschienenen Ausgaben der Reihe anknüpft, dürfen wir uns auf einen kompakten und unterhaltsamen Abriss zur Vereinsgeschichte freuen.
Dass wir Reserven hinsichtlich Traditionspflege und Erinnerung haben, lässt sich nicht abstreiten, der (von offizieller Seite) missglückte Vereinsgeburtstag machte dies deutlich. Dennoch gibt es im Verein eine sehr engagierte Arbeitsgruppe “Tradition”, in der sich Vereinsmitglieder und interessierte Fans ehrenamtlich, mit Begeisterung und Engagement die Werte und Historie des Vereins bewahren. Die Existenz des Hansa-Museums ist vor allem dem unermüdlichen Einsatz dieser Arbeitsgruppe zu verdanken, es ist ein schöner Platz, um in die Geschichte einzutauchen und Erinnerungen aufzufrischen. […] Im Tagesgeschäft des Vereins spielt die Tradition und Erinnerung (notgedrungen) eine eher untergeordnete Rolle, derzeit sind alle Anstrengungen auf die Bewältigung der existenzbedrohenden sportlichen Situation und (nicht zu vergessen) die bevorstehende Ausgliederung des Profibereiches gerichtet. So sind es vor allem die Fans, die die Erinnerungen wachhalten, das geschieht auf vielfältige Weise – mit Büchern oder im Internet, und natürlich sind ab und zu bei Choreografien Bezüge zu Ereignissen aus der Vereinsgeschichte zu sehen. Insgesamt denke ich, da geht bei Hansa noch eine Menge mehr, wobei mit unserem Museum und der Arbeitsgruppe die Voraussetzungen gar nicht so schlecht sind.“

FC Rot-Weiß Erfurt

„Es gibt eine funkelnagelneue Erscheinung: Geschichten und Anekdoten aus 50 Jahren RWE, Werkstatt-Verlag […]. Und es gibt eine Ausgabe, die zum 40. Jubiläum erschien (also vor 10 Jahren). […]

Ja, es gibt eine RWE-Traditionsmannschaft, die im Sommer regelmäßig in Thüringen auf die Dörfer reist und dort spielt. Eine Dauerausstellung gibt es nicht. Geplant ist ein kleines Fußballmuseum in der neuen Arena, deren Fertigstellung für Juni dieses Jahres angepeilt ist.

In unserem Stadionheft „RWE-EXPRESS“ erscheint zu den Heimspielen immer wieder eine historische Geschichte.“

Das sagt Fedor Freytag, der auf stellungsfehler.de über den Verein bloggt und im ersten Teil bereits zitiert wurde:

“1.) Ich kann das Buch „Die ungleichen Bedingungen des FC Rot-Weiß Erfurt und FC Carl Zeiss Jena in der DDR” von Michael Kummer unbedingt empfehlen. Das ist zwar keine Vereins-Chronik im eigentlichen Sinn, aber darin liegt womöglich die größte Stärke des Buches. Zum einen langweilen mich auf Kohärenz getrimmte Publikationen immer etwas. Zum zweiten erwächst aus der parallelen Betrachtung beider Clubs während der DDR-Zeit ein großer Erkenntnisgewinn: Wo lagen die Gemeinsamkeiten? Wo die Unterschiede? Was mussten Clubs tun, um unter den spezifischen Bedingungen der DDR erfolgreich zu sein? Das alles wird mit vielen Fakten und Zeitzeugenaussagen belegt. Um zwei besonders interessante Aspekte zu nennen: Die Verantwortlichen in den Fußballclubs, Trägerbetrieben und SED-Bezirkleitungen begingen teilweise gravierende Verstöße gegen die Vorgaben der Sportverbände. Und scheuten auch vor eindeutig strafbewehrten Handlungen nicht zurück. Meist hatte dies mit illegalen Geld-Zahlungen an Spieler zu tun. Kommt einem alles relativ zeitlos vor. Ein zweiter interessanter Aspekt liegt in dem Aufwand, den die DDR betrieben hat bzw. betreiben musste, um die Lüge vom Amateursport aufrecht zu erhalten. Jeder wusste schon damals, dass das Unsinn ist, aber man war hochnotpeinlich darauf bedacht, die formalen Kriterien zu einzuhalten. Konspirativ wie die Mafia.

2.) Ganz grundsätzlich ist es für Ostvereine sehr viel schwieriger als für Vereine aus dem Westen, eine Traditionslinie zu den Anfängen des Fußballs in der jeweiligen Region zu ziehen. Ein anhaltender Triumph der sowjetisch grundierenden Geschichtsplanierung nach dem Krieg. Für Westvereine gab es eine große historische Zäsur, die zwischen 1933 und 45. Viele Vereine haben die Omerta, diese 12 Jahre betreffend, inzwischen überwunden. Das fällt inzwischen leichter als noch in den 60er Jahren, weil nur noch sehr wenige der damals handelnden Funktionäre am Leben sind. Und ganz sicher hat sich auch die Einstellung darüber geändert, die Nazizeit als Teil der eigenen Tradition anzunehmen.

Was den Thüringer Fußball betrifft, gab es in Erfurt eine sehr sehenswerte Ausstellung im Erinnerungsort Topf & Söhne: “Kicker, Kämpfer, Legenden – Juden im deutschen Fußball“ (PDF) .

Soweit ich weiß, gab es bei der Vorbereitung eine aktive Unterstützung durch Rot-Weiß, indem man Materialien zur Verfügung stellte. Rolf Rombach, Präsident von RWE, wird auf der Webseite mit einem Grußwort zitiert.

Für die Ostvereine gab es dann eine weitere Zäsur, die mit der Besatzung durch die Rote Armee 1945 begann und nach der DDR-Gründung fortgeführt wurde. Alle Verbindungslinien in die Vergangenheit, auch die vor Hitler, sollen gekappt werden. Das gelang beeindruckend gut. Danach begann ein großes Wirrwarr von Neugründungen, Zusammenlegungen, Neu-Neugründungen, etc. bis dann 1966 der DDR-Fußball durch die Erschaffung von Fußballklubs seine endgültige Form annahm. Wie widersprüchlich das alles ist, kann man gut daran erkennen, dass am 26. Januar dieses Jahres der FC Rot-Weiß Erfurt seinen 50. Geburtstag feierte. Am darauf folgenden Wochenende laufen die Spieler des Vereins mit einem Trikot auf, das mit einen Stern und der Ziffer zwei darin geschmückt ist. Die beiden solcherart zur Schau getragenen Meisterschaften wurden 1954 und 1955 gewonnen, mithin mehr als 10 Jahre vor der Vereinsgründung. Darüber kann man leicht Witze machen, es ist aber andererseits sehr schwierig, eine wirklich belastbare Verbindung zum 1895 gegründeten Cricket Club Erfurt nachzuweisen, der die ersten Fußballspiele in Erfurt durchführte und in seinem Nachfolger SC Erfurt schnell auch überregionale Erfolge feierte. Kompliziert und widersprüchlich das alles.

Soweit ich weiß, gibt es einen Verein der sich um ein Thüringer Sportmuseum bemüht. Innerhalb eines solchen Projektes soll es auch einen Teil zum Erfurter Fußball geben. Eigentlich sind das alles Rot-Weiß-Fans die dahinter stecken, man verspricht sich aber mehr Unterstützung, wenn man das Thema/den Namen breiter anlegt. Dieser Verein hat sich darum bemüht, Räume für das Museum in der neuen Arena zu bekommen, aber ich glaube, das ist aussichtslos. Wie der aktuelle Stand ist, weiß ich nicht.

Eine Traditionsmannschaft gibt es, die ist auch sehr aktiv.

Generell war der Umgang des FC Rot-Weiß Erfurt mit seiner Tradition erratisch. Mal fand man das wichtig, mal weniger. Im Moment sind wir wohl wieder in einer Wichtig-Phase. Vor kurzem wurden Ehrenspielführer ernannt und natürlich spielte die Vereinstradition beim 50jährigen Jubiläum eine Rolle. Aber das ist insgesamt alles zu wenig und zu flatterhaft, um z.B. auf potenzielle neue Anhänger des Vereins eine soghafte Wirkung zu entfalten. So jedenfalls mein Eindruck. Das hat sicher auch mit unserem Präsidenten Rolf Rombach zu tun, einem Insolvenzverwalter aus Westfalen, der zumindest anfänglich mit der Tradition des Vereins wenig anzufangen wußte. Und sicher auch andere Sorgen hatte und hat, nämlich die permanent drohende Insolvenz des Vereins immer wieder auf Neue abzuwenden. (Darin allerdings ist er der Meister aller Klassen.) Zur Fairness gehört auch, anzumerken, dass Traditionspflege mit Geld einfacher fällt als ohne. Summarisch würde ich sagen, dass bei Rot-Weiß die Sehnsucht der Anhänger nach einer identitätsstiftenden Traditionspflege groß ist. Die Vereinsführung hat das erkannt, und will dem auch Rechnung tragen. Allerdings sucht man derzeit noch nach Wegen die dazu notwendigen Aufwände mit den Möglichkeiten der Vereins in Übereinstimmung zu bringen.“

Chemnitzer FC

„1. Welche Buchpublikationen zur Geschichte des Chemnitzer FC sollte man unbedingt gelesen haben?

“Träume, Titel, tausend Tore” Christoph Schurian, Chemnitzer Verlag und Druck

“100 Jahre Chemnitzer Fussball” Mario Schmidt, Gerhard Claus, Chemnitzer Verlag und Druck

“Bin beim Club – der Chemnitzer FC und seine Fans” Norman Schindler, Books On Demand

2. Die Traditionsmannschaft des CFC rekrutiert sich aus ehemaligen Spielern des Chemnitzer FC und kann über Jörg Illing zu Spielen eingeladen werden. Weiterhin nimmt die Mannschaft an regelmäßigen Traditionsturnieren teil. Im Jahre 2000 wurde ein Traditionskabinett als Dauerausstellung aufgebaut, zur Zeit gibt es durch den Umbau des Stadions keine Dauerausstellung. Das Prinzip der Darstellung der Vereinsgeschichte im neuen Stadion wird zur Zeit überarbeitet. Zu ausgesuchten Jubiläen werden Veranstaltungen durchgeführt.“

FC Carl Zeiss Jena

„1. Gelesen haben sollte man sicher die Vereinschroniken von Udo Gräfe. Ebenfalls lesenswert und wichtig, um diesen Verein zu begreifen: “111 Gründe, den FC Carl Zeiss Jena zu lieben” (von Matthias Koch). Ebenfalls empfehle ich die FCC-Kolumnen von Christoph Dieckmann (keiner leidet wie er) und Frank Willmann (bitterböse und einfach gut). Allein, dass unser FCC zwei Kolumnisten an seiner Seite weiß, sagt doch schon einiges… 😉

2. Ja, es gibt eine Traditionsmannschaft. Und es gibt eine Art Kabinett, das wir bescheiden „Bernsteinzimmer“ nennen. Allerdings sind die Exponate weit zahlreicher als der Raum dies zur Ausstellung hergibt. Daher soll im neu zu bauenden Stadion auch ein Vereinsmuseum integriert werden. Auch gibt es regelmäßige Veranstaltungen zur Traditionspflege.“

BSG Chemie Leipzig

„1. Tatsächlich gibt es auch über die BSG Chemie ein eher überschaubares Angebot an “Vereinsbüchern”. Das wohl wichtigste Werk und das absolute Muss in jedem Fan-Bücherregal ist die “Leutzscher Legende” von Jens Fuge, die sich mit der Vereinsgeschichte befasst. Erst anlässlich des 50-jährigen Meisterjubiläums ist eine Neuauflage erschienen. Ebenfalls von Jens Fuge ist das Buch “Der Rest von Leipzig”. Außerdem erscheinen im Laufe dieses Jahres noch zwei Bücher, die sich eher mit der Fanszene beschäftigen: “Steigt ein Fahnenwald empor” (soll Ende des Jahres veröffentlicht werden) und “Fußballfibel: BSG Chemie Leipzig” (von Alexander Mennicke – wird im Rahmen der Leipziger Buchmesse vorgestellt).

2. Mit dem Thema Traditionspflege & Erinnerungsarbeit ist momentan vor allem unser Ehrenrat betraut […]. An wichtigen Jubiläen haben wir natürlich auch entsprechende Veranstaltungen – ich verweise beispielhaft auf die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Meisterjubiläum im Jahr 2014. Auch dieses Jahr wird es wieder ein Jubiläum zu feiern geben.“

FSV Zwickau

„ Es gibt folgende 3 Buchpublikationen zur Geschichte des FSV Zwickau:

“100 Jahre Fußball … in der Zwickauer Region….”

“Die Geschichte des FSV Zwickau”

“Von Leipzig nach Brüssel – Chronik einer Europapokalsensation!”

Es gibt eine Traditionsmannschaft. Aufgrund von Platzmangel gibt es keine Dauerausstellung. Regelmäßige Veranstaltungen mit Bezug zur Vereinsgeschichte gibt es zur Zeit nicht, wird es aber sicher geben, wenn durch den Stadionneubau Räumlichkeiten für Veranstaltungen zur Verfügung stehen.“

Es zeigt sich, dass die Themen „Traditionspflege“ und „Erinnerungsarbeit“ bei den ehemaligen DDR-Oberligisten (zumindest bei jenen, die sich hierzu äußern wollten oder konnten) durchaus eine Rolle spielen; allerdings bestätigt der Blick in die zitierten Rückmeldungen auch die Annahme, dass außerhalb der klassischen Vereinschronik nur wenige Werke existieren, die sich mit den Clubs intensiver auseinandersetzen. Interessant auch, dass seitens der Vereine dort, wo es ein entsprechendes Exemplar gibt, die „Fußballfibel“-Reihe erwähnt wird. Das verdeutlicht, dass sie sich in ihrer kurzen Zeit des Bestehens bereits die Aufmerksamkeit erarbeitet hat, die sie auch verdient.

Der Begriff der „Tradition“ ist selbstredend nicht nur bei Autorinnen und Autoren oder Vereinsoffiziellen, sondern natürlich auch bei den Anhängern jener ostdeutschen Teams bedeutsam, die sich, wie eingangs erwähnt, trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Geschichte als „Traditionsvereine“ begreifen. Einer, der die Fanszenen des Ostens und hier insbesondere die Ultrà-Gruppen in der Saison 2015/2016 wissenschaftlich untersuchte, ist Julien Duez. Er ist Franzose, studierte in Brüssel und schrieb seine Abschlussarbeit zur Frage, welche Rolle ‚Tradition’ und der Bezug zur ehemaligen DDR bei jenen Gruppen heutzutage spielt. Für 120minuten schildert er, gewissermaßen aus einer ‚doppelten Außen-Perspektive’, nachfolgend seine Eindrücke:

„Man schaut rückwärts, denn man hat keine Zukunft”

Vielfach habe ich diesen Satz gehört: „Man schaut rückwärts, denn man hat keine Zukunft“. Ich behaupte, das fasst die Situation des Fußballs 2015/2016 in der ehemaligen DDR gut zusammen. Als Ausländer war ich erstaunt über so viele Leute und Medien, die den Ausdruck „DDR-Oberliga 2.0“ benutzen, um über die acht Ostvereine zu sprechen, die dieser Saison in der 3. Liga gegeneinander kickten. Wenn man behauptet, dass die DDR eine Diktatur war, dann klingt es logisch, dass man nach der Wende probierte, alle ihre Spuren zu löschen, um sich der Zukunft zuzuwenden. Es würde aber bedeuten, die Normalität des Alltags in der DDR in den Wind zu schlagen. Nach vierzig Jahren Bestehen, sprich zwei Generationen, hat sich eine andere Mentalität entwickelt. Eine „Ostmentalität“, die zwar nicht unbedingt im Sozialismus erworben wurde, sich aber trotzdem anders als die in der liberalen BRD während des Kalten Krieges begründet hat. Als ich über die sogenannte „Ostalgie“ mit Leuten verschiedenen Alters redete, bezog sich diese DDR-Sympathie auf ihr besseres Sozialleben oder auf freundlichere menschliche Beziehungen oder günstigere Lebenshaltungskosten oder mehr öffentliche Ordnung oder die Abwesenheit von Immigranten usw. Die Ostalgie existiert also nicht als Massenphänomen, sondern in der Form von persönlichen Erinnerungen und Gefühlen. Das Fazit bleibt offenbar das gleiche: Keiner möchte, dass die Mauer wieder aufgebaut wird. Dies gilt insbesondere für die junge Generation, die mit verschiedenen materiellen Vorteilen der europäischen Integration sehr zufrieden ist, wie zum Beispiel der Abschaffung der Grenzen oder dem Euro als Einheitswährung. Ein Schritt nach hinten würde sich von diesem Lebensraum, in dem sie sich wohl fühlen, radikal abheben.

Es war also unmöglich, dass die Wiedervereinigung das Erbe der ehemaligen DDR zunichte macht. Auch war es unmöglich zu verhindern, dass die Eltern bzw. Großeltern, die vollständig in dieser Epoche gelebt haben, ihre Kinder bzw. Enkel mit den Prinzipien, nach denen sie selbst erzogen wurden, voll oder teilweise erziehen. Darum benutzen die aktuelle Ost-Ultraszenen verschiedene Elemente, die an die DDR erinnern, obwohl sie damit nichts zu tun haben wollen in Anbetracht ihrer negativen Konnotation.

Das Wort „Tradition“ hat in Deutschland einen sehr speziellen Sinn, da man dort immer mit einer Dichotomie zwischen den so genannten „Traditions-“ bzw. „Kommerzvereinen“ operiert. Die Tradition ist nicht nur mit dem Alter oder dem kommerziellen Status des Vereins verbunden (siehe oben). Ansonsten könnte ein Club wie Bayer Leverkusen – 1904 gegründet – mehr Tradition einfordern als die SG Dynamo Dresden, die 1963 gegründet wurde. Tradition ist mit den Werten des Vereins verbunden. Auch mit der Treue seines Publikums (27.000 Zuschauer besuchten im Durchschnitt das Stadion Dresden, obwohl der Club in der 3. Liga spielte) und einer Menge Symbolen, wie zum Beispiel dem Namen des Clubs. Auch die lokale Verankerung, der Name des Stadions (das Publikum des 1. FC Magdeburg nennt die MDCC-Arena lieber Heinz-Krügel-Stadion), die Erfolge (z.B. die zehn Meistertitel in Folge des BFC Dynamo), die bedeutenden Spiele (der „Schandelfmeter aus Leipzig“ zwischen dem 1. FC Lokomotive und dem BFC Dynamo im März 1986), eine eventuelle Teilnahme an europäischen Wettbewerben (z.B. der Sieg des FCM im Europapokal der Pokalsieger 1974) oder Kultspieler (Torsten Mattuschka beim 1. FC Union Berlin) spielen eine Rolle. Tradition ist nicht unbedingt mit Erfolg verbunden: Fans von Mannschaften wie Lok Leipzig (2015/2016 noch Oberliga Nordost) oder der FC Carl Zeiss Jena (Regionalliga Nordost) fordern mehr Tradition als Kommerzvereine wie der VfL Wolfsburg (obwohl der seit neunzehn Saisons in Folge in der ersten Liga spielt) oder die TSG Hoffenheim (obwohl der Investor aus dem Ort stammt). Man kann also behaupten, dass die Tradition anstelle des sportlichen Erfolgs das einzige Ding ist, mit dem die Fans im Osten prahlen können. Quod erat demonstrandum.

Die Ostmannschaften – so wie viele andere Bereiche der ostdeutschen Gesellschaft – haben durch die Wiedervereinigung sehr gelitten. In der Tat sollten sie in die Meisterschaft der BRD integriert werden, obwohl das Niveau der Bundesliga schon hoch genug war und man eigentlich auf die Dienste ihrer Ostkollegen verzichten konnte. So wurde die sogenannte „Zwei-plus-sechs“-Regel entschieden. Nach der Saison 1990/1991 wurden nur zwei Ostmannschaften in die erste Liga integriert und sechs in die zweite. Acht Vereine der ehemaligen DDR-Oberliga (und alle der DDR-Liga, der zweithöchsten Spielklasse) verschwanden also in der Versenkung. Egal wie viel Erfolg sie hatten. Außerdem sind viele erfolgreiche Ostspieler während und nach der Wiedervereinigung in den Westen gegangen, weil die Löhne dort viel attraktiver waren. Dies hat nachhaltig dazu beigetragen, das Niveau des Ostfußballs zu schwächen. Auch der Übergang von einer Clubverwaltung nach sowjetischem Vorbild zur Realität des Fußballs der Gewinner des Kalten Krieges, der auf Professionalität und Kapitalismus gegründet war, wurde ein Misserfolg. Das Zerschlagen der Betriebssportgemeinschaften, die nicht mit privaten Investoren verwechselt werden dürfen – und dieses System gilt auch heutzutage – hat dazu beigetragen, die finanzielle Unterstützung der Ostvereine versiegen zu lassen.

Trotz der relativ schwachen Situation der Ostvereine, schaffen die meisten von ihnen es immer noch, jedes zweite Wochenende eine großartige Zuschaueranzahl ins Stadion zu bringen. Das Beispiel lautet SG Dynamo Dresden. Mit den bereits genannten 27.000 Zuschauern im Durchschnitt ist der Verein der sächsischen Hauptstadt eine Illustration des Ausdrucks „Liebe kennt keine Liga“, den die Ostmannschaften so lieben. Im K-Block treffen sich im Durchschnitt 9000 Fans, die mit Wut und Leidenschaft ihr „Dynamo“ bei jedem Heimspiel unterstützen. Einer der bedeutendsten Gesänge erinnert an die europäische Vergangenheit in Elbflorenz:

Ich hatte nen Traum und dieser Traum war wundervoll
Europacup – ein Auswärtsspiel, in Amsterdam
Alle Dresdner im Block, sangen nur ein Lied für Dich
Elbflorenz -Ihr kämpft für uns, wir für Dich!

Das hört man auch in Magdeburg:

Von Hamburg bis nach Liverpool
von Glasgow bis Athen
der 1.FC Magdeburg
wird niemals untergehen!

In Aue, obwohl der Club 1993 in „FC Erzgebirge Aue“ umbenannt wurde, nennen immer noch die Ultras und sogar der Pressesprecher die Mannschaft bei ihrem DDR-Namen: BSG Wismut Aue. Auch erstaunlich, dass „Wismut Aue“-Schals im Fanshop verkauft werden. In Magdeburg kann man Schals mit der DDR-Fahne kaufen. Beim BFC Dynamo gibt es kaum Fans, die Merchandise mit dem neuen Logo – ein Berliner Bär auf weinrot-weißen Streifen, weniger politisch konnotiert – tragen. Die haben inoffizielle Produkte mit dem alten kommunistischen Logo lieber. Man stellt also fest, dass das Publikum den Erhalt der goldenen Zeiten mag. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil es an bessere Zeiten erinnert ohne zu leugnen, dass es dem Verein zurzeit schlecht geht. Es ist selbstverständlich, dass man seinem Verein den sportlichen Erfolg wünscht, weil es das Grundprinzip des sportlichen Wettbewerbs ist. Es abzulehnen, dass der Club seine Werte bzw. starke Identitätselementen wegwirft, ist keine Sache des Ostens. Der Begriff „Tradition“ trifft die ganze Bundesrepublik. Kein Fan würde eine externe finanzielle Unterstützung ablehnen, wenn sie dem Verein hilft, seine Situation zu verbessern, solange der Geldgeber ihre Identität und Tradition respektiert. Darum haben die Fans der BSG Chemie Leipzig (damals FC Sachsen Leipzig) die Unterstützung von Red Bull abgelehnt, denn der Brausehersteller wollte die Farben und das Logo des Clubs verändern. Und deshalb hat sich der Konzern in Richtung SSV Markranstädt – weniger anspruchsvoll, aber auch weniger Traditionsträger – orientiert.

Kann man ein Vierteljahrhundert nach der Wende von zwei Fußballwelten sprechen, wie man immer noch von zwei Ländern sprechen kann? Der Ausdruck des „zweitklassigen Bürgers“ wird ab und zu von Wende-Enttäuschten benutzt. Aber statt über zwei distinkte Welten zu reden, kann man lieber über wirtschaftlich benachteiligte Regionen sprechen, die kaum Privatinvestitionen bekommen, mit einem schwächeren Fußballniveau als im Westen als direkter Konsequenz. Jedoch scheint seit dem Boom der Ultrabewegung überall in Europa nach dem Kalten Krieg die deutsche Szene in der Sache und den Ausdrucksmitteln relativ vereint. Kampagnen wie „12:12 – Ohne Stimme keine Stimmung“ oder „Nein zu RB“ sind relevante Beispiele einer nationalen Union, wenn die Verteidigung von gemeinsamen Werten über Partikularismen nötig wird. Wenn man die Webseiten dieser Aktionen anschaut, merkt man, dass Ost- sowie Westgruppen gemeinsam daran teilnehmen.

Nichtsdestotrotz, behaupte ich, dass es nicht nur das Ziel der Ultragruppierungen ist, die Stimmung ins Stadion zu bringen. Es gibt auch einen Wettbewerb des Images zwischen den Gruppen, wobei der Gewinner der stärkste, der männlichste, der dominanteste ist. In dieser Sache scheinen die Gruppierungen des Ostens gegenüber ihren regionalen bzw. nationalen Gegnern argwöhnischer. Sie behaupten meistens, keine offizielle Fanfreundschaft zu haben, sondern viele Fanfeindschaften und zögern nicht, im Stadion zu provozieren. Dies gibt auch in besonderen Medien – zum Beispiel Fanzines – oder online, durch die Entwicklung der sozialen Netzwerke, wo die Provokation permanent und nicht mehr punktuell stattfindet. „Wilder Osten“ oder „Härter als der Rest“ sind häufig wiederkehrende Ausdrücke, um die Szenen der neuen Bundesländer zu bezeichnen. In diesem Image-Spiel fordern sie ihre Zugehörigkeit zur großen Region ‚Osten’, im Gegensatz zu ihren Westkollegen, die sich nicht als Wessis bezeichnen, sondern eine lokale bzw. regionale Zugehörigkeit fordern. Dieses „Wessis/Ossis“-Vokabular bleibt meistens das Privileg der ostdeutschen Ultragruppierungen.

Seit dem Abstieg von Energie Cottbus in die 2. Bundesliga 2009 gibt es in der Eliteklasse keinen Ostverein mehr. Dieser Ost-West-Unterschied ist gewissermaßen das Ebenbild der sozial-wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die die neuen Bundesländer kennen. Jedoch sollte am Ende der Saison 2015/2016 ein sächsischer Verein das erste Mal in seiner Geschichte in die Bundesliga aufsteigen: RB Leipzig. Aber kaum ein Fußballfan im Osten bezeichnet diese Mannschaft als einen Ostverein, da dieses Wort nicht für die geografische Herkunft gilt, sondern als Reminiszenz an die DDR-Zeiten und die Tradition, die den Verein trägt. Darum ist RB Leipzig der erste Verein aus dem Osten, der aufgestiegen ist, ohne ein Ostverein zu sein. Die Gründe dafür sind die Abwesenheit von Tradition, der kommerzielle Charakter und der Umstand, dass der Investor nicht aus der Region stammt. Aber in der Messestadt selbst klingt die Situation anders, da viele Fans mit diesem Verein sehr zufrieden sind. RB Leipzig ist die populärste Mannschaft der Stadt geworden. Da ist es auch egal, dass es fast unmöglich ist, Mitglied zu werden. Die Fans sind einfach glücklich, dass ein sportlich erfolgreicher Club die Stadt Leipzig repräsentiert und dies in einer modernen Arena. Die regionale Rivalität verhinderte, dass dieses Publikum eine andere Mannschaft, wie z.B. die SG Dynamo Dresden, unterstützt. Auch das Thema Gewalt bei Chemie oder Lok Leipzig war für viele ein guter Grund, um sein Kind nicht mit ins Stadion zu nehmen. Die Gegner des Projekts RB Leipzig sind meistens Ultragruppierungen und Fans von Traditionsvereinen, aber das stellt eine interessante Frage: wem gehört der Fußball? Dies ist aber eine andere Diskussion.
Meine Meinung ist, dass es gegenüber vielen neutralen Leipziger Fans respektlos ist, dieses Projekt radikal abzulehnen. Die wollen einfach einen erfolgreichen Verein unterstützen, was in einer benachteiligten Region selten ist. Viele bleiben realistisch und träumen noch nicht von der Champions League. Sollte ein Spieler des Kaders in der Nationalelf berufen werden, wäre es der Beweis, dass RB Leipzig gut in der deutschen Fußballlandschaft angekommen ist.

Im Unterschied zu einem Land wie Frankreich, wo der Traditionsbegriff so innerhalb der Kulturidentität der Fans nicht verankert ist, haben die deutschen Fans den Brauch, “ihre” Mannschaft im Laufe ihres Lebens nicht zu ändern. Obendrein richtet sich ihre Auswahl meistens auf einen örtlichen Klub, aber die jungen Generationen sind öfter geneigt, eine stärkere Mannschaft sportlich zu unterstützen, weil ihr Interesse für die Fußballsache mehr auf das Ergebnis gerichtet ist als auf Werte und Traditionen. Aber das Beispiel des Aufstiegs des 1. FC Magdeburg in die 3. Liga hat es ermöglicht, eine neue Gruppe junger Anhänger zu rekrutieren, die ihr Trikot des FC Bayern oder von Borussia Dortmund gegen das ihres lokalen Vereins tauschen, was in der traditionellen Konzeption des deutschen Fanseins viel logischer erscheint. Trotzdem ist die Betrachtungsweise, die sie bezüglich ihrer Mannschaft haben, von derjenigen ihrer Eltern oder ihrer Großeltern grundverschieden, die die Glanzzeiten der Mannschaft miterlebt haben. Für sie schreibt sich eine neue Geschichte, diejenige innerhalb des wiedervereinigten Fußballes, im wiedervereinigten Deutschland, ihrem Deutschland. Deshalb scheint es widersinnig, dass die jüngeren Ultras (unter dreißig) einige Vokabeln und visuelle Elemente benutzen, die an die DDR erinnern, obwohl sie mit einer Epoche, mit der sie in der Mehrheit in Anbetracht ihres diktatorischen Charakters, bei der Entwicklung ihrer Identität als Individuum nichts zu tun haben wollen. Aber nolens volens, hat die Wiedervereinigung nur vor einem Vierteljahrhundert stattgefunden, und es ist unmöglich, in einem genauso kurzen Zeitraum die Mentalitäten und die Art und Weise zu ändern, seine Kinder zu erziehen, was erklärt, warum die Jugendlichen immer noch das Wort „Osten“ benutzen, um über ihre Ursprünge zusätzlich zu ihrer geografische Region zu sprechen.

Die Fans von Clubs der ehemalige DDR sind ihren Westkollegen nicht so unterschiedlich, und die Benutzung von Elementen, die an der DDR erinnern, soll nicht als Ostalgie verstanden werden, sondern wie eine Gegen- bzw. Subkultur und als Provokation im Kontext der schlechten sozioökonomischen Situation, die die neuen Bundesländer seit 1990 kennen. Aber die Situation entwickelt sich und das Beispiel RB Leipzigs, obwohl es dort keine Ultragruppen gibt, ist symbolisch für die Veränderung einer vorwärtsschreitenden Assimilation der Ultrakultur, die einen Einfluss der DDR in den Wind schlägt und sich lieber auf die regionalen Anforderungen konzentriert. Es liegt daher nahe, dass die sogenannten „Ostderbys“, denen Medien wie der MDR eine entsprechende Bühne bieten, nur Marketingargumente sind. Im Stadion bringen diese Begegnungen nicht unbedingt mehr Zuschauer als wenn das Team auf eine westliche Mannschaft trifft. Ihr Hauptvorteil ist, dass sie Vereine, die aus derselben geographischen Zone des Landes kommen, innerhalb eines nationalen Wettbewerbes verbinden. Fünfundzwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung scheint es, als hätte sich der Ostfußball gemausert. Der Misserfolg der „Zwei plus sechs“-Regel scheint der Vergangenheit anzugehören und Mannschaften in den neuen Bundesländern haben gelernt, sich ins kapitalistische Modell des Fußballes zu integrieren. Das geht mit einer gesunden finanziellen Basis, manchmal mit wichtigen finanziellen Investitionen, die auf ein treues und hoffnungsvolles Publikum treffen. Wenn der Fußball als eine Sache von Werten betrachtet werden soll, zeichnen diese sich zweifellos im Osten der Bundesrepublik am besten ab.

Sicher gibt es bessere Zeiten, aber diese war die unsere

Fußball, Tradition, Geschichte, Erinnerung: allein diese vier Begriffe zueinander in Relation zu setzen, fiel in Deutschland lange Zeit schwer, bzw. wurde als unmöglich betrachtet. Wie wichtig jedoch der Fußball als (H)Ort der Erinnerung und damit nicht zuletzt auch der Geschichte ist, wurde hier deutlich gemacht. Dass diese Geschichte und Erinnerung durchaus verschiedene Formen annehmen kann, ist klar und deutet auf eine sehr differenzierte Wahrnehmung dieser Begriffe bei den Vereinen im Osten der Republik und deren Fans hin. Dabei wird bei ehemaligen Oberliga­-Vereinen inzwischen sehr wohl auch die Zeit vor 1989 einbezogen und in einem weiteren Schritt sogar die Periode von 1945 bis 1965. Dieses Bewusstsein war lange Zeit abwesend, wenn nicht gar unterdrückt, und war nicht einmal zu Hochzeiten der Ostalgie­-Welle Mitte der 1990er Jahre spür­- bzw. sichtbar. Dass die Zeit von 1945­ bis 1991 aufgearbeitet und als Teil der eigenen Geschichte betrachtet wird, war nötig und passierte viel rascher, als das im Westen der Fall war. Bei vielen Vereinen wurde erst um die Jahrtausendwende die Zeit zwischen 1933 und 1945 aufgearbeitet, in der ehemaligen DDR bereits nach weniger als einem Vierteljahrhundert. War die erste Welle der Ostalgie in den 1990ern geprägt von Verlust, handelt es sich bei dieser zweiten Welle um die Erkenntnis, dass eben jene Zeitabschnitte in der Historie eines Vereins, die vor 1990 liegen, genauso zur Geschichte gehören, wie die vermeintlich besseren seit der Wiedervereinigung. Insofern ist ‚Tradition’ hier als große Klammer zu verstehen, die – zumindest für den Fall der „Klasse von 1990/1991“ – in Form einer Traditionsmannschaft, von Büchern, eines Vereinsmuseums, Fangesängen oder in sonst irgendeinem Format ihren Ausdruck findet. Und als solcher vermutlich auch noch für viele weitere Jahre und folgende Fangenerationen zum identitätsstiftenden Moment wird.

Fußoten

[1] Götte, P. (2013): Von der Tradition zur Erforschung von Tradierungspraxen – Überlegungen zu Tradition und Tradierung aus familienhistorischer Perspektive. In: Baader, M./Götte, P./Groppe, C. (Hg.): Familientraditionen und Familienkulturen. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen. Wiesbaden: Springer VS, S. 14.

[2] Götte, P. (2013), a.a.O., S. 20 nach Oevermann, U. (2005)

[3] Götte, P. (2013), a.a.O., S. 20 ff.

[4] Nora, P., Les Lieux de Mémoire (Paris: Gallimard, 1997)

[5] Carrier, P., Pierre Noras Les Lieux de Mémoire als Diagnose und Symptom des zeitgenössischen Erinnerungskultes, In: Echterhoff, G., Saar, M. (eds.) Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses (Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2002), 141-162, S. 141.

[6] Francois, E., Schulze, H. (eds.) Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bände (München: CH. Beck, 2001); Sabrow, M., Erinnerungsorte der DDR (München: CH. Beck, 2009)

[7] Spitzer, G., Siegen um jeden Preis. Doping in Deutschland: Geschichte, Recht, Ethik 1972-1990 (Göttingen: Verlag die Werkstatt, 2013).; Leske, H., Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder. Der Einfluss der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit auf den Fußballsport in der DDR (Göttingen: Verlag die Werkstatt, 2014)

[8] Urban, T., Schwarze Adler, Weiße Adler, Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik (Göttingen: Verlag die Werkstatt, 2011), S. 137.

[9] Kummer, M., Die Fußballclubs Rot-Weiß Erfurt und Carl Zeiss Jena und ihre Vorgänger in der DDR. Ein Vergleich ihrer Bedingungen. (Potsdam: unveröffentlichte Dissertation, 2010)

[10] McDougall, A., The People’s Game: Football, State, and Society in Communist East Germany (Cambridge: Cambridge University Press, 2014)

Beitragsbild: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0526-010 / Kasper, Jan Peter via Wiki Commons CC-BY-SA 3.0

Du hast auch ein Thema, das Dich bewegt und das gut zu 120minuten passen könnte? Dann wäre vielleicht unser Call for Papers etwas für Dich!

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https://120minuten.github.io/sicher-gibt-es-bessere-zeiten/feed/ 2 2601
Die EM und ich https://120minuten.github.io/die-em-und-ich/ https://120minuten.github.io/die-em-und-ich/#comments Wed, 20 Jul 2016 06:00:30 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2320 Weiterlesen]]> oder: Über die Sucht

Autor: Alexander Schnarr, nurderfcm.de

In Teil 2 unseres EM-Rückblicks beschreibt Christoph, der in Paris lebt, seine Eindrücke von der Euro vor der Haustür – seine Euro-Notizen könnt ihr hier lesen.

Mein Name ist Alex und ich bin ein Junkie. Ein Fußballjunkie. Und: Ich habe versagt. Gründlich, vollständig und auf ganzer Linie. Ein kritisches, alternatives EM-Tagebuch wollte ich schreiben. Dokumentieren, wie es sich im Schland-Wahn lebt, wenn man versucht, sich dem UEFA-Festival der Unmöglichkeiten, das auch “Fußball-Europameisterschaft 2016” heißt, vollständig zu verweigern. Die Zeit einfach sinnvoll nutzt, anstatt jeden verdammten Abend vor dem Fernseher zu sitzen und sich so illustre Paarungen wie Island-Ungarn anzuschauen. Und nein, ich habe tatsächlich keine Ahnung, ob es diese Paarung überhaupt gab.

Also machte ich mich ans Werk, führte Tagebuch über mein Leben als EM-Verweigerer. Der letzte Eintrag stammt vom 22.06., da war die EM gerade mal 12 Tage alt und die Vorrunde just beendet. Selbstredend hatte ich inzwischen bereits mehr Spiele gesehen, als ich mir eigentlich für das ganze Turnier vorgenommen hatte. Die letzten Zeilen meines Selbstversuchs waren die folgenden:

“Natürlich verfolge ich mittlerweile aufmerksam und interessiert den Turnierverlauf. Gut, den deutschen jetzt nicht so, wenngleich ich seit einigen Tagen überlege, ob wir uns nicht auch das offizielle Waschmittel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft kaufen sollen. Nee, mehr so generell. Enttäuscht bin ich von Österreich, begeistert von Island. Ach verdammt, ich bin dann eben doch ein Süchtiger…. So, und ab jetzt wird die EM genossen. Scheißenocheins.”

Dabei hatte alles so gut angefangen. Bereits Mitte/Ende Mai begannen sich die virtuellen Tagebuchseiten zu füllen und fing ich damit an, meiner Abneigung gegen diese Kommerz-Veranstaltung Ausdruck zu verleihen. Was nun folgt, ist nicht weniger als:

Eine Chronologie des Scheiterns

18.05.2016

Morgens im Deutschlandfunk über die Nominierung des vorläufigen EM-Kaders informiert worden. Große Enttäuschung – Bundes-Jogi hatte wieder keinen Spieler des 1. FC Magdeburg berufen. Dafür aber Lukas Podolski. Der spielt noch?

19.05.2016

Erste Politiker posieren mit Deutschland-Trikots; der ballesterer hat die EURO als Titelthema. “Ihr jetzt auch?!” rufe ich anklagend in Richtung Fußballzeitschriftencover. Meine Rufe verhallen ungehört.

20.05.2016

Zugegeben, das ballesterer-EM-Special ist richtig gut. Also, gewohnt gut. Habe ich vom ballesterer ja eigentlich auch nicht anders erwartet. Die Klagerufe von gestern tun mir ein bisschen Leid, dafür lese ich jetzt aber auch doppelt so interessiert und dreimal so aufmerksam.

25.05.2016

Der Deutschlandfunk berichtet, dass die deutsche Mannschaft in irgendein Trainingslager reist und dass Löw noch Spieler aussortieren muss. Hallenhalma hätte mich dann doch noch ein wenig mehr gekickt, aber okay, man kann sich die Nachrichten nun mal nicht aussuchen.

27.05.2016

Redaktionskollege Christoph fragt wegen eines EM-Tippspiels an. Die Einschläge kommen näher.

29.05.2016

Gerade zurück von einem Familienkurztrip nach Moskau. Angenehm un-EM-ig dort. Deswegen sind wir da aber nicht hingefahren. Bei der Ankunft am Frankfurter Flughafen das Ergebnis des Testspiels gegen die Slowakei (1:3) gesehen. Den Nebenmann gefragt, ob er Wayne kennt. Tat er nicht, dafür guckte er komisch. Nun denn. Ich zuckte mit den Schultern und bestieg den Zug in Richtung Hauptbahnhof.

31.05.2016

Jogi Löw gibt seinen endgültigen Kader bekannt, Marco Reus fährt nicht mit. Ich empfinde nichts.

07.06.2016

Es wird so langsam schwieriger, der Europameisterschaft im Alltag zu entfliehen. Bei “Sport Aktuell” ist die EM dauernd Top-Thema und im Supermarkt gibt es schwarz-rot-goldene LED-Herzen und Toffifee in ebenjener Farbkombi im Jumbopack. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass ich alles, was man über die EM wissen muss, tatsächlich aus der EM-Ausgabe des ballesterer erfahren kann. Die spannende Frage ist lediglich, ob ich das Heft bis zum Turnierauftakt auch ausgelesen haben werde.

Außerdem pusht mir mein Telefon folgende Eilmeldung (!!!!111!): “EM-Aus für Antonio Rüdiger”. Aha.

08.06.2016

“Die Schottische Furche” fasste gestern meinen Gemütszustand via Facebook hervorragend zusammen.

UNSPORTLICHER SPORT
“Es ist ja schon komisch mit der EM. Da steht ein sportliches Highlight vor der Tür und es geht um alles – nur eben nicht um Sport. Einerseits die großen Zweifel hinsichtlich der Sicherheitslage rund um die Spiele, andererseits die Debatten um die Aussage eines AfD-Politikers, der offensichtlich den Verstand verloren hat. Umsäumt wird all das Unsportliche von einer Marketing-Welle, die an Konsum-Perversion nur schwer zu überbieten ist und sich jeder Supermarkt anfühlt wie die Kabine der deutschen Elf.

Und der DFB? Der steht als „gemeinnütziger Verein“ dem ganzen Wahnsinn natürlich vorbildlich gegenüber und schreibt sich in seiner Satzung die „Förderung gesunder Ernährung (…) als gesundheitliche Prävention“ auf die Fahnen. Deshalb entschied man sich in Frankfurt auch guten Gewissens für Verträge mit Ferrero (“Steck deine Stars in die Tasche!”) und McDonalds (“Sport und McDonald’s gehören einfach zusammen”) und schnürte mit Coca Cola einen „Premium-Partner“-Deal. Während Erwachsene mit Brauspar-Aktionen ein alkoholisches Konto eröffnen, können so besonders Kinder die EM bei Schokolade, Burger und Cola kalorienarm genießen. Gesundheit ist eben alles, besonders in Satzungen.

Ein Supermarkt-Regal weiter kann man den Liter Milch heute übrigens ab 47 Cent erwerben. Und während zig Bauern in ganz Deutschland um ihre Existenz fürchten, entscheiden sich eben doch viele für die 24 Sammeldosen von Coca Cola – natürlich wegen des gesundes Inhaltes und nicht wegen den abgebildeten Mats Hummels oder Manuel Neuer. Die Welt ist verrückt geworden. Darauf ein Prosit, lieber DFB!” (via Die Schottische Furche/Facebook)

09.06.2016

Jetzt ist die Europameisterschaft also auch im Job angekommen: In der Mittagspause im Büro unterhalten sich die Kolleginnen über EM- und WM-Guck-Gewohnheiten, Autodeko und die Chancen verschiedener Mannschaften. Damit nicht genug, klärt mich zuhause die Angetraute darüber auf, dass es bereits eine schwere Verletzung in der deutschen Mannschaft gab und sie glaubt, dass die Nivea-Boys es nicht über die Vorrunde hinaus schaffen.

Gleichzeitig stelle ich ja doch eine gewissen Vorfreude fest (hey, 4 Wochen lang fast jeden Tag ein Spiel!) und frage mich, ob es okay ist, den ganzen Kommerz-Wahnsinn abzulehnen und sich trotzdem auf das Sportliche zu freuen. Problematisch zudem: Am Eröffnungstag bin ich Strohwitwer und finde wenig Gründe, nicht doch mal zum Auftaktspiel den Fernseher einzuschalten.

10.06.2016

Dann habe ich das Eröffnungsspiel doch geschaut… wobei “schauen” nicht ganz stimmt – die Partie lief halt nebenbei, während ich noch etliche Dinge erledigte. Erst am nächsten Morgen hörte ich im Podcast meines Vertrauens, dass es wohl keine so tolle Vorstellung der französischen Mannschaft gewesen sein soll, so viel zu meiner Konzentration auf das Fernsehbild.

Überhaupt, Podcasts: Während in Sachen Nationalmannschaft leider offenbar auch der Deutschlandfunk schlandisiert wurde, gibt es inzwischen glücklicherweise noch den Rasenfunk Kurzpass, in dem vor allem das Sportliche im Mittelpunkt steht und außerdem alle Mannschaften bzw. Paarungen besprochen werden. Und nicht, ob Mats Hummels Einzeltraining macht, Bastian Schweinsteiger mit nach Lille fliegt und dass der Flug von Evian am Genfer See bis zum ersten Spielort von Le Mannschaft anderthalb Stunden dauert. Gibt es wirklich Menschen, die sowas interessiert?

Formate wie der ‘Kurzpass’ hingegen erinnern mich daran, dass auf der Hochsicherheits-Marketingveranstaltung ja tatsächlich auch noch gegen den Ball getreten wird. Könnte aus der Perspektive vielleicht doch noch was werden mit der Europameisterschaft und mir. Und dann ist da noch der Fußball-Podcast des Guardian, seit über einem Jahr hochgeschätzt und aus meinem Podcatcher nicht mehr wegzudenken. Heute stehen bei mir 90 Minuten Lauftraining auf dem Programm, da werde ich doch da gleich mal reinhören.

Was mich dann auch zum nächsten Gedanken bringt: Gibt es eigentlich auch in anderen Ländern “Fußball-Schläfer”, also solche, die dem Sport sonst so gar nichts abgewinnen können wollen, bei Großereignissen dann aber plötzlich ihren Nationalstolz entdecken, ihre Außenspiegel mit, sagen wir mal dem Union Jack überziehen, sich vor Leinwänden in irgendwelchen Pubs versammeln und mit dem sonst so wenig wohl gelittenen Fußballvolk bei Toren der eigenen Nationalmannschaft in den Armen liegen? Klingt ja irgendwie nach einem spannenden Rechercheauftrag…

11.06.2016

Die Affen sind los. Jedenfalls in England. 

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Heftige Ausschreitungen auf jeden Fall in Marseille, was wohl vor allem an ziemlich motivierten russischen Hooligans liegt und daran, dass der gemeine Engländer sich offenbar für einen zünftigen Faustkampf auch nicht zu schade ist. Angesichts der Bilder, die da so durch die sozialen Medien flattern, darf man sich schon fragen, was genau die französischen Behörden mit “Sicherheitskonzept” eigentlich meinen. Fraglich allerdings auch, ob solche Szenen wie in Marseille überhaupt verhindert werden können.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Duktus, mit dem über die Ereignisse berichtet wird: Im “heute journal” während der Halbzeitpause im Spiel England-Russland irgendwas zwischen Entsetzen, Empörung und Angewidertsein (der Korrespondent spricht z.B. davon, dass der Alkoholkonsum vor Ort nicht mehr menschlich, sondern tierisch sei), beim Guardian dagegen ehrliche Bewunderung eines Reporters vor Ort für einen Landsmann, weil jener einen Russen mit einem technisch einwandfreien Dropkick aus dem Sprint heraus von seinem fahrenden (!) Motorrad beförderte… Beiderseits allerdings auch die berechtigte Feststellung, dass es eigentlich eine Schande sei, Polizei vor Ort durch solche Wald-und-Wiesen-Auseinandersetzungen zu binden, da die (Stichwort “Terror-Abwehr”) sicher andernorts besser eingesetzt werden könnte.

Ansonsten war gestern irgendwie Podcast-Großkampftag und wusste ich dank der verschiedenen, bereits erwähnten Formate, worauf ich abends bei England-Russland achten sollte. Auffällig war dann aber vor allem die Bandenwerbung: Eine amerikanische Fastfood-Kette, die auf Russisch wirbt, ein chinesischer TV-Hersteller, der die Bühne EM nutzt, um seine Produkte anzupreisen und Energie aus Aserbaidschan… Das versteht man dann wohl unter “The Global Game”.

Was die anderen Partien angeht, fasziniert mich eigentlich im Nachhinein nur, wie viel Zeit man gewinnt, wenn man sich den Nachmittag nicht durch Albanien-Schweiz und Wales-whatever vorstrukturieren lässt.

Heute Abend dann der erste Auftritt von Le Mánnschàft und ich habe ein wenig Angst vor hupenden Vollhonks, nachdem Mario Gomez den Ball in der 97. Minute mit der linken Pobacke über die Linie bugsiert. Und vielleicht ist das Team ja auch bereits nach 1 h 28 Minuten in Lille angekommen? Man weiß es nicht. Einigen Medien wäre so etwas sicher einen Brennpunkt wert.

12.06.2016

Auf dem Weg zu einer Frühstückseinladung und auf dem Weg zurück stolpert man hier und da über Menschen in Deutschland-Trikots; die Gespräche mit Freunden drehen sich aber eher um die Hooligan-Ausschreitungen in Marseille und Nizza. Was man zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: später würden auch in Lille Kategorie-C-Menschen auftreten, andere Menschen verprügeln und Reichskriegsflagge sowie Hitlergruß zeigen. Wirkt im Moment alles so ein bisschen wie Mixed Martial Arts mit ein wenig Fußball nebenbei. Schlimm.

Nach einem längeren Lauf aus Versehen in den Vorbericht zu Deutschland-Ukraine geschaltet. Darum weiß ich jetzt auch, dass Mario Gomez vor dem Spiel immer das linke Pissoir benutzt. Außer, es ist belegt, dann nimmt er auch mal das rechte. Wow. Einfach nur wow. Tja, das sind halt die Geschichten, die nur der Fußball schreiben kann.

Plötzlich verspüre ich außerdem große Lust, den Stromanbieter zu wechseln, einen neuen Fernseher aus chinesischer Produktion zu kaufen und endlich mal wieder im Gasthaus zur Güldenen Möwe zu speisen.

13.06.2016

Umfangreichste EM-Beschallung bisher mit anderthalb Spielen (Irland – Schweden und 50% von Belgien – Italien); so langsam hat man sich dann doch eintakten lassen in den EM-Modus… Thema – auch in der 120minuten-Redaktion – sind immer noch schwerpunktmäßig die Ausschreitungen in Nizza, Lille und Marseille.

Dank der EM weiß ich jetzt auch, wo in meiner Nachbarschaft Italiener*innen wohnen – und es ist total super, das durch unkontrollierte Grölerei rauszufinden, wenn man am nächsten morgen sehr früh aufstehen muss und daher auch zeitiger ins Bett ging. Mimimi. Überlege außerdem jetzt, einen Hyundai zu kaufen, um dann damit einen ganz bestimmten Drive-In einer ganz bestimmten Burgerkette unsicher zu machen.

14.06.2016

Gestern bis 20 Uhr gearbeitet, danach noch laufen gewesen – von der EM also so gut wie nichts mitbekommen, wenngleich der Guardian Daily und der Rasenfunk die Laufrunde begleiteten. Als ich nach hause kam, lief der Fernseher, weil meine Frau von sich aus (!) Portugal – Island schaute (!!) und mir sogleich berichtete, wie die erste Halbzeit lief (!!!). Pünktlich zum 1:1-Ausgleich der Isländer setzte ich mich mit einem isotonischen Kaltgetränk dazu.

15.06.2016

Keine besonderen Vorkommnisse – die EM und ich haben uns offenbar inzwischen aneinander gewöhnt bzw. ist man dann letztlich wohl doch abgestumpft. Und: Auch die Frankreich-Sympathisanten in der Nachbarschaft haben sich geoutet.

16.06.2016

Le Mannschaft, Schlandisierung, Allez zusammen, Teil 2 oder: Der zweite Auftritt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Polen. Natürlich habe ich mir das Spiel angeschaut, emotional hat es mich aber ungefähr so tangiert wie die Begegnung Ukraine – Nordirland. Die ich nicht gesehen habe. Faszinierend, wie es die DFB-Marketingmaschine, vermutlich powered by willkürlichen Vereinsstrafen, innerhalb von nur 2 Großereignissen geschafft hat, bei mir jegliches gesteigertes Interesse am eigenen Nationalteam sauber abzubinden. So läuft dann im Fernsehen eben das Spiel, während man sich nebenbei mit der Frau über den Tag, den nächsten Urlaub und sonstige Dinge unterhält, die wesentlich wichtiger sind. Plötzlich schwenkt die Kamera auf die Menge und zeigt deutsche Fans mit falschen Schnurrbärten in Schwarz-Rot-Gold. Meine Fresse.

17.06.2016

Dienstreise ist, wenn Du von der EM mal so überhaupt gar nichts mitbekommst. Und was ist eigentlich mit den Kroaten los? Die EM als Bühne für Streitigkeiten mit dem Verband bzw. bestimmten Personen zu nutzen, ist ja schon eher uncool. Genau wie die offensichtliche Anweisung der UEFA, die Mannschaften nicht in die Kabine zu schicken, während auf dem Spielfeld noch Fackeln und Böller entsorgt werden. In meinem Hinterkopf singt irgendwer ziemlich schief “The Show Must Go On”, während sich in der Magengegend ein wenig Übelkeit breit macht.  

18.06.2016

Mit der Partie Portugal gegen Österreich gibt es das erste Spiel der EM, das mit tatsächlich interessiert und emotional tangiert. Einerseits wegen Cristiano Ronaldo, den ich zwar als Fußballer wahnsinnig interessant finde, der mir aber aufgrund seines arroganten Auftretens häufig auch die Hasskappe aufs Haupt zaubert. Andererseits wegen des österreichischen Nationalteams, für das ich durch den ballesterer tatsächlich einige Sympathien hege. Ja, für Österreich. Wo es noch ein kindliches Staunen über den Erfolg der eigenen Mannschaft gibt. Man sich freut, bei der EM dabei zu sein. Es offenbar (soweit das zu beurteilen ist) ein Team gibt mit Ecken und Kanten, interessanten Charakteren und Spielerbiographien. Und keinen glattgeschleckten Einheitsbrei, der von der großen Maschine derart jeglicher Emotionalität beraubt wurde, dass es eigentlich ein Lehrstück in jedem Marketing-Handbuch sein müsste.

Das erste Spiel also, für das ich mir wirklich Zeit nahm und das ich mit Interesse schaute. Und dann das: Vollkommen indisponierte Österreicher (wie konnte man die im Vorfeld eigentlich derart stark schreiben?) und ein Cristiano Ronaldo, der beim Elfmeter den Pfosten trifft und anschließend ein Selfie mit einem Flitzer schießt. Ja mei.

19.06.2016

Drittes Spiel in Folge geschaut, drittes 0:0. Die Slowakei und England tun mir jetzt schon Leid. Was ich mich übrigens auch frage: Gibt es in anderen Ländern eigentlich auch so einen (dann natürlich länderspezifischen) Schland-Kommerz-Nervfaktor, der dazu führt, dass man eher andere interessante Teams verfolgt als die eigene Auswahl?

20.06.2016

Man muss auch mal die Größe haben, ein Spiel NICHT bis zum Ende zu schauen, in diesem Fall das äußerst, ähm, spannende 0:0 zwischen England und der Slowakei.

22.06.2016

Ich gestehe mein Scheitern ein und schreibe die eingangs bereits zitierten letzten Zeilen des Tagebuchs. Es bringt ja nichts, sich etwas vorzumachen. Dann gucke ich halt die EM.

Was sonst noch geschah

Tja, irgendwann wurde es dann doch Routine, bis spätestens 21:00 Uhr alle wichtigen Dinge erledigt zu haben und den Tag mit irgendeinem Fußballspiel ausklingen zu lassen. Meine anfängliche Anti-Haltung war zwar noch nicht ganz verschwunden, aber irgendwas hatte sich verändert. Gibt es bei solchen Turnieren so etwas wie einen Gewöhnungseffekt? Waren zunächst die Spiele selbst ein Problem, weil ich schon jedes Mal mit mir gerungen habe, ob ich mir den Mist nun jetzt angucken oder doch zu meiner Überzeugung stehen soll, waren es ab einem bestimmten Punkt die spielfreien Tage, die mir zu schaffen machten. Letztlich ist es ja schon interessant, was für ein Gewohnheitstier der Mensch doch ist.

Und es war ja auch nicht alles schlecht, immerhin gab es Island. Und ein EM-Halbfinale Frankreich – Deutschland, das ich reisenderweis’ im österreichischen Fernsehen verfolgen konnte, wo der Moderator einen lustigen Dialekt sprach und nicht Tom Bartels, Béla Réthy oder Steffen Simon hieß. Auch das Ausscheiden der DFB-Auswahl gegen die französischen Gastgeber ließ das Turnier für mich versöhnlich enden. Nicht, weil mich die Niederlage großartig gefreut hätte, dafür ist mir der DFB-Tross viel zu egal, sondern weil damit schließlich ein stundenlanger Autokorso durch meinen Wohnort so gut wie ausgeschlossen war.

Ein paar Portugiesen schafften es nach dem Finale natürlich trotzdem, mich hupenderweis’ noch ein wenig wachzuhalten, aber hey, es sei ihnen gegönnt. Derweil berauschten sich ein paar hundert Kilometer weiter westlich Ronaldo, Nani und Co. hoffentlich ausgiebig an diesem eigentlich ja doch ziemlich unwahrscheinlichen, dafür aber umso großartigeren Triumph, während die deutschen Nationalspieler vermutlich längst vorbildlich ins Land der (geplatzten) Träume entschlummert waren. Schließlich geht er ja bald schon wieder weiter, der große Zirkus, der mit seinen Attraktionen auf zwei Beinen vielleicht demnächst ja auch in Deiner Stadt Halt macht.

Und 2018, wenn dann vermutlich 64 oder so Mannschaften in Russland um die fußballerische Weltherrschaft ringen, ziehe ich ihn durch, den Fußballgroßereignisboykott. Ganz sicher. Doch, ganz bestimmt.

Weiterlesen – Teil 2 unseres EM-Rückblicks

Pariser Euro-Notizen

Ein Turnier vor der Haustür Autor: Christoph Wagner, anoldinternational.co.uk Teil 1 unseres EM-Rückblicks von Alex, der sich an Fußball-Entzug versuchte, lest ihr hier. Es ist Europameisterschaft und sie findet unmittelbar… Weiterlesen

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Beitragsbild: Wir bedanken uns bei Seth Werkheiser für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von Seth Werkheiser gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-SA 2.0

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Hoch-professionelle Fußball-Romantik – revisited https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/ https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/#comments Fri, 27 May 2016 08:00:24 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2134 Weiterlesen]]> Liga 3 – ein Saisonrückblick

Vor dem Beginn der Drittligaspielzeit 2015/2016 gingen wir hier bei 120minuten der These auf den Grund, ob die 3. Liga interessanter und relevanter wäre denn je. Wir beleuchteten die dritthöchste deutsche Spielklasse hinsichtlich ihrer fußballerischen Qualität, schauten auf die wirtschaftliche Situation und ließen natürlich auch die Fan-Perspektive nicht zu kurz kommen. Inzwischen ist die letzte Minute gespielt, das letzte Tor geschossen und die letzte Entscheidung hinsichtlich des Aufstiegs in die 2. Bundesliga gefallen – Zeit also, Bilanz zu ziehen.

In unserer Retrospektive auf die 3. Liga 2015/2016 gibt Sebastian Kahl eine sportliche Einschätzung der Spielklasse ab; Endreas Müller interviewte sowohl Fedor Freytag, der “Drittliga-Urgestein” FC Rot-Weiß Erfurt die Daumen drückt als auch Eric Spannaus, dessen SG Dynamo Dresden die Liga souverän in Richtung 2. Bundesliga verließ. Alex Schnarr sprach mit Frank Rugullis, seines Zeichens Leiter des Online-Bereichs bei MDR Sachsen-Anhalt, über die 3. Liga aus Medien-Perspektive, während Christoph Wagner die Spielzeit und insbesondere das hervorragende Abschneiden des 1. FC Magdeburg aus dem fernen Paris verfolgte und zum Abschluss des Textes seine Eindrücke schildert. Ist die 3. Liga also der Ort hoch-professioneller Fußballromantik?

Autoren: Sebastian Kahl (yyfp.rocks), Endreas Müller (endreasmueller.blogspot.de), Christoph Wagner (anoldinternational.co.uk) und Alex Schnarr (nurderfcm.de)

Die 3. Liga als Zweieinhalbklassengesellschaft

Das Klassement der 3. Liga lässt sich heuer in zweieinhalb Gruppen einteilen: An der Spitze zog Dynamo Dresden einsame Kreise. Am dritten Spieltag übernahm die SGD die Tabellenführung und gab sie nicht mehr ab. Nebenbei brach die Mannschaft von Uwe Neuhaus den vereinsinternen Rekord für den besten Saisonstart, blieb die ersten zwölf Partien ungeschlagen. Dresden stellt zwei der treffsichersten Stürmer, den (auch historisch) besten Vorlagengeber und insgesamt die beste Offensive der Liga. Der Aufstieg schien bereits frühzeitig gebucht. Einzig vor Weihnachten durchlebten die Schwarz-Gelben eine Schwächephase (fünf Unentschieden in Folge), wirkten etwas überspielt. Vier Spieltage vor Schluss war die Rückkehr in die 2. Bundesliga auch rechnerisch durch. 

Hinter Dresden stritten sich sieben, acht Teams um den weiteren Aufstiegsrang, die Teilnahme an der Relegation und den Einzug in den DFB-Pokal. Erzgebirge Aue bastelte nach dem Abstieg aus Liga 2 2015 eine völlig neue Mannschaft, die am Ende die beste Defensive der Liga stellte. Das war auch nötig, denn mit im Schnitt nur knapp einem geschossenem Tor pro Partie waren die Veilchen auf der anderen Seite des Platzes eher harmlos. Interessant auch, dass keine Mannschaft weniger Spieler einsetzte als Aue (19, wie auch Münster). Den Titel als bestes Bollwerk der Liga hätten ihnen fast noch die Würzburger Kickers streitig gemacht. Die Aufsteiger arbeiteten sich dank ihrer soliden Abwehr still und heimlich bis auf den Relegationsplatz vor und konnte die Saison mit dem Aufstieg krönen – ein Durchmarsch von der Regionalliga in die 2. Bundesliga.

Einen ähnlichen Umschwung legte Sonnenhof Großaspach hin, die im Vorjahr noch auf Rang 15 landeten. Beide Teams profitieren vom ruhigem Umfeld. Anders die Situation bei den Westfalen: Sowohl der VfL Osnabrück als auch Preußen Münster hätten sich mit mehr Konsequenz von den Verfolgern absetzen können. Die Lila-Weißen tauschten bereits kurz nach Saisonbeginn den Trainer, die Schwarz-Weiß-Grünen zur Winterpause; lagen da auf Rang sechs. Mit dieser Platzierung wären die Verantwortlichen beim 1. FC Magdeburg bereits mehr als zufrieden gewesen – am Ende wurde es gar der vierte Platz. Für die Aufsteiger ging es eigentlich nur um den Klassenerhalt. In der Hinserie nahmen sie die Euphorie aus der gelungenen Qualifikation für Liga 3 mit, Torjäger Beck schloss nahtlos an (40% der Teamtore, höchste Abhängigkeit). Mit dem Frühlingsanfang und dem Erreichen der 45 Punkte-Marke ging den Magdeburgern etwas die Luft aus, sonst wäre nach oben möglicherweise sogar noch mehr drin gewesen. Fortuna Köln schließt die Gruppe derjenigen Mannschaften ab, die fast bis zum Schluss zu den Aufstiegs- bzw. Pokalaspiranten zählten. Sieben Remis sind Liga-Tiefstwert und Zeugnis der Hopp-oder-Topp-Spielweise. Die Südstädter waren vorne wie hinten immer für Tore gut.

Im Schatten der übermächtigen Dresdner wurde der Kampf um die vorderen Ränge zum Schneckenrennen. Die Teams auf den einstelligen Tabellenplätzen verabschiedeten sich erst spät. Ein Grund: Jedes Team (Ausnahme Großaspach) spielte eine Serie von mindestens fünf sieglosen Partien, selbst Dresden, Aue und Osnabrück. Das klare Saisonziel ‘Aufstieg’ hatten denn auch nur die Dresdner ausgegeben. Vielen Vereinen genügte es schon, nichts mit dem Abstiegskampf zu tun zu haben. Die Auswirkungen eines Absturzes in die Regionalliga wären desaströs. Dennoch plagten das Gros der Mannschaften im Laufe der Spielzeit akute Abstiegssorgen. Nur der VfB Stuttgart II schien bereits einige Wochen vor Saisonende wirklich abgehängt. Der Rest spielte ‘Reise nach Jerusalem’, bis es dann am letzten Spieltag noch dramatisch wurde. Am Ende erwischte es neben dem VfB II mit den Kickers den Rivalen in der eigenen Stadt, dazu musste Energie Cottbus den bitteren Gang in die vierte Liga antreten.

Bei Rot-Weiß Erfurt und dem Chemnitzer FC wirkte ein Trainerwechsel. Unter Krämer respektive Köhler gelang der Tabellenritt von der Abstiegszone in die obere Hälfte. Auch Hansa Rostock stabilisierte sich nach einem Wechsel an der Seitenlinie. Den vollzogen übrigens zehn der 20 Teams, Energie Cottbus und der Hallesche FC gleich doppelt. Die Lausitzer legten zwar die zweitbeste ungeschlagene Serie der Saison hin (13 Partien), kamen aufgrund der vielen Unentschieden aber nicht recht vom Fleck. Halle krankte im Frühjahr daran, dass ein halbes Dutzend Stammspieler im Sommer wechseln würde. Der letzte Biss fehlte. Holstein Kiel hielt wiederum an Karsten Neitzel fest, trotz des zwischenzeitlich letzten Tabellenplatzes. Und wurde für die Konstanz belohnt: die Störche landeten im gesicherten Mittelfeld. Der FSV Mainz II begeisterte in der Hinrunde mit tollem Offensivfußball, zahlte in der Rückrunde Lehrgeld. Wie auch der SV Werder Bremen II, ein Grund: Keine Mannschaft musste mehr Spieler einsetzen, 38! Die Stuttgarter Kickers trumpften zunächst durch ein gutes Winter-Transferfenster noch auf, kletterten in der Jahrestabelle ins oberste Drittel und konnten den Absturz ins Amateurlager dennoch nicht verhindern. Bei Wehen Wiesbaden war die Entwicklung durch die sieglosen Monate Februar und März gewissermaßen gegenläufig, erst am letzten Spieltag gelang der Klassenerhalt. Zweitliga-Absteiger VfR Aalen drohte zwischenzeitlich durch eine schlechte Rückrunde durchgereicht zu werden, landete dann aber einen Punkt über den ominösen Strich auf dem 15. Rang.

Die Zusammenfassung verdeutlicht – eine Saison in Liga 3 verläuft selten geradlinig. Die Mannschaften sind sehr eng beieinander und es kann sehr schnell in der Tabelle nach oben oder unten gehen. Zwischen der besten und schlechtesten Platzierung im Saisonverlauf lagen bei Drittligateams im Schnitt mehr als 12 Tabellenplätze. In 1. und 2. Bundesliga beträgt die Schwankung im Saisonverlauf lediglich etwa 8 Tabellenplätze (wobei natürlich auch die zwei zusätzlichen Startplätze in Liga 3 eine Rolle spielen).


Die 3. Liga in Zahlen

Glückwunsch an den FC Erzgebirge Aue zum Staffelsieg. Staffelsieg? Die Veilchen beendeten die Spielzeit 2015/16 doch acht Punkte hinter der SG Dynamo? Nicht in der Ost-Meisterschaft. Im direkten Vergleich der acht Mannschaften aus der ehemaligen DDR schnitten die Auer am besten ab, holten 27 aus 42 möglichen Punkten. So ein Tabellenfilter ist eine nette Spielerei, die Auer feiern wohl eher den Aufstieg. Es verdeutlicht aber auch eines der begleitenden Themen dieser Saison. Die 3. Liga wurde früh zur Ostalgie-Liga erklärt. Oder verklärt?

Die Städte Aue und Rostock trennen 500 Kilometer. Trotzdem werden die Teams häufig unter der Überschrift ‘Ostfußball’ subsummiert. Nach der Wende krankten viele Vereine an ähnlichen Symptomen, landeten durch anhaltende Misswirtschaft in der Bedeutungslosigkeit oder gar Insolvenz. Der 1. FC Magdeburg brauchte schließlich 25 Jahre, um im Profifußball anzukommen. Die Umstände und Hintergründe sind so zahlreich und vielfältig wie es eben Vereine im Osten gibt. Wichtig ist: Im Sommer 2015 waren acht Klubs aus der früheren DDR-Oberliga in einer gesamtdeutschen Spielklasse vereint, so viele wie nie. Und das sorgte für einen Zuschauerboom.

2.687.807 Fans besuchten die insgesamt 380 Partien, so viele wie nie. Mit Einführung der eingleisigen 3. Liga waren es im Schnitt 2,2 Millionen Stadionbesucher pro Spielzeit. Im Ligavergleich lagen die acht Ost-Vereine allesamt unter den Top-10. Nur Osnabrück (Platz 4) und Münster (8) mischten sich noch dazwischen. Dresden und Magdeburg waren mit ca. 27.500 respektive 18.500 die Zugpferde. Magdeburg würde sich sogar in der 2. Bundesliga noch auf Rang 10 einsortieren. Aber auch Rostock und Chemnitz verzeichneten einen enormen Anstieg. Liegt das nun an der höheren Fußballbegeisterung in der Region? Dresden und Aue profitierten vom Aufstiegsrennen. Magdeburg schwamm durchweg auf einer Welle der Euphorie. In Chemnitz dagegen passte sich der Fanzuspruch eher Mannschaftsleistung und Wetter an. Während der mageren Wintermonate verloren sich kaum 5.000 Himmelblaue auf den Rängen.

Was daran liegen, dass es meist auch möglich war, den Spielen gemütlich vom heimischen Sessel aus beizuwohnen – zumindest für Fans aus dem Sendegebiet des MDR. Während Anhänger des SV Wehen Wiesbaden ihre Elf lediglich zweimal im TV bewundern konnten, sahen die Dresdner ihre SGD bei fast jeder Partie. Das sind natürlich die Extrembeispiele. Allerdings tat sich der MDR im Vergleich mit anderen regionalen Sendeanstalten durchaus hervor, was die Übertragung der 3. Liga anging. Denn die Quote stimmte, was sowohl die Marktanteile als auch die Abrufzahlen bei den Livestreams belegen:

Abrufzahlen Livestreams

Bereits die Relegationsspiele des 1. FC Magdeburg verfolgten zu Spitzenzeiten 740.000 Zuschauer. Das entsprach knapp 23 Prozent Marktanteil. Werte, die Dresden in der laufenden Saison ebenfalls mehrmals erreichte oder noch übertraf. Die beste Quote brachten jeweils Ost-Duelle. Einzig die Ost-Teams profitierten davon nicht. Denn für die TV-Rechte erhalten die 20 Vereine der 3. Liga 12,8 Millionen Euro, insgesamt. Zum Vergleich: In ihrer letzten Saison in der 2. Liga kassierten die Auer rund 6 Millionen Euro, allein.

Dahin verabschieden sich die Erzgebirgler nun auch wieder. Da Dresden ebenfalls aufsteigt und Cottbus den bitteren Gang in die Regionalliga antreten muss, dürfte auch die Ostalgie-Liga Geschichte sein. Die inoffizielle Meisterschaft wird es wohl nicht auf den Auer Briefkopf schaffen.


Genauso wenig, wie vermutlich “Drittliga-Gründungsmitglied” beim FC Rot-Weiß Erfurt in der Kopfzeile stehen wird und das, obwohl die Mannschaft aus der Thüringer Landeshauptstadt nach dem Abstieg der Stuttgarter U23 inzwischen die einzige Mannschaft ist, die seit Bestehen der Liga durchgängig dabei ist. Endreas Müller sprach mit Fedor Freytag über die Saison der Rot-Weißen und die Perspektiven von Liga und Team:

Interview mit Fedor Freytag, Anhänger des FC Rot-Weiß Erfurt und Blogger auf Stellungsfehler.de

EM: Rot-Weiß Erfurt steckte in dieser Saison lange im Abstiegskampf. Inwiefern spiegelt der Tabellenstand in dieser Liga das wirkliche Leistungsvermögen der Mannschaften wider?

FF: Dynamo Dresden war die dominante Mannschaft der Liga. Dies bildet sich auch in der Tabelle ab. Deren Vorrunde war überragend, danach gab es einen Effekt, den die Statistiker Regression zum Mittelwert nennen. Würzburg und Aue stehen – jedenfalls für mich – überraschend da oben. Wobei sich die Kickers auf der Basis eines eingespielten Teams sehr smart verstärkt haben. Und Aue hat den Nachweis erbracht, dass auch eine völlig neu zusammengestellte Mannschaft eine stabile Saison auf hohem Niveau spielen kann. Für mich ist Dotchev ja der Antichrist, aber er hat da zweifellos einen großartigen Job gemacht.
Tja, was den Rest betrifft, empfiehlt sich ein Blick auf die Tabelle um den 30. Spieltag herum. Da existierte kein Mittelfeld mehr. So ab Platz 7 oder 8 drohte der Abstieg. Inzwischen hat sich die Tabelle auch nach unten ausdifferenziert, aber lange Zeit war sie ein Beleg für die These, dass ausgeglichene Etats einen ebensolchen Wettbewerb mit sich bringen.

EM: Rot-Weiß Erfurt ist eine Art Dauergast in Liga 3. Siehst Du einen weiteren dauerhaften Verbleib in der Liga als Erfolg oder muss der Blick nach oben gerichtet werden?

FF: Der Abstieg des VfB II steht fest. Damit sind wir der einzige Verein, der seit der Gründung der Liga durchgängig in ihr spielt. Nach dieser Saison ist das eindeutig ein Erfolg. Allerdings gab es schon Jahre, in denen wir oben mitgespielt haben. Damals war die Bewertung natürlich eine völlig andere. Für einen Verein wie RWE ist ein Aufstieg nicht planbar. Planbar sind nur kontinuierliche Verbesserungen in allen für den sportlichen Erfolg relevanten Bereichen. Die wiederum basieren auf einer Konsolidierung der finanziellen Situation. Ich erwarte keine Wunderdinge, wenn die neue Arena im Juli eröffnet wird. Aber eine schrittweise Verbesserung der Ertragslage muss damit zwingend einhergehen. Dies war ja auch das alles überragende Argument für den Komplettumbau des Stadions.

EM: Wo würdest Du RWE gern in fünf Jahren sehen?

FF: Natürlich würde ich den FC Rot-Weiß Erfurt gerne in der Fußballbundesliga sehen. Man muss Darmstadt nicht mögen, aber eine solche Cinderella-Story lässt jeden Fan eines chronisch absturzgefährdeten Drittligisten träumen. Sehr realistisch ist das selbstredend nicht, eben weil es so selten passiert. Quasi Jackpot. Für den Moment wäre ich schon froh, wenn es gelänge den Vertrag mit Stefan Krämer zu verlängern. Mal einen guten Trainer bei der kontinuierlichen Verbesserung einer Mannschaft zu erleben, das ist im Hinblick auf meinen Verein die exzentrischste Hoffnung, der ich mich hingebe.

Danke für das Gespräch!


Nicht in die Fußballbundesliga, dafür aber ins Unterhaus schaffte es die SG Dynamo Dresden in von Fedor Freytag schon angesprochener, vollkommen souveräner Manier. Klar, dass man als Anhänger der SGD mit der just abgeschlossenen Drittliga-Saison eigentlich nur zufrieden sein kann. Nun geht es in der kommenden Spielzeit unter anderem gegen den FC St. Pauli und die Roten Teufel vom Betzenberg. Über die Perspektiven der Mannschaft aus der sächsischen Landeshauptstadt, die abgelaufene Saison und die 2. Liga gibt Eric Spannaus im 120minuten-Interview Auskunft:

Interview mit Eric Spannaus, Buchautor und Anhänger der SG Dynamo Dresden

EM: Werden Dir die Ostduelle aus Liga 3 in der 2. Bundesliga fehlen und wenn ja, warum bzw. warum nicht?

ES: Prinzipiell fand ich die vielen Ostderbys in diesem Jahr sehr reizvoll und spannender als die in der kommenden Saison anstehenden Duelle gegen den SV Sandhausen oder den 1.FC Heidenheim. Die ostdeutschen Mannschaften und Fankurven stehen unter Strom und geben alles. Nicht umsonst haben wir unsere einzigen Niederlagen dieser Saison gegen Cottbus und Erfurt erlitten. Die nostalgieträchtige Ostmeisterschaft in Liga 3 ging nicht an Dynamo, sondern die für mich Überraschungsmannschaft der Saison, Erzgebirge Aue. 6 Mannschaften, welche Dynamo und Aue nicht in die 2. Bundesliga folgen werden, werden einzig durch Union Berlin aufgefangen. Auf die freue ich mich auch sehr, es verdeutlicht aber um so mehr, wie viel Nostalgie verloren gehen wird.
Doch sieht man mal von den feuchten Augen deswegen ab, haben Ostduelle auch Nebenseiten, auf die ich gern verzichten kann, wie zum Beispiel Rostock im Herbst 2014 und Magdeburg vor wenigen Wochen.

EM: In welche Spielklasse gehört Dynamo Dresden für dich langfristig?

ES: Wir Fans der SGD sind bekannt, schnell überschwänglich zu werden. Die einzig würdige Spielklasse ist zumindest die Champions League, weniger muss es nicht sein.
Doch mal ganz im Ernst, wir haben 2 Anläufe in der 2. Bundesliga genommen und sind zweimal mit Pauken und Trompeten gescheitert. Die langfristige Spielklasse sollte daher nicht ganz oben zu finden sein, sondern etwas realistischer in der 2. Bundesliga. Wichtige Spieler haben und werden vielleicht auch noch den Verein verlassen, ob Ralf Minge jedesmal mit seinen Verpflichtungen ins Schwarze trifft, ist nicht gewiss. Lass uns erstmal ankommen und mithalten können, nach oben dürfen Ziele immer gern verschoben werden.

EM: Was war deiner Meinung nach Dynamos Erfolgsgeheimnis, um sich in der relativ ausgeglichenen 3. Liga so absetzen zu können?

ES: Das ist wohl die einfachste Frage. Welche Schlagzeilen hat Dynamo diese Saison geschrieben? Wie viel außersportlicher Knatsch und innermannschaftliche Scharmützel haben die Gazetten beherrscht?

Danke für das Gespräch!


Glücksfall 3. Liga

Die Drittligasaison 2015/2016 war auch aus Medienperspektive interessant, was nicht zuletzt an der bereits mehrfach zitierten ‘Oberliga 2.0’ bzw. der ‘Ostmeisterschaft’ zwischen Dynamo Dresden, Erzgebirge Aue, dem 1. FC Magdeburg, dem Chemnitzer FC, Energie Cottbus, dem Halleschen FC, dem F.C. Hansa Rostock und dem FC Rot-Weiß Erfurt lag. Einen “besonderen Glücksfall” stellte die 3. Liga demzufolge für den Mitteldeutschen Rundfunk dar, wie Frank Rugullis, Leiter Online bei MDR Sachsen-Anhalt, im Gespräch mit 120minuten erläutert. Jener Glücksfall ergäbe sich dabei nicht nur aus dem Umstand, dass die so genannten ‘Ostclubs’ vom Potenzial her durchaus den Vergleich mit Bundesligisten nicht scheuen müssen, sondern auch aus einer für den MDR günstigen TV-Rechte-Lage in Liga 3. Während die ersten beiden Profiligen vollständig von Sportschau und Co. abgedeckt werden, ergibt sich für die regionalen Sender, je weiter man die Ligenpyramide nach unten schaut, ein größeres Maß an Gestaltungsfreiheit. Und dann hilft es natürlich, wenn man als MDR Sachsen-Anhalt zum Beispiel den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC und damit mindestens zwei spannende Derbys pro Saison direkt vor der Haustür hat.

Allerdings hängt der Medienerfolg der 3. Liga Rugullis zufolge nicht unbedingt ausschließlich an den Ostderbys, weil die Liga insgesamt ein unheimlich spannendes Format ist, wie ja u.a. auch die Ausführungen zu Beginn des Beitrags und die Einschätzung von Fedor Freytag belegen. Die Ausgeglichenheit der Liga sorgt dementsprechend für Spannung und Zuschauerinteresse, was natürlich auch der journalistischen Arbeit dienlich ist: Die 3. Liga halte einfach auch abseits von ‘Elb-Classico’ (Dynamo – FCM), ‘Sachsen-Anhalt-’ (FCM – HFC) und ‘Sachsen-Derby’ (Aue – CFC) jede Menge Geschichten bereit. Dabei ist die Frage, was im Zusammenhang mit der 3. Liga aus Medien-Perspektive eigentlich ‘Erfolg’ bedeutet, nicht mal eben in 2, 3 Sätzen zu beantworten; in Rugullis’ professionellem Kontext beschäftigen sich ganze Arbeitsgruppen mit dieser Thematik. Natürlich spielen ‘harte Faktoren’ wie Klickzahlen und Webseiten-Trackings eine (ziemlich große) Rolle; gleichzeitig schaut man beim MDR aber auch auf qualitative Kriterien wie die Wahrnehmung der eigenen Formate aus der Perspektive von Multiplikatoren und Fans, der Resonanz in den einschlägigen Fan-Foren oder darauf, welche Beiträge des MDR wo verlinkt werden.

Aus der Sicht von MDR Sachsen-Anhalt waren es im Online-Bereich vor allem die analytischen Texte über den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC, die – gemessen an Klickzahlen – die erfolgreichsten waren. Aktuelle Beispiele sind die Saisonbilanzen jener Vertreter aus Sachsen-Anhalt, die ähnlich häufig geklickt wurden wie nicht-sportbezogene Nachrichtenbeiträge, die auch überregional für einige Aufmerksamkeit sorgen. Das blau-weiße Lager wird es dabei sicher freuen, zu hören, dass sich laut Rugullis im Vergleich mit dem HFC doppelt so viele MDR-Sachsen-Anhalt-User für Berichte über den Aufsteiger aus der Landeshauptstadt interessiert hätten. Dazu trug nicht zuletzt selbstverständlich auch die für viele unerwartet gute Saison der Blau-Weißen bei, was insgesamt zu einer positiven Resonanz führte. Aus Medienperspektive ist die Formel also denkbar einfach: Erfolgreiche Vereine sorgen selbstverständlich auch für ein gesteigertes Interesse an entsprechender Berichterstattung – was gerade im Fall des 1. FC Magdeburg, aber auch des Halleschen FC in der Vergangenheit auch schon einmal ganz anders war.

Insofern ist die Bewertung einer Saison aus der Perspektive der über die entsprechenden Mannschaften berichtenden Medien letzten Endes doch abhängig vom Erfolg der Teams im Sendegebiet, zumal das Thema “Sport” für den MDR ein ganz zentrales ist. Anders ausgedrückt: Aus Senderperspektive kommt dem Duell “HFC-FCM” von der Priorität her nur eine geringfügig kleinere Bedeutung zu als der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016. Dementsprechend hoch ist auch der Aufwand, der seitens MDR Sachsen-Anhalt in Sachen “Fußballberichterstattung” betrieben wird, wobei Frank Rugullis Wert darauf legt, dass der überwiegende Teil der konzeptionellen Arbeit über die 3. Liga im MDR durch die Leipziger Kolleg*innen von “Sport im Osten” realisiert wird, und das überaus erfolgreich:

Aufgabe von MDR Sachsen-Anhalt ist es in diesem Zusammenhang, gerade bei den Begegnungen mit sachsen-anhaltinischer Beteiligung “genauer hinzuschauen, Inhalte zu liefern und auch mal Sachen auszuprobieren”. Und das erfolgt mit aus Fan-Perspektive schöner Regelmäßigkeit über die punktuelle Einbindung von Bloggern ebenso wie zum Beispiel über das Format “Fan-Ticker”, das zuletzt im Landespokalfinale zwischen dem HFC und dem FCM erfolgreich zum Einsatz kam. Keine Frage, dass die zumindest im MDR-Sendegebiet umfangreiche und durchaus innovative Berichterstattung die Liga für den geneigten Fußballfan noch einmal interessanter machte  – ebenso, wie sich der Erfolg der Liga sicherlich auch für die Berichterstatter*innen selbst nicht unbedingt negativ ausgewirkt haben dürfte.


Hoch-professionelle Fußball-Romantik?

Die 3. Liga als Ort hoch-professioneller Fußball-Romantik also? Für die Anhänger des 1. FC Magdeburg ganz sicher. Als Aufsteiger mit der klaren Maßgabe ‘Klassenerhalt’ in die Saison gestartet, stand am Ende der Spielzeit ein überragender 4. Tabellenplatz und damit die direkte DFB-Pokal-Qualifikation zu Buche. Wo aber soll man aus FCM-Perspektive beginnen bei einem Rückblick auf eine Saison, die man nur aus der Ferne mitbekommen hat? Aus der Ferne und auch nur durch die blau-weiße Brille? Sozusagen als Außenstehender? 120minuten-Autor Christoph Wagner mit einer Einschätzung:

“Neben der FCM-Brille könnte ich ja auch die Ostdeutsche Brille tragen, die mich aber nicht weiterbringt: was interessieren mich Halle oder Chemnitz, außer, dass der Club besagte Vereine doch hoffentlich schlägt? Oder die Stuttgarter Kickers? Preußen Münster? Wegen des ‘Tatort’? Die blau-weiße Brille passt am besten und so soll es sein.

Was war die Freude groß, als im Juni 2015 der FCM den Aufstieg in die 3. Liga perfekt machte nun endlich bei den Großen mitspielen durfte! Noch größer war es, als man schon Ende Juli die Saison im heimischen Heinz-Krügel-Stadion eröffnen durfte. Völlig aus dem Häuschen war man nach dem Auftaktsieg gegen Rot-Weiß Erfurt. Als kurz darauf auch noch Halle geschlagen wurde, glaubte man seinen Augen kaum: Der FCM stand ziemlich weit oben in der Tabelle. Und für 24 Stunden sogar ganz oben, nachdem Chemnitz geschlagen wurde. Dabei war es vollkommen egal, dass Chemnitz den besseren Ball gespielt hat; der FCM hat zweimal getroffen, hatte dabei das Glück auf seiner Seite und bewies auch eine gehörige Portion Cleverness. Sehr oft hatte man den Eindruck, dass der Club sehr darauf erpicht war, schnellstmöglich Punkte zu sammeln, ehe die Luft ausgehen könnte. Das Überraschende oder gar Schöne dabei war, dass eben jene Punktejagd zu Beginn der Saison der Mannschaft nun nicht unbedingt Flügel verlieh, aber doch die nötige Luft verschaffte, um auch bei Durststrecken zu überstehen, ohne in Schnappatmung zu verfallen, die zu unüberlegten Aktionen seitens des Clubs hätten führen können. Als Aufsteiger war klar, dass es hart werden würde.

Wie aber Club, Mannschaft und Fans auch die Löcher überstanden haben, zeigt den Zusammenhalt, der über die letzten vier Jahre gewachsen ist. So richtig wurde diese “Friede, Freude, Eierkuchen”-Stimmung getestet im Vorfeld des Hansa-Spiels, als klar wurde, dass von Clubseite eben nicht korrekt kommuniziert wurde. Dass man sich hinterher aussprach und das auch noch auf Augenhöhe tat, spricht für alle Beteiligten. Als langjähriger Stadiongänger war das für mich eine Herangehensweise, welche in den 90ern hin und wieder mal vonnöten gewesen wäre, um den Club in ruhigeren Wassern zu halten. Lektion gelernt.

Dass die Mannschaft lernfähig ist, zeigte sich in den letzten Wochen. Die Hinrunde war mitunter von unschönem Fußball geprägt. Klar, Magdeburg spielt einen sehr physischen Stil und wird sicher nie den schönsten Ball in irgendeiner Liga spielen. Dennoch kann auch das zumindest gut aussehen. Genau dies geschah in der Rückrunde und ging gleich in Halle los. Die wurden quasi auseinandergenommen und hatten über 90 Minuten keine Chance und obendrein wurden die Zuschauer aus dem eigenen Stadion geworfen. Da es sich um das Derby in Sachsen-Anhalt handelte, ist sicher davon auszugehen, dass eben dieser Faktor die nötigen spielerischen Fünkchen sprühen ließ. Sehr zur Freude meinerseits als Zuschauer des Livestreams in Paris. Der Höhepunkt waren wohl die 65 Minuten gegen Dresden, als Dynamo im HKS wenig bis gar kein Land sah und sich bis auf einige wenige Konter selten vor dem Magdeburger Tor sehen ließ.

Apropos Dynamo Dresden. Schaut man sich die Saison rückblickend an, so war von vornherein klar, dass Dresden aufsteigen würde, ja müsste. Alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen. Erst 2014 aus Liga 2 abgestiegen, waren die Elbflorenzer einfach eine Nummer zu groß für diese Liga und stellten von vornherein klar, wer Chef ist. In typischer Bayernmanier muss man sagen, dass dann doch schon 5 Spieltage vor Schluss der Aufstieg perfekt gemacht wurde. Egal, es war verdient. Gleichzeitig ist es schade, dass der FCM nun nicht mehr gegen Dynamo spielen wird in nächster Zukunft. Denn mit Fug und Recht kann man behaupten, dass diese Paarung wohl eine der geschichtsträchtigsten ist und auch von dem gewissen Etwas einer lang gewachsenen Rivalität lebt.

Vor der Saison sprachen viele von einer Neuauflage der DDR-Oberliga, weil mal eben 8 ehemalige Oberligisten mitmischten. Das ist natürlich Unsinn, es bleiben ja immer noch 12 andere Teams in der Liga und niemand käme auf die Idee, diese Liga ‘Westliga’ zu taufen. Auch hier gibt es einige interessante Vereine, bspw. Preußen Münster, Fortuna Köln und die Stuttgarter Kickers. Im Zusammenhang mit diesen Clubs spricht man gern von Traditionsvereinen. Nun ist das mit der Tradition so eine Sache und man kann sich dafür wenig kaufen. Das durfte der 1. FC Magdeburg zwischen 1990 und 2015 am eigenen Leib erfahren. Die Liga als Sammelbecken für, ja für was eigentlich? Für ostdeutsche Vereine, die es nach 25 Jahren Einheit in den Profifußball geschafft haben, bzw. dort ihr Eckchen gefunden haben oder auch nur auf Zwischenstopp sind.

Aufgrund der Dichte der sogenannten Ost-Derbies allerdings waren auch die Mahner auf dem Plan und wurden in den meisten Fällen eines besseren belehrt. Keine Gewaltorgien, keine Weltuntergangsszenarien. Auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Dennoch wurde es laut im positiven Sinne. Allein die Stimmung im Magdeburger Stadion war sagenhaft. War es zu Beginn der Saison nahezu ausschließlich der Block U, so sprang der Funke beim Spiel gegen Preußen Münster auf die ganze Bude über und für nahezu 30 Minuten war Fußball nichts weiter als eine Nebensache, weil die Massen sich und ihren Club feierten. Opium für das Volk. Auch auswärts machte Blau-Weiß gut etwas her. Man denke an das Halle-Spiel. Dass die Stimmung in den Stadien also mitunter herausragend war und wohl auch bleiben wird, ist auch als Fingerzeig in Richtung der ewigen Mahner und Nörgler zu verstehen, die Fußballfans allzu gern als permanent gewaltbereite Gruppe brandmarken und am liebsten wegschließen würden. In der Tat kann man den Spieß auch umdrehen und Medien und Polizei als Sündenböcke hinstellen. Egal, wie rum man es dreht, alle Beteiligten dürften sich in dieser Hinsicht einiges an Mitverantwortung ans Revers heften und sollten dies auch eingestehen. Nur so wird in Zukunft der Fußball – nicht nur in Liga 3 – ein positives Erlebnis bleiben, was ja sicher auch im Interesse aller Beteiligten ist.

Als Aufsteiger nicht nur für einige Überraschungen zu sorgen, sondern durchweg oben mitzuspielen, ist schon eine Leistung und zugebenermaßen war ich eben nicht überzeugt, dass genau das passieren würde. Umso schöner ist eben jene Rückschau auf diese Saison mit knappen Spielen, großen Siegen und einer Atmosphäre, die einige Bundesligisten spielend in die Tasche steckt. Gleichzeitig weckt so eine Saison auch gewisse Begehrlichkeiten und es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich alle von Liga 2 redeten, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Da aber der Club die Badelatschen nun endlich gegen Fußballschuhe getauscht hat, auch gegen vermeintlich leichte Gegner, kann man davon ausgehen, dass der eingeschlagene Weg beim FCM weiter Schritt für Schritt gegangen wird mit der richtigen Einstellung und, was noch viel wichtiger ist, den richtigen, weil realistischen Zielen vor Augen.”


Verdammt nah dran

Neue Spielstätten mit allen Vorzügen (und Nachteilen) moderner Stadionbauten, alte Arenen, deren Stehplatztraversen auf jedem Zentimeter Fußballgeschichte atmen, ein guter Mix aus kleinen Clubs, wenigen Bundesliga-Zweitvertretungen und etlichen traditionsreichen Vereinen mit großer und reisefreudiger Anhängerschaft, dazu ein Medienumfeld, in dem neben dem Bedienen der Entertainment-Bedürfnisse der Massen noch genug Raum für innovative Berichte, spannende Reportagen und experimentelle Formate bleibt, dazu überwiegend bezahlbare Live-Erlebnisse und eine sportliche Ausgeglichenheit, die die eigene Herzensmannschaft lediglich zwischen den Polen “Aufstiegsrennen” und “Abstiegskampf” oszillieren lässt – Fußballfan-Herz, was willst Du eigentlich mehr?

Aus Fan-Sicht kommt die 3. Liga der Vorstellung von Fußballromantik im Profibereich sicherlich (noch) verdammt nah – wenngleich man gut argumentieren könnte, dass die Vorzüge der Staffel gleichzeitig auch ihr größtes Problem sind: Die kontinuierliche Entwicklung aufstiegsfähiger Kader ist kaum möglich, weil die besten Spieler sich üblicherweise schnell in höhere Sphären verabschieden. Die mediale Abdeckung ist zwar ansprechend, bringt aber nicht genügend Erlöse, um wirklich nachhaltig wirtschaften zu können. Die infrastrukturellen Voraussetzungen sind hoch und stellen insbesondere kleinere Vereine immer wieder vor Herausforderungen. Und trotzdem: Die 3. Liga hat sich während ihres bisher achtjährigen Bestehens als ernst zu nehmendes Profiliga-Format etabliert, was allein schon an der Entwicklung der Zuschauerzahlen deutlich wird: Verfolgten 2008/2009 noch durchschnittlich 5.600 Personen die Saisonspiele live im Stadion, waren es 2015/2016 bereits knapp 7.100 Menschen im Schnitt, die ihren Teams vor Ort die Daumen drückten. Auch die TV-Präsenz nahm exponentiell zu, wie sich am Beispiel des MDR gut ablesen lässt:

Und auch wenn die ‘Ost-Meisterschaft’ erst einmal passé ist, kann man doch davon ausgehen, dass dieser Trend sich fortsetzen wird. Weil abseits von Hochglanzfußball, Millionentransfers und Pay-TV auch im deutschen Profifußball noch Platz für ein gutes Stück Romantik ist.

 

 

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei turus.net. Wir durften den weitreichenden Bilderfundus für die Bebilderung dieses Beitrags verwenden.

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Buchbesprechung: Werner Skrentny – Es war einmal ein Stadion – Verschwundene Kultstätten des Fußballs https://120minuten.github.io/buchbesprechung-werner-skrentny-es-war-einmal-ein-stadion-verschwundene-kultstaetten-des-fussballs/ https://120minuten.github.io/buchbesprechung-werner-skrentny-es-war-einmal-ein-stadion-verschwundene-kultstaetten-des-fussballs/#comments Sun, 20 Dec 2015 17:28:32 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1776 Weiterlesen]]> “Es war einmal…” – so beginnen ja in aller Regel Märchen. Als bekennender Stadionnostalgiker, der gern auch mal eine Stadtliga-Partie verfolgt, nur weil die Anlage, auf der sie stattfindet, schon etliche Fußball-Jahrzehnte auf dem Buckel hat, würde ich auch das von Werner Skrentny vorgelegte Werk durchaus als Märchenbuch bezeichnen. Es bezeugt – wie bereits der Untertitel verrät – ehemalige Spielstätten, auf denen Fußballgeschichte(n) geschrieben wurde(n), und das auf eine Art und Weise, die die geneigte Leserschaft eintauchen lässt in das Berlin der 30er oder das Essen und Neubrandenburg der 50er Jahre. Auch Arenen, die erst vor relativ kurzer Zeit neuen Wohnungen (Bökelberg-Stadion/Mönchengladbach) weichen mussten und/oder zugunsten eines Stadionneubaus anderswo aufgegeben wurden (Jahnstadion/Regensburg), sind im Buch zu finden; neben allerlei Detailinformationen zur Stadiongeschichte sind die einzelnen Beiträge stets garniert mit zeitgeschichtlichen Einordnungen, sporthistorischen Anekdoten und: jeder Menge Bildmaterial.

Das Buch kommt dabei auch optisch eindrucksvoll daher: Hardcover, A4-Format, bunter Einband, 176 Seiten, dreispaltiger Text. Jener zeugt von viel Herzblut, akribischer Recherchearbeit und einer großen Leidenschaft für die ehemaligen Anlagen. Ein besonderer Mehrwert des Bandes besteht darin, dass sich in den nach Städten sortierten Beiträgen nicht nur bekannte Spielstätten wie das Berliner “Stadion der Weltjugend” wiederfinden, sondern (vorher zumindest mir) unbekannte Orte wie der VfR-Platz an der Hammer Landstraße in Neuss oder der Sportplatz am Gaskessel in Stuttgart. “Es war einmal ein Stadion” leistet damit einen ganz wichtigen Beitrag zum Erhalt der Fußballkultur, die bekanntermaßen ja nicht in der Bewahrung der Asche, sondern der Weitergabe des Feuers besteht. So schreibt Skrentny denn auch im Vorwort: “Doch war dieses Buchprojekt auch Anlass, anderswo nachzusehen, wo weniger bekannte Spielstätten identitätsstiftende Wirkung hatten und geografische Landmarken darstellten.”

Das Werk besteht insgesamt aus zwei Teilen, wobei sich der Anhang noch einmal in vier eigene Abschnitte untergliedert: Neben verschwundenen Spielstätten von Aachen bis Zwickau auf den ersten 135 Seiten findet man im besagten Anhang weitere Arenen, die heute verschwunden sind und solche, bei denen am selben Ort neue Spielstätten entstanden. Noch einmal deutlich höher schlägt das Stadionnostalgiker-Herz zum Ende des Buches, wenn man nach reichlich Fußball-Geschichte bei den “legendären Holztribünen” angekommen ist, die in ‘noch vorhanden’ und ‘inzwischen verschwunden’ eingeteilt werden.

Doch, “Es war einmal ein Stadion” ist ein Buch, in dem man sich verlieren kann. Fußballhistoriker*innen ist es ebenso zu empfehlen wie dem ganz normalen Fan, der sich für die Wurzeln des Fußballsports seiner Heimatstadt bzw. die ehemalige(n) Spielstätte(n) seines Herzensvereins interessiert oder der Anhängerin der guten, alten Fußballkultur, deren Blick über Multifunktionsarenen und Baukastenstadien hinausgeht und für die ein Kaltgetränk und eine Bratwurst im Leipziger Fortuna-Sportpark oder im Nobiskrug zu Rendsburg ebenso zu einem gelungenen Fußballnachmittag gehören können wie der Besuch in der hypermodernen <Hier Sponsorennamen einfügen>-Arena in München, Hamburg oder Dortmund. Kurzum: “Es war einmal ein Stadion” ist ein hervorragendes Werk, was in keinem fußball-affinen Bücherregal fehlen sollte.

Autor: Alexander Schnarr

Werner Skrentny: Es war einmal ein Stadion. Verschwundene Kultstätten des Fußballs.
176 Seiten, Format A4, gebunden
ISBN 978-3-7307-0192-8
Preis: 24,90 Euro
Erschienen im Verlag Die Werkstatt

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