a Carmen Mayer – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Sun, 01 Dec 2019 11:33:33 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Auf den Spuren der englischen Fußball-Memorialkultur – Impressionen aus London https://120minuten.github.io/auf-den-spuren-der-englischen-fussball-memorialkultur-impressionen-aus-london/ https://120minuten.github.io/auf-den-spuren-der-englischen-fussball-memorialkultur-impressionen-aus-london/#respond Wed, 02 Oct 2019 07:00:20 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6550 Weiterlesen]]> London 2019. Ich war unterwegs in die englische Hauptstadt, um erste Einblicke in die dortige Memorialkultur im Fußball zu sammeln. Meine Recherche im Vorfeld hatte ergeben, dass man bei Queens Park Rangers Asche von verstorbenen Fans im Stadion begraben kann. Eine besondere Möglichkeit für Anhänger*innen, auch über den Tod hinaus ihrem Herzensverein ganz nahe zu sein. Wie genau eine Begräbniszeremonie im Stadion von QPR aussieht, wollte mir der langjährige Clubpfarrer erzählen. Gespannt machte ich mich auf den Weg nach London, wo mir nicht nur an der Loftus Road interessante Elemente der englischen Erinnerungskultur begegneten.

Das Kiyan Prince Foundation Stadium der Queens Park Rangers ( (c) Carmen Mayer)

von Carmen Mayer (trauerundfussball.de) | Oktober 2019

Es war ein kühler, sonniger Tag im April, als ich am Flughafen London-Heathrow landete. Ich war gerade noch dem Brexit entkommen, der eigentlich am Tag meiner Reise hätte beginnen sollen und dann doch noch mal mindestens bis Oktober verschoben worden war. Meine erste Station führte mich in ein Pub in Notting Hill zum Spiel Liverpool gegen Chelsea. Es war der Tag, bevor sich die Hillsborough-Katastrophe zum 30. Mal jährte. Vor der Partie gab es eine beeindruckende Choreographie in Anfield in Erinnerung an die 96 Menschen, die im Stadion ihr Leben verloren hatten. Es war sehr bewegend, als die Bilder der Choreographie auf der Großbildleinwand im Pub übertragen wurden.

Die Kneipe war voll und fest in der Hand der LFC-Fans. Ganz vorne saß neben einem glühenden Anhänger der Reds dessen Hund und starrte wie sein Herrchen gebannt auf die Leinwand. Neben mir saß ein junger Mann mit seiner Freundin und wir kamen ins Gespräch. „Oh, you are from Germany? Jürgen Klopp, he is so great!“, und dann folgte eine Welle der Begeisterung für den Coach der Reds, während das Spiel in der ersten Halbzeit vor sich hinplätscherte. Nach der Halbzeitpause führte Liverpool innerhalb von drei Minuten mit 2:0. Der Pub bebte. Der LFC war zurück im Titelrennen und es wurde nach Abpfiff noch lange gefeiert.

Am nächsten Morgen schaute ich verschiedene Zeitungen durch, um zu sehen, wie viel über den 30. Jahrestag der Hillsborough-Katastrophe berichtet wurde. Es war überschaubar und weniger, als ich erwartet hatte; dagegen war das Gedenken in den sozialen Netzwerken vielfältig. Im Stadion selbst erinnern bis heute auf der Westtribüne 96 weiße anstatt der üblichen blauen Sitze an das Unglück.

West Ham United, ehemaliger Boleyn Ground (Upton Park) und der Memorial Garden

Da ich bis zu meiner Verabredung mit dem Clubpfarrer der Queens Park Rangers noch einige freie Tage zur Verfügung hatte, wollte ich jene Orte aufsuchen, an denen früher die Stadien zweier Londoner Fußballclubs waren und jetzt Wohnkomplexe entstanden waren. Spannend waren sie für mich vor allem deshalb, weil noch Zeugnisse der englischen Fußballmemorialkultur zu sehen waren. Zuerst führte mich der Weg in den Osten von London. Dort stand bis 2016 das Stadion von West Ham United, Boleyn Ground oder auch Upton Park genannt. Auf dem Weg zum ehemaligen Ground lief ich die legendäre Green Street entlang. Links und rechts sind kleine Läden, indische Restaurants, Kosmetiksalons, Kleidergeschäfte, die die neuesten Saris zeigen, Schmuck aus Pakistan oder Köstlichkeiten aus Bangladesch. Schon aus der Ferne sah ich einen noch im Bau befindlichen, großen Wohnkomplex. Hier sollen über 800 exklusive Wohnungen mit dem Namen „Upton Gardens“ entstehen. Übriggeblieben von der alten Heimat der „Hammers“ ist der Memorial Garden, der noch mit den Originalstücken des ehemaligen Stadiongeländes umzäunt ist. Es handelt sich dabei um einen Ort des Gedenkens, keinen Friedhof im klassischen Sinne mit Gräber und Urnen. Vielmehr bietet er den Hinterbliebenen die Möglichkeit, Erinnerungsstücke an ihre Verstorbenen zu hinterlassen. Wer möchte, kann einen kleinen Teil der Asche der verstorbenen Fans verstreuen.

Memorial Garden West Ham © Carmen Mayer

Die rechtliche Situation in Deutschland
In Deutschland ist dies nicht möglich, da aufgrund der Bestattungsgesetze die Asche als Gesamtheit nur auf einem Friedhof, im Bestattungswald oder auf See bestattet werden kann. Bremen hat als bisher einziges Bundesland das Gesetz gelockert und erlaubt mit Auflagen, die Asche von Verstorbenen auf einem privaten Grundstück oder in dafür ausgewiesenen öffentlichen Flächen auszustreuen.

Auf einem Hinweisschild neben dem Memorial Garden ist zu lesen, dass die Baufirma mit West Ham United daran arbeitet, das Gedenkareal würdevoll in die landschaftsplanerische Gestaltung des Wohnkomplexes zu intergieren. Um ins Innere des verschlossenen Memorial Gardens zu gelangen, musste ich eine Nummer anrufen, die auf dem Hinweisschild zu finden war. Kurz darauf kam ein Bauarbeiter, der mir aufschloss. Das Innere des Gardens ist nicht besonders groß. Bei meinem Besuch bestand er aus einem kleinen Feld mit zwei Bäumen, die vereinseigene Schals und Wimpel trugen sowie ein Trikot, auf dem gedruckt stand: „DAD. Always in my heart. R.I.P. Love Sean.“ Außerdem befanden sich dort persönliche Gegenstände und Erinnerungsschilder, auf denen teils Fotos, Namen, Geburts- und Todesdaten der verstorbenen Fans zu sehen waren, manchmal auch persönliche Widmungen.

Boleyn Ground Memorial Garden © Carmen Mayer

Als ich den Garden verließ, kam ich mit dem Bauarbeiter ins Gespräch. Richard arbeitet seit zwei Jahren auf dieser Baustelle und ist zuständig dafür, den Memorial Garden für Besucher*innen zu öffnen. Er selbst ist kein West-Ham-United-Fan, sein Herz schlägt für Arsenal. „Früher gab es zwei Sitzbänke hier im Memorial Garden. Diese wurden aber leider geklaut. Um den Garten besser zu schützen, ging man so auch dazu über, ihn abzuschließen.“ Auf meine Nachfrage, ob der Garden regelmäßig besucht würde, nickte er und berichtete, dass nicht nur Menschen aus London, sondern auch von außerhalb kämen, neulich sogar jemand aus Südafrika. Manche erzählten ein bisschen, andere weinten sehr. „Es wird hier auch an viele jüngere Menschen erinnert“, sagte er und machte eine Pause, bevor er lobend die West-Ham-United-Fans erwähnte, die zweimal im Monat in voller Fanmontur erscheinen und im Garden nach dem Rechten schauen. Wir redeten noch lange über Fußball, Trauer und Tod sowie den Umgang damit, bevor wir uns verabschiedeten. Richard winkte mir noch einmal zu und dann war er um die Ecke im Baucontainer verschwunden.

Arsenal, Emirates-Stadion und altes Highbury-Gelände mit Memorial Garden

Meine zweite Station war die Stätte des alten Stadions von Arsenal, das Highbury, wo heute ebenfalls ein Wohnkomplex steht. Nach anfänglichem Zögern entschloss ich mich, auch das neue Stadion von Arsenal, das „Emirates Stadium“, zu besuchen, das nicht weit weg vom ehemaligen Gelände des Highbury zu finden ist. Ich hatte bisher nur wenige moderne Fußballtempel besichtigt, die waren aber alle nichts gegen die aktuelle Spielstätte der Gunners. Nirgends wurde mir bisher so deutlich vor Augen geführt, wie Geld den Fußball regiert. „Kalt“, „glatt“, „edel“, „exklusiv“, „hochwertig“ sind Begriffe, die mir einfielen, als ich mit meinem Audioguide auf der Stadiontour unterwegs war. Eine persönliche Führung wurde nicht angeboten. Der Audioguide tönte mir zu Beginn ins Ohr: „Wenn Sie Fragen haben, stellen sie diese jederzeit unseren Mitarbeiter*innen. Es gibt keine Frage, die Ihnen nicht beantwortet werden kann“. Ob das wohl stimmte, wollte ich herausfinden. In der VIP-Lounge glitt mein Blick übers Stadion und ich fragte einen älteren Mitarbeiter: „Gibt es bei Arsenal die Möglichkeit, seine Asche auf oder am Spielfeld verstreuen oder begraben zu lassen?“ Er blickte mich nachdenklich an: „Das ist eine wirklich gute Frage, die hat mir in den 20 Jahren, die ich für Arsenal als Guide arbeite, noch nie jemand gestellt.“ Eine Antwort wusste er adhoc nicht, versprach aber, er würde versuchen, das herauszubekommen. Er war sehr bemüht, telefonierte mit verschiedenen Menschen, kam jedoch nicht weiter. Ich saß inzwischen in einem der Sessel vor der VIP-Lounge und blickte in das Stadion mit seinen über 60.000 Plätzen.

The Emirates Stadium © Carmen Mayer

Es war ein schöner Tag, die Sonne fiel in die Arena und doch fühlte ich mich fremd in dieser Welt des Hochglanz-Glitzerfußballs. Meine Gedanken reisten zu den alten Grounds, in denen alles etwas schrammeliger ist, die Gebrauchsspuren aufweisen, bei denen das Flutlicht in den Himmel ragt, der Rasen nicht aussieht, als wenn er gerade frisch aus dem Katalog verlegt worden wäre und wo es nach einer Mischung aus Schweiß, Bratwurst und Bier riecht. Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schulter. Eine Kollegin des Guides sagte mir, dass sie sich um meine Frage kümmern würde. Nach längerer Zeit und einigen weiteren Telefonaten kam sie zurück und meinte, dass es nicht erlaubt wäre, die Asche auf dem Pitch zu verstreuen. Das einzige, was sie anböten, wäre eine „Celebration Corner“ vor dem Stadion, eine Wand, für die man eine Zinkplatte kaufen und sich oder seine Verstorbenen darauf verewigen lassen könnte. Ich bedankte mich für die Mühe und verließ kurz darauf die Lounge, um meine Stadiontour fortzusetzen, die schließlich im Fanshop endete. Den verließ ich zügigen Schrittes und machte ich mich auf den Weg zum ehemaligen Highbury-Stadion.

Es war ruhig im Wohngebiet um Arsenal, ich begegnete kaum Menschen oder Autos, die typischen englischen Häuser reihen sich dort aneinander. Auf einem kleinen Weg gelangte ich ins Innere des ehemaligen Highbury. Dort steht jetzt eine große, noble Wohnanlage namens „Highbury Square“ mit rund 700 Wohnungen. Die Fassaden der ehemaligen Ost- und Westtribüne wurden in den Komplex integriert und beherbergen Apartments, von denen man auf das ehemalige Spielfeld blickt, das jetzt ein schön angelegter Garten ist. Dort befindet sich auch der Memorial Garden, in dem Asche von Arsenal-Fans liegt. Im Gegensatz zu heute war dies im Highbury Stadion möglich. Der Garten ist nicht öffentlich begehbar, sondern nur mit einem Code für die Hausbewohner*innen zugänglich, deshalb konnte ich leider nur durch den hohen Gartengitterzaun ins Innere blicken. Der Memorial Garden ist nur mit Gras und kleinen Büschen bepflanzt. Persönliches findet man dort nicht. Es gibt lediglich eine Bank mit dem Hinweis: “The Bench is dedicated to the memory of many loyal Arsenal Supporters. Arsenal Stadium 1913-2006”.

Arsenal Gardens © Carmen Mayer

Queens Park Rangers, Loftus Road – Asche der verstorbenen Fans, die Teil des Groundes werden

Endlich stand mein Termin im Stadion der Queens Park Rangers mit dem langjährigen Clubpfarrer an. Unterwegs wurde ich an Laternenmästen mit Aufklebern von Union Berlin begrüßt – der Verein hatte hier letzten Sommer ein Freundschaftsspiel. Ich lief die Africa Road entlang, die aufs Stadion zuführt und konnte schon das Hauptgebäude sehen. Es ist etwas in die Jahre gekommen, die Fassade ist grau, im oberen Stockwerk stehen hinter einem Fenster verschiedene Pokale und ein Flutlichtmast ragt in den Himmel. Nach dem Besuch des Glitzerstadions von Arsenal Balsam für mein Fußballherz.

Das blaue Wappen von QPR und ein Schriftzug mit „Loftus Road Stadium“ zieren den Haupteingang. Viele Jahre hieß die Heimspielstätte der Hoops nur „Loftus Road“, im Juni 2019 wurde das Stadion in „The Kiyan Prince Foundation Stadium“ umbenannt. Er war ein sehr talentierter Jugendspieler von QPR, der im Jahr 2006 im Alter von 15 Jahren erstochen wurde. Reverend Cameron empfing mich an der Rezeption des Stadions. „Oh, hello Carmen, I see, the Germans are always on time!“

Mit Wasser ausgestattet, führte er mich in eine Loge. Wir nahmen auf einem blauen Plüschsofa mit Blick auf das Spielfeld Platz. Die Loge war heimelig und wies die eine oder andere Gebrauchsspur auf, aber genau das schaffte ein sehr familiäres Gefühl. Im Februar war Cameron nach über zwölf Jahren zusammen mit einem weiteren Kollegen bei einem Heimspiel verabschiedet worden. „Das waren bewegende Momente. Ich habe viele schöne Erinnerungen mitgenommen und bin sehr dankbar, dass ich Teil dieser Gemeinschaft, dieser Fußballfamilie sein durfte.“ Da sein Nachfolger gerade erst eingearbeitet wurde, hatte Cameron mir angeboten, für unser Gespräch noch mal zur „Loftus Road“ zu kommen, worüber ich sehr dankbar war. Cameron hatte mir zu Ehren noch einmal sein blaues Dienstsakko mit einem Wappen von QPR angezogen, darunter stand „Chaplain“. So lautete die offizielle Bezeichnung für seine Tätigkeit. Normalerweise trug er noch einen weißen Kollar, auch bekannt als weißer, ringförmiger Stehkragen. Auf den hätte er heute verzichtet, lachte er. Mit der Dienstkleidung war seine Funktion unverkennbar.

Zu den Aufgaben eines Club-Chaplains gehört es, die Spieler beim Training zu besuchen, hin und wieder gemeinsam mit ihnen zu essen und an Spieltagen im Stadion für die Fans präsent zu sein. Für vertrauliche Gespräche vor oder nach dem Spiel nutzte Cameron die Loge, in der wir saßen. Aber seine wesentliche Aufgabe war eine ganz besondere: Bei QPR gibt es die Möglichkeit, einen Teil der Asche von verstorbenen Fans hinter der Torlinie zu begraben. Mir ist kein weiterer Proficlub in London bekannt, der das anbietet. Etwa acht bis neun kleine Begräbniszeremonien führte Cameron pro Jahr durch. Die Fans kamen meist aus England, aber auch aus anderen Ländern. „Das ist keine offizielle Beerdigung“, stellte er klar. Nur ein kleiner Teil der Asche, etwa ein kleines Marmeladenglas, findet hier seine letzte Ruhe. Die Beerdigung des verstorbenen Menschen hat schon woanders stattgefunden und die informelle Zeremonie hier passiert einige Zeit später. Es ist vor allem für Hinterbliebene eine sehr wertvolle Erinnerung, dass ihre Liebsten auch über den Tod hinaus nah am Geschehen ihres Herzensvereins teilhaben können.

Tor © Carmen Mayer

Cameron bot mir an, die kleine Zeremonie, die er mit den Hinterbliebenen durchführte, mit mir im Stadion durchzugehen. Nach der Kontaktaufnahme erklärte Cameron den Hinterbliebenen den Ablauf der kostenfreien Zeremonie, so dass diese wussten, was auf sie zukommen würde. Auf Wunsch können bis zu 40 Personen teilnehmen. Der erste gemeinsame Weg führte dann in die Umkleidekabine. „Es war ganz unterschiedlich, wie lange die Familien sich hier aufhielten“, erzählte er. „Manche machten Fotos, andere wiederum verließen die Kabine nach einem kurzen Blick.“ Anschließend ging es durch den Spielertunnel auf den Rasen. Dort wurde fast eine ganze Runde um das Spielfeld gedreht bis zu dem Tor, das auf der Seite der Loftus Road steht. Diese Zeit nutzte der Pfarrer, um ins Gespräch zu kommen über die Verstorbenen. “Manche brachten Fotos mit, andere beklebten das kleine Glas mit der Asche mit persönlichen Motiven, andere waren eher still und wieder andere genossen die Aussicht und machten viele Fotos“, berichtete er. Die eigentliche Zeremonie aus kleinem Gebet und einer Schweigeminute fand anschließend an der Torlinie statt. Auf halber Höhe zwischen Eckfahne und Tor gibt es eine Grube, in die die Asche dann geschüttet wurde. So wird der Fan Teil des Grounds. Platten oder Namen der Toten sucht man allerdings vergeblich, es soll ja etwas Informelles bleiben. Bedauerlicherweise konnten wir am Tag meines Besuches die Grube auch nicht sehen, da sie schon für den nächsten Spieltag mit einer großen Fahne abgedeckt war. Cameron und ich standen noch einen Augenblick an der Linie, vor uns das große, leere Stadion, ein alter Ground mit knapp 18.500 Sitzplätzen. Die Flutlichtmasten grüßten den Himmel. „Ein schöner Platz, um seine letzte Ruhe zu finden“, dachte ich.

Als ich Loftus Road verließ, war es sehr warm geworden. Ich entschloss mich, zum FC Chelsea zu fahren, eine Runde um die Stamford Bridge zu drehen und auf dem dahinterliegenden Friedhof meine London-Reise ausklingen zu lassen.

FC Chelsea, Stamford Bridge und Brompton Cementary

An der Stamford Bridge waren schon einige Auswärtsfans vorm Stadion. Am Abend spielte Chelsea im Europapokal gegen Slavia Prag. Ich drehte eine Runde um die Spielstätte. Auf der Rückseite begrenzt die Friedhofsmauer das Gelände. Es war ruhig. Die Eingänge an der Nord- und Osttribüne waren noch verwaist, auch die der Auswärtsgäste. Hin und wieder traf ich auf ein paar beschäftigte Mitarbeiter*innen des Clubs, die mir zunickten. Plötzlich ging ein Tor auf und zwei Jungs fuhren mit ihren Rasenmaschinen und weiteren Geräten heraus. Es waren die Greenkeeper, die den Rasen für das Spiel am Abend chic gemacht hatten. Ich erhaschte einen längeren Blick ins Innere, wo seit 2006 die Asche des früheren Chelsea-Stürmers Peter Osgood unterm Elfmeterpunkt vor „The Shed“ liegt, und setzte nach einigen Minuten meine Runde fort. Die endete schließlich am Shed Wall, dem südlichen Ende der Stamford Bridge.

Ich verließ die Heimat der Blues und stand wenige Minuten später vorm Eingang des Brompton Cemetery. Der Friedhof besteht seit 1840 und ist einer der ältesten sogenannten Parkfriedhöfe in London. Er ist über 16 Hektar groß (im Vergleich dazu: ein Fußballfeld in Standardgröße ist etwa 0,7 Hektar groß) und eine Mischung aus Park, historischen Denkmälern, Wildtieren und den Gräbern der über 200.000 Menschen, die hier beerdigt sind. Darunter auch der Gründer des Chelsea Football Clubs, Gus Mears. Es war ein schöner Nachmittag und der Friedhof war rege besucht. Jogger*innen, Eltern mit Kinderwagen, Menschen in Businesskleidung, die ihr Lunch aßen, Gärtner*innen, die sich um die Wegbepflanzung kümmerten, eine ältere Dame, die ein Grab goss. Eichhörnchen liefen mir vor die Füße und weiter hinten fanden sich alte, historische Denkmäler. Ich lief in Richtung jener Friedhofsmauer, die das Chelsea-Gelände vom Friedhof trennt. Vor mir die Gräber, im Hintergrund das Stadion. Ich setzte mich auf eine Bank. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume des Friedhofs und über der Stamford Bridge zogen weiße Wolken vorüber. Trauer und Fußball treffen aufeinander, das gilt auch hier für diesen ganz besonderen Ort.

Brompton Cemetery © Carmen Mayer

Es war später Nachmittag als ich den Friedhof verließ und in einen roten Doppeldeckerbus stieg. Ganz vorne oben war ein Platz frei. Es war dichter Verkehr, der Bus schaukelte durch Fulham, links und rechts am Straßenrand waren viele Fans unterwegs zum heutigen Viertelfinalspiel der Europa-League. Meine Reise durch die englische Fußballmemorialkultur war zu Ende, ich blickte aus dem Fenster des Busses und aus meinen Kopfhörern ertönte „Football is coming home“.

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Autor*innen-Information: Carmen Mayer ist Trauerbegleiterin in Berlin in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Krankheit, Trauer, Tod und Verlust und forscht zum Thema Trauer und Fußball, worüber sie auch eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben hat. Daraus ist dann das Projekt Trauer und Fußball entstanden. Sie ist Dauerkartenbesitzerin bei Turbine Potsdam und ihr Herz schlägt auch noch grün-weiß für den SV Werder Bremen.

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Wenn Fußball und Trauer aufeinandertreffen https://120minuten.github.io/wenn-fussball-und-trauer-aufeinandertreffen/ https://120minuten.github.io/wenn-fussball-und-trauer-aufeinandertreffen/#comments Wed, 13 Feb 2019 08:00:53 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5667 Weiterlesen]]> Ein Querpass durch die Trauerkultur im Fußball

Als im Januar 2019 das Flugzeug mit dem argentinischen Spieler Emiliano Sala auf dem Weg zu seinem neuen Verein Cardiff City als vermisst gemeldet wurde, löste dies eine Welle großer Anteilnahme der Fans und der Akteur*innen rund um den Fußball aus. Das konnte man auch Ende Oktober des vorherigen Jahres beobachten, nachdem der Besitzer von Leicester City, Vichai Srivaddhanaprabha, verunglückte. Gerade im Fußball sind Trauer und Tod so sichtbar und präsent wie sonst fast nirgends. Der folgende Text beschreibt das Verhältnis des Fußballs und seiner Akteur*innen zu diesen Themen und zum Umgang mit ihnen.

(c) 2018 marwi, alle Rechte vorbehalten / all rights reserved

von Carmen Mayer, trauerundfussball.de | Februar 2019

Samstagnachmittag 15.30 Uhr in den 1980er Jahren.

Mein Vater fegte den Hof, putzte das Auto oder werkelte in der Garage, mit dabei war immer das Radio. Es lief die Liveübertragung der Bundesligaspiele. Damals war dies die einzige Möglichkeit, die Partien live zu verfolgen. Längst vergessene Namen wie Bayer Uerdingen und Waldhof Mannheim schallten durch die Nachbarschaft, die sich mehr oder weniger freiwillig mit dem samstäglichen Open-Air-Bundesligaradio abgefunden hatte.

Heute ist mein Vater schon einige Jahre tot, die Fußballanstoßzeiten sind nicht mehr nur am Samstag um 15.30 Uhr und die Übertragung im Radio gibt es zwar noch, doch sie scheint angesichts der modernen Medien in die Jahre gekommen zu sein. Auch wenn heute alles anders ist, so sind mir doch meine ganz persönlichen Erinnerungen an die gemeinsamen Fußballzeiten mit meinem Vater geblieben. Fußball ist somit auch Erinnerungskultur – Erinnerung an verstorbene Menschen.

Nicht nur in der Erinnerung, sondern auch in Zeiten der individuellen Trauer kann Fußball Halt und Unterstützung geben, wie Fußballer und Fans immer wieder berichten. Darüber hinaus ist gerade das Tabuthema Tod und Trauer im Fußball sehr sichtbar, man denke nur an die Schweigeminute, den Trauerflor, die Choreographien für verstorbene Spieler oder Fans oder das Verlesen von Nachrufen auf verstorbene Anhänger*innen in der Halbzeitpause beim 1. FC Union Berlin.

Deshalb geht der folgende Text der Frage nach, was passiert, wenn Trauer und Fußball aufeinandertreffen. Welchen Beitrag kann Fußball zur Trauerkultur leisten? Neben der Auswertung von Artikeln aus Zeitungen, Zeitschriften und Fanzines sowie Aufsätzen, die sich mit dem Thema Fußball, Tod und Trauer beschäftigen, werden auch Auszüge aus Interviews mit Fußballfans hinzugezogen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Trauer-, Abschieds- und Gedenkritualen im Stadion. Daneben soll ein kleiner Einblick in weitere Formen des Gedenkens, Erinnerns und Abschiednehmens rund um den Fußball gegeben werden.

Trauerflor und Schweigeminute als sicht- und hörbare Trauerzeichen

Gerade im Stadion gibt es eine ganze Reihe von Trauer-, Gedenk- und Abschiedsritualen. Dabei handelt es sich um Rituale, die zum Teil institutionalisiert sind, aber auch um solche, die aus den Fanszenen oder aufgrund von Besonderheiten des Vereines entstanden sind. Zunächst sei auf das Tragen des Trauerflors hingewiesen. Klare Regularien gibt es dafür keine; es bleibt jedem Verein selbst überlassen, wann ein Trauerflor getragen wird. Er muss lediglich bei dem jeweiligen Verband angemeldet werden. Der Trauerflor kommt zum Einsatz, wenn Fußballer, Trainer, Vereinsfunktionäre oder Verwandte von Spielern gestorben sind oder auch nach großen nationalen und internationalen Katastrophen. So berichtet Jan, Hertha-BSC-Fan, auf meine Frage, ob in der Kurve über das Thema Trauerflor gesprochen wird, Folgendes:

„Kommt darauf an. Manchmal sind es ja auch persönliche Schicksale der Fußballer, wo sie dann Trauerflor tragen. Ich weiß von Kalou, dass irgendwann sein Vater gestorben ist. Daraufhin hat er erstmal im nächsten Spiel drei Tore geschossen […]. Da hat auch die Mannschaft mit Trauerflor gespielt und das war natürlich Megathema. Weil er einfach die Tore seinem Vater gewidmet hat. Klar, dann redet man darüber […]. Ansonsten geht’s so, wenn es irgendein Präsi war oder ein offizielles Vereinsmitglied, was im Hintergrund gearbeitet hat, was für den Verein tatsächlich wichtig war, aber für den allgemeinen Fan nicht, dann reden die Fans nicht so viel darüber.“

Das Tragen des Trauerflors im Fußball als sichtbares Trauerzeichen bietet so die Möglichkeit, Anteilnahme und Mitgefühl öffentlich zu zeigen – für Trauer, die sonst oft nicht sichtbar wäre. Denn zumindest optisch gibt es diesbezüglich heutzutage starke Einschränkungen, da es anders als früher keine eindeutige Trauerkleidung gibt. Das Tragen des Trauerflors ist aber auch eine institutionalisierte Handlung. Die Fans haben in der Regel keinen direkten Einfluss darauf oder Teilhabe daran. Allerdings wird, wie das Interview auch zeigt, das Tragen des Trauerflors vor allem dann thematisiert, wenn man einen Bezug zur verstorbenen Person oder dem Hinterbliebenen hat. Es wäre sicher interessant, Fußballer, die den Trauerflor tragen, dazu zu interviewen, um vielleicht so neue weitere, spannende Aspekte zu entdecken.

Die Schweigeminute vor Beginn eines Fußballspieles ist eine weitere Trauerbekundung, die wieder von jedem einzelnen Verein beantragt werden kann. Im Gegensatz zum Trauerflor, der lediglich angemeldet wird, prüft der jeweilige Verband allerdings die Schweigeminute, da diese in den Spielverlauf eingreift. Hier kann – genau wie beim Trauerflor – je nach Anlass auch eine Schweigeminute für die gesamte Liga festgelegt werden. Die Befragung von Fans, wie sie die Schweigeminute erleben und an was sie denken, ergab diese Antworten:

Michael und Anja, Schalke-04-Fans:

„An vieles. Nicht nur an die Schweigeminute für denjenigen, den es betrifft, sondern in dem Moment kommen auch andere Menschen in Erinnerung hoch, die aus unserem Leben gegangen sind. Ob das jetzt meine Mutter ist [Michael] oder mein Papa [Anja].“

Steffi, BVB-Fan:

„Ich denke über verschiedene Sachen nach, nicht unbedingt über die Person, aber auch grundsätzlich über andere Personen, die bei mir im Leben waren und die nicht mehr sind.“

Tobi, Hertha-BSC-Fan:

„Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, woran ich gedacht habe, aber ich würde schon sagen, dass ich an andere Verstorbene denke aus meinem Leben.“

Jan, Hertha-BSC-Fan:

„Ich finde den Cut so krass, ich gehe ins Stadion, freue mich auf das Spiel, bin gehypt, habe mir die Aufstellung vorher durchgelesen, weiß alles über den Gegner, was ich denke wissen zu müssen und bin mehr oder minder euphorisch und dann kommt immer diese Schweigeminute und die zieht einen doch immer ziemlich schnell vom Fußball weg […] klar, meistens hat es einen Fußballbezug, aber diese Schweigeminute, da denk ich dann nicht, mal schauen, wie sie heute spielen. Da ist dann wirklich in dem Moment die Trauer im Vordergrund oder die Schweigeminute für sich. Und da habe ich sicher auch schonmal an meine [2010 gestorbene] Schwester gedacht, explizit wissen tue ich es nicht, aber ich gehe einfach davon aus.“

Dann erzählt Jan weiter:

„Also grundsätzlich, Schweigeminuten werden, zumindestens aus meiner Sicht, gerade in der Kurve, eigentlich ziemlich ernst genommen. Weil die eben auch mal eine Schweigeminute außerhalb der Reihe machen. […] so habe ich auch ganz oft schon erlebt, dass die Kurve die erste Minute oder die ersten 5 Minuten schweigt. Weil einer von ihren Fans gestorben ist. Und deswegen, ich glaube gerade die Ultraszene, oder dieser härtere Fan-Kern, die nehmen diese Schweigeminute auch sehr ernst.“

Dies hat den Hintergrund, dass, wenn ein einzelner Fan stirbt, in der Regel keine offizielle Schweigeminute abgehalten wird, weil, wie zuvor erwähnt, es einen minutengenau getakteten Spielablaufplan gibt und so der Verein dies nicht für verstorbene Fans durchführen kann. Deshalb initiieren die Fans dann ihre eigene Schweigeminute und zusätzlich wird dann oft noch „entweder ein ganzes Spruchbanner hochgehalten oder so ein Starbanner, wo ein Konterfei drauf ist, der Name und ein Rest in Peace“, berichtet Jan.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Schweigeminute als Trauerbekundung der hörbaren Stille in der Öffentlichkeit und in der Gemeinschaft Trauer zulässt und gemeinsam erlebbar macht. Neben der institutionalisierten Schweigeminute gibt es auch die von Fans initiierten Momente des Innehaltens. Diese schaffen damit ihren eigenen Trauerraum und setzen durch das Schweigen in der Kurve auch ein Zeichen des Erinnerns und Gedenkens. Unterstrichen wird dies oft zusätzlich durch aufwendige und mit viel Herzblut gestaltete Choreographien, die an verstorbene Fans oder Fußballer erinnern.

An dieser Stelle sei noch kurz erwähnt, dass die Fans auch spontane Trauerbekundungen im Stadion initiieren, wie zum Beispiel im März 2016 im Signal Iduna Park. Beim Spiel Borussia Dortmund gegen Mainz 05 erkrankten zwei Fans im Stadion schwer, einer von ihnen starb. Nachdem sich das herumgesprochen hatte, schwiegen beide Fangruppen gemeinsam, die Transparente wurden eingerollt und gegen Ende „You’ll never walk alone“ gesungen. Ein Moment, der sowohl Fans als auch Fußballern unter die Haut ging und deutlich macht, dass in solch einem Augenblick die Rivalität und das Spiel in den Hintergrund rücken können. In einem solchen Moment der Trauer steht ein ganzes Stadion geschlossen und gemeinschaftlich da und setzt damit ein eindrucksvolles Zeichen des Mitgefühls und der Anteilnahme.

Union Berlin: Nachrufe in der Halbzeitpause

Eine besondere Form der Trauer- und Erinnerungskultur im Stadion findet sich beim 1. FC Union Berlin. Dort werden in der Halbzeitpause Nachrufe auf verstorbene Fans verlesen, einmalig in der Bundesliga. Christian Arbeit, Stadionsprecher und Geschäftsführer Kommunikation von Union, erzählte mir dazu folgendes:

„Es passiert dann immer in einer Halbzeitpause […] es ist natürlich nicht der Hauptinhalt dessen, was wir hier tun. Auch nicht der Hauptinhalt der Pause, aber wir haben Platz dafür, wir nehmen uns diesen Platz dafür und das können wir, weil wir auf vieles andere, was man so in Fußballstadien in Halbzeitpausen sieht, sehr gerne verzichten […] diesen Platz füllen wir, im Grunde kann man sagen, mit uns selbst. Mit Unionfaninhalten […]. Wir leisten uns etwas, was wir selbst als Fußball pur bezeichnen […]. Wenn man […] sich die großen Inszenierungen von Profifußballspielen in vollen Stadien anschaut, dann denkt man ja manchmal, dass das eigentliche Spiel fast nur noch so eine Beigabe ist, zwischen irgendwelchen von Musik bis Cheerleader oder ähnlichen Dingen. Machen wir alles nicht. Wir lassen die Leute im Stadion weitgehend in Ruhe mit anderweitiger Unterhaltung. Insofern gibt es keine Bestrebungen, dies mit etwas anderem zu ersetzen, solange wir den Eindruck haben, dass ein Großteil der Menschen dies als einen sehr legitimen Ablauf betrachtet und anerkennt, dass es für die konkret Betroffenen einfach ein wichtiger Moment ist.“

Auf die Frage, ob er es wichtig findet, dass Trauer, Tod und Sterben wieder mehr im Alltag Platz haben, antwortete er Folgendes:

„Sagen wir so, ich hatte jetzt nicht eine Agenda oder einen Plan zu sagen, dieses Thema möchte ich wieder verstärkt irgendwo stattfinden lassen. Eigentlich ist es umgekehrt. Man wird mit diesem Thema konfrontiert, weil es passiert, weil es zum Leben dazugehört und dann sortieren wir es nicht aus, dann lassen wir es zu. Wir machen aus diesem Ort auch keinen Trauerort, aber es findet genauso seinen Platz wie Geburt und Hochzeit. […] Es ist im Grunde so ein Ding, was von den Menschen kommt, die zu uns kommen. Also dieses Thema, wie kann ich mich eigentlich einbringen, was macht meinen Verein denn zu meinem Verein. Das ist in vielen Dingen ein Thema bei uns. Also sich dieses Beteiligen-können oder selbst aktiv etwas herbeiführen. Da gehört dieses Thema genauso mit dazu. Wir haben nicht irgendwann überlegt, das wäre jetzt mal irgendetwas ganz besonders schönes, und bieten das jetzt mal an und schreiben wohin: Wenn also bei euch jemand verstorben ist, dann meldet euch, wir verlesen das. Es ist umgekehrt gekommen, es ist hineingewachsen in den Verein und wir geben dem Raum. Sich das zu leisten als Verein.“

Stefanie Fiebrig, Union-Fan, Designerin und Fotografin, Bloggerin und Podcasterin von textilvergehen.de, erzählt zu dem Verlesen der Nachrufe bei Union folgendes:

„Das ist tatsächlich so, dass ich glaube, dass es den Leuten hilft, die trauern und die merken, dass sie nicht allein sind, sondern dass da gerade ganz viele Leute sind, die in dem Augenblick anteilnehmen. Und das ist generell was in diesem Fußballfankulturding drinnen ist, dass man sich an jemanden erinnert, als jemanden, der immer da drüben stand. Oder mit dem man dies und das erlebt hat, mit dem man auswärts war […]. Und deshalb glaube ich, ist das auch genau der richtige Rahmen, wenn was Trauriges ist, dass man auch damit nicht allein ist.“

Auf die Frage, ob es auch einfacher ist in Gemeinschaft zu trauern, antwortet sie:

„Ja, auf jeden Fall, weil man sich nicht doof vorkommt und man ist als diese spezielle Gemeinschaft auch gefühlserprobt […] da schämt man sich auch nicht, weil wenn man sich aufregt, macht man das genauso so. Da ist man es eben gewöhnt, alle möglichen Gefühle sowieso zuzulassen und deshalb ist es eben ein total guter Ort dafür, also auch ein guter Rahmen […] Ich finde es gut, dass wir das so machen, auch wenn es traurig ist, finde ich es trotzdem notwendig“.

In den Interviews wird sehr deutlich, dass das Verlesen der Nachrufe bei Union eine wichtige Unterstützung in der Trauer sein kann. Zum einen sind die Hinterbliebenen nicht allein gelassen in ihrer Trauer, sie erfahren Anteilnahme in und mit einer Gemeinschaft, zum anderen wird an die Verstorbenen erinnert und gedacht. Das ist “eine große Würdigung” und viel “schöner als Blumen”, meint auch Stefanie. Auch wurde betont, dass gerade das Stadion ein guter Ort für Trauer sei, denn dort sei man „gefühlserprobt“. Dort im Stadion muss man sich für nichts schämen, kann allen Gefühlen freien Lauf lassen und so kann und darf die Trauer da sein, zugelassen werden und sichtbar sein.

Möglich ist das Verlesen von Nachrufen in der Halbzeitpause bei Union nur, weil auf vieles andere verzichtet wird. So wird “Platz und Raum für Unionfaninhalte” geschaffen. Für das, was man auch als Fußball “pur” bezeichnen kann. Fans können sich einbringen in ihren Verein, können teilhaben und dazu gehört neben vielen anderen Dingen auch das Verlesen der Nachrufe. Trauer gehört hier also genauso dazu wie Geburt und Hochzeit und wird nicht aussortiert. All diese Dinge sind selbstverständlich. Die Gemeinschaft schafft so auch eine Verbindung und Zugehörigkeit, die über das Spiel hinausgeht.

Fußballbestattungen und weitere Formen des Gedenkens abseits des Stadions

Abschließend soll noch kurz auf weitere Formen von Trauer-, Gedenk- und Abschiedskultur rund um den Fußball eingegangen werden. Als erstes sei hier auf die Treue zum Verein auch über den Tod hinaus verwiesen. So wird die Bestattung eines Fußballfans oft individuell gestaltet – es ertönt als Musik die Vereinshymne, der Blumenschmuck entspricht den Vereinsfarben, die Trauergäste erscheinen in Trikot und Fanbekleidung. Mittlerweile gibt es auch eine Vielzahl von verschiedenen Fußballurnen und Fußballsärgen. Darüber hinaus entstanden auch Fanfriedhöfe, wie der von Hamburg und das Schalker Fanfeld, so dass man sich in der Nähe des Stadions bestatten lassen kann.

Eine weitere Form der Vereinsbestattung gibt es jetzt auch in Mönchengladbach. Nach dem Umbau einer früheren Pfarrkirche zur Grabeskirche entstand dort Platz für Urnengräber für Borussen-Fans. Die Glaskacheln der Urnengräber haben die Farben der Borussia: Schwarz-Weiß-Grün.

Zum Thema Bestattung von Fans hat mir Susanne, Vorsitzende vom Fanclub Turbinefans e.V. von Turbine Potsdam, eine ganz berührende Erinnerung erzählt:

„Das […] war ein Fan, der wirklich sehr aktiv war, auch bei vielen Nachwuchsspielen dabei war. Wo erst im Nachhinein, nachdem er verstarb, herauskam, dass er ein ganz einsamer Mensch war. Das hätte man nie erwartet, weil er sehr aktiv war. Er war auch über 70 […] und auch ein sehr lebensfroher Mensch. […] als es rauskam und man mitbekam, dass es nicht mal Familienangehörige gab, die ihn beerdigen, haben wir alles in Gang gesetzt. Also gemeinsam, weil es dann so eine Art Armenbegräbnis [eine sogenannte ordnungsbehördliche Bestattung, C.M.] seitens der Stadt gibt. Da haben wir dann Kontakt aufgenommen durch den Fanclub […], um dieses angestrebte Armenbegräbnis noch aufzupeppen. Da haben wir ein bisschen Spendengelder gesammelt und, was viel wichtiger war: Dass wir eine Beerdigung organisiert haben, die seiner würdig war, weil wir doch sehr betroffen waren. Und uns ist damals gelungen, dass der damalige Cheftrainer Bernd Schröder, das ist jetzt 3–4 Jahre her, auch zur Beerdigung kam. Dass er auch an das Grab kam und das sehe ich bis heute noch vor mir: Wie der einen Kniefall macht vor dem Grab, also wie von Brandt zu Warschau der Kniefall. Das war fantastisch. Das hat es auch nochmal bestätigt, ich sag mal, dass Trauerarbeit und Fußball Dinge sind, die sind ganz nah, also ganz viel miteinander zu tun haben, weil es ist eine Fanfamilie ist. Eine absolute Gemeinschaft, die die Menschen auch wirklich so nimmt, also, ohne, ich sag mal, gesellschaftlichen Status, […] wie sie sind. Man ist wirklich füreinander da […] man ist für eine Sache da und auch füreinander.“

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Auch hier wird die Verbundenheit der Fans miteinander sehr deutlich und dass die Gemeinschaft auch über den Tod hinausgeht. Die letzte Reise des verstorbenen Fans soll würdevoll und respektvoll gestaltet werden, er soll sich auch da begleitet und geborgen fühlen in der Gemeinschaft der Fans. Keiner soll allein und einsam von dieser Welt gehen.

Weitere Formen, wie Fußball-Fans ihrer Verstorbenen gedenken, sind Artikel in Fanzines, ebenso finden sich auch in Fußballmagazinen wie dem „Tödlichen Pass“ oder der „11Freunde“ feste Rubriken, die sich mit „Todesnachrichten“ beschäftigen. Daneben gibt es Erinnerungen an verstorbene Fans in Stadionheften und natürlich auch in den sozialen Netzwerken. Ebenso finden sich manchmal in Stadionnähe spezielle Graffiti, die an verstorbene Fans erinnern. Manche Vereine veranstalten auch Gedenkspiele und Turniere für verstorbene Fußballer oder Trainer aus ihren Reihen. Zuletzt sei hier noch das Archiv der verstorbenen Bundesligaspieler genannt. Der Sammler Peter Plum hat zusammen mit anderen Sammlern dieses ganz besondere Archiv zu allen verstorbenen Bundesligaspielern angelegt, unabhängig davon, wie viele Einsätze sie hatten. Dort finden sich Artikel über die jeweiligen Akteure sowie die Todesursache und das Todesdatum. Ein Archiv, das so auch ein Zeichen der Erinnerung an verstorbene Bundesligaspieler ist.

So bleibt abschließend festzuhalten, dass es sehr viele verschiedene, kreative Formen des Abschieds, des Erinnerns und Gedenkens im Fußball und der Fankultur gibt – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Stadions. Sie alle ermöglichen einen aktiven Umgang mit der Trauer und sind fest im Fußball und der Fankultur verankert. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Trauerkultur. Fast nirgendwo geschieht dies in einer so großen Öffentlichkeit wie beim Fußball. Viele Menschen in den Stadien und auch vor dem Fernseher haben teil daran, die Trauer ist sichtbar im öffentlichen Raum. Sie gehört ganz selbstverständlich mit dazu und bekommt ihren Platz. Dann geht es aber auch wieder weiter, und zwar mit dem sportlichen Geschehen auf dem Rasen. Alles ist in Bewegung und Veränderung, nichts bleibt wie es war, nur eines ist sicher: Nach 90 Minuten plus Nachspielzeit pfeift der Schiri ab. Dann heißt es: „Das Spiel ist aus!“, aber eben auch: „You’ll never walk alone.“

Weiterlesen:

  • Cardorff, Peter / Böttger, Conny: Der letzte Pass. Fußballzauber in Friedhofswelten, Göttingen 2005.
  • Hebenstreit, Stefan: Torjubel, Tod und Trauerrituale. Beobachtungen zur Sepulkral- und Memorialkultur von Fußballfans, in: Gugutzer, Robert / Böttcher, Moritz (Hrsg.): Körper, Sport und Religion. Zur Soziologie religiöser Verkörperungen, Wiesbaden 2012, S. 141–165.
  • Herzog, Markwart (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport. Medien, Rituale und Praktiken des Erinnerns, Gedenkens und Vergessens (Irseer Dialoge, Bd. 17), Stuttgart 2013.
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