a Christian Bruckner – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Thu, 16 May 2019 16:35:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Dienstschluss im Victoria Ground https://120minuten.github.io/dienstschluss-im-victoria-ground/ https://120minuten.github.io/dienstschluss-im-victoria-ground/#respond Thu, 16 May 2019 07:00:37 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5950 Weiterlesen]]> 119 Jahre lang war der Victoria Ground die Spielstätte von Stoke City. Premier League wurde hier zwar nie gespielt, dennoch war das Stadion Heimat für einen der größten englischen Fußballer.

von Christian Bruckner

Als Stanley Matthews im Februar 2000 starb, wurde seine Urne unter dem Mittelkreis des Britannia Stadiums in Stoke bestattet. Der Stürmer hatte den Großteil seiner Karriere bei Stoke City verbracht: Er spielte von 1934 bis 1947 und dann noch einmal von 1961 bis 1965 für den Verein aus den englischen Midlands, ehe er im Alter von 50 Jahren seine Profikarriere beendete. Heute wird Europas Fußballer des Jahres 1956 durch ein großes Denkmal vor den Toren des Stadions geehrt. Doch seine Tore schoss Matthews nicht hier, sondern am Victoria Ground.

© Brian Deegan, CC BY-SA 2.0

Über 50.000 gegen Arsenal

Als Stoke City FC 1997 das letzte Spiel im Victoria Ground austrug, war die Spielstätte das dienstälteste Stadion Englands. Zur Eröffnung am 28. März 1878 waren 2.500 Zuschauer gekommen, um den 1:0- Sieg von Stoke gegen die Talke Rangers zu sehen. Das neue Stadion allerdings war zu diesem Zeitpunkt eher ein besserer Fußballplatz: Das Feld war von einer Laufbahn umgeben, die Zuschauerränge bestanden, abgesehen von einer kleinen Holztribüne, aus grasbewachsenen Böschungen ringsum. Benannt worden war Stadion nach dem nahen Victoria Hotel, im Volksmund sollte es in der Abkürzung „The Vic“ Bekanntheit erlangen.

Am 8. September 1888 feierte Stoke im Victoria Ground vor 4.524 Zuschauern Premiere in der neu gegründeten Football League. Die Partie gegen West Bromwich Albion ging zwar 0:2 verloren, Stoke sollte dennoch bis zum Abstieg 1907 erstklassig bleiben. Als der Klub zwölf Jahre später in den Spitzenfußball zurückkehrte, genügte das Stadion den Ansprüchen nicht mehr. Also wurde die Haupttribüne mit einer Kapazität von 1.000 Plätzen neu gebaut und durch eine zweite überdachte Holztribüne auf der gegenüberliegenden Seite ergänzt. In den folgenden Jahren wuchs das Stadion weiter: 1930 wurde hinter einem Tor eine überdachte Stehplatztribüne errichtet und 1935 die kleine Sitzplatztribüne durch eine große Längsseitentribüne mit 5.000 Sitzplätzen ersetzt. 1937 verfolgten bereits 51.380 Zuschauer ein Spiel gegen Arsenal.

Verhinderte Katastrophe

Seine Flutlichtpremiere erlebte der Victoria Ground 1956 mit einem 3:1-Sieg Stokes über den Lokalkonkurrenten Port Vale. Die letzte große bauliche Veränderung erfolgte in den späten 1970er Jahren, als die flache Stehtribüne am Stoke End durch eine doppelrangige Tribüne ersetzt wurde. Ebenfalls in den 1970er Jahren entgingen die Stoke-Fans nur knapp einer Stadionkatastrophe. Anfang Jänner 1976 hatte ein Sturm zum Einsturz eines Teils des Tribünendachs geführt. Die Trümmer waren schnell weggeräumt worden, um das für den 7. Jänner angesetzte FA-Cup-Wiederholungsspiel gegen Tottenham austragen zu können. Am Spieltag waren Bauarbeiter noch damit beschäftigt, Dachstützen auszutauschen und Gerüste aufzustellen, als einige tragende Stützen einbrachen und die Arbeiter verletzten. Das Spiel wurde abgesagt und das Stadion gesperrt. Zwei Wochen später konnte es zwar zum neuen Spieltermin wiedereröffnet werden, doch der Verein musste drei seiner besten Spieler verkaufen, um die Reparaturkosten von 250.000 Pfund zu finanzieren.

Stiller Abschied

Berühmtheit erlangte der Victoria Ground wegen seiner geschlossenen Tribünen, die eine besonders gute Akustik für die Fangesänge ermöglichten. Doch Anfang der 1990er Jahre ging es mit dem Stadion bergab: Zu seinen besten Zeiten für 56.000 Zuschauer zugelassen, wurde das Stadion nun nur noch für eine Kapazität von 25.000 genehmigt. Zunächst plante die Vereinsführung aufgrund der neuen Anforderungen zur Versitzplatzung lediglich Umbaumaßnahmen, entschied sich dann schließlich doch für einen Neubau.

Zum letzten Pflichtspiel trat Stoke am 4. Mai 1997 erneut gegen West Bromwich Albion an, die hier 1888 zum ersten Meisterschaftsspiel zu Gast gewesen waren. Der Gastgeber gewann das Zweitligaspiel 2:1. 22.500 Zuschauer begleiteten das Abschiedsspiel. Ehemalige Spieler waren eingeladen und wurden von den Rängen gefeiert. Trotz des würdigen Abschieds kam es in den Wochen danach zu Misstönen, denn im Victoria Ground fanden noch zwei Vorbereitungsspiele der Kampfmannschaft gegen Everton und Coventry City statt. Nur wenige tausend Zuschauer besuchten diese Begegnungen. Viele Fans waren unzufrieden, hatten sie doch mit dem letzten Meisterschaftsspiel bereits ihren Abschied von „The Vic“ genommen. „Es herrschte die Meinung vor, dass wir bis zur Eröffnung des Britannia Stadium kein Heimspiel mehr spielen sollten“, schrieb das Fanzine The Oatcake im August 1997. „Der 2:0-Sieg von Stoke gegen Coventry wird nicht lange in Erinnerung bleiben, sehr wohl jedoch der Anblick des spärlich besuchten Stadions und die gespenstische Stille.“

Nach der Eröffnung des Britannia Stadium wurde der Victoria Ground noch im Winter 1997/98 abgerissen. Seitdem sind mehr als 20 Jahre vergangen und das Gelände lag brach bis 2018. Nun entstehen dort etwa 200 Häuser und das neue Viertel soll Victoria Park heißen.

Nachtrag

Stoke City hat nie für große Schlagzeilen außerhalb Englands gesorgt, außer 1963. Zum 100-jährigen Clubjubiläum kam kein geringerer als Real Madrid nach Stoke. Größen wie Ferenc Puskas und Alfredo di Stefano dribbelten im Victoria Ground auf; auf seiten der Hausherren spielte verständlicherweise Stanley Matthews und das Spiel endete 2:2. Über das Datum der Vereinsgründung gibt es inzwischen jedoch weiterführende Recherchen von Martyn Cooke, die das Gründungsdatum eher auf 1868 legen, als wie bisher 1863.

Informationen zum Text
Der Beitrag erschien in Ausgabe 98 des Fußballmagazins ballesterer und wurde für die Onlineveröffentlichung aktualisiert.
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