a Endreas Müller – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Fri, 28 Jun 2019 12:37:29 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 WM 2019 – 24 Spielerinnen, die die Welt verändern – Gruppe F https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-f/ https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-f/#respond Thu, 06 Jun 2019 07:00:54 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6055 Weiterlesen]]> Auf den ersten Blick sind die Rollen in der Gruppe F klar verteilt: Mit den USA als amtierenden Weltmeisterinnen und Schweden, die sich den Titel bei diesem Turnier selbstbewusst zutrauen, sind gleich zwei starke Gegner vertreten. Doch auch Chile möchte bei der ersten WM-Teilnahme überhaupt eine gute Rolle in dieser Gruppe spielen. Für Thailand geht es als Erstes darum, endlich einen Turniersieg zu erzielen – weitere Ziele anschließend nicht ausgeschlossen.

USA: Viel Druck für die amtierenden Weltmeisterinnen

Die Vereinigten Staaten von Amerika: „The land of the free and the home of the brave …“ – Mittlerweile steht diese Zeile aus der US-amerikanischen Nationalhymne für den Einsatz für Bürgerrechte und Demokratie. Werte, die momentan in Gefahr sind. Eine, die frei und tapfer für diese Werte einsteht, ist Megan Rapinoe. Und manchmal bedeutet, für etwas einzustehen, niederzuknien.

Dies tat Rapinoe 2016 beim Spiel der Seattle Reign gegen die Chicago Red Stars, als – wie vor jedem Spiel der National Women’s Soccer League (NWSL) – die Nationalhymne gespielt wurde. Nach dem Spiel kommentierte sie ihre Geste kurz und knapp: Es sei das Mindeste, was sie als Weiße tun könne, um den durch Quarterback Colin Kaepernick begonnenen Protest schwarzer Sportler*innen gegen Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze zu unterstützen.

Eine, die voran geht: Megan Rapinoe. (Foto: Tom Seiss)

Die amerikanische Nationalmannschaft hat viele Superstars. Alex Morgan und Carli Lloyd sind Namen, die selbst in Deutschland einigen Menschen geläufig sind. Begnadete Offensivspielerinnen, Idole, Fußballmillionärinnen. Auch Megan Rapinoe gehört in diese Kategorie. Und doch hat sie etwas an sich, das sie abhebt.

Rapinoe liest das Spiel, verteilt die Bälle und gehört gemeinsam mit Portlands Tobin Heath und Chelseas Magdalena Eriksson zu den drei besten Eckballkünstlerinnen der Welt. Ihre größte Stärke aber ist ihre Unausrechenbarkeit. Gegenspielerinnen verzweifeln regelmäßig an Rapinoes schlitzohrigen Pässen. Sie kann aus jeder Position aufs Tor schießen oder eine Mitspielerin bedienen. Mit 33 Jahren ist Megan Rapinoe aktuell in der Form ihres Lebens.

Sportbegeistert und vielseitig war die Kalifornierin schon immer. Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Rachael spielte sie von klein auf Fußball, vorwiegend in Mannschaften, die ihr Vater trainierte. Auch in Basketball und im Laufen brachten die Schwestern Rapinoe gute Leistungen.

Engagiert für LGBT-Rechte und Frauenfußball

Die NWSL wurde 2013 als Nachfolgerin der beiden ebenfalls professionellen Vorgängerligen WUSA (Women’s United Soccer Association, 2001-2003) und WPS (Women’s Professional Soccer, 2009-2011) ins Leben gerufen. Rapinoe spielte bis zur Schließung der WPS für drei verschiedene Franchises, wechselte 2011 für zwei Spiele zu Sydney FC und kehrte anschließend in die USA zurück, um sich auf die Olympischen Spiele 2012 vorzubereiten. Das im US-Sport gängige Draft-System, in dem Spieler*innen einem Team zugewiesen werden, brachte Rapinoe in der allerersten Saison der NWSL nach Seattle. Seitdem spielt sie für Reign FC, die bis letzte Saison noch Seattle Reign hießen.

2013 und 2014 lief sie außerdem für Olympique Lyon auf und stand unter anderem in dem Champions-League-Finale, das Lyon gegen den VfL Wolfsburg verlor. Der Spielmodus der NWSL ermöglicht es Spielerinnen, jedes Jahr für mehrere Monate ins Ausland zu wechseln. Neben der französischen und der schwedischen Liga – früher auch der Bundesliga – ist die australische W-League seit einigen Jahren das beliebteste Ziel vieler NWSL-Spielerinnen.

Megan Rapinoe gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten Seattles. Sie engagiert sich seit Jahren für LGBT-Rechte und Frauensport in Seattle. Und mit Basketballstar Sue Bird hat sie eine Lebenspartnerin, die ihr in ihren Kämpfen um Gleichberechtigung kompromisslos zur Seite steht. Der aktuellste dieser Kämpfe hat jüngst erneut weltweit Schlagzeilen gemacht: Bereits vor den Olympischen Spielen 2016 legten Megan Rapinoe, Alex Morgan, Carli Lloyd, Becky Sauerbrunn und Hope Solo (Karriere beendet) bei der Equal Employment Opportunity Commission (Bundesbehörde zur Durchsetzung von Bürgerrechtsgesetzen gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz) offiziell Beschwerde wegen Lohndiskriminierung ein. Sie verdienten oft nur die Hälfte oder weniger als die Hälfte als die Spieler der Männernationalmannschaft.

So würden das Team um Megan Rapinoe gerne wieder jubeln. (Foto: Tom Seiss)

Eine Kommission erteilte den Spielerinnen im Februar 2019 das Recht, zu klagen. Am 8. März 2019 reichten dann alle aktuellen Nationalspielerinnen der USA eine Sammelklage gegen die United States Soccer Federation, den US-amerikanischen Fußballverband, ein. Rapinoe und ihre 27 Teamkolleginnen machen den Verband für systematische Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verantwortlich. Im Vergleich mit der in den USA weniger erfolgreichen Männerfußballnationalmannschaft hätten die Frauen erheblich schlechtere Reise- und Trainingsbedingungen. Außerdem erhielten sie geringere Prämien, obwohl sie höhere Einnahmen und Zuschauerzahlen generierten. Eine Entscheidung über die Klage steht noch aus. Sie wird vermutlich erst nach der Weltmeisterschaft in Frankreich fallen.

Das Turnier in Frankreich wird Rapinoes dritte und wahrscheinlich letzte Weltmeisterschaft sein. Als amtierende Weltmeisterinnen und Weltranglistenerste sind die Amerikanerinnen der klare Titelfavorit. Nach den französischen Fans haben sich amerikanische Fans mit Abstand die meisten WM-Tickets gesichert – das Gruppenspiel USA gegen Schweden war als eine der ersten Begegnungen ausverkauft. Viel Druck für die Frauen von Trainerin Jill Ellis. Nach einer mühelosen WM-Qualifikation, bei der bis auf Kanada kein Gegner eine ernsthafte Herausforderung war, gerieten die dreimaligen Weltmeisterinnen Anfang des Jahres bei einem Testspiel gegen Frankreich ins Straucheln.

Auch der heimische „SheBelievesCup“ – einem aus vier Nationalteams bestehenden Einladungsturnier – konnte nicht gewonnen werden. Angesichts der individuellen Stärke der Spielerinnen zeigten die USA erstaunliche Abwehrschwächen. Der Offensive fehlte häufig die gewohnte Durchschlagskraft. Megan Rapinoe ist tapfer und sie ist frei. Es steht außer Frage, dass sie dazu in der Lage ist, gleichzeitig Vorkämpferin für sozialen Wandel zu sein und den Titel zurück in die USA zu holen.


Zur Person: Ellen Hanisch schreibt als Journalistin über den nationalen und internationalen Fußball. Sie gehört zum Podcast-Kollektiv FRÜF und betreibt die Seite Fußballthesen.

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Thailand: Mit einem Sieg das Minimalziel erreichen

Thailand, das Land des Lächelns. Thailand, das Land, das zum zweiten Mal in Folge seine Frauen-Nationalmannschaft zu einer Fußball-WM schickt. Was das miteinander zu tun hat? Beides spiegelt nicht die Realität und die eigentlichen Verhältnisse wider. Nicht jede*r Thai wird einem auf den Straßen Bangkoks mit einem echten Lächeln begegnen. Und nur, weil das Team sich zweimal nacheinander für eine WM qualifizieren konnte, heißt es nicht, dass sich im Land des Asienmeisters von 1983 sportlich etwas tut.

Aufgrund der Kräfteverhältnisse im asiatischen Frauenfußball war klar, dass man es 2015 nur über ein Spiel um Platz 5 gegen den Erzrivalen aus Vietnam nach Kanada schaffen könnte. Vier Jahre später hatte Thailand viel leichteres Spiel – und Losglück. Vor den Philippinen und Jordanien sicherte man sich Platz 2 in der Vorrunde der Asienmeisterschaft und hatte sich damit schon für Frankreich qualifiziert. Wären die Thais an der Stelle Vietnams in der anderen Gruppe mit Japan, Australien und Südkorea gewesen, hätten sie diesen Sommer wohl allenfalls eine Urlaubsreise nach Europa buchen können.

International erfahrenes Team

Hoffte man nach 2015 im Zuge der erstmaligen Teilnahme an einer WM auf einen Schub im eigenen Land, so muss man konstatieren, dass dieser ausblieb. Es regiert Stillstand statt Fortschritt. Das Interesse am Frauenfußball ist fast nicht existent und der Verband tut wenig bis nichts, um dies zu ändern. Eine nationale Liga findet nur sporadisch statt und hat eher Alibicharakter, um zum Beispiel die FIFA als Geldgeber zufriedenzustellen.

Das macht sich auch am Team von Trainerin Nuengruethai Sathongwien, welches im Großen und Ganzen fast noch das gleiche ist wie in Kanada, bemerkbar. Ohnehin besteht es im Kern aus Spielerinnen, die so schon seit den frühen 2000er Jahren zusammenspielen. Entsprechend international erfahren ist die Mannschaft um Kapitänin Sunisa Srangthaisong, die mit über 100 Länderspielen hervorsticht.

Das thailändische Nationalteam im Jahr 2015. (Foto: Sven Beyrich)

Erstmals bei der WM dabei sein wird Pitsamai Sornsai. Die inzwischen 30-Jährige galt einst als eines der größten Sturmtalente und ist mit über 45 Toren die erfolgreichste Torschützin Thailands. 2013 wechselte sie nach Japan und zog sich dort gleich in einer der ersten Saisonspiele eine schwere Knieverletzung zu. Nachdem sie sich zurückgekämpft hatte, erlitt sie das gleiche Schicksal erneut, was ihre Hoffnung auf eine Teilnahme an der WM 2015 zunichtemachte. Der Australier Spencer Prior, Trainer der Nationalmannschaft von 2016 bis 2017, formte aus der einstigen Stürmerin eine Verteidigerin mit Drang für die Offensive. Unter der alten-neuen Cheftrainerin Sathongwien wird Sornsai inzwischen sowohl im Mittelfeld als auch wieder im Sturm eingesetzt. Neu im Team ist unter anderem die Thai-Amerikanerin Miranda Nild die mit ihrer großen und wuchtigen Statur eine neue physische Komponente in das Angriffsspiel der Thailänderinnen bringt.

Die Elf definiert sich über Kampfgeist und mannschaftliche Geschlossenheit. Vor allem, wenn es gegen überlegene Gegner geht. An guten Tagen bringen sie dann schon mal Australien an den Rand einer Niederlage, wie zuletzt im Halbfinale der Asienmeisterschaft. Gegen gleichwertige oder schwächere Gegner zeigt Thailand gerne sein spielerisches Potenzial, welches von vielen Ballstafetten und Kurzpassspiel geprägt ist, solange sie nicht dabei gestört werden. Im Mittelfeld zieht Silawan Intamee die Fäden, die ihre Stärken auch und vor allem bei Standards hat. Bei Kontern sollte man auf Kanjana Sungngoen achten. Inzwischen 32 Jahre alt, hat sie von ihrer Schnelligkeit auf dem Flügel im Vergleich zu 2015 nur wenig eingebüßt.

In Sachen Gegnerinnen kann einem die Nationalmannschaft Thailands fast ein wenig leidtun: Zwar gelang vor vier Jahren der erste historische Sieg bei einer WM, man traf aber bei der Premiere gleich auf den damaligen Weltranglistenbesten – Deutschland. Dazu gesellten sich Norwegen und die Elfenbeinküste. Ganz schön hart für einen Neuling. Dass es noch einmal eine Spur härter geht, zeigte die Auslosung zur WM 2019. Abermals ist es an Thailand, sich mit der Nummer 1 der Welt zu messen – diesmal werden es die USA sein. Und sowohl Schweden als auch Chile sind, was die Schwierigkeit angeht, erneut eine Steigerung zu 2015.

Die gute Nachricht für Thailand bei dieser WM lautet, dass man das Turnier nach den beiden harten Spielen und zu erwartenden Niederlagen gegen die USA und Schweden mit einem positiven Abschluss verlassen könnte, in dem man den letzten Gruppengegner, Chile, bezwingt. Wie schon 2015 hätte man so das Minimalziel erreicht und könnte Frankreich mit einem Lächeln verlassen. Das Traumziel Achtelfinale wird aber mindestens noch weitere vier Jahre auf sich warten müssen. Dann aber mit einer neuen Generation an Spielerinnen.



Zur Person: Sven Beyrich ist Experte in Sachen asiatischem und Frauen-Fußball und eine Hälfte des Podcasts Lottes Erbinnen.

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Chile: Heimvorteil für die Torhüterin Christiane Endler

Der chilenische Fußball fiel in der jüngeren Vergangenheit durch Überraschungssiege bei der Copa America gegen den Favoriten Argentinien auf. Blickt man etwas weiter zurück in die 1990er Jahre, kommen Erinnerungen an Ivan „der Schreckliche“ Zamorano hoch, der beim FC Sevilla, bei Real Madrid sowie Inter Mailand vor allem per Kopf für Torgefahr sorgte. Und das bei 1,78m Körpergröße.

Bei den chilenischen Frauen sucht man vergebens eine Nachfolgerin für Zamorano. Zumindest im Sturm. Im Tor steht dagegen mit Christiane Endler eine Weltklasse-Spielerin. Die chilenische Nationaltorhüterin hat eine illustre Reise hinter sich, hat sie doch bereits für Everton und Colo-Colo in ihrem Heimatland Chile gespielt, bevor sie im Dienste von Chelsea den europäischen Fußball hautnah erlebte. Nach erneut Colo-Colo, dann Valencia in Spanien, trägt sie nun seit 2017 die Nummer 16 im Tor der Frauen von Paris Saint-Germain.

Ihr Name klingt sehr deutsch: Endlers Vater ist Deutscher, ihre Mutter Chilenin. Schon früh zeigte sich ihr sportliches Talent und sie entschied sich letztlich für den Fußball. Einer ihrer früheren Trainer entschied sich, sie als Torhüterin aufzustellen. Es zahlte sich aus, denn 2008, als 17-Jährige, spielte Endler bei der U-20 WM im eigenen Land. Damals musste ihre Mannschaft mächtig Lehrgeld zahlen: Alle drei Vorrundenspiele gingen verloren. England, Neuseeland und Nigeria waren zu stark. Im Spiel gegen England stand 2008 auch eine gewisse Steph Houghton auf dem Platz, die ihre Mannschaft 2019 in Frankreich als Kapitänin aufs Feld führen wird.

Hält bei PSG und in der Nationalmannschaft den Kasten sauber: Christiane Endler. (Foto: Tom Seiss)

Die Pariser stehen währenddessen vor einem Luxusproblem, denn mit Christiane Endler und der Polin Katarzyna Kiedrzynek stehen zwei der besten Torhüterinnen im Dienste von PSG. Natürlich belebt Konkurrenz das Geschäft – und ganz unzufrieden ist Endler nicht mit der Situation, denn nur so kann sie sich weiterentwickeln. Es herrscht eine gesunde Rivalität und beide Spielerinnen arbeiten zusammen, um sich zu verbessern, so Endler. Bevor sie nach Paris zog, wurde sie in Spanien für Valencia spielend zur besten Torhüterin gewählt. Dort hatte sie die beste Gegentore-pro-Spiel-Quote während der Saison 2016/17: Nur neun Tore kassierte sie, in 23 Spielen.

Zuversicht trotz Mangels an Erfahrung

Auch in diesem Jahr wurde sie von ihren Kolleginnen und Trainern zur besten Torhüterin der Saison gewählt. Zuvor wurde sie zwischen 2008 und 2017 zur besten chilenischen Spielerin gekürt. Zudem hat Endler mehrfach die Meisterschaft in Chile gewonnen, sowie auch die Copa Libertadores mit ihrem Heimatverein Colo-Colo. Ganz in der Tradition ihrer deutschen Vorfahren wird ihr Spiel mit dem von Manuel Neuer verglichen und obendrein ist Oliver Kahn ihr Vorbild.

Für sie ist PSG einer der größten Clubs der Welt, und somit war der Wechsel nur logisch. Aber wie sieht es aus mit PSG? Im Fußball zählen nur Titel; davon hat PSG außer einem Pokalsieg 2018 wenig vorzuweisen. Auch in der abgelaufenen Spielzeit war Lyon in der Meisterschaft einfach stärker und deklassierte PSG um fünf Punkte im Titelrennen. In der Champions League war im Viertelfinale gegen Chelsea Schluss. Das Ausscheiden war besonders bitter, da Chelsea erst in der Nachspielzeit zum 1:2 verkürzen konnte und somit über die Auswärtstorregel weiterkam. Trotzdem gehört Paris Saint-Germain zu einer der Top-Adressen im Fußball, auch bei den Frauen. Weshalb es für Endler klar war, nach Frankreich zu wechseln.

Chile wird zum ersten Mal bei einer WM dabei sein und Endler ist zuversichtlich, dass die Mannschaft sich gut schlagen wird, trotz des Mangels an Erfahrung. Sie spricht in einem Interview davon, dass ihr Team sich auf das Turnier freue, fügt aber auch hinzu, dass die Gruppe mit den USA, Thailand und Schweden keine einfache sei. Endler selbst wird beim Turnier einen Heimvorteil haben, spielt sie doch in Paris und kennt demzufolge die Stadien und die Atmosphäre.

Zur Person: Christoph Wagner forscht, schreibt über Fußball und gehört zur Redaktion von 120minuten.

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Schweden: Die Welt verbessern, den Titel gewinnen

Die schwedische Frauenfußball-Nationalmannschaft möchte bei dieser Weltmeisterschaft endlich wieder zu den Top-Teams gehören. Unterlag man bei der letzten WM in Kanada 2015 im Achtelfinale mit 1:4 ausgerechnet Deutschland, so soll dieses Jahr der Titel her. Dabei wird Nilla Fischer vom Bundesligisten VfL Wolfsburg eine wichtige Rolle spielen. Die 34-Jährige ist eine, die vorangeht – auf und neben dem Platz. 2001 debütierte das gerade einmal 16 Jahre junge Talent während eines Wintertrainingslagers gegen Norwegen in der schwedischen A-Nationalmannschaft. Insgesamt kommt die Innenverteidigerin seitdem auf 175 Einsätze für die A-Nationalmannschaft. Ihren größten Erfolg mit der „Natio“ feierte sie bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro, als sie im Schweden-Dress die Silbermedaille gewann – auch damals unterlag man im Finale den Deutschen mit 1:2.

Über Verums GOIF und Vittsjö GIK gelang ihr 2000 der Wechsel zum Kristianstad DFF, bei dem sie erstmals in Schwedens höchster Frauen-Spielklasse auflief. Nur drei Jahre später schaffte sie den Sprung zu Malmö FF, jetzt bekannt als FC Rosengård. 2010 gewann sie mit dem Klub ihre erste schwedische Meisterschaft und verteidigte den Titel prompt im Jahr darauf, 2012 folgte der Wechsel zu Linköpings FC. Fischer, die sich zu einer gestandenen Innenverteidigerin entwickelte, machte mit tollen Leistungen auf sich aufmerksam und wurde zur Saison 2013/2014 vom damaligen Wolfsburg-Trainer Ralf Kellermann, der gleichzeitig als sportlicher Leiter agierte, ablösefrei in die Autostadt gelotst – für beide Seiten ein wahrer Glücksgriff. Fischer etablierte sich unmittelbar als Führungsspielerin und war jahrelang Kapitänin der „Wölfinnen“. Mit dem VfL holte sie in sechs Jahren satte zehn Titel: einmal die Champions League, viermal die Deutsche Meisterschaft und stolze fünfmal den DFB-Pokal.

Starke Performance auf und neben dem Platz: Nilla Fischer. (Foto: Tom Seiss)

Während die schwedische Liga zwischen 2002 und 2008 lange zu einer der besten der Welt zählte – Umeå IK stand in der Zeit fünf Mal im Finale Women’s Cup – und Spielerinnen wie Marta ausbildete, muss sich die „Damallsvenskan“ (Dam = Frauen und Allsvenskan = Name der Herren-Liga) mittlerweile hintenanstellen. Länder wie Deutschland, England, Spanien und Frankreich haben wirtschaftlich aufgeholt und locken mit ihren attraktiven Gesamtpaketen die Top-Talente der schwedischen Liga. Infolge der Abwanderung prominenter schwedischer Spielerinnen aus der geringer budgetierten Damallsvenskan, bauen die Teams nun vermehrt auf die Ausbildung und Förderung ihrer eigenen Jung-Talente. Die Spannung in der Liga ist jedoch auch ohne prominente schwedische Weltklassespielerinnen garantiert: So schaffte es beispielsweise ein gesetzter Abstiegskandidat wie Limhamn Bunkeflo die vermeintlich „Großen“ des FC Rosengård zu Hause mit 3:2 zu schlagen. 2018 wurde mit Piteå IF eine Mannschaft Meister, deren Spielerinnen parallel zum Sport arbeiten beziehungsweise studieren.

Engagement über das Spiel hinaus

Auch wenn es sich bei Fußball um eine Berufung handelt, so gibt es Momente, in denen der Sport in den Hintergrund gerät. Und so ist Fußball nicht mehr alles im Leben der Nummer 4 des VfL Wolfsburg. Die Prioritäten der Abwehrspielerin änderten sich am 25. Dezember 2017, als Ehefrau Maria Michaela, die sie 2013 heiratete, Söhnchen Neo zur Welt brachte. „Neo rules the world“, sagte sie damals in einem Interview. Daraus resultierte auch der Entschluss, nach der laufenden Saison nach Schweden zurückzukehren. Bei den Wolfsburgerinnen lief ihr Vertrag ursprünglich regulär noch bis 2020, die Innenverteidigerin machte aber von der Ausstiegsklausel Gebrauch, die ihr eine vorzeitige Rückkehr nach Schweden zur Saison 2019/2020 ermöglichte. Sie unterschrieb einen Zwei-Jahres-Kontrakt bei Linköpings FC. „Ich habe sonst immer meine Entscheidungen als Fußballerin getroffen, dieses Mal habe ich mich aber als Mutter zu diesem Schritt entschlossen, weil es für uns wichtig ist, dass unser Sohn im familiären Umfeld aufwächst“, begründete die 34-Jährige den vorzeitigen Wechsel zurück in die Damallsvenskan.

Fischer wird nicht nur spielerisch eine große Lücke hinterlassen. Auch menschlich hat sie viel bewegt – in Wolfsburg und ganz Deutschland, in Teilen sogar auf der ganzen Welt: Seit dieser Saison laufen alle Spielführer*innen des VfL Wolfsburg mit einer Regenbogen-Kapitänsbinde auf. Der Verein will damit ein klares Zeichen gegen Ausgrenzung und Homophobie und für die Vielfalt im Fußball setzen. Initiiert hat das ganze Fischer, die sich seit Jahren für die Rechte und die Anerkennung Homosexueller einsetzt. Im März 2017 trat die Fußballerin im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ an ihren Verein heran und bat darum, eine Regenbogen-Kapitänsbinde tragen zu dürfen. „Der Regenbogen symbolisiert Stolz, Vielfalt und Respekt füreinander. Im Fußball machen wir uns oft gegen Rassismus stark, was großartig ist. Aber mir ist es wichtig, das große Ganze zu betrachten, und da müssen wir auch Homophobie und Sexismus ins Blickfeld nehmen“, sagte sie damals.

„Hört niemals auf, Fußball zu spielen und hört niemals auf, für Gleichberechtigung zu kämpfen.“ (Foto: Tom Seiss)

Als sie 2018 zu Schwedens Fußballerin des Jahres und zur besten Verteidigerin Schwedens gekürt wurde, hielt sie bei der Gala des schwedischen Fußball-Verbandes eine bewegende Rede und sprach über die ungleiche Bezahlung im Männer- und Frauensport: „Ungerechtigkeit tut weh! Würde ich heute hier als Mann stehen, mit der Karriere, die ich gehabt habe, bräuchte ich mir keine ökonomischen Sorgen mehr machen, auch meine Kinder nicht. Wir spielen, weil wir den Sport lieben. Deshalb möchte ich euch Mädchen sagen: Hört niemals auf, Fußball zu spielen und hört niemals auf, für Gleichberechtigung zu kämpfen.“

Fischer hat die Ansichten einer ganzen Stadt nachhaltig verändert. Sie hat etwas bewegt. Sie hat unermüdlich gekämpft und sich eingesetzt. Sie hat eine Verbindung hergestellt, denn der Regenbogen, ein starkes Zeichen für Akzeptanz, ist aus Wolfsburg nicht mehr wegzudenken. Diese Werte verkörpert sie auch als eine der Leistungsträgerinnen der schwedischen Frauenfußball-Nationalmannschaft. Es ist davon auszugehen, dass die Innenverteidigerin auch bei der nun anstehenden Weltmeisterschaft in Frankreich, die wohl gleichzeitig ihr letztes großes Turnier sein wird, ein weiteres (Ausrufe-) Zeichen setzen wird. Sie wird alles dafür geben, mit ihrem Team in diesem Jahr endlich den lange ersehnten ersten Weltmeistertitel zu gewinnen – und ihre internationale Karriere noch ein (letztes) Mal zu krönen.


Zur Person: Jasmina Schweimler schreibt als Journalistin unter anderen für die WAZ und den Sportbuzzer über Frauenfußballer und gehört zum Podcast-Kollektiv-FRÜF.

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WM 2019 – 24 Spielerinnen, die die Welt verändern – Gruppe C https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-c/ https://120minuten.github.io/wm-2019-gruppe-c/#respond Mon, 03 Jun 2019 07:00:26 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6050 Weiterlesen]]> Die Liebe zum Spiel ist das verbindende Element in der Gruppe C. Tiffany Cameron besingt sie und die Brasilianerin Formiga hat auch mit 41 noch lange nicht genug vom Fußball. Während Sam Kerr nach Turbulenzen mit Australien auf ein Wunder hofft, träumt Barbara Bonansea von neuen Jubelmomenten.

Sam Kerr – Turbulenzen und die Hoffnung auf ein Wunder

Australien – berühmt für seine Kängurus, Bumerangs, Barbecues – und für seine außergewöhnlichen Fußballer*innen. Sam Kerr aus der kleinen Stadt East Freemantle ist vielleicht die außergewöhnlichste aller außergewöhnlichen Fußballer*innen, die Australien je hervorgebracht hat.

Sie stammt aus einer Familie erfolgreicher Sportler, sowohl ihr Vater als auch ihr Bruder waren professionelle „Australian-Rules“-Footballer. Kerr spielt in der australischen W-League. Seit Gründung der Liga im Jahr 2008 steht sie, abgesehen von zwei Jahren bei Sydney FC, für Perth Glory unter Vertrag. Die reguläre Saison der W-League findet von November bis Februar statt. Anschließend spielen die vier besten der aktuell neun Teams in einer Playoff-Runde um den Titel „W-League Champion“. Kerr spielt außerdem von April bis Oktober in der amerikanischen Profiliga NWSL, aktuell für die Chicago Red Stars.

Seitdem bricht sie alle Rekorde:

  • Die meisten Tore in der NWSL.
  • Die meisten Tore in einem NWSL-Spiel.
  • Die meisten Tore in einer NWSL-Saison.
  • Die meisten Tore in der W-League.
  • Die meisten Tore in einer W-League-Saison.
  • Sam Kerr ist erst 25 Jahre alt.

Mit der nach Australiens inoffizieller Nationalhymne „Waltzing Matilda“ benannten Nationalmannschaft „Matildas“ bricht Kerr diesen Sommer mit großen Hoffnungen zur WM nach Frankreich auf. Bei den letzten drei Weltmeisterschaften kam ihr Land jedes Mal bis ins Viertelfinale. 2019 könnte der Durchbruch gelingen. Mit einer Fülle an talentierten Spielerinnen, die genau zum richtigen Zeitpunkt den Höhepunkt ihrer spielerischen und persönlichen Reife erreicht haben, glaubt Australien an den Einzug ins WM-Finale.

Sam Kerr und ihre Mitspielerinnen gehen mit viel Erfahrung in die WM.

Spielerinnen in den besten Jahren

Die Ex-Potsdamerin Elise Kellond-Knight hat trotz ihrer erst 28 Jahre bereits 106 Länderspiele absolviert. Die defensive Mittelfeldspielerin wurde 2011 und 2015 ins All-Star- Team der WM gewählt. Verteidigerin Clare Polkinghorne steht bei 116 Länderspielen und ist gerade erst 30 Jahre alt geworden. Sie hat zwei Weltmeisterschaften für die Matildas gespielt, bei denen sie der nahezu unüberwindbare Fels der Abwehr war, aber auch torgefährlich. Die Mischung aus Erfahrung und Spielerinnen in den besten Jahren – erfahren und auf der Höhe ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit – könnte Australien zu einer Mannschaft machen, mit der gerechnet werden muss.

Dieser Zustand ist umso erstaunlicher, wenn man sich die Entwicklung des Frauenfußballs in Australien vor Augen führt. Zwar fanden schon 1921 Spiele vor mehr als 10.000 Zuschauer*innen statt. Die erste professionelle Liga wurde aber erst 1996 gegründet. Schon acht Jahre nach ihrer Gründung wurde sie zusammen mit der National Soccer League der Männer aufgrund mangelndem Sponsoring wieder aufgelöst. Nachdem die Matildas bei der WM 2007 das Viertelfinale erreichten, sprach sich der damalige Cheftrainer Tom Sermanni (aktuell Trainer Neuseelands) dafür aus, erneut eine professionelle Liga ins Leben zu rufen. Der australische Fußballverband FFA (Football Federation Australia) stimmte zu und gründete 2008 die W-League.

Stabile Liga weckt Interesse

Seitdem gedeiht die Liga mit einer Stabilität, welche der vorherigen Liga fehlte. Die nun stattfindende Professionalisierung und die Vermarktung der Liga haben für ein steigendes Interesse gesorgt. Das Durchschnittsgehalt der Spielerinnen ist 2018 von 15.500 australischen Dollar auf 17.400 Dollar gestiegen, das Mindestgehalt liegt aktuell bei 10.000 Dollar. Die Gehaltsobergrenze hat sich von 2015 bis zum Saisonstart 2017/18 von 150.000 Dollar auf 300.000 australische Dollar verdoppelt.

Die WM-Vorbereitung der Matildas wurde durch eine Kontroverse überschattet, die im Rauswurf des langjährigen Cheftrainers Alen Stajcic mündete. Stajcic gibt bis heute an, das einzige Mal, dass er mit der FFA über die mutmaßlich kaputte Stimmung innerhalb der Mannschaft gesprochen habe, sei während eines 20-minütigen Gesprächs am Tag vor seiner Entlassung gewesen. Die FFA gibt an, es habe Hinweise darauf gegeben, dass sich in den fünf Jahren unter Stajcic eine dysfunktionale Teamkultur entwickelt habe.

Vom Weg abgekommen

Die Mannschaft solle in der WM-Vorbereitung wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Die FFA selbst scheint etwas vom Weg abgekommen zu sein. So sieht es zum Beispiel zurzeit danach aus, dass die A-League der Männer zeitnah eine von der FFA unabhängige Organisation werden könnte. Mit der Verlängerung der Sponsorenpartnerschaft der Matildas mit dem Immobilienunternehmen Westfield und einem weiteren, noch nicht bekannt gegebenen Rekord-Sponsor in Aussicht, gibt es aber auch gute Nachrichten.

Trotzdem haben die Matildas mit dem ehemaligen australischen Nationalspieler Ante Milicic lediglich einen Interimstrainer, der sie durchs Turnier in Frankreich führen wird. Diese womöglich instabile Situation könnte sich fatal auf Australiens Siegeschancen auswirken.

Andererseits könnte die Mannschaft aber auch von jemandem profitieren, der die Dinge einfach gestaltet und sich komplett auf die taktische Ausrichtung konzentriert. Es wird sich früh genug zeigen, in welche Richtung sich die Matildas unter Milicic entwickeln. Aber eines ist gewiss – mit einer Ausnahmeerscheinung wie Sam Kerr in der Mannschaft und erfahrenen Spielerinnen wie Kellond-Knight und Clare Polkinghorne, besteht immer die Chance auf ein Wunder. 2019 könnte das Jahr werden, in dem die Matildas die Welt auf den Kopf stellen.

Zur Person: Ellen Hanisch schreibt als Journalistin über den nationalen und internationalen Fußball. Sie gehört zum Podcast-Kollektiv FRÜF und betreibt FUSSBALLTHESEN.

Foto: Thewomensgame / Wikimedia Commons

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Barbara Bonansea und der Traum von Juventus Turin

Vier “Scudetti” (italienische Meistertitel), drei italienische Pokalsiege, drei italienische Super-Cups und eine Schlüsselrolle bei Juventus sowie bei der italienischen Nationalmannschaft. Barbara Bonansea, geboren und aufgewachsen in der Nähe von Turin, wurde im Trikot des FC Turin groß, aber um sich einen Namen im italienischen Fußball zu machen, musste sie nach Brescia gehen. In fünf Spielzeiten von 2012 bis 2017 mit Le Rondinelle, wie Brescia Calcio genannt wird, spielte Bonansea eine Schlüsselrolle bei den beiden ersten Meisterschaften der Klubgeschichte.

Barbara Bonansea (links) hat Italien zur WM geschossen.

Die Titel verhalfen ihr zu ihrem Debüt auf europäischer Ebene in der Champions League und brachte ihr Angebote von namhaften europäischen Teams ein. Aber seit ihrer Kindheit hatte Bonansea einen Traum – das Trikot von Juventus überzustreifen.

Im Sommer 2017 wurde dieser Traum Wirklichkeit als Juve mit der Übernahme der Lizenz von Cuneo Calcio seine ersten Schritte im Frauenfußball machte und sich sofort anschickte eine führende Rolle zu übernehmen, getreu dem Motto der Turiner: “Gewinnen ist nicht wichtig, es ist das Einzige, was zählt.”

Hilft Titelkampf der Nationalmannschaft?

Dank ihrer Qualitäten auf dem linken Flügel – sie kann für Überraschungsmomente sorgen, geht oft ins Eins-gegen-eins und hilft auch in der Defensive mit – wurde Bonansea zu einer Schlüsselspielerin in Rita Guarinos Kader.

Zusammen mit der Kapitänin der Nationalmannschaft Sara Gama, mit Aurora Galli, Valentina Cernoia und Christina Gelli hat Bonansea mit Juventus Historisches erreicht: in den ersten zwei Spielzeiten wurde Juventus italienischer Meister. Vor allem der zweite Titel war hart erkämpft. Im Titelrennen mit Milan und der Fiorentina konnte der Scudetto erst am letzten Spieltag mit einem Punkt Vorsprung errungen werden. Der intensive Titelkampf könnte positive Auswirkungen auf die Nationalmannschaft haben. Bonansea bezeichnet es als “einen Traum” im Trikot der Azzurra spielen zu dürfen, insbesondere in Anbetracht der bevorstehenden WM in Frankreich.

Bonansea schießt Italien zur WM

Am 8. Juni 2018 erzielte Bonansea das letzte der drei Tore im entscheidenden Spiel gegen Portugal (3:0 in Florenz), das Italien zur Buchung des WM-Tickets für Frankreich verhalf, und beendete damit eine zwanzigjährige Abwesenheit. Die letzte und einzige Teilnahme war in den USA 1999. Das Tor war wichtig und sorgte für überbordende Emotionen, die in einer Jubeltraube aus Spielerinnen und Fans im Artemo Franchi Stadion gipfelte.

Auf dem Weg zur Weltmeisterschaft machte sich Bonansea einen Namen als vielseitige Spielerin. Sie hinterließ einen bleibenden Eindruck bei den Freundschaftsspielen 2019 indem sie zwei Treffer in den vier Spielen beim Cyprus Cup im Februar erzielte (gegen Mexiko und Thailand). Das Turnier beendete Italien auf einem bitteren zweiten Platz hinter Nordkorea. Im Elfmeterschießen, dem ein 3:3 Unentschieden nach einem 120-Minuten-Marathon vorausging, verschoss Bonansea als einzige Spielerin.

Der Turnierausgang war so etwas wie ein kleiner Betriebsunfall – für die Nationalmannschaft und auch Bonansea – während das Team weiterhin auf einer Welle der Euphorie schwimmt. Die Auswahl von Milena Bertolini kann auf viel Unterstützung in Italien setzen, das schlechte Abschneiden der Herren in Russland 2018 hat mehr Interesse auf den Frauenfußball gelenkt.

Eine neue Ära

Juventus aber auch andere große italienische Klubs wie der AC Mailand, AS Rom, Florenz und Inter, das gerade gerade aus der Zweitklassigkeit aufgestiegen ist, haben sich entschieden in den Frauenfußball zu investieren und diesem zu Wachstum zu verhelfen. Ein Beispiel? Am 24. März fand das entscheidende Match um die Meisterschaft zwischen Juve und der Fiorentina im Turiner Allianz Stadium statt, das sonst für Cristiano Ronaldo und sein Team “reserviert” ist. Die Partie war mit 39.000 Zuschauern ausverkauft – zum ersten Mal in der Geschichte des italienischen Frauenfußballs und obendrein ein Zuschauerrekord. Das Spiel könnte man also als möglichen Beginn einer neuen Ära deuten.

Der Frauenfußball kann darauf aufbauen und für das bevorstehende Turnier auf einen  Enthusiasmus hoffen, wie ihn nur eine Weltmeisterschaft hervorzurufen vermag. Nach einer Saison mit 13 Treffern, der viertbeste Wert ligaweit und ein Tor weniger als Juves Top-Scorerin Aluko, ist Bonansea bereit für die große Fußballbühne und das wichtigste Turnier ihrer bisherigen Karriere. Sie hofft auf eine weitere Jubeltraube – ganz genau wie in Florenz vor fast einem Jahr.

Zur Person: Fabio Fava ist Journalist und Kommentator und arbeitet für Eurosport und DAZN.

Foto: Threecharlie/ Wikimedia Commons

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Formiga – Die ewige Antreiberin

Miraildes Maciel Mota hätte eine der vielen afrikanisch-stämmigen Frauen sein können, die die Hügel von Salvador, Bahia, im Nordosten von Brasilien, hoch- und runterlaufen. Sie hätte ein traditionelles Leben – Arbeit, Familie und Kinder – unter der heißen Sonne führen können. Doch ihr Talent und ihre Leidenschaft für Fußball haben ihr Leben völlig umgekrempelt. Formiga – der Name, unter dem sie weltweit bekannt ist – ist derzeit die einzige Fußballerin, die an sechs Ausgaben der Olympischen Spiele teilgenommen hat – an allen, seit Frauenfußball olympisch wurde. Wie Marta, Pelé, Garrincha und Ronaldo ist Formiga zur Legende in der Geschichte des brasilianischen Fußballs geworden. Mehr als 160 Mal ist sie für das Nationalteam aufgelaufen (und überbietet damit Cafu als der brasilianische Spieler, der das Trikot am häufigsten getragen hat). Jetzt, da die Frauen-Weltmeisterschaft der FIFA in Frankreich ansteht, will sie weitere Rekorde brechen: Sie will die erste Spielerin sein, die an sieben Frauen-Weltmeisterschaften teilgenommen hat und zugleich die älteste Teilnehmerin in der Geschichte des Wettbewerbs sein.

Formiga wurde im März 1978 geboren. Ihr Talent für den Sport zeigte sich früh. Sie beneidete ihren Bruder um sein Geschenk – einen Ball. Ihre einzige Option war, einer Puppe den Kopf abzureißen, um irgendetwas Rundes zum Kicken zu haben. Sie ist von zu Hause abgehauen, um barfuß mit Jungs auf Bolzplätzen in ihrem Stadtviertel zu spielen. Weil sie dafür geschlagen wurde, musste sie das verheimlichen. Denn ihre fünf Brüder waren nicht damit einverstanden, dass sich die Jüngste und die einzige Tochter der Familie ein Hobby aussuchte, das nur für Jungs reserviert war: Fußball spielen.

Den Spitznamen Formiga, was auf Portugiesisch Ameise bedeutet, hat sie in dieser Zeit bekommen. Ein dünnes, kleines Mädchen, das auf dem Feld rauf und runter läuft, den Ball beherrscht und dribbelt wie ein echter Mittelfeldspieler. Die brasilianische Sportlerin begann als 12-Jährige, auf Amateurniveau zu spielen. Mit 15 startete ihre Karriere als Profifußballerin, beim Sao Paulo Football Club. Dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ausgewählt wurde, für die Seleção zu spielen, das brasilianische Frauen-Nationalteam.

Seitdem hat Formiga für verschiedene Teams in Brasilien, Schweden und in den USA gespielt. Derzeit spielt sie in Frankreich bei Paris Saint-Germain. Als Mittelfeldspielerin im brasilianischen Nationalteam hat sie drei Goldmedaillen in den Pan-Amerikanischen Spielen geholt: 2003 in Santo Domingo, 2007 in Rio und 2015 in Toronto. Silber gewann sie bei den Olympischen Spielen in Athen 2004 und 2008 in Peking. Außerdem wurde sie 2007 Vize-Weltmeisterin bei der Frauen-WM in China.  

Aber nicht nur ihre glänzende Karriere beeindruckt diejenigen, die ihre Geschichte hören. Der Weg zum Erfolg war nicht leicht. Dennoch ist sie ihn ohne Fehltritte gegangen. Die Sportlerin berichtet von Situationen, in denen ihr Rassismus begegnet ist. Während eines Spiels in Caçador, einer Stadt im Süden Brasiliens, in Santa Catarina, hörte sie 90 Minuten lang, wie ein Zuschauer sie und ihre Mitspielerinnen als Affen bezeichnete – leider eine Situation, mit der sich afro-brasilianische Spieler häufig konfrontiert sehen. Ihre Reaktion? Formiga erklärt sie für einen brasilianischen Blog: „Ich habe das Team gebeten, ruhig zu bleiben. Wir sollten uns nur auf das konzentrieren, was auf dem Spielfeld passiert. Darum haben wir gut gespielt, wir haben das Spiel gewonnen und am Ende hat uns der Zuschauer gefragt, ob er mit uns ein Foto machen darf. Und ich habe Ja gesagt.“ Ein Sieg innerhalb und außerhalb der vier Linien.

Der Rücktritt vom Rücktritt

Formiga war mehr als 20 Jahre ein essentieller Bestandteil im brasilianischen Mittelfeld. Trotz ihrer aufopferungsvollen Karriere im Nationalteam ist es der Sportlerin nicht gelungen, zu sehen, wie die brasilianischen Träume wahr werden: Brasilien hat weder die WM noch die Olympischen Spiele gewonnen.

2016, nachdem die Canarinhas von Kanada in den Olympischen Spielen in Rio besiegt wurden, gab sie im Alter von 38 Jahren ihren Rücktritt bekannt. Zutiefst bewegt wandte sie sich in einem TV-Interview an die Brasilianer: „Ich bitte euch nur darum, uns nie aufzugeben. Denn wir werden nie aufgeben.“

Doch mit 40 Jahren hat sie sich nochmal neu entschieden. Wegen einer weiteren Gelegenheit, den brasilianischen Traum 2019 bei der WM in Frankreich zu verfolgen und weil der Nachwuchs beim brasilianischen Frauenteam fehlte, hat sie ihre Entscheidung rückgängig gemacht. Sie wird das gelbe Trikot nochmals tragen. „Ich bin nur zurückgekommen, weil es nötig war. Die Seleção hatte niemanden für meine Position, niemanden, der meinen Stil spielt. Der Trainer sagte, er braucht mich. Die Seleção musste sich für die WM qualifizieren. Ich habe lange darüber nachgedacht. Der Gedanke, dass Brasilien die WM  verpassen könnte, hat mich belastet und letztlich habe ich entschieden, zu helfen. Ich hatte nicht beabsichtigt, weiterzumachen und die WM zu spielen, aber Grenzen zu überwinden, treibt mich an“, erklärte die Mittelfeldspielerin in einem Interview für die FIFA.

Erwartungen für die Frauen-WM und brasilianischen Fußball

Auch wenn es ihre siebte Teilnahme bei einem großen internationalen Turnier ist, sagt Formiga: „Die Gefühle sind dieselben wie beim ersten Mal. Ich bin froh, mit den Mädels hier zu sein, gesund, und dass ich an Verbesserungen im Frauenfußball arbeiten und um den so ersehnten Titel kämpfen kann.“ Obwohl die Seleção zuletzt neun Niederlagen am Stück in Freundschaftsspielen einstecken musste und das Team angezweifelt wird, ist Formiga optimistisch: „Wir können ohne Zweifel diese WM gewinnen. Frankreich ist einer der größten Gegner unserer Hoffnungen. Sie könnten definitiv gewinnen. Trotzdem sind die Leute wirklich glücklich und gespannt. Es wird ein wunderbares Turnier.“

In den vergangenen Jahren sind in Brasilien Debatten über Sexismus und Frauen im Sport lauter geworden. Formiga sieht Vorurteile noch immer als die größte Hürde für Profisportlerinnen in ihrem Land. „Heutzutage hat das stark abgenommen, aber es ist immer noch da. Es gibt immer noch zu wenig Medieninteresse. Generell wird über Frauenfußball immer nur berichtet, wenn die Olympischen Spiele sind oder etwas Negatives passiert ist“, sagte Formiga einer brasilianischen Zeitung. Wenn sie letztlich tatsächlich ihre Profikarriere beendet, will sie Fußballlehrerin werden und als Teil des Trainerteams die Frauennationalmannschaft unterstützen. Das wäre ihre Art, weiter für ihre Träume und Fortschritt zu kämpfen.

Persönlichkeiten wie Formiga, Marta und Cristiane stehen stellvertretend für die Welt des Sports und inspirieren andere Mädchen. Ihre Geschichten öffnen Türen für die Geschichten anderer und wirken auf diese Weise aus von selbst gegen Sexismus im Fußball.

An den Wänden des Fußballmuseums im Pacaembu-Stadion in Sao Paulo kann man den Namen Miraildes Maciel Mota und ihre Geschichte lesen. Trotzdem ist Formiga ein Genie, das immer noch nicht die Anerkennung in der Welt des Sports hat, die es verdient. Doch eines wissen wir sicher über sie: Nachdem sie so viele Hindernisse überwunden hat, um dort zu sein, wo sie nun steht, gibt es keine Hürde, die sie nicht überkommen kann. Und sie wird sicherlich alles tun, um in der Geschichte des Fußballs ihre Spuren zu hinterlassen.

 

Der Text in der englischen Originalfassung/ English original version

Formiga: the Brazilian genius who has beaten racism, sexism and poverty to be one of the biggest female footballers in history

Miraildes Maciel Mota could have been one of the several afro-descendent women walking up and down the hills of Salvador, Bahia, in the Northeast region of Brazil, managing a traditional life of work, family and children under the hot sun. However, the talent and passion for football changed her life for good. Formiga – as she is worldwide known – is, nowadays, the only female footballer to have ever been to six editions of Olympic Games, all the editions since the female category became an Olympic sport. Along names like Marta, Pelé, Garrincha and Ronaldo, Formiga has made her place to the history of Brazilian’s football as a legend, collecting more than 160 games for the national team (overmatching Cafu as the Brazilian player who has worn this uniform most times). Now, with the FIFA Women’s World Cup in France just around the corner, she is ready to break other records: becoming the first player to go to seven Women’s World Cups and being the oldest female in the competition’s history.

Formiga was born in March, 1978, and her grit for the sport manifested very early. Envying the brother’s gift – a ball – her only option was taking off the doll’s head to have something rounded to kick. She used to run away from home to play barefoot with other boys in improvised pitches made of earth in her neighborhood. Having being beaten sometimes for that, everything had to be done in secret, as her five brothers did not approve the idea the youngest and only girl of the family would spend time doing something that was meant to be only for boys: play football.

The nickname Formiga (ant, in Portuguese) comes from that time: a skinny short girl running here and there in the field with the ball dominated on her feet dribbling magically like a real midfielder. The Brazilian athlete started to play as an amateur when she was 12 years old and at 15 her professional career was launched at Sao Paulo Football Club. It was just a matter of time until she was called to play at the “Seleção”, the Brazilian national female team.

Since then, Formiga has played for different teams in Brazil, Sweden and USA and currently plays for Paris Saint-Germain, in France. Acting as a midfielder for Brazil National Team, she won three golden medal during the Pan-American Games in Santo Domingo 2003, Rio 2007 and Toronto 2015, silver medal for Olympic Games in Athens 2004 and Beijing 2008 and silver medal for FIFA Women’s World Cup in China 2007.

However, not only the brilliant career impresses everyone who gets the opportunity to know her story. The path towards success wasn’t simple and, still, she made it with no frailties. The athlete reports situations when racism was on the table. During a match in Caçador, a city from the South of Brazil, in Santa Catarina, she played 90 minutes hearing a fan calling her and her colleagues as “monkeys” – unfortunately, a common situation experienced by other Brazilian and afro-descendent players. The answer for that? Formiga explains well to a Brazilian blog: “I asked the team to be calm. We should focus only on what was happening in the field. As result, we played well, we won the game and then the fan asked us to take a picture with him. And I accepted”. A mastery in and out the four lines.  

The retirement no retirement

Formiga has been an essential part of Brazil’s midfield for more than twenty years. Despite the devoted career for the national football, the athlete was unable to see Brazilian dreams coming true: putting Brazil and its people in the highest place of a podium for either the World Cup or the Olympic Games.

In 2016, after the Canarinhas were defeated by Canada during the Rio 2016 Olympic Games, she announced her retirement at the age of 38. Deeply moved, she did a request to Brazilian people during a TV interview: “I only ask you all to never give up on us, because we will never give up”.

However, at 40 years old she changed her mind. The new opportunity to keep pursuing Brazil’s dream at the FIFA Women’s World Cup 2019 in France and the lack of options for the renewal of the Brazilian women’s team made her to abort her previous decision and wear the yellow jersey once again: “I only came out of retirement due to necessity. The Seleção did not have anybody in my position, anyone who played in my style. The coach said he needed me. The Seleção needed to qualify for the World Cup. I gave it a lot thought. The thought of Brazil missing out of the World Cup, it weighed heavily on me and eventually I decided to help. I had no intention to carry on and play in the World Cup, but breaking barriers spurs me on”, explained the midfielder during an interview for FIFA.

Expectations for the World Cup and for the Female’s football in Brazil

At her seventh participation for the world tournament, Formiga affirms: “the emotion is the same just as if it was the first time. I am happy to be here with the girls, with health, working for improvements into the female football and fighting for the so desired title”. Although the Seleção comes from a sequence of nine consecutive defeats on friendly games and has its credibility questioned, Formiga is optimistic: “We can, without doubt, win this World Cup. France are one of the biggest threats to our hopes. They could definitely win it. Nevertheless, people are really happy and excited. It is going to be a wonderful tournament”.

During the last years, Brazil has faced a crescent discussion about sexism and the presence of women in sports. She still sees prejudice as one of the greatest barriers for the female sport in the country. “Nowadays, that has greatly diminished, but it still exists. There is still lack of media interest. Generally, women’s football only becomes news when it is in the Olympics or when it has negative news”, said Formiga to a Brazilian newspaper. When she finally retires, she expects to study to become a coach and then take a role into the technical staff for the National female team. It would be her way to keep fighting for her dreams and improvements.

Names like Formiga, Marta and Cristiane bring representativeness to the world of sports and help other girls to be inspired by those idols. Their stories open doors to other stories and it is, per se, a fight against sexism in football.

At the walls of the Museum of Football, at Pacaembu Stadium, in Sao Paulo, you can read the name of Miraildes Maciel Mota and her journey. However, Formiga is a genius who still doesn’t get the deserved recognition in the world sports. Yet, there is one thing we are all sure about her: after facing and beating so many barriers to be where she stands now, there is no difficulty she cannot overcome and she will, for sure, make everything to let her mark to the History of World football.  

Zur Person: Rosiane Siqueira wohnt in London und schreibt als freie Autorin über den brasilianischen Fußball. Übersetzt wurde der Text von Maria Hendrischke, die für MDR Sachsen-Anhalt tätig ist.

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Tiffany Cameron – Aus Liebe zum Spiel

Tiffany Cameron wurde 1991 in Toronto geboren. Sie bestritt sechs Freundschaftsspiele für Kanada, spielte in der Bundesliga für die TSG Hoffenheim, USV Jena, Mönchengladbach, war in Zypern und Schweden aktiv und wurde 2016 mit dem F.C. Ramat HaSharon in israelische Meisterin – dort erzielte sie in 23 Spielen 38 Tore. Seit Februar 2019 spielt sie für die jamaikanische Auswahl, die 2014 neu gegründet wurde und die erste WM-Teilnahme vor sich hat.

Tiffany Cameron hat auch schon in Jena gespielt.

Wie lief die Saison bisher für sie und wie war das Ankommen bei ihrem neuen Verein in Norwegen?

Mein Verein Stabæk hat zwei Meisterschaften gewonnen, in der Champions League gespielt und sich so einen Namen gemacht. Wir spielen sehr körperlich und haben eine gute Mischung aus jungen talentierten und erfahrenen Spielerinnen. Wir befinden uns dieses Jahr im Umbruch und hatten deshalb nicht den besten Start. Ich bin aber optimistisch, dass die zweite Saisonhälfte besser laufen wird.

Unterscheidet sich ihre Rolle im Nationalteam von der in Ihrem aktuellen Verein?

Ich würde sagen, dass ich sowohl bei Stabæk als auch bei der jamaikanischen Auswahl die gleiche Rolle ausfülle. In beiden Teams gehöre ich zu den erfahrenen Spielerinnen und meine Aufgabe ist es, die jüngeren zu führen und zu ermutigen – und natürlich meine Stärken auf den Platz zu bringen und damit das Spiel zu beeinflussen.

Sie haben schon bei vielen Vereinen gespielt. In der Bundesliga sind sie nach Abstiegen gewechselt, ihren Verein in Israel haben sie nach nur 22 sehr erfolgreichen Spielen verlassen. Wie kommt es, dass sie so oft den Verein gewechselt haben?  

Ich bin der Typus Spielerin, der stets eine Chance ergreift, wenn ich mich dadurch verbessern kann. Zwei von drei Mannschaften, für die ich in der Bundesliga gespielt habe, sind unglücklicherweise abgestiegen. Erstklassig zu spielen, hat für mich immer höchste Priorität, deshalb habe ich mich entschieden zu wechseln. Obwohl ich eine sehr erfolgreiche Saison in Israel gespielt habe, mir eine Vertragsverlängerung angeboten wurde und ich in der Champions League hätte spielen können, bin ich zurück in die Bundesliga gewechselt, als ich die Möglichkeit hatte – das konnte ich mir nicht entgehen lassen.

Bei einigen Klubs habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht, anderswo hat es nicht so gut gepasst. Ich bin keine Spielerin, die bei einem Verein bleibt, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass ich auf und neben dem Platz meine beste Seite zeigen kann. Im Ausland zu spielen hat seine Härten, aber verschiedene Kulturen und Spielstile kennenzulernen war sehr wichtig für meine Entwicklung als professionelle Fußballerin.     

Sie schreiben auch Songs und setzen sich darin mit dem Fußball auseinander. Welche Botschaft möchten Sie mit “For the love of the game” vermitteln?

In meinem neuen Song geht es um das Überwinden von Widrigkeiten, das Verfolgen von Zielen und sich bewusst zu machen, dass Frauen, obwohl der Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter anhält, auch stolz auf ihre Leistungen und ihr tägliches Engagement für den Fußball sein sollten. Der Song ist ein Vehikel für weibliches Empowerment und ich habe beschlossen, ihn zu veröffentlichen, weil die Frauen-Weltmeisterschaft bevorsteht und sie dazu beitragen wird, weibliche Athletinnen auf der ganzen Welt zu ermutigen und zu fördern.

Sie haben einige Zeit in Deutschland gespielt. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Bundesliga und worauf mussten sie sich in Deutschland erstmal einstellen?

Wenn ich an meine Zeit in der Bundesliga zurückdenke, denke ich oft daran, welche Freude es war mit technisch so versierten Fußballerinnen zu spielen. Jedes Spiel hatte Wettkampfcharakter. Als ich nach Deutschland wechselte, habe ich damit gerechnet, dass eine Herausforderung technischer und taktischer Natur auf mich wartete und ich mich dadurch als Spielerin verbessern kann. Ich war sehr beeindruckt von der Qualität des Fußballs und es war mir ein Vergnügen mehrere Jahre in der Bundesliga spielen zu dürfen.

Die jamaikanische Auswahl wurde erst vor wenigen Jahren wieder ins Leben gerufen. Sie haben bereits für Kanada Auswahlspiele bestritten. Warum haben Sie sich für Jamaika entschieden?

Ich hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, eine neue Herausforderung zu suchen. Die Möglichkeit, für Jamaika zu spielen, ergab sich für mich zu einem besonderen Zeitpunkt. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass Jamaika an der WM teilnimmt, und ich habe das Gefühl, dass ich mit meiner Erfahrung dazu beitragen kann, das Team zu verstärken. Als mir ein Mitarbeiter des Trainerstabs das Angebot unterbreitete, für Jamaika zu spielen, konnte ich diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen.

Ich bin stolz darauf, wenn ich die junge Generation inspirieren und fördern kann. So bringe ich mich als eine der erfahreneren Spielerinnen im Kader ein. Im März spielte ich mein zweites Freundschaftsspiel für Jamaika, durfte von Anfang an auflaufen und bereitete ein Tor gegen Chile vor. Wir haben das Spiel mit 3-2 gewonnen und die Atmosphäre war toll. Obwohl ich neu im Team bin, hat es nicht lange gedauert, eine positive Verbindung zu meinen Teamkollegen aufzubauen. Ich bin froh, dass das so gut geklappt hat und ich zu unserem Sieg beitragen konnte.

Wie würden sie die Entwicklung des jamaikanischen Frauenfußballs in den letzten fünf Jahren, insbesondere der Nationalmannschaft, beschreiben? Wie populär sind die Reggae Girlz in Jamaika bzw. wie hat sich die Popularität entwickelt?

Die Entwicklung des jamaikanischen Fußballs hat einen langen Weg hinter sich. Vor einigen Jahren existierte die Frauenmannschaft für ein paar Jahre schlichtweg nicht. Cedella Marley und die Bob Marley Foundation halfen, die Frauen-Nationalmannschaft zu finanzieren und das brachte Einiges wieder in Gang. Wenn sie nicht wären, wären wir nicht hier, deshalb bin ich sehr dankbar für ihre kontinuierliche Unterstützung. Jetzt spüren wir in Jamaika und im Rest der Welt eine enorme Unterstützung, vor allem nach der Qualifikation für die Weltmeisterschaft. Unsere beiden Siege gegen Chile im Februar und März waren fantastisch und wir haben dafür viel Support von unseren Fans bekommen. Unser Popularität in Jamaika ist in die Höhe geschnellt!

Können Sie die Spielphilosophie der Reggae Girlz kurz erläutern?

Wir sind für unsere Kreativität und harte Arbeit auf dem Platz bekannt. Die Zuschauer*innen können sich darauf gefasst machen, gut unterhalten zu werden, wenn wir spielen.

Welche Erwartungen haben Sie an die Weltmeisterschaft in Frankreich? Welche Chancen rechnen Sie sich für die Gruppenspiele aus?

Wir werden wohl als Underdogs wahrgenommen werden, da wir das Team mit der schlechtesten Weltranglistenplatzierung (Rang 53) im Turnier sind. Die Zuschauer*innen können von uns erwarten, dass wir mit dem Herzen spielen und als wäre jedes Spiel unser letztes. Das ist unsere Mentalität, und wenn wir uns daran halten, werden wir auch über die Gruppenphase hinauskommen.

Die Antworten in der englischen Originalfassung/ English original version

1. Stabaek FC won two titles in the Toppserien and have played in Champions league matches gaining a respectful name for themselves. We play physical and are a team with several talented young players mixed with some experienced players. We are rebuilding this year, so we haven’t been off to the best start, but I am optimistic that the second half of season will be much better!

2. I would say my role on the Jamaican national team and on Stabaek FC are similar. On both teams I am one of the more experienced players and my role is to help lead and encourage my younger teammates along with showing my strengths on the field and making a positive impact.

3. I’m the type of player that will take on opportunities that will help improve my game. Two out of three of the clubs I played for in the Bundesliga unfortunately ended up getting relegated. Playing in a top league has always been my priority, so I chose to move on. Although I had a very successful season in Israel and had the choice of extending my contract and also playing in champions league again, when an opportunity to play back in the Bundesliga was presented to me, I couldn’t pass that up. I had great experiences playing for some clubs and others I didn’t have the best experiences. I am not the type of player to settle if I know that the environment I’m in won’t help me be the best version of myself both on and off the field. Playing away from home comes with hardships and is a journey, but experiencing different cultures and playing styles has been essential to furthering my development as a professional footballer.

4. My new song, For The Love of The Game, focuses on overcoming adversity, striving toward your goals and remembering that though the fight for gender equality continues, women should also be proud of their accomplishments and their every day commitment to the game. It’s a female empowerment anthem and I decided to release it because the Women’s World Cup is coming up and it will help encourage and pump up female athletes around the world.

5. When I think of my memories playing in the Bundesliga I think about how much of a pleasure it was to play with such technical players. Every game was always competitive. When I moved to Germany I expected to be challenged both technically and tactically and improve as a footballer. I was extremely impressed with the quality of football there and it was a pleasure to play there for a few years.

6. I felt like it was time to start a new challenge in my football career. The option to play for Jamaica was presented to me at a special time. With the Women’s World Cup approaching, it’s the first time in history that Jamaica will be competing in this tournament and I feel like with my experience I can help strengthen the team if selected. When I was contacted by one of Team Jamaica’s coaching staff members about the possibility to represent Jamaica, I couldn’t pass up the opportunity. Inspiring and encouraging the younger generation is something I take pride in doing, so being one of the more experienced players on the squad allows me to give back in this way. In March I played my second international friendly for Jamaica and got my first start and assist against Chile. We won that game 3-2 and it was a great atmosphere to be in. Although I am new to the team, I am happy that it didn’t take long to develop a positive connection with my teammates and I am glad that I was able to help contribute to our win.

7./ 8.  The development of Jamaican football has came a long way. A few years ago the women’s team did not exist for quite some time. Cedella Marley and the Bob Marley Foundation helped fund the women’s national team program and get it running again. If it weren’t for them, we wouldn’t be here so I commend them for their continuous support for our team. Now there is tremendous support across Jamaica and the rest of the world especially after qualifying for the World Cup. Our two victories against Chile back in February and March were amazing and we had a lot of love and support from our fans. I must say in terms of popularity it has sky rocketed in Jamaica!

9. We are known for our creativity on the field and how hard we work. Expect to be entertained when you watch us play!

10. We are expected to be looked at as underdogs since we are the lowest ranked country in the tournament. The public eye can expect us to play with our hearts as if every game is our last game playing football. That’s the mentality we will have and if we stick with that, we will make it out of the group stages. 

Zur Person: Die Fragen stellte Endreas Müller, der zur Redaktion von 120Minuten gehört.

Foto: Sandro Halank/ Wikimedia Commons

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Hoch-professionelle Fußball-Romantik – revisited https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/ https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/#comments Fri, 27 May 2016 08:00:24 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2134 Weiterlesen]]> Liga 3 – ein Saisonrückblick

Vor dem Beginn der Drittligaspielzeit 2015/2016 gingen wir hier bei 120minuten der These auf den Grund, ob die 3. Liga interessanter und relevanter wäre denn je. Wir beleuchteten die dritthöchste deutsche Spielklasse hinsichtlich ihrer fußballerischen Qualität, schauten auf die wirtschaftliche Situation und ließen natürlich auch die Fan-Perspektive nicht zu kurz kommen. Inzwischen ist die letzte Minute gespielt, das letzte Tor geschossen und die letzte Entscheidung hinsichtlich des Aufstiegs in die 2. Bundesliga gefallen – Zeit also, Bilanz zu ziehen.

In unserer Retrospektive auf die 3. Liga 2015/2016 gibt Sebastian Kahl eine sportliche Einschätzung der Spielklasse ab; Endreas Müller interviewte sowohl Fedor Freytag, der “Drittliga-Urgestein” FC Rot-Weiß Erfurt die Daumen drückt als auch Eric Spannaus, dessen SG Dynamo Dresden die Liga souverän in Richtung 2. Bundesliga verließ. Alex Schnarr sprach mit Frank Rugullis, seines Zeichens Leiter des Online-Bereichs bei MDR Sachsen-Anhalt, über die 3. Liga aus Medien-Perspektive, während Christoph Wagner die Spielzeit und insbesondere das hervorragende Abschneiden des 1. FC Magdeburg aus dem fernen Paris verfolgte und zum Abschluss des Textes seine Eindrücke schildert. Ist die 3. Liga also der Ort hoch-professioneller Fußballromantik?

Autoren: Sebastian Kahl (yyfp.rocks), Endreas Müller (endreasmueller.blogspot.de), Christoph Wagner (anoldinternational.co.uk) und Alex Schnarr (nurderfcm.de)

Die 3. Liga als Zweieinhalbklassengesellschaft

Das Klassement der 3. Liga lässt sich heuer in zweieinhalb Gruppen einteilen: An der Spitze zog Dynamo Dresden einsame Kreise. Am dritten Spieltag übernahm die SGD die Tabellenführung und gab sie nicht mehr ab. Nebenbei brach die Mannschaft von Uwe Neuhaus den vereinsinternen Rekord für den besten Saisonstart, blieb die ersten zwölf Partien ungeschlagen. Dresden stellt zwei der treffsichersten Stürmer, den (auch historisch) besten Vorlagengeber und insgesamt die beste Offensive der Liga. Der Aufstieg schien bereits frühzeitig gebucht. Einzig vor Weihnachten durchlebten die Schwarz-Gelben eine Schwächephase (fünf Unentschieden in Folge), wirkten etwas überspielt. Vier Spieltage vor Schluss war die Rückkehr in die 2. Bundesliga auch rechnerisch durch. 

Hinter Dresden stritten sich sieben, acht Teams um den weiteren Aufstiegsrang, die Teilnahme an der Relegation und den Einzug in den DFB-Pokal. Erzgebirge Aue bastelte nach dem Abstieg aus Liga 2 2015 eine völlig neue Mannschaft, die am Ende die beste Defensive der Liga stellte. Das war auch nötig, denn mit im Schnitt nur knapp einem geschossenem Tor pro Partie waren die Veilchen auf der anderen Seite des Platzes eher harmlos. Interessant auch, dass keine Mannschaft weniger Spieler einsetzte als Aue (19, wie auch Münster). Den Titel als bestes Bollwerk der Liga hätten ihnen fast noch die Würzburger Kickers streitig gemacht. Die Aufsteiger arbeiteten sich dank ihrer soliden Abwehr still und heimlich bis auf den Relegationsplatz vor und konnte die Saison mit dem Aufstieg krönen – ein Durchmarsch von der Regionalliga in die 2. Bundesliga.

Einen ähnlichen Umschwung legte Sonnenhof Großaspach hin, die im Vorjahr noch auf Rang 15 landeten. Beide Teams profitieren vom ruhigem Umfeld. Anders die Situation bei den Westfalen: Sowohl der VfL Osnabrück als auch Preußen Münster hätten sich mit mehr Konsequenz von den Verfolgern absetzen können. Die Lila-Weißen tauschten bereits kurz nach Saisonbeginn den Trainer, die Schwarz-Weiß-Grünen zur Winterpause; lagen da auf Rang sechs. Mit dieser Platzierung wären die Verantwortlichen beim 1. FC Magdeburg bereits mehr als zufrieden gewesen – am Ende wurde es gar der vierte Platz. Für die Aufsteiger ging es eigentlich nur um den Klassenerhalt. In der Hinserie nahmen sie die Euphorie aus der gelungenen Qualifikation für Liga 3 mit, Torjäger Beck schloss nahtlos an (40% der Teamtore, höchste Abhängigkeit). Mit dem Frühlingsanfang und dem Erreichen der 45 Punkte-Marke ging den Magdeburgern etwas die Luft aus, sonst wäre nach oben möglicherweise sogar noch mehr drin gewesen. Fortuna Köln schließt die Gruppe derjenigen Mannschaften ab, die fast bis zum Schluss zu den Aufstiegs- bzw. Pokalaspiranten zählten. Sieben Remis sind Liga-Tiefstwert und Zeugnis der Hopp-oder-Topp-Spielweise. Die Südstädter waren vorne wie hinten immer für Tore gut.

Im Schatten der übermächtigen Dresdner wurde der Kampf um die vorderen Ränge zum Schneckenrennen. Die Teams auf den einstelligen Tabellenplätzen verabschiedeten sich erst spät. Ein Grund: Jedes Team (Ausnahme Großaspach) spielte eine Serie von mindestens fünf sieglosen Partien, selbst Dresden, Aue und Osnabrück. Das klare Saisonziel ‘Aufstieg’ hatten denn auch nur die Dresdner ausgegeben. Vielen Vereinen genügte es schon, nichts mit dem Abstiegskampf zu tun zu haben. Die Auswirkungen eines Absturzes in die Regionalliga wären desaströs. Dennoch plagten das Gros der Mannschaften im Laufe der Spielzeit akute Abstiegssorgen. Nur der VfB Stuttgart II schien bereits einige Wochen vor Saisonende wirklich abgehängt. Der Rest spielte ‘Reise nach Jerusalem’, bis es dann am letzten Spieltag noch dramatisch wurde. Am Ende erwischte es neben dem VfB II mit den Kickers den Rivalen in der eigenen Stadt, dazu musste Energie Cottbus den bitteren Gang in die vierte Liga antreten.

Bei Rot-Weiß Erfurt und dem Chemnitzer FC wirkte ein Trainerwechsel. Unter Krämer respektive Köhler gelang der Tabellenritt von der Abstiegszone in die obere Hälfte. Auch Hansa Rostock stabilisierte sich nach einem Wechsel an der Seitenlinie. Den vollzogen übrigens zehn der 20 Teams, Energie Cottbus und der Hallesche FC gleich doppelt. Die Lausitzer legten zwar die zweitbeste ungeschlagene Serie der Saison hin (13 Partien), kamen aufgrund der vielen Unentschieden aber nicht recht vom Fleck. Halle krankte im Frühjahr daran, dass ein halbes Dutzend Stammspieler im Sommer wechseln würde. Der letzte Biss fehlte. Holstein Kiel hielt wiederum an Karsten Neitzel fest, trotz des zwischenzeitlich letzten Tabellenplatzes. Und wurde für die Konstanz belohnt: die Störche landeten im gesicherten Mittelfeld. Der FSV Mainz II begeisterte in der Hinrunde mit tollem Offensivfußball, zahlte in der Rückrunde Lehrgeld. Wie auch der SV Werder Bremen II, ein Grund: Keine Mannschaft musste mehr Spieler einsetzen, 38! Die Stuttgarter Kickers trumpften zunächst durch ein gutes Winter-Transferfenster noch auf, kletterten in der Jahrestabelle ins oberste Drittel und konnten den Absturz ins Amateurlager dennoch nicht verhindern. Bei Wehen Wiesbaden war die Entwicklung durch die sieglosen Monate Februar und März gewissermaßen gegenläufig, erst am letzten Spieltag gelang der Klassenerhalt. Zweitliga-Absteiger VfR Aalen drohte zwischenzeitlich durch eine schlechte Rückrunde durchgereicht zu werden, landete dann aber einen Punkt über den ominösen Strich auf dem 15. Rang.

Die Zusammenfassung verdeutlicht – eine Saison in Liga 3 verläuft selten geradlinig. Die Mannschaften sind sehr eng beieinander und es kann sehr schnell in der Tabelle nach oben oder unten gehen. Zwischen der besten und schlechtesten Platzierung im Saisonverlauf lagen bei Drittligateams im Schnitt mehr als 12 Tabellenplätze. In 1. und 2. Bundesliga beträgt die Schwankung im Saisonverlauf lediglich etwa 8 Tabellenplätze (wobei natürlich auch die zwei zusätzlichen Startplätze in Liga 3 eine Rolle spielen).


Die 3. Liga in Zahlen

Glückwunsch an den FC Erzgebirge Aue zum Staffelsieg. Staffelsieg? Die Veilchen beendeten die Spielzeit 2015/16 doch acht Punkte hinter der SG Dynamo? Nicht in der Ost-Meisterschaft. Im direkten Vergleich der acht Mannschaften aus der ehemaligen DDR schnitten die Auer am besten ab, holten 27 aus 42 möglichen Punkten. So ein Tabellenfilter ist eine nette Spielerei, die Auer feiern wohl eher den Aufstieg. Es verdeutlicht aber auch eines der begleitenden Themen dieser Saison. Die 3. Liga wurde früh zur Ostalgie-Liga erklärt. Oder verklärt?

Die Städte Aue und Rostock trennen 500 Kilometer. Trotzdem werden die Teams häufig unter der Überschrift ‘Ostfußball’ subsummiert. Nach der Wende krankten viele Vereine an ähnlichen Symptomen, landeten durch anhaltende Misswirtschaft in der Bedeutungslosigkeit oder gar Insolvenz. Der 1. FC Magdeburg brauchte schließlich 25 Jahre, um im Profifußball anzukommen. Die Umstände und Hintergründe sind so zahlreich und vielfältig wie es eben Vereine im Osten gibt. Wichtig ist: Im Sommer 2015 waren acht Klubs aus der früheren DDR-Oberliga in einer gesamtdeutschen Spielklasse vereint, so viele wie nie. Und das sorgte für einen Zuschauerboom.

2.687.807 Fans besuchten die insgesamt 380 Partien, so viele wie nie. Mit Einführung der eingleisigen 3. Liga waren es im Schnitt 2,2 Millionen Stadionbesucher pro Spielzeit. Im Ligavergleich lagen die acht Ost-Vereine allesamt unter den Top-10. Nur Osnabrück (Platz 4) und Münster (8) mischten sich noch dazwischen. Dresden und Magdeburg waren mit ca. 27.500 respektive 18.500 die Zugpferde. Magdeburg würde sich sogar in der 2. Bundesliga noch auf Rang 10 einsortieren. Aber auch Rostock und Chemnitz verzeichneten einen enormen Anstieg. Liegt das nun an der höheren Fußballbegeisterung in der Region? Dresden und Aue profitierten vom Aufstiegsrennen. Magdeburg schwamm durchweg auf einer Welle der Euphorie. In Chemnitz dagegen passte sich der Fanzuspruch eher Mannschaftsleistung und Wetter an. Während der mageren Wintermonate verloren sich kaum 5.000 Himmelblaue auf den Rängen.

Was daran liegen, dass es meist auch möglich war, den Spielen gemütlich vom heimischen Sessel aus beizuwohnen – zumindest für Fans aus dem Sendegebiet des MDR. Während Anhänger des SV Wehen Wiesbaden ihre Elf lediglich zweimal im TV bewundern konnten, sahen die Dresdner ihre SGD bei fast jeder Partie. Das sind natürlich die Extrembeispiele. Allerdings tat sich der MDR im Vergleich mit anderen regionalen Sendeanstalten durchaus hervor, was die Übertragung der 3. Liga anging. Denn die Quote stimmte, was sowohl die Marktanteile als auch die Abrufzahlen bei den Livestreams belegen:

Abrufzahlen Livestreams

Bereits die Relegationsspiele des 1. FC Magdeburg verfolgten zu Spitzenzeiten 740.000 Zuschauer. Das entsprach knapp 23 Prozent Marktanteil. Werte, die Dresden in der laufenden Saison ebenfalls mehrmals erreichte oder noch übertraf. Die beste Quote brachten jeweils Ost-Duelle. Einzig die Ost-Teams profitierten davon nicht. Denn für die TV-Rechte erhalten die 20 Vereine der 3. Liga 12,8 Millionen Euro, insgesamt. Zum Vergleich: In ihrer letzten Saison in der 2. Liga kassierten die Auer rund 6 Millionen Euro, allein.

Dahin verabschieden sich die Erzgebirgler nun auch wieder. Da Dresden ebenfalls aufsteigt und Cottbus den bitteren Gang in die Regionalliga antreten muss, dürfte auch die Ostalgie-Liga Geschichte sein. Die inoffizielle Meisterschaft wird es wohl nicht auf den Auer Briefkopf schaffen.


Genauso wenig, wie vermutlich “Drittliga-Gründungsmitglied” beim FC Rot-Weiß Erfurt in der Kopfzeile stehen wird und das, obwohl die Mannschaft aus der Thüringer Landeshauptstadt nach dem Abstieg der Stuttgarter U23 inzwischen die einzige Mannschaft ist, die seit Bestehen der Liga durchgängig dabei ist. Endreas Müller sprach mit Fedor Freytag über die Saison der Rot-Weißen und die Perspektiven von Liga und Team:

Interview mit Fedor Freytag, Anhänger des FC Rot-Weiß Erfurt und Blogger auf Stellungsfehler.de

EM: Rot-Weiß Erfurt steckte in dieser Saison lange im Abstiegskampf. Inwiefern spiegelt der Tabellenstand in dieser Liga das wirkliche Leistungsvermögen der Mannschaften wider?

FF: Dynamo Dresden war die dominante Mannschaft der Liga. Dies bildet sich auch in der Tabelle ab. Deren Vorrunde war überragend, danach gab es einen Effekt, den die Statistiker Regression zum Mittelwert nennen. Würzburg und Aue stehen – jedenfalls für mich – überraschend da oben. Wobei sich die Kickers auf der Basis eines eingespielten Teams sehr smart verstärkt haben. Und Aue hat den Nachweis erbracht, dass auch eine völlig neu zusammengestellte Mannschaft eine stabile Saison auf hohem Niveau spielen kann. Für mich ist Dotchev ja der Antichrist, aber er hat da zweifellos einen großartigen Job gemacht.
Tja, was den Rest betrifft, empfiehlt sich ein Blick auf die Tabelle um den 30. Spieltag herum. Da existierte kein Mittelfeld mehr. So ab Platz 7 oder 8 drohte der Abstieg. Inzwischen hat sich die Tabelle auch nach unten ausdifferenziert, aber lange Zeit war sie ein Beleg für die These, dass ausgeglichene Etats einen ebensolchen Wettbewerb mit sich bringen.

EM: Rot-Weiß Erfurt ist eine Art Dauergast in Liga 3. Siehst Du einen weiteren dauerhaften Verbleib in der Liga als Erfolg oder muss der Blick nach oben gerichtet werden?

FF: Der Abstieg des VfB II steht fest. Damit sind wir der einzige Verein, der seit der Gründung der Liga durchgängig in ihr spielt. Nach dieser Saison ist das eindeutig ein Erfolg. Allerdings gab es schon Jahre, in denen wir oben mitgespielt haben. Damals war die Bewertung natürlich eine völlig andere. Für einen Verein wie RWE ist ein Aufstieg nicht planbar. Planbar sind nur kontinuierliche Verbesserungen in allen für den sportlichen Erfolg relevanten Bereichen. Die wiederum basieren auf einer Konsolidierung der finanziellen Situation. Ich erwarte keine Wunderdinge, wenn die neue Arena im Juli eröffnet wird. Aber eine schrittweise Verbesserung der Ertragslage muss damit zwingend einhergehen. Dies war ja auch das alles überragende Argument für den Komplettumbau des Stadions.

EM: Wo würdest Du RWE gern in fünf Jahren sehen?

FF: Natürlich würde ich den FC Rot-Weiß Erfurt gerne in der Fußballbundesliga sehen. Man muss Darmstadt nicht mögen, aber eine solche Cinderella-Story lässt jeden Fan eines chronisch absturzgefährdeten Drittligisten träumen. Sehr realistisch ist das selbstredend nicht, eben weil es so selten passiert. Quasi Jackpot. Für den Moment wäre ich schon froh, wenn es gelänge den Vertrag mit Stefan Krämer zu verlängern. Mal einen guten Trainer bei der kontinuierlichen Verbesserung einer Mannschaft zu erleben, das ist im Hinblick auf meinen Verein die exzentrischste Hoffnung, der ich mich hingebe.

Danke für das Gespräch!


Nicht in die Fußballbundesliga, dafür aber ins Unterhaus schaffte es die SG Dynamo Dresden in von Fedor Freytag schon angesprochener, vollkommen souveräner Manier. Klar, dass man als Anhänger der SGD mit der just abgeschlossenen Drittliga-Saison eigentlich nur zufrieden sein kann. Nun geht es in der kommenden Spielzeit unter anderem gegen den FC St. Pauli und die Roten Teufel vom Betzenberg. Über die Perspektiven der Mannschaft aus der sächsischen Landeshauptstadt, die abgelaufene Saison und die 2. Liga gibt Eric Spannaus im 120minuten-Interview Auskunft:

Interview mit Eric Spannaus, Buchautor und Anhänger der SG Dynamo Dresden

EM: Werden Dir die Ostduelle aus Liga 3 in der 2. Bundesliga fehlen und wenn ja, warum bzw. warum nicht?

ES: Prinzipiell fand ich die vielen Ostderbys in diesem Jahr sehr reizvoll und spannender als die in der kommenden Saison anstehenden Duelle gegen den SV Sandhausen oder den 1.FC Heidenheim. Die ostdeutschen Mannschaften und Fankurven stehen unter Strom und geben alles. Nicht umsonst haben wir unsere einzigen Niederlagen dieser Saison gegen Cottbus und Erfurt erlitten. Die nostalgieträchtige Ostmeisterschaft in Liga 3 ging nicht an Dynamo, sondern die für mich Überraschungsmannschaft der Saison, Erzgebirge Aue. 6 Mannschaften, welche Dynamo und Aue nicht in die 2. Bundesliga folgen werden, werden einzig durch Union Berlin aufgefangen. Auf die freue ich mich auch sehr, es verdeutlicht aber um so mehr, wie viel Nostalgie verloren gehen wird.
Doch sieht man mal von den feuchten Augen deswegen ab, haben Ostduelle auch Nebenseiten, auf die ich gern verzichten kann, wie zum Beispiel Rostock im Herbst 2014 und Magdeburg vor wenigen Wochen.

EM: In welche Spielklasse gehört Dynamo Dresden für dich langfristig?

ES: Wir Fans der SGD sind bekannt, schnell überschwänglich zu werden. Die einzig würdige Spielklasse ist zumindest die Champions League, weniger muss es nicht sein.
Doch mal ganz im Ernst, wir haben 2 Anläufe in der 2. Bundesliga genommen und sind zweimal mit Pauken und Trompeten gescheitert. Die langfristige Spielklasse sollte daher nicht ganz oben zu finden sein, sondern etwas realistischer in der 2. Bundesliga. Wichtige Spieler haben und werden vielleicht auch noch den Verein verlassen, ob Ralf Minge jedesmal mit seinen Verpflichtungen ins Schwarze trifft, ist nicht gewiss. Lass uns erstmal ankommen und mithalten können, nach oben dürfen Ziele immer gern verschoben werden.

EM: Was war deiner Meinung nach Dynamos Erfolgsgeheimnis, um sich in der relativ ausgeglichenen 3. Liga so absetzen zu können?

ES: Das ist wohl die einfachste Frage. Welche Schlagzeilen hat Dynamo diese Saison geschrieben? Wie viel außersportlicher Knatsch und innermannschaftliche Scharmützel haben die Gazetten beherrscht?

Danke für das Gespräch!


Glücksfall 3. Liga

Die Drittligasaison 2015/2016 war auch aus Medienperspektive interessant, was nicht zuletzt an der bereits mehrfach zitierten ‘Oberliga 2.0’ bzw. der ‘Ostmeisterschaft’ zwischen Dynamo Dresden, Erzgebirge Aue, dem 1. FC Magdeburg, dem Chemnitzer FC, Energie Cottbus, dem Halleschen FC, dem F.C. Hansa Rostock und dem FC Rot-Weiß Erfurt lag. Einen “besonderen Glücksfall” stellte die 3. Liga demzufolge für den Mitteldeutschen Rundfunk dar, wie Frank Rugullis, Leiter Online bei MDR Sachsen-Anhalt, im Gespräch mit 120minuten erläutert. Jener Glücksfall ergäbe sich dabei nicht nur aus dem Umstand, dass die so genannten ‘Ostclubs’ vom Potenzial her durchaus den Vergleich mit Bundesligisten nicht scheuen müssen, sondern auch aus einer für den MDR günstigen TV-Rechte-Lage in Liga 3. Während die ersten beiden Profiligen vollständig von Sportschau und Co. abgedeckt werden, ergibt sich für die regionalen Sender, je weiter man die Ligenpyramide nach unten schaut, ein größeres Maß an Gestaltungsfreiheit. Und dann hilft es natürlich, wenn man als MDR Sachsen-Anhalt zum Beispiel den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC und damit mindestens zwei spannende Derbys pro Saison direkt vor der Haustür hat.

Allerdings hängt der Medienerfolg der 3. Liga Rugullis zufolge nicht unbedingt ausschließlich an den Ostderbys, weil die Liga insgesamt ein unheimlich spannendes Format ist, wie ja u.a. auch die Ausführungen zu Beginn des Beitrags und die Einschätzung von Fedor Freytag belegen. Die Ausgeglichenheit der Liga sorgt dementsprechend für Spannung und Zuschauerinteresse, was natürlich auch der journalistischen Arbeit dienlich ist: Die 3. Liga halte einfach auch abseits von ‘Elb-Classico’ (Dynamo – FCM), ‘Sachsen-Anhalt-’ (FCM – HFC) und ‘Sachsen-Derby’ (Aue – CFC) jede Menge Geschichten bereit. Dabei ist die Frage, was im Zusammenhang mit der 3. Liga aus Medien-Perspektive eigentlich ‘Erfolg’ bedeutet, nicht mal eben in 2, 3 Sätzen zu beantworten; in Rugullis’ professionellem Kontext beschäftigen sich ganze Arbeitsgruppen mit dieser Thematik. Natürlich spielen ‘harte Faktoren’ wie Klickzahlen und Webseiten-Trackings eine (ziemlich große) Rolle; gleichzeitig schaut man beim MDR aber auch auf qualitative Kriterien wie die Wahrnehmung der eigenen Formate aus der Perspektive von Multiplikatoren und Fans, der Resonanz in den einschlägigen Fan-Foren oder darauf, welche Beiträge des MDR wo verlinkt werden.

Aus der Sicht von MDR Sachsen-Anhalt waren es im Online-Bereich vor allem die analytischen Texte über den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC, die – gemessen an Klickzahlen – die erfolgreichsten waren. Aktuelle Beispiele sind die Saisonbilanzen jener Vertreter aus Sachsen-Anhalt, die ähnlich häufig geklickt wurden wie nicht-sportbezogene Nachrichtenbeiträge, die auch überregional für einige Aufmerksamkeit sorgen. Das blau-weiße Lager wird es dabei sicher freuen, zu hören, dass sich laut Rugullis im Vergleich mit dem HFC doppelt so viele MDR-Sachsen-Anhalt-User für Berichte über den Aufsteiger aus der Landeshauptstadt interessiert hätten. Dazu trug nicht zuletzt selbstverständlich auch die für viele unerwartet gute Saison der Blau-Weißen bei, was insgesamt zu einer positiven Resonanz führte. Aus Medienperspektive ist die Formel also denkbar einfach: Erfolgreiche Vereine sorgen selbstverständlich auch für ein gesteigertes Interesse an entsprechender Berichterstattung – was gerade im Fall des 1. FC Magdeburg, aber auch des Halleschen FC in der Vergangenheit auch schon einmal ganz anders war.

Insofern ist die Bewertung einer Saison aus der Perspektive der über die entsprechenden Mannschaften berichtenden Medien letzten Endes doch abhängig vom Erfolg der Teams im Sendegebiet, zumal das Thema “Sport” für den MDR ein ganz zentrales ist. Anders ausgedrückt: Aus Senderperspektive kommt dem Duell “HFC-FCM” von der Priorität her nur eine geringfügig kleinere Bedeutung zu als der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016. Dementsprechend hoch ist auch der Aufwand, der seitens MDR Sachsen-Anhalt in Sachen “Fußballberichterstattung” betrieben wird, wobei Frank Rugullis Wert darauf legt, dass der überwiegende Teil der konzeptionellen Arbeit über die 3. Liga im MDR durch die Leipziger Kolleg*innen von “Sport im Osten” realisiert wird, und das überaus erfolgreich:

Aufgabe von MDR Sachsen-Anhalt ist es in diesem Zusammenhang, gerade bei den Begegnungen mit sachsen-anhaltinischer Beteiligung “genauer hinzuschauen, Inhalte zu liefern und auch mal Sachen auszuprobieren”. Und das erfolgt mit aus Fan-Perspektive schöner Regelmäßigkeit über die punktuelle Einbindung von Bloggern ebenso wie zum Beispiel über das Format “Fan-Ticker”, das zuletzt im Landespokalfinale zwischen dem HFC und dem FCM erfolgreich zum Einsatz kam. Keine Frage, dass die zumindest im MDR-Sendegebiet umfangreiche und durchaus innovative Berichterstattung die Liga für den geneigten Fußballfan noch einmal interessanter machte  – ebenso, wie sich der Erfolg der Liga sicherlich auch für die Berichterstatter*innen selbst nicht unbedingt negativ ausgewirkt haben dürfte.


Hoch-professionelle Fußball-Romantik?

Die 3. Liga als Ort hoch-professioneller Fußball-Romantik also? Für die Anhänger des 1. FC Magdeburg ganz sicher. Als Aufsteiger mit der klaren Maßgabe ‘Klassenerhalt’ in die Saison gestartet, stand am Ende der Spielzeit ein überragender 4. Tabellenplatz und damit die direkte DFB-Pokal-Qualifikation zu Buche. Wo aber soll man aus FCM-Perspektive beginnen bei einem Rückblick auf eine Saison, die man nur aus der Ferne mitbekommen hat? Aus der Ferne und auch nur durch die blau-weiße Brille? Sozusagen als Außenstehender? 120minuten-Autor Christoph Wagner mit einer Einschätzung:

“Neben der FCM-Brille könnte ich ja auch die Ostdeutsche Brille tragen, die mich aber nicht weiterbringt: was interessieren mich Halle oder Chemnitz, außer, dass der Club besagte Vereine doch hoffentlich schlägt? Oder die Stuttgarter Kickers? Preußen Münster? Wegen des ‘Tatort’? Die blau-weiße Brille passt am besten und so soll es sein.

Was war die Freude groß, als im Juni 2015 der FCM den Aufstieg in die 3. Liga perfekt machte nun endlich bei den Großen mitspielen durfte! Noch größer war es, als man schon Ende Juli die Saison im heimischen Heinz-Krügel-Stadion eröffnen durfte. Völlig aus dem Häuschen war man nach dem Auftaktsieg gegen Rot-Weiß Erfurt. Als kurz darauf auch noch Halle geschlagen wurde, glaubte man seinen Augen kaum: Der FCM stand ziemlich weit oben in der Tabelle. Und für 24 Stunden sogar ganz oben, nachdem Chemnitz geschlagen wurde. Dabei war es vollkommen egal, dass Chemnitz den besseren Ball gespielt hat; der FCM hat zweimal getroffen, hatte dabei das Glück auf seiner Seite und bewies auch eine gehörige Portion Cleverness. Sehr oft hatte man den Eindruck, dass der Club sehr darauf erpicht war, schnellstmöglich Punkte zu sammeln, ehe die Luft ausgehen könnte. Das Überraschende oder gar Schöne dabei war, dass eben jene Punktejagd zu Beginn der Saison der Mannschaft nun nicht unbedingt Flügel verlieh, aber doch die nötige Luft verschaffte, um auch bei Durststrecken zu überstehen, ohne in Schnappatmung zu verfallen, die zu unüberlegten Aktionen seitens des Clubs hätten führen können. Als Aufsteiger war klar, dass es hart werden würde.

Wie aber Club, Mannschaft und Fans auch die Löcher überstanden haben, zeigt den Zusammenhalt, der über die letzten vier Jahre gewachsen ist. So richtig wurde diese “Friede, Freude, Eierkuchen”-Stimmung getestet im Vorfeld des Hansa-Spiels, als klar wurde, dass von Clubseite eben nicht korrekt kommuniziert wurde. Dass man sich hinterher aussprach und das auch noch auf Augenhöhe tat, spricht für alle Beteiligten. Als langjähriger Stadiongänger war das für mich eine Herangehensweise, welche in den 90ern hin und wieder mal vonnöten gewesen wäre, um den Club in ruhigeren Wassern zu halten. Lektion gelernt.

Dass die Mannschaft lernfähig ist, zeigte sich in den letzten Wochen. Die Hinrunde war mitunter von unschönem Fußball geprägt. Klar, Magdeburg spielt einen sehr physischen Stil und wird sicher nie den schönsten Ball in irgendeiner Liga spielen. Dennoch kann auch das zumindest gut aussehen. Genau dies geschah in der Rückrunde und ging gleich in Halle los. Die wurden quasi auseinandergenommen und hatten über 90 Minuten keine Chance und obendrein wurden die Zuschauer aus dem eigenen Stadion geworfen. Da es sich um das Derby in Sachsen-Anhalt handelte, ist sicher davon auszugehen, dass eben dieser Faktor die nötigen spielerischen Fünkchen sprühen ließ. Sehr zur Freude meinerseits als Zuschauer des Livestreams in Paris. Der Höhepunkt waren wohl die 65 Minuten gegen Dresden, als Dynamo im HKS wenig bis gar kein Land sah und sich bis auf einige wenige Konter selten vor dem Magdeburger Tor sehen ließ.

Apropos Dynamo Dresden. Schaut man sich die Saison rückblickend an, so war von vornherein klar, dass Dresden aufsteigen würde, ja müsste. Alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen. Erst 2014 aus Liga 2 abgestiegen, waren die Elbflorenzer einfach eine Nummer zu groß für diese Liga und stellten von vornherein klar, wer Chef ist. In typischer Bayernmanier muss man sagen, dass dann doch schon 5 Spieltage vor Schluss der Aufstieg perfekt gemacht wurde. Egal, es war verdient. Gleichzeitig ist es schade, dass der FCM nun nicht mehr gegen Dynamo spielen wird in nächster Zukunft. Denn mit Fug und Recht kann man behaupten, dass diese Paarung wohl eine der geschichtsträchtigsten ist und auch von dem gewissen Etwas einer lang gewachsenen Rivalität lebt.

Vor der Saison sprachen viele von einer Neuauflage der DDR-Oberliga, weil mal eben 8 ehemalige Oberligisten mitmischten. Das ist natürlich Unsinn, es bleiben ja immer noch 12 andere Teams in der Liga und niemand käme auf die Idee, diese Liga ‘Westliga’ zu taufen. Auch hier gibt es einige interessante Vereine, bspw. Preußen Münster, Fortuna Köln und die Stuttgarter Kickers. Im Zusammenhang mit diesen Clubs spricht man gern von Traditionsvereinen. Nun ist das mit der Tradition so eine Sache und man kann sich dafür wenig kaufen. Das durfte der 1. FC Magdeburg zwischen 1990 und 2015 am eigenen Leib erfahren. Die Liga als Sammelbecken für, ja für was eigentlich? Für ostdeutsche Vereine, die es nach 25 Jahren Einheit in den Profifußball geschafft haben, bzw. dort ihr Eckchen gefunden haben oder auch nur auf Zwischenstopp sind.

Aufgrund der Dichte der sogenannten Ost-Derbies allerdings waren auch die Mahner auf dem Plan und wurden in den meisten Fällen eines besseren belehrt. Keine Gewaltorgien, keine Weltuntergangsszenarien. Auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Dennoch wurde es laut im positiven Sinne. Allein die Stimmung im Magdeburger Stadion war sagenhaft. War es zu Beginn der Saison nahezu ausschließlich der Block U, so sprang der Funke beim Spiel gegen Preußen Münster auf die ganze Bude über und für nahezu 30 Minuten war Fußball nichts weiter als eine Nebensache, weil die Massen sich und ihren Club feierten. Opium für das Volk. Auch auswärts machte Blau-Weiß gut etwas her. Man denke an das Halle-Spiel. Dass die Stimmung in den Stadien also mitunter herausragend war und wohl auch bleiben wird, ist auch als Fingerzeig in Richtung der ewigen Mahner und Nörgler zu verstehen, die Fußballfans allzu gern als permanent gewaltbereite Gruppe brandmarken und am liebsten wegschließen würden. In der Tat kann man den Spieß auch umdrehen und Medien und Polizei als Sündenböcke hinstellen. Egal, wie rum man es dreht, alle Beteiligten dürften sich in dieser Hinsicht einiges an Mitverantwortung ans Revers heften und sollten dies auch eingestehen. Nur so wird in Zukunft der Fußball – nicht nur in Liga 3 – ein positives Erlebnis bleiben, was ja sicher auch im Interesse aller Beteiligten ist.

Als Aufsteiger nicht nur für einige Überraschungen zu sorgen, sondern durchweg oben mitzuspielen, ist schon eine Leistung und zugebenermaßen war ich eben nicht überzeugt, dass genau das passieren würde. Umso schöner ist eben jene Rückschau auf diese Saison mit knappen Spielen, großen Siegen und einer Atmosphäre, die einige Bundesligisten spielend in die Tasche steckt. Gleichzeitig weckt so eine Saison auch gewisse Begehrlichkeiten und es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich alle von Liga 2 redeten, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Da aber der Club die Badelatschen nun endlich gegen Fußballschuhe getauscht hat, auch gegen vermeintlich leichte Gegner, kann man davon ausgehen, dass der eingeschlagene Weg beim FCM weiter Schritt für Schritt gegangen wird mit der richtigen Einstellung und, was noch viel wichtiger ist, den richtigen, weil realistischen Zielen vor Augen.”


Verdammt nah dran

Neue Spielstätten mit allen Vorzügen (und Nachteilen) moderner Stadionbauten, alte Arenen, deren Stehplatztraversen auf jedem Zentimeter Fußballgeschichte atmen, ein guter Mix aus kleinen Clubs, wenigen Bundesliga-Zweitvertretungen und etlichen traditionsreichen Vereinen mit großer und reisefreudiger Anhängerschaft, dazu ein Medienumfeld, in dem neben dem Bedienen der Entertainment-Bedürfnisse der Massen noch genug Raum für innovative Berichte, spannende Reportagen und experimentelle Formate bleibt, dazu überwiegend bezahlbare Live-Erlebnisse und eine sportliche Ausgeglichenheit, die die eigene Herzensmannschaft lediglich zwischen den Polen “Aufstiegsrennen” und “Abstiegskampf” oszillieren lässt – Fußballfan-Herz, was willst Du eigentlich mehr?

Aus Fan-Sicht kommt die 3. Liga der Vorstellung von Fußballromantik im Profibereich sicherlich (noch) verdammt nah – wenngleich man gut argumentieren könnte, dass die Vorzüge der Staffel gleichzeitig auch ihr größtes Problem sind: Die kontinuierliche Entwicklung aufstiegsfähiger Kader ist kaum möglich, weil die besten Spieler sich üblicherweise schnell in höhere Sphären verabschieden. Die mediale Abdeckung ist zwar ansprechend, bringt aber nicht genügend Erlöse, um wirklich nachhaltig wirtschaften zu können. Die infrastrukturellen Voraussetzungen sind hoch und stellen insbesondere kleinere Vereine immer wieder vor Herausforderungen. Und trotzdem: Die 3. Liga hat sich während ihres bisher achtjährigen Bestehens als ernst zu nehmendes Profiliga-Format etabliert, was allein schon an der Entwicklung der Zuschauerzahlen deutlich wird: Verfolgten 2008/2009 noch durchschnittlich 5.600 Personen die Saisonspiele live im Stadion, waren es 2015/2016 bereits knapp 7.100 Menschen im Schnitt, die ihren Teams vor Ort die Daumen drückten. Auch die TV-Präsenz nahm exponentiell zu, wie sich am Beispiel des MDR gut ablesen lässt:

Und auch wenn die ‘Ost-Meisterschaft’ erst einmal passé ist, kann man doch davon ausgehen, dass dieser Trend sich fortsetzen wird. Weil abseits von Hochglanzfußball, Millionentransfers und Pay-TV auch im deutschen Profifußball noch Platz für ein gutes Stück Romantik ist.

 

 

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei turus.net. Wir durften den weitreichenden Bilderfundus für die Bebilderung dieses Beitrags verwenden.

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https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/feed/ 3 2134
Hoch-professionelle Fußball-Romantik https://120minuten.github.io/hochprofessionelle-fussballromantik/ https://120minuten.github.io/hochprofessionelle-fussballromantik/#comments Wed, 22 Jul 2015 07:00:48 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1338 Weiterlesen]]> Die 3. Liga startet mit der Saison 2015/2016 in ihre nunmehr achte Spielzeit und scheint sich inzwischen als dritte deutsche Profiliga weitgehend etabliert zu haben. Erstmals seit ihrem Bestehen weist sie außerdem acht ehemalige DDR-Oberligisten aus, die 25 Jahre nach der Wiedervereinigung zum ersten Mal in einer Profiliga um Punkte kämpfen. Hinzu kommen Traditionsvereine wie der SC Preußen Münster oder der SC Fortuna Köln – man könnte also meinen, dass die 3. Liga 2015/2016 interessanter und relevanter ist denn je. Der Frage, ob dem wirklich so ist, versuchen wir im folgenden Beitrag auf den Grund zu gehen.

Autoren: Alexander Schnarr (nurderfcm.de), Fedor Freytag (stellungsfehler.de), Endreas Müller (endreasmueller.blogspot.de) und Uwe Busch (hansafans.de)

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“Sie [die 3. Liga, A.S.] ist hochprofessionell organisiert, bietet tollen Fußball, der mancherorts noch so ist wie in meiner Jugend. Die 3. Liga ist etwas für Fußballromantiker. Wer mit der Durchkommerzialisierung des Sports seine Probleme hat, wird sich in Drittligastadien sehr wohl fühlen. Die 3. Liga bietet eine sehr schöne Alternative zum Topprodukt Fußball, wie es die beiden höchsten Ligen in Deutschland anbieten.” – Steffen Simon

Liest man Steffen Simons Antworten im Interview zur 3. Liga mit DFB.de, könnte man fast meinen, Deutschlands dritthöchste Profispielklasse ist so etwas wie der DFB-seitige Gegenentwurf zur selbstkreierten Hyper-Kommerzialisierung: Nicht “Die Mannschaft” mit Coca-Cola-Fanclub, sondern guter Fußball und lauter Traditionsvereine machen den Reiz aus. Die Fernsehpräsenz steigt, die Anzahl attraktiver Spiele auch, aber ansonsten ist alles irgendwie ‘wie früher’, als noch der Sport im Mittelpunkt stand und man sich auf ein Bier und ein paar Lieder mit den Jungs und Mädels in der Kurve traf. Die 3. Liga also als gute Alternative zu Bayern, Schalke, Braunschweig und Lautern?

Die Beantwortung dieser und der eingangs gestellten Frage versuchen wir aus verschiedenen Blickwinkeln und mit einiger Drittliga-Expertise. Fedor Freytag begleitet auf seinem Blog stellungsfehler.de mit dem FC Rot-Weiß Erfurt eines der Gründungsmitglieder der Liga. Am 25. Juli 2008 bestritten die Erfurter das Premierenspiel des neuen Formats im heimischen Steigerwaldstadion gegen die SG Dynamo Dresden. Auch die anstehende Spielzeit wird die Mannschaft aus der Landeshauptstadt Thüringens eröffnen, wenn sie in der ersten Partie der neuen Spielzeit in einem von vielen so genannten Traditionsduellen beim Aufsteiger aus Magdeburg gastiert. Im ersten Abschnitt widmet sich Fedor Freytag der fußballerischen Qualität der Liga.

Endreas Müller hat sich für diesen Text vor allem mit der wirtschaftlichen Situation der Drittligavereine beschäftigt und schaut dabei sowohl auf Aussagen des DFB als auch auf die Wahrnehmung der Vereine selbst. In seinem Beitrag lässt er zudem Gunnar Schmid, der zum SV Wehen Wiesbaden bloggt, und Lars Töffling, Pressesprecher des FC Energie Cottbus, zu Wort kommen, die noch einmal einen besonderen Blick auf die Situation der Vereine in der 3. Liga werfen. Die kompletten Interviews sind am Ende des Textes zu finden.

Aus der Fan-Perspektive schaut Uwe Busch auf die dritthöchste deutsche Spielklasse. Er ist Redakteur bei hansafans.de und begleitet den FC Hansa Rostock auch auf seinem eigenen Blog. Die Duelle der ehemaligen Oberligisten machen auch für ihn den besonderen Reiz der neuen Spielzeit aus, wenngleich aus Fan-Sicht natürlich nicht zu verhehlen ist, dass sich der überwiegende Teil der Drittligaklubs dem eigenen Selbstverständnis nach lieber eine bis zwei Etagen weiter oben um Punkte duellieren wollen würde. Dass man es aber auch in Liga 3 einigermaßen aushalten kann, berichtet außerdem Eric Spannaus, Autor des Buches “111 Gründe, Dynamo Dresden zu lieben”, der für diesen Beitrag ebenfalls für ein kurzes Interview zur Verfügung stand.

Der Fußball in der 3. Liga: Form Follows Function

Jede Art von Wettbewerbsfußball ist spannend. Diese Binsenweisheit gilt in exponiertem Maße für die 3. Liga. Es gibt viele knappe, äußerst umkämpfte Spiele, deren Ausgang nicht selten an Kleinigkeiten hängt. Ein Grund dafür ist, dass die Unterschiede in der fußballerischen Leistungsstärke der Teams geringer ausgeprägt sind als in den oberen beiden Ligen. In Ermangelung anderer Quellen zur Untermauerung dieser These soll uns dabei ein Blick auf die aktuellen Zahlen von transfermarkt.de helfen: Selbst wenn man die Krösusse Bayern und Dortmund am oberen bzw. Darmstadt und Ingolstadt am unteren Ende der Marktwertskala weglässt, ergibt sich in der Bundesliga ein Verhältnis von ca. 1 zu 5 zwischen Wolfsburg (228 Millionen) und Köln (44 Millionen). In der 3. Liga liegen die akkumulierten Mannschaftwerte derzeit zwischen 6,5 Millionen (Wiesbaden) und 2,35 Millionen (Magdeburg), also bei einem Quotienten von etwa 2,7. Die durchschnittlichen Marktwerte pro Spieler umfassen mehrheitlich eine Spanne zwischen 150.000 und 230.000 Euro, mithin eine Differenz, die man innerhalb der Fehlertoleranz verorten kann. Angemerkt sei hier, dass natürlich niemand seriös beurteilen kann, ob ein Spieler einen „Marktwert“ von 180.000 oder 200.000 Euro hat. Trotzdem liefert die Schwarmintelligenz von Transfermarkt brauchbare Qualitätskorridore. Pointiert formuliert: Die Attraktivität der 3. Liga speist sich vorwiegend aus ihrer Chancengleichheit, weniger aus ihrer fußballerischen Brillanz.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der für die Beurteilung der spielerischen Qualität wichtig ist. Die meisten Mannschaften sind nach so gut wie jeder Saison einer großen Fluktuation unterworfen. Man trennt sich – wie in anderen Ligen – von Spielern, welche die Erwartungen nicht erfüllt haben. Viel gravierender jedoch ist, dass viele Mannschaften regelmäßig ihre Leistungsträger ersetzen müssen. Sie wandern – wer will es gerade jungen Spielern verdenken – zu Vereinen ab, die aussichtsreichere finanzielle und sportliche Angebote unterbreiten.

Das alles hat gravierende Auswirkungen auf den Fußball, der in der 3.Liga gespielt wird. Meiner Einschätzung nach agieren fast alle Mannschaften am Beginn einer Partie aus einer taktisch defensiven Grundhaltung heraus. Die Vermeidung eines Gegentores hat oberste Priorität. Der Ansatz scheint grundvernünftig, wenn auch darunter die Attraktivität vieler Spiele leidet. Das Kalkül ist offensichtlich. Da sich defensive Spielformen einfacher als offensive Spielformen optimieren lassen, und zwar unabhängig von der individuellen Qualität der Spieler, vertrauen viele Trainer den eingeübten Defensivmechanismen (ballorientiertes Verschieben, Pressing) mehr als der Offensivqualität ihres Kaders. Sie gehen davon aus, dass sich ihre Mannschaft schwer tut, gegen eine massierte Abwehr des Gegners einen Rückstand zu egalisieren, weshalb man besser gar nicht erst in diese Situation gerät. Spieler (oder gar ganze Offensiven), die verlässlich über so viel Durchschlagskraft verfügen, dass sie Torchancen in hinreichend großer Zahl kreieren, sind die Ausnahme. Hier wären – eine rein subjektive Auswahl – der Braunschweiger Angriff der Saison 2010/2011 mit Kumbela, Kruppke und Bellarabi zu nennen, ebenso ein überragender Fabian Klos in der vergangenen Saison, und natürlich ein Ausnahmetalent wie Hakan Çalhanoğlu aus der Karlsruher Aufstiegsmannschaft von 2013. Ob dieser defensiv grundierte Spielplan wirklich sinnvoll ist, darüber kann man sicher angeregt diskutieren. Gerade neuere statistische Erkenntnisse (und ihre sehr zielführende Umsetzung, etwa beim FC Midtjylland) setzen eher die alte Weisheit „Angriff ist die beste Verteidigung“ ins Recht.

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Die Spielsysteme der 3. Liga sind hochkonventionell. Es werden die Klassiker der Fußballmoderne 4-2-3-1 und 4-4-2 (mit Doppelsechs) bevorzugt. Allein die von Horst Steffen trainierten Stuttgarter Kickers spielten in der zurückliegenden Spielzeit durchgängig ein offensiv ausgerichtetes 4-3-3. Aber, wie gesagt, es dominieren die taktischen Standardformationen. Man täte den Trainern der 3.Liga unrecht, würde man ihnen diese taktische Langeweile anlasten. Die hohe Volatilität der Kader lässt für nerd-affine taktische Experimente wenig Spielraum. Die meisten Übungsleiter müssen eine auf mehreren Schlüsselpositionen veränderte Mannschaft innerhalb von vier Vorbereitungswochen wettbewerbstauglich formieren. Das gelingt erstaunlich häufig. Zum einen, weil fast alle Spieler (also auch die neuen) mit den genannten Standardspielsystemen vertraut sind. Zum anderen, weil die Trainer erstklassig ausgebildet sind (Fußballlehrer als Voraussetzung) und professionell agieren (können). Ein weiterer Grund für die Wahl konventioneller Grundformationen liegt in der Qualität der Spieler begründet. Ein System mit z.B. nur einem zentralen Mittelfeldspieler verlangt eine außerordentlich hohe Qualität auf dieser Position. Wenn ich keinen Akteur mit adäquaten Fähigkeiten im Kader habe, sollte ich von dieser Formation besser die Finger lassen.

Vermutlich wird nie ein Trainer aus der 3. Liga in einem Standardwerk zur Fußballtaktik von Jonathan Wilson auftauchen. Dafür fehlen einfach die Rahmenbedingungen. Kurze Vorbereitungszeiten, eine chronisch hohe Spielerfluktuation, die mangelnde individuelle Klasse des Kaders (verglichen mit der Bundesliga) und ein enormer, fast schon existenzieller Erfolgsdruck bieten wenig Anreiz für innovative taktische Feldversuche. Bei Misslingen droht der Absturz in das Prekariat der Regionalliga. Gefragt und erfolgreich sind Trainerpragmatiker jeden Typs und Alters. Die Kenntnis modernster Trainingsmethoden sind ebenso notwendig wie die Fähigkeit, begriffene Fußballtheorie mit den speziellen Bedingungen der 3. Liga in Einklang zu bringen. Trainer in der 3. Liga zu sein ist kein Traumjob. Zu den ligabedingten Problemen gesellt sich oft genug ein Umfeld, das – aus welchen Gründen auch immer und häufig ohne jede Substanz – riesige Erwartungen hat und diese offensiv einfordert. Das führt nicht selten zu personellen Diskontinuitäten, vulgo: Rausschmissen, und erschwert zusätzlich die sukzessive Verbesserung einer Mannschaft. Vereine, die ihren Trainern und Managern ein langfristiges, kontinuierliches Arbeiten ermöglichen, haben signifikante Wettbewerbsvorteile.

Wirtschaften in der 3. Liga: Ein Oxymoron?

Denkt man an die wirtschaftliche Situation der 3. Liga, erheben sich im Kopf zwei imaginäre Stimmen. Einerseits die des DFB, der seine 3. Liga als Erfolgsstory ankündigte und verkauft und weiterhin vom Premiumprodukt 3. Liga träumt. Andererseits der Kanon der Vereinsvertreter, die mal einzeln, mal konzertiert die prekäre wirtschaftliche Situation in der untersten Profiliga thematisieren – von einer “Geldverbrennungsliga” war bereits die Rede in der man “auf Dauer keine Überlebenschance” habe. Kurzum: “die dritte Liga wird ausgebeutet”. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.

Auf der einen Seite steht der DFB, der in erster Linie Markenpflege für “seine” Liga betreibt, die Vereine in die Pflicht nimmt bei der Etatplanung und lieber die sportlichen Aspekte in den Vordergrund stellt, als die Einnahmen/Ausgaben-Situation der Klubs öffentlich zu diskutieren. Auf der anderen Seite dann eben die Vereine, die auf die um ein Vielfaches höheren TV-Vermarktungseinnahmen der Bundesligen schielen und indirekt um eine Alimentierung von oben bitten.

Bleibt man bei den Fakten, haben beide Seiten Recht, aber auch wieder nicht. Die Einnahmen eines Zweitligisten sind im Schnitt dreimal so hoch wie die eines Drittligisten. Sich nach einem Aufstieg in Liga 2 zu etablieren, ist also mit einem erheblichen finanziellen Risiko verbunden. Andererseits war diese Lücke vor dem Start der eingleisigen 3. Liga größer und wirft man einen Blick nach oben, geht die Schere noch weiter auseinander – zwischen 1. und 2. Bundesliga unterscheiden sich die durchschnittlichen Einnahmen um den Faktor 5, zwischen 2. Bundesliga und Liga 3 beträgt der Faktor 3. Die Meinung des DFB dazu liest sich so:

“Der Abstand zwischen 3. Liga und 2. Bundesliga stellt sich somit in erster Linie nicht als ein Ertragsproblem der 3. Liga dar, sondern als ein Aufwandsproblem der 2. Bundesliga bzw. der Absteiger aus der 2. Bundesliga, welche häufig nicht in der Lage sind, fixe Kostenstrukturen (Betriebskosten Stadion, Mitarbeiter, Darlehen) an die reduzierten Erträge anzupassen und vorher für nicht ausreichend bzw. keinerlei Rücklagen gesorgt haben.” – Liga-Report 2013/2014, DFB (PDF)

Ein deutliches Statement in Richtung der Vereine. Seit Gründung von Liga 3 kamen Mannschaften immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten und das nicht nur aufgrund eines vorangegangenen Abstiegs aus der 2. Bundesliga. Kickers Emden beantragten trotz Klassenerhalt keine Drittliga-Lizenz für die Saison 09/10 – der Verein konnte die finanzielle Belastung des Stadionumbaus nicht stemmen. Die Stuttgarter Kickers kassierten 08/09 einen Punktabzug wegen Liquiditätsproblemen. 2010/11 beantragt TuS Koblenz keine Lizenz für die folgende Spielzeit. Rot-Weiss Ahlen musste in der gleichen Saison Insolvenz anmelden. Ebenfalls insolvent wird Alemannia Aachen 2012/2013. In der gleichen Saison erhalten die Offenbacher Kickers keine Lizenz, vermutlich aufgrund eines Formfehlers (Darmstadt darf daraufhin in Liga 3 bleiben, der Rest ist bekannt).

Ungezählt sind die vielen Auflagen, die der DFB den Klubs aufgrund von Nachlässigkeiten bei der Lizenzierung aufbrummt. In manch einem Verein ist es gar die Ausnahme, wenn man die Lizenz ohne Auflagen erhält. Die strengen Lizenzsierungsregeln, mit denen der DFB die Vereine genau durchleuchtet, bereiteten z.B. schon dem VfL Osnabrück oder Hansa Rostock Bauchschmerzen. In beiden Fällen verlangte der DFB eine Liquiditätsreserve von den klammen Klubs: die Rostocker mussten 2014 1,2 Mio. € organisieren, der VfL Osnabrück für die Lizenz 2015/16 900.000 €. Die strukturellen Zugangsvoraussetzungen für Liga 3 sind auch nicht ohne. Von jedem Drittligisten wird ein Stadion mit mindestens 10.000 Plätzen inkl. 2.000 Sitzplätzen gefordert. Keine Selbstverständlichkeit für einen potentiellen Aufsteiger aus der Regionalliga. Die Anforderungen der Lizenzierung sind hoch, aber die Probleme, die im Rahmen des Verfahrens in den Vereinen aufgedeckt werden, sind nicht selten hausgemacht: schlecht ausgehandelte Stadionnutzungsverträge oder überteuerte Kader können die Ausgaben auf Vereinsseite in die Höhe treiben.

“Das Lizenzierungsverfahren ist hilfreich, steckt Grenzen ab und begrenzt Risiken. Die Vorgaben sorgen für vernünftiges Wirtschaften.” – Lars Töffling, Pressesprecher FC Energie Cottbus

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung spricht für den DFB und seine Liga. Die durchschnittlichen Einnahmen der Vereine konnten zwischen 2008/2009 und 2013/2014 um 65 % erhöht werden.
Dynamo Dresden ist ein Beispiel für einen Verein, der nach dem Abstieg aus der 2. Bundesliga dennoch solide in der 3. Liga weiterwirtschaften konnte – einem internen Sparkurs und der ungebrochenen Unterstützung des Anhangs sei Dank. Andernorts sind Vereine auf das Engagement von Einzelpersonen oder größeren Sponsoren angewiesen:

“Ich weiß nicht, wie es bei anderen Vereinen funktioniert, aber beim SV Wehen Wiesbaden geht das nur, weil die Familie Hankammer mit ihrer Firma Brita das ermöglicht, das muss man klar sagen.” – Gunnar Schmid, stehblog.de

Auch bei den Zuschauern hat die 3. Liga seit ihrer Gründung deutlich zugelegt. In der abgelaufenen Saison waren es je Spiel im Schnitt mehr als 6.700 Zuschauer:
Europaweit verbucht nur die englische dritthöchste Spielklasse mehr Zuschauer als die 3. Liga. Danach kommt europaweit lange nichts. So positiv die Entwicklung ist – Umsatzzahlen und Zuschauerinteresse hängen in der 3. Liga, stärker als in 1. und 2. Bundesliga, von ihrer Zusammensetzung ab. Je mehr namhafte Vereine in Liga 3 antreten, umso besser – bei der Bewertung der Entwicklung sollte man diesen Faktor mit einbeziehen. Nur noch wenige Zweitvertretungen nehmen am Spielbetrieb teil, die Ingolstadts, Sandhausens und Heidenheims haben die 3. Liga hinter sich gelassen. Dennoch meint Lars Töffling, Pressesprecher von Energie Cottbus:

“Die 2. Liga hat nicht an Bedeutung verloren, sie ist attraktiv und stark, vermutlich die beste zweite Liga Europas. Aber die 3. Liga hat zugelegt in den vergangenen Jahren, die Aufmerksamkeit steigt. Durch die Ansammlung von professionell geführten Vereinen mit entsprechenden Stadien steigt die Anerkennung und die mediale Präsenz.” – Lars Töffling, Pressesprecher FC Energie Cottbus

Zusammenfassend und nüchtern betrachtet lehnt man sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man die 3. Liga aus wirtschaftlicher Sicht als Erfolg betrachtet, auch wenn der DFB noch immer keinen Namenssponsor gefunden hat und die Einnahmen, vor allem im Bereich der TV-Vermarktung, weit von denen in den DFL-Ligen entfernt sind. Das erfolgreiche Wirtschaften ist und bleibt für die Vereine ein Spagat. Seit der Gründung von Liga 3 lässt sich eine deutliche Verbesserung feststellen. Ein Blick nach unten in die Regional- und Oberligen zeigt, wie viel schwerer dort der Überlebenskampf ist. Der Blick nach links und rechts auf andere Sportarten in Deutschland macht deutlich, wie positiv die Entwicklung in Liga 3 ist: In Sachen Einnahmen ist die 3. Liga die drittstärkste in Deutschland – zwar deutlich hinter 1. und 2. Bundesliga, aber auch weit vor allen anderen professionellen Mannschaftssportligen.

Die 3. Liga aus der Fan-Perspektive: Ein Hauch der guten, alten Zeit

Wie man als Fan zur 3. Liga steht, hängt in weiten Teilen davon ab, aus welcher Richtung man sie betritt. So wird sich die (Vor)freude in Aue nach dem Abstieg naturgemäß eher in Grenzen halten, während jüngst in Magdeburg mit dem Aufstieg ein jahrelang gehegter Traum endlich Wirklichkeit wurde und grenzenlose Euphorie ausgelöst haben dürfte.

In Rostock wiederum sieht man die Situation mit gemischten Gefühlen. Da ist zunächst vor allem Erleichterung, in der letzten Saison noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen und haarscharf am Absturz in die Regionalliga oder womöglich noch tiefer vorbeigeschrammt zu sein. Andererseits gehört der Verein nach eigenem Anspruch und nicht zuletzt auch mit der vorhandenen Infrastruktur perspektivisch und langfristig zumindest in die 2. Liga, insofern kann die aktuelle Ligazugehörigkeit natürlich nicht zufriedenstellen und ist wirtschaftlich in gewisser Weise existenzbedrohend.

Und doch geht von der bevorstehenden Saison eine besondere Faszination aus, die schlicht und einfach aus der gemeinsamen Vergangenheit mehr als eines Drittels der Vereine dieser Liga resultiert. Immer wieder werden Stimmen laut, die in dieser 3. Liga die attraktivste seit Einführung dieser Spielklasse sehen. Diese Sichtweise basiert in erster Linie auf Erwartungen, die weniger das sportliche Geschehen auf dem Rasen betreffen, sondern vor allem den besonderen Reiz reflektieren, den die zahlreichen Aufeinandertreffen großer, jahrelang gewachsener ostdeutscher Fanszenen mit sich bringen.

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Tatsächlich geht Freunden authentischer Fankultur der „alten Schule“ beim Gedanken an das Wiedersehen mit „Freunden“, teilweise nach mehr als 25 Jahren das Herz auf, allein schon um der „guten alten Zeiten“ willen. Acht Vereine kreuzten mehr oder weniger regelmäßig in der DDR-Oberliga die Klingen, zwar unter anderen sportlichen Voraussetzungen auf dem Platz, aber auch damals schon mit heißen Duellen auf den Rängen und nicht nur da. Es ist die Erinnerung an eine Zeit, als der Besuch eines Fußballspiels noch weit vom heutigen familientauglichen Entertainmentevent mit Rundumversorgung und Animation war, eine Zeit, in der Stadionstimmung nicht anhand eines mit Klatschpappen erzeugten und Schallpegelmesser bestimmten Dezibelwertes definiert wurde.

So sind es – unabhängig von den Vereinsfarben – besonders Fans, die die Oberligazeiten noch selbst erlebt haben, die bei Ansetzungen wie Dynamo gegen Magdeburg oder Chemnitz gegen Aue glasige Augen bekommen. Aber auch jüngere Fangenerationen, die in der heutigen Zeit den Ton und das Bild der Kurve dominieren, sind inzwischen „heiß“ auf die Duelle mit den früheren Kontrahenten. Oft wird schon Wochen vor dem Spieltermin „mobil gemacht“, werden Nettigkeiten virtuell ausgetauscht, optische Visitenkarten im „Feindesland“ hinterlassen. Zu den Spielen werden besonders aufwändige Choreografien präsentiert, bei denen der Heimverein mitunter sogar die eine oder andere Rauchfahne großzügig übersieht und die auf dem Fuß folgende Strafzahlung stillschweigend akzeptiert.

Und so üben die Begegnungen ehemaliger DDR-Oberligisten meist eine starke Anziehungskraft aus, sorgen für gut gefüllte Stadiontribünen und volle Kassen. Ungeachtet der jeweiligen sportlichen Situation im Verein, jenseits von Tabellenständen, Aufstiegschancen oder Abstiegsgefahr sind das Spiele, deren Ergebnisse den Fans niemals egal sind. Natürlich wünscht sich ein Fußballfan in jedem Spiel einen Sieg seiner Mannschaft. Es gibt aber diese Spiele, da bedeutet der Sieg der eigenen Mannschaft noch ein bisschen mehr und hat über den sportlichen, rein statistischen (3 Punkte) auch noch den rational nicht greifbaren Wert des Triumphes über einen (im weitesten Sinne) Nachbarn.

Einen ganz pragmatischen Vorteil hat die zunehmende Veröstlichung der 3. Liga übrigens auch: Die Entfernungen bei den Auswärtsfahrten werden geringer. Das ist zum einen natürlich ein Kostenfaktor, aber auch die Zeitersparnis ist nicht von der Hand zu weisen, wenn anstelle halber Weltreisen aus Mecklenburg-Vorpommern nach Südbayern oder ins Saarland entspannte Kurzausflüge nach Magdeburg oder Halle auf dem Plan stehen. Freuen wir uns also auf zahlreiche Fankarawanen quer durch den Nordosten.

Wenn es darum geht, Fußball gewinnbringend zu vermarkten, schrecken DFL-Manager und Medien vor keinem Superlativ zurück, sei er auch noch so peinlich. Wer erinnert sich nicht an die „stärkste Liga aller Zeiten“, „beste zweite Liga der Welt“ oder „Liga der Weltmeister“? Nun sind viele Blicke auf die „attraktivste 3. Liga der Geschichte“ gerichtet, darunter durchaus mit etwas Wehmut auch aus höheren Spielklassen, wie mir kürzlich bei einem Fanturnier des 1. FC Union hinter vorgehaltener Hand bestätigt wurde: „Vielleicht sollten wir auch lieber absteigen.“

Ausblick: Die beste 3. Liga aller Zeiten?

Zurück auf Anfang. Die Frage, ob die 3. Liga relevanter bzw. interessanter ist denn je, lässt sich pauschal und in einem Satz ganz sicher nicht beantworten. Überhaupt sind solche Wertungen wohl ohnehin eher etwas für Marketing-Experten. Man kann aber in jedem Fall festhalten, dass die Zusammensetzung der Liga in der Saison 2015/2016 der Popularität der Spielklasse noch einmal einen gehörigen Schub verleihen wird. Und das nicht nur, weil rein statistisch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass mindestens eine Mannschaft aus den neuen Bundesländern in näherer Zukunft einen Aufsteiger in Liga 2 stellen könnte, wie auch Julius Lukas in einem Artikel für die ZEIT feststellt. Dass der Blick auf Liga 3 dennoch ein ambivalenter bleibt, ist nicht zuletzt ihrer Struktur und den bestehenden Rahmenbedingungen geschuldet: Zu deutlich ist das Spannungsfeld zwischen verbandsseitigen Anforderungen an Infrastruktur und Wirtschaftlichkeit, den Möglichkeiten der Vereine sowie Perspektiven und Ambitionen der in der Liga aktiven Spieler.

Aus der Sicht des DFB war und ist die 3. Liga sicher eine gute Idee, was nicht zuletzt auch ein Blick auf die Zuschauerzahlen und die Entwicklung der Umsätze zeigt. Eine so gute Idee übrigens, dass inzwischen sogar ein Verkauf der Übertragungsrechte an den Pay-TV-Sender Sky nach 2018 ins Gespräch gebracht wurde – von Vereinsvertretern allerdings, die eher den immer noch schwierigen wirtschaftlichen Balanceakt im Blick haben dürften. Wie es dann allerdings mit der von Steffen Simon eingangs beschworenen Fußballromantik bestellt ist, steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt.

Trotzdem: Derzeit ist der große Reiz der 3. Liga mit ihren traditionsreichen Namen und jeder Menge lebendiger Fußballgeschichte nicht von der Hand zu weisen. Hochprofessionelle Fußballromantik eben.

“Es gibt viele spannende Spiele, neben denen gegen die ostdeutschen Mannschaften unter anderem auch die gegen Osnabrück, Münster oder die Stuttgarter Kickers. Dynamo gegen Kickers gab es mal in der 1. Bundesliga, für mich nicht mehr vorstellbar. Das Schwelgen in Erinnerungen ist gut möglich, also warum nicht Liga 3?” – Eric Spannaus, ballsalat.de

Interviews – Vereins- und Fanstimmen aus Liga 3

Interview mit Lars Töffling, Pressesprecher FC Energie Cottbus
120minuten: Lässt es sich in Liga 3 nachhaltig wirtschaften? Kann ein Verein langfristig planen oder ist ein Aufstieg früher oder später Pflicht?

Lars Töffling: Angesichts der Ausgeglichenheit der Liga – finanziell und sportlich – lässt sich ein Aufstieg nur für sehr finanzstarke Vereine „planen“. Man lebt von der Hand in den Mund, nachhaltiges Wirtschaften ist schwierig. Schon allein wegen der Diskrepanz bei den TV-Geldern zwischen 2. und 3. Liga wollen viele Traditionsvereine so schnell wie möglich hoch in Liga 2.

120minuten: Hat die 2. Bundesliga in den letzten Jahren an Bedeutung verloren – in Anbetracht der Zusammensetzung und dem mit einem Aufstieg verbundenen finanziellen Kraftakt?

Lars Töffling: Die 2. Liga hat nicht an Bedeutung verloren, sie ist attraktiv und stark, vermutlich die beste zweite Liga Europas. Aber die 3. Liga hat zugelegt in den vergangenen Jahren, die Aufmerksamkeit steigt. Durch die Ansammlung von professionell geführten Vereinen mit entsprechenden Stadien steigt die Anerkennung und die mediale Präsenz. Auch der Zuschauerschnitt ist im weltweiten Vergleich dritter Ligen top.

120minuten: Ist das Lizenzsierungsverfahren für Drittligisten Segen oder Fluch? Behindern die Vorgaben des DFB bei der Planung oder zwingen sie zum umsichtigen Wirtschaften?

Lars Töffling: Das Lizenzierungsverfahren ist hilfreich, steckt Grenzen ab und begrenzt Risiken. Die Vorgaben sorgen für vernünftiges Wirtschaften.

120minuten: Welchen Einfluss hat die Zusammensetzung der Liga auf ihre Relevanz? Ist die Konstellation für Energie Cottbus in der kommenden Saison besonders interessant?

Lars Töffling: Die Zusammensetzung der Liga spielt natürlich eine Rolle. Zweite Mannschaften von Bundesligisten bringen selten Fans mit und locken weniger eigene Anhänger ins Stadion als Traditionsclubs. Natürlich steigt die Spannung in der neuen Saison dadurch, dass acht Mannschaften aus dem Osten in der 3. Liga spielen.

Herr Töffling, vielen Dank für diese interessanten Einblicke!

Drei Fragen an Eric Spannaus (ballsalat.de | Dynamo Dresden)
120minuten: Kannst du dir vorstellen, dass Dynamo langfristig in Liga 3 spielt? Oder ist der Verein eigentlich eine Nummer zu groß dafür?

Eric Spannaus: Als Verein sollte man immer danach streben, so hochklassig wie möglich zu spielen. Ob Dynamo zu groß für Liga 3 ist, beantworten unsere Jahre in der 2.Bundesliga. Das wir dafür dauerhaft noch zu klein sind, haben wir inzwischen bereits zweimal bewiesen. Das lange Verweilen auf Abstiegsplätzen mag spannend für andere sein, für uns unruhige Fans in Dresden ist es Gift. Unser Verein stellt Pläne auf, die Jahr für Jahr neu ausgerichtet werden. Oft verheddern wir uns dabei. Vereine wir Braunschweig oder Freiburg, die ihren Trainer arbeiten lassen, auch wenn es Tiefschläge gibt, haben uns da definitiv etwas voraus. Von da her sind wir aktuell noch nicht zu groß für Liga 3.

120minuten: Lieber gegen Rostock und Magdeburg in Liga 3 oder gegen Sandhausen und den FSV Frankfurt in Liga 2?

Eric Spannaus: Da unser Stadion fast immer voll ist, ist es eigentlich egal, welcher Verein zu Gast ist. Schöner wäre es natürlich, wenn die Spiele gegen andere Ostmannschaften in der 2.Bundesliga stattfinden würden. Wird aber wohl leider nicht so schnell werden.

120minuten: Hat für dich die 3. Liga in den letzten Jahren an Attraktivität gewonnen im Vergleich zur Aufstiegssaison 10/11?

Eric Spannaus: Ich sehe sie im Gegensatz zu 2010/11 nicht mehr als “Durchgangsstation” auf unserem nicht zu verhinderndem Weg nach ganz oben. Von daher ist sie schon attraktiver. Man kann es hier aushalten und bekommt als Fan auf legalem Weg Bilder der Partien wenn man mal nicht im Stadion war und kein Sky besitzt. Unser Verein hat sogar einen Gewinn erwirtschaften können. Es gibt viele spannende Spiele, neben denen gegen die ostdeutschen Mannschaften unter anderem auch die gegen Osnabrück, Münster oder die Stuttgarter Kickers. Dynamo gegen Kickers gab es mal in der 1.Bundesliga, für mich nicht mehr vorstellbar. Das Schwelgen in Erinnerungen ist gut möglich, also warum nicht Liga 3?

Vielen Dank, Eric! Hier geht es zu seinem Blog.

Drei Fragen an Gunnar Schmid (stehblog.de | SV Wehen Wiesbaden)
120minuten: Jubeln nur Anhänger der ostdeutschen Vereine über die Zusammensetzung der 3. Liga oder empfindest auch du die in Liga 3 versammelten Teams interessanter denn je?

Gunnar Schmid: Magdeburg und Würzburg sind auf alle Fälle interessante Aufsteiger, aber ansonsten ist die Zusammensetzung nicht unbedingt mein Traumszenario. Aus Wehener Sicht wären mehr Vereine aus der Nähe natürlich schön, beispielsweise Darmstadt, Offenbach, FSV Frankfurt oder meinetwegen Sandhausen, und auch generell war die Liga letztes Jahr mit Bielefeld und Duisburg meinem Empfinden nach etwas attraktiver. Durch die vielen ostdeutschen Vereine befürchte ich, dass die ohnehin ja eher dürftige TV-Berichterstattung über die 3. Liga sich jede Woche auf die jeweiligen “Derbys” konzentrieren wird. Andererseits wirkt das Teilnehmerfeld noch ausgeglichener als sonst, was vermutlich für große Spannung an beiden Enden der Tabelle sorgen wird.

120minuten: In einem Blogbeitrag hast du den Bundesligafaktor des SVWW errechnet. Das Ergebnis: Wiesbaden gehört als Fußballstandort in Liga 2. Teilst du diese Meinung?

Gunnar Schmid: Der Bundesligafaktor war ja ursprünglich ein eher satirischer Beitrag des SC-Paderborn-Blogs “Schwarz und Blau” zur Diskussion um Traditionsvereine versus vermeintlich traditionslose Klubs. Da ein wesentlicher Teil der “Formel” die Einwohnerzahl ist, war es eine nette Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass Wiesbaden trotz seiner Größe noch nie in der 1. Liga vertreten war. Um die eigentliche Frage zu beantworten: Für keinen Verein gibt es, weder aufgrund von Einwohnerzahl, Historie oder anderen Faktoren, einen natürlichen Anspruch auf eine bestimmte Ligenzugehörigkeit. Klar, “gefühlt” gehört meinetwegen der 1. FC Kaiserslautern in die 1. Liga oder Alemannia Aachen in die 2., aber das einzige was letztlich zählt, ist der sportliche Wettbewerb (das Thema Lizenzierung mal außen vor gelassen). Ich persönlich kann mit dem SVWW auch in der 3. Liga gut leben, aber gegen einen Aufstieg würde ich mich nicht wehren.

120minuten: Der SVWW ist seit 2009/10 durchgängig in Liga 3 vertreten. Seit ihr damit das beste Beispiel, dass man in Liga 3 auf Dauer überleben kann, anders als euer ehemaliger Geschäftsführer Wolfgang Gräf 2012 prophezeihte?

Gunnar Schmid: Nein. Ich weiß nicht, wie es bei anderen Vereinen funktioniert, aber beim SVWW geht das nur, weil die Familie Hankammer mit ihrer Firma Brita das ermöglicht, das muss man klar sagen. Möglicherweise gibt es in ein paar Jahren mehr TV-Geld, falls tatsächlich Sky die Übertragungsrechte erwerben sollte (wie gerade gerüchtet wird), aber mindestens bis dahin werden die meisten Drittligisten auf einen Aufstieg hoffen müssen, um dauerhaft ihren Spielbetrieb finanzieren zu können.

Vielen Dank, Gunnar! Hier geht es zu seinem Blog.

Beitragsbilder: Wir bedanken uns bei den Kollegen von turus.net für die Fotos zu diesem Beitrag und empfehlen gern auch die großartigen Hintergrundberichte und Bilder (auch, aber bei weitem nicht nur) zur 3. Liga im dortigen “Fußball & Fankultur Magazin”!

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https://120minuten.github.io/hochprofessionelle-fussballromantik/feed/ 2 1338
Fernab der Champions League https://120minuten.github.io/fernab-der-champions-league/ https://120minuten.github.io/fernab-der-champions-league/#respond Sun, 15 Jun 2014 03:24:00 +0000 https://120minuten.github.io/?p=23 Weiterlesen]]> Ortsbesuch beim FC Brasov. Die Schwergewichte des europäischen Fußballs sind für den kleinen Verein aus Siebenbürgen, der ums Überleben in der 1. rumänischen Liga kämpft, unerreichbar – das war nicht immer so. Ein Blick in die Vergangenheit und Gegenwart des Vereins erzählt viel über den Status Quo des rumänischen Fußballs.

Autor: Endreas Müller, endreasmueller.blogspot.com

Es ist kurz nach Mitternacht. Von Deutschland nach Brasov, in die mehr als 250.000 Einwohnern acht größte Stadt Rumäniens zu kommen, ist gar nicht so einfach. Am Flughafen in Sibiu wartet ein Fahrer auf unsere Reisegruppe. Er fährt uns die letzten 140 km unserer Reise. Der Vollmond hängt über den Karpaten. Wer möchte, darf an dieser Stelle einen Dracula-Scherz einfügen. Schon aus mehr als 20 km Entfernung sieht man ein Leuchten in den Bergen. Je näher wir unserem Ziel kommen, desto größer wird es. In Hollywood-Manier prangen die Buchstaben “B R A S O V” über der Stadt. In der Vergangenheit stand an gleicher Stelle in großen Lettern “Stalin” – ein Name, den die Stadt schnell wieder ablegte. Heute ist Brasov ein Ort, der mit seiner historischen Altstadt und den Wintersportmöglichkeiten viele Touristen anzieht.

Als ich am nächsten Tag dem Taxifahrer sage, wo ich hin will, lese ich etwas Ratlosigkeit in seinem Gesicht. Das Stadion des FC Brasov, des größten Fußballklubs der Stadt, kennt er, aber die Geschäftsstelle? Dabei stellt sich auf der Fahrt heraus, dass er sich auskennt mit dem Fußball in Brasov. Er erzählt mir sogleich von den Heldentaten des Vereins im Europapokal, insbesondere vom Aufeinandertreffen mit Espanyol Barcelona in den 60ern. Drei Spiele hätten die Katalanen gebraucht, um den kleinen FC Brasov zu besiegen. Wir verlassen die Innenstadt und nähern uns einem riesigen Industriegebiet, in dem die Geschäftsstelle liegen soll – ganz in der Nähe des Nutzfahrzeugherstellers Roman, der, zu Ceauşescus Zeiten wie heute, Geldgeber des Vereins ist.

Geldgeber ist ein gutes (bzw. schlechtes) Stichwort im rumänischen Fußball. Einzelne Mäzene haben meist die Kontrolle über die Klubs. Je nach Wetterlage wird Geld investiert oder eben nicht. Vereine wie der CFR Cluj oder Unirea Urziceni erschienen innerhalb kürzester Zeit auf der Bildfläche, sammelten Titel und sorgten sogar in der Champions League für Schlagzeilen, um kurz darauf wieder in der Versenkung zu verschwinden. Der Fall von Unirea, bei dem der Verein sang- und klanglos aufgelöst wurde, nachdem man sich an ihm bereichert hatte, ging sogar durch die deutsche Presse.

In Brasov ticken die Uhren ein bisschen anders. Ioan Neculaie, dem auch die Roman-Werke gehören, ist seit 1998 Besitzer des Vereins. Nachdem man 1997 aus der ersten Liga abgestiegen war, schaffte der Verein am Ende der Saison 98/99 den Aufstieg und landete 2001 sogar auf Platz 3 der Abschlusstabelle. Von 2005-2008 war Brasov nochmals zweitklassig und kann sich seit der Saison 2008/09 in der Liga 1, der höchsten rumänischen Spielklasse behaupten. Meine Gesprächspartner werden mir den Verein als typischen Fahrstuhlklub vorstellen. In der Saison 2010/11 versuchte Brasov es ausnahmsweise mit ausländischen Trainern. Zunächst wurde Ende Juni 2010 Guiseppe Materazzi, Vater von Marco Materazzi, als neuer Übungsleiter vorgestellt. Der erfahrene Trainer überwarf sich jedoch innerhalb von wenigen Tagen mit Vereinseigner Neculaie und legte sein Amt schon am 1. Juli wieder nieder. Im Laufe der Saison wurde der Portugiese António Conceição als Trainer verpflichtet, konnte sich aber, wieder aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Neculaie, nicht bis zum Saisonende auf dem Trainerstuhl halten. In den letzten 3 Jahren wurden mehr als 10 Trainer verschlissen. Ansonsten gibt man sich bescheiden in Brasov und leistet sich nur wenige Schlagzeilen.

Selbst der Taxifahrer muss sich jetzt durchfragen. Vor einem unscheinbaren Flachbau hält er an. Über der Eingangstür prangt das Vereinslogo. Drinnen erwartet mich eine kleine Hall of Fame mit großformatigen Mannschaftsfotos vergangener Zeiten und einem kleinen Trophäenschrank. Trotz Vorbereitung auf das Gespräch kenne ich keinen aktuellen oder ehemaligen Spieler aus Brasov genauer. Wenn man nach bekannten Spielerpersönlichkeiten fahndet, muss man schon etwas suchen – in der jüngeren Vergangenheit ließ z.B. der langjährige rumänische Nationaltorhüter Bogdan Stelea hier seine Karriere ausklingen. Aus der Bundesliga könnte Ionel Ganea dem ein oder anderen ein Begriff sein – er spielte in den frühen 90ern lange vor seiner Zeit beim VfB Stuttgart in Brasov.

Ilie Vâju, Pressesprecher des Vereins, erwartet mich. Bei ihm ist ein unscheinbarer älterer Herr um die siebzig. Es ist Csaba Györffi, ehemaliger Spieler, der eingeladen wurde, um aus dem Nähkästchen zu plaudern. Györffi war einer der prägenden Spieler der 60er und 70er. Als Flügelspieler konnte er mit seiner Geschwindigkeit fast jeden Verteidiger in Bedrängnis bringen. Einmal, so erzählt er mir, trat er gegen den nationalen 100 m-Champion an und konnte ihn zumindest über die Distanz von 60 m in Schach halten. Eine Leistung, die man Györffi, wenn man ihn heute vor sich sieht, schwerlich zutraut – ein älterer, gemütlich wirkender Herr, leger gekleidet mit Basecap.

Geboren 1946 in Cristuru Secuiesc (Siebenbürgen). Györffi kam im Alter von 20 Jahren zum FC Brasov und blieb dem Verein viele Jahre treu. In seinen fast 300 Spielen für den FC Brasov erzielte er 46 Treffer, 37 davon in der ersten rumänischen Liga. Im Europapokal lief er siebenmal für Brasov auf und wurde mehrmals in die Nationalmannschaft berufen. Nach dem Ende seiner Karriere blieb er dem Klub verbunden, u.a. als Trainer, und ist heute Ehrenbürger der Stadt Brasov.

Csaba Györffi:  Geboren 1946 in Cristuru Secuiesc (Siebenbürgen).
Györffi kam im Alter von 20 Jahren zum FC Brasov und blieb dem Verein viele Jahre treu. In seinen fast 300 Spielen für den FC Brasov erzielte er 46 Treffer, 37 davon in der ersten rumänischen Liga.
Im Europapokal lief er siebenmal für Brasov auf und wurde mehrmals in die Nationalmannschaft berufen.
Nach dem Ende seiner Karriere blieb er dem Klub verbunden, u.a. als Trainer, und ist heute Ehrenbürger der Stadt Brasov.

Der FC Brasov gehört von jeher zu den kleineren Vereinen im Land. Die Titel in Rumänien werden meist in Bukarest gewonnen. Steaua oder Dinamo teilten sich in der Vergangenheit meist die Titel, in den letzten Jahren konnten andere Teams, wie oben beschrieben, in diese Phalanx einbrechen, aber ohne dauerhaften Erfolg. Momentan ist Steaua Bukarest nach einigen bescheidenen Jahren wieder der unangefochtene Klassenprimus.

Beim FC Brasov kann man dennoch auf eine lange Geschichte im Oberhaus des rumänischen Fußballs und einige Achtungserfolge zurückblicken – mit wenigen Unterbrechungen spielt der Verein aus Siebenbürgen in der ersten rumänischen Liga. Als erster rumänischer Verein überhaupt konnte man einen Europapokal gewinnen – allerdings den hierzulande eher unbekannten Balkan-Pokal, dessen erste Auflage man 1961 für sich entscheiden konnte. In der Vorsaison war man in Brasov dem nationalen Titel mit der Vizemeisterschaft so nah wie nie zuvor und nie wieder danach gekommen – und das, obwohl der Verein erst Mitte der 50er-Jahre in die erste rumänische Liga aufstieg. Diese und kommende Erfolge waren der Verdienst des vielleicht einflussreichsten Trainers in Brasov, dessen Name das Stadion des Vereins viele Jahre trug – Silviu Ploeșteanu. Er prägte über fast 20 Jahre den Verein.

Csaba Györffi kommt 1966 zum Team. Zu dieser Zeit spielte man unter der Bezeichnung “Steagul Roșu Brașov” was übersetzt so viel wie “rotes Banner” heißt und der damaligen Bezeichnung des Trägerbetriebs (heute Roman) entsprach. Im Betrieb selbst mussten sich die Fußballer fast nie blicken lassen, oder besser gesagt – sie durften nicht. Die Spieler waren zwar offiziell beim Verein angestellt um ihren Amateurstatus zu wahren, mussten aber in der Praxis keine Arbeit neben dem Fußball leisten. Selbst die Lohntüte durften sich die Spieler nicht in der Fabrik abholen, erzählt Györffi. Die Werksleiter befürchteten zu große Ablenkung durch die Fußballspieler.

Alfredo Di Stéfano, 1959 [Public domain], via Wikimedia Commons

Alfredo Di Stéfano, 1959
[Public domain], via Wikimedia Commons

Eines seiner ersten Spiele für den neuen Verein soll gleich eines seiner größten werden. Im Achtelfinale des Messepokals wartete Espanyol Barcelona als Gegner. Im Kader der Katalanen standen auch zwei altgediente Stars, die zuvor bei Real Madrid und beim CF Barcelona spielten – László Kubala und Alfredo Di Stéfano. Györffi versichert mir immer wieder, dass er keine Angst vor großen Namen hatte. Er, und die ganze Mannschaft, waren immer nur auf das Geschehen auf dem Platz konzentriert. Trotz eines Tores von Györffi ließ sich eine 1:3-Niederlage im Hinspiel in Barcelona nicht vermeiden. Im Rückspiel gelang dem Roten Banner jedoch ein kleines Wunder – in Brasov besiegte man die Katalanen mit 4:2. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine Auswärtstorregel gab, hatte Brasov mit diesem Ergebnis ein Entscheidungsspiel erzwungen.

In beiden Spielen stand der fast 40-jährige Di Stéfano noch auf dem Platz, war aber schon eine Art Spielertrainer und wenn man den Überlieferungen von damals glaubt, dann hätte er Györffi am liebsten gleich mit nach Spanien genommen. Die Verhältnisse in Rumänien hätten einen solchen Wechsel jedoch niemals zugelassen. Ein Transfer ins Ausland kam für einen rumänischen Fußballer aus politischen Gründen nicht in Frage. Und so traf Györffi nur noch einmal auf die Spieler von Espanyol Barcelona – im Entscheidungsspiel. Das hätte eigentlich in Brasov stattfinden sollen, aber man trat das Heimrecht aus wirtschaftlichen Gründen an Espanyol ab. In Spanien schied man knapp mit einer 0:1-Niederlage aus. Vielleicht wäre es anders ausgegangen, hätte man in Brasov gespielt.

wacklige Aufnahmen vom Brasover Sieg im Rückspiel gegen Espanyol Barcelona

Das gelbe Trikot

Zwei Jahre später war Györffi an einer Veränderung im Verein beteiligt, die noch heute für jeden gut sichtbar ist. Die damit verbundene Anekdote scheint einer seiner Lieblinge zu sein. Ein Lächeln huscht immer wieder über sein Gesicht, als er mir davon erzählt.

Györffi war Teil der Olympiaauswahl, die 1967 zwei Spiele in Südamerika bestreiten sollte. Im ersten Spiel ging es gegen Peñarol Montevideo – eines der damaligen Schwergewichte im südamerikanischen Fußball. Die Mannschaft aus der Hauptstadt Uruguays konnte in den 60ern 3 Mal die Copa Libertadores für sich entscheiden. Das Spiel gegen die Rumänen verlor man jedoch. Mit 1:2 musste man sich geschlagen geben. Alberto Spencer, einer der prägenden Spieler des Teams und bis heute einer der größten Fußballer, den Ecuador hervorgebracht hat, überreichte Györffi nach dem Spiel sein Trikot mit der Nummer 10. Zunächst hielt er es für einen Scherz, freute sich dafür später umso mehr über seinen Schatz.

Nicht nur diese Geste zeigte es – die Urus waren von den Rumänen beeindruckt. Eigentlich sollte das zweite Spiel in Rio stattfinden, aber der Agent, der die Länderspielreise organisierte, witterte ein gutes Geschäft. Das Spiel in Rio wurde kurzerhand abgesagt und ein Match gegen die Nationalmannschaft Uruguays angesetzt. Und wieder konnten die Rumänen nicht bezwungen werden – 1:1 trennte man sich und jeder der Spieler erhielt eine Prämie von 200 US Dollar. So viel Geld hatte noch keiner von ihnen in Händen gehalten.

Aus Südamerika zurück, präsentierte Györffi sein Mitbringsel Team und Trainer und alle waren fasziniert von dem Trikot, das ihm der ecuadorianische Spielmacher gegeben hatte. Trainer Ploeșteanu griff sich das Leibchen. Györffi sollte es nie wieder sehen. Ploeșteanu hatte einen Plan – er wollte, dass seine Mannschaft fortan in den gleichen schwarz-gelben Trikots wie Peñarol auflief. Schwarz-gelb, das in Europa zu diesem Zeitpunkt nur von Borussia Dortmund getragen wurde, sollte die blau-weißen Trikots ablösen. Ploeșteanu versprach sich mehr Aufmerksamkeit von den neuen Farben, sowohl auf als auch neben dem Platz. Die Mannschaft war einverstanden und so konnte Ploeșteanu seinen Plan in die Tat umsetzen. Noch heute sind die Farben des Vereins schwarz und gelb.

Transferversuche

Györffi in jungen Jahren im Trikot mit den Initialen des roten Banners.

Györffi in jungen Jahren im Trikot
mit den Initialen des roten Banners.

Die Anekdote zeigt natürlich auch, wie viel Einfluss Ploeșteanu auf den Verein hatte. Gleiches galt für den nationalen Fußball. Und dort war es auch bitter nötig, um den kleinen FC Brasov konkurrenzfähig zu halten. Regelmäßig wurden die besten Spieler zu den Klubs nach Bukarest delegiert. In solchen Situationen, hatte Ploeșteanu bspw. die Chuzpe, die Transfersumme eigenmächtig in die Höhe zu schrauben, um so als Ausgleich den ein oder anderen Jugendspieler mehr zu bekommen. Auch Csaba Györffi sollte mehrmals zu Steaua nach Bukarest wechseln. Mehrmals, weil der Klub 3 Mal versuchte, ihn zu verpflichten und jedes Mal scheiterte. In Brasov war Györffi ein Star. In Bukarest wäre er nur einer unter vielen gewesen. Heute denkt er, dass es aus fußballerischer Sicht besser gewesen wäre zu wechseln, aber die große Stadt schreckte ihn ab – zu viel Trubel für einen wie ihn.

Ein Versuch Györffi nach Bukarest zu lotsen, wäre dennoch fast erfolgreich gewesen. Man hatte ihn bereits auf den LKW, der ihn in die Hauptstadt bringen sollte verfrachtet, als es sich Györffi kurzerhand anders überlegte und vom LKW sprang. Diese Geschichte hatte erstaunlicherweise keine Konsequenzen. Trotz all dieser Freiheiten stand der Sport natürlich unter großem Einfluss der Funktionäre und der Politik. Nicht von ungefähr wurden die besten Spieler zu Steaua, dem Klub der Armee und zu Dinamo, dem Gunstverein der Securitate, des Geheimdienstes, gelotst. Und auch bei den Auslandsreisen wachten Geheimdienstler über die Fußballer.

Mir versichern Györffi und Vâju dennoch immer wieder, dass die Spieler, die Möglichkeit hatten, bei ihren Wechseln mit zu bestimmen. Die Funktionäre konnten zwar die Klubs zur Abgabe von Spielern zwingen, nicht jedoch die Spieler, wenn sie hartnäckig genug waren und sich bereits einen Namen gemacht hatten. Mehrmals kam es vor, dass diese sich einem Wechsel widersetzten oder nach kurzer Zeit zum alten Verein zurückkehrten. Grund dafür soll auch die große Zahl an Talenten im ganzen Land gewesen sein. Der Verband installierte ein flächendeckendes Scoutingsystem und setzte auf gezielte Jugendförderung.

Nachwuchsarbeit heute

Dinge, die heute nicht mehr selbstverständlich sind und an denen der rumänische Fußball krankt. Dieser Meinung sind nicht nur die Verantwortlichen in Brasov. So basierten die Erfolge des CFR Cluj u.a. auch auf einem funktionierenden Scouting – allerdings auf europäischer Ebene. Der Verein verstärkte sich sinnvoll mit vielen ausländischen Spielern und konnte sich so für einige Jahre die Vormachtstellung in Rumänien sichern. Andernorts regiert oft das Prinzip Trial and Error – Transfers aus dem Ausland schlagen selten ein. Bei Steaua ging dies so weit, dass der Vereinsmäzen Gigi Becali, dessen zwielichtige Machenschaften ein dickes Buch füllen könnten, verkündete, in Zukunft keine ausländischen Spieler mehr zu verpflichten.

Auf den Nachwuchs konnte man in Bukarest jedoch nicht setzen. Denn die Jugendarbeit bei Rumäniens größtem Klub ist ein Paradebeispiel für die Verhältnisse im Land. Zusammen mit der Champions League qualifizierte man sich 2013/14 auch für die UEFA Youth League und das eigene Jugendteam musste sich mit Chelsea, Schalke und dem FC Basel messen. Die Verantwortlichen bei Steaua hatten Angst, sich mit ihrer Jugendmannschaft auf europäischer Bühne zu blamieren. Selbst der U19-Trainer sprach offen davon, “Peinlichkeiten zu vermeiden”. Deshalb verstärkte man die U19 gleich mit sechs Spielern des landesweit besten Nachwuchsteams – mit überschaubarem Erfolg. Steaua ist kein Einzelfall: die Einsätze junger Talente in der ersten rumänischen Liga lassen sich an einer Hand abzählen. Bei Steaua setzt Gigi Becali deshalb auf die Verpflichtung gestandener rumänischer Spieler und hat damit Erfolg, der wiederum seinen Preis hat. Viele der Spieler könnten ihr Geld auch im Ausland verdienen, um sie nach Bukarest zu locken werden überdurchschnittlich hohe Gehälter gezahlt. Ein Modell, das kurzfristig Erfolg bringt und bei dem die Nachhaltigkeit auf der Strecke bleibt.

Letzte Sternstunde

Von Champions League und Millionengehältern ist man in Brasov weit entfernt. Das letzte Spiel auf internationaler Ebene bestritt man in der Saison 2001/02. In der ersten Runde des UEFA-Pokals watschte Inter Mailand Brasov 2 Mal mit 3:0 ab. An der letzten Sternstunde im Europapokal war Csaba Györffi noch selbst beteiligt. In der ersten Runde des UEFA-Pokals in der Saison 74/75 wartete Besiktas Istanbul, dass das Hinspiel mit 2:0 für sich entscheiden konnte. Im Rückspiel in Brasov versuchte Besiktas den komfortablen Vorsprung mittels Mauertaktik über die Zeit zu bringen. Die Rumänen rannten an und erspielten sich eine ganze Reihe von Chancen – allein ein Tor wollte nicht fallen – bis zur 87. Minute. Mit 3 Treffern in 3 Minuten drehte das rote Banner das Spiel in letzter Minute. Ein Triumph, an den man sich noch heute gern erinnert.

In Runde 2 musste man sich dem Hamburger SV stellen. Von 5 Pfostentreffern im Hinspiel in Hamburg und von Kuno Klötzer, dem HSV-Trainer, der nach dem Spiel sagte, dass die Rumänen das Zeug zum Weiterkommen hätten, erzählt mir Györffi. Zu Buche stand dennoch ein 0:8. Ein Sieg, der den Hamburgern zu Kopf stieg, denn nur wenige Tage später kassierte man in Eppingen die historische Niederlage im DFB-Pokal. Die Spieler aus Brasov wollten sich im Rückspiel anständig von der europäischen Bühne verabschieden. 15.000 Zuschauer pilgerten trotz der aussichtslosen Lage ins Stadion und sahen eine knappe Niederlage – 1:2 hieß es am Ende.

Csaba Györffi vor einem alten Mannschaftsfoto - in den 60ern feierte das Team unter Trainer Silviu Ploeșteanu seine größten Erfolge

Csaba Györffi vor einem alten Mannschaftsfoto – in den 60ern
feierte das Team unter Trainer Silviu Ploeșteanu seine größten Erfolge

Fucked Up

An die alten Zeiten denken Györffi und auch Vâju gern zurück. Fragt man sie nach dem Fußball der Gegenwart gibt es nicht viel Gutes zu hören. Früher habe er wegen der Freude am Spiel auf dem Platz gestanden – heute geht es nur noch um Geld, meint Györffi. Und auch der heutige Fußball gefällt ihm nicht mehr. Vâju greift zu drastischeren Formulierungen, heute sei man “fucked up”. Seiner Meinung nach wurde der rumänische Fußball um Jahrzehnte zurückgeworfen. In sozialistischen Zeiten gab es die bereits erwähnte landesweite Talentförderung – heute ist man anderen Ländern weit hinterher. Hinzu komme die veraltete oder fehlende Infrastruktur, viele Vereine spielen noch in Stadien aus Zeiten des Kommunismus. Und insgesamt ist man im Fußball weniger professionell aufgestellt – die 2. rumänische Liga der 80er sei besser als die Liga 1 heute.

Polemik, die nicht von ungefähr kommt. Steaua z.B. mischte in der 2. Hälfte der 80er-Jahre unter den Topklubs Europas mit und erreichte 2 Mal das Endspiel im Pokal der Landesmeister – 1986 konnte man sich den Titel im Finale gegen Barcelona sichern. Von 1990-1998 konnte sich die letzte herausragende Generation rumänischer Spieler um Georghe Hagi 3 Mal in Folge für eine WM qualifizieren und erlebte mit dem Viertelfinaleinzug in den USA 1994 ihren Höhepunkt. Der rumänische Fußball konnte in den 90ern noch von den Vorzügen der ehemals zentralen Jugendförderung zehren. Auch heute gibt es im rumänischen Fußball noch eine Vielzahl von talentierten Spielern, bestätigt mir ein weiterer Gesprächspartner. Ich treffe ihn zufällig, warte gerade auf ein Taxi, das mich vom Hotel wieder zum Flughafen bringt. Es scheint irgendein Missverständnis zwischen Taxifahrer und Hotel zu geben. Ich verwickle den Fahrer in ein Gespräch und er erzählt, dass er selbst mal Profi gewesen sei, nun aber nur noch Futsal spiele. Eine Knieverletzung hätte ihn zum Aufhören gezwungen. Sein Name, sagt er, tut nichts zur Sache. Er wurde in Rumänien ausgebildet und spielte in jungen Jahren bei schwedischen und italienischen Zweitligisten. Die Trainingsbedingungen in Schweden waren nicht mit denen in seiner Jugend vergleichbar. In Rumänien habe es einen Trainer gegeben, der sich um alles kümmern musste – in Schweden hatte er sechs. In seiner Jugend, so erzählt er mir, wurde zwar die Physis, nicht aber die Psyche geschult. Auf den Druck, der auf einem Profifußballer lastet, hat ihn niemand vorbereitet. Jetzt ist er 29 und kickt nur noch zum Vergnügen. Die veraltete Infrastruktur sieht auch er als großes Problem. Die, wenn man deutscher Berichterstattung glauben darf, um sich greifende Korruption im Fußball, ist zwar problematisch, aber nicht flächendeckend.

Mäßiges Zuschauerinteresse. Zu den Ligaspielen, wie hier gegen den FC Vaslui, verirren sich regelmäßig nur ein paar hundert Zuschauer ins kleine Stadion des FC Brasov.

Mäßiges Zuschauerinteresse. Zu den Ligaspielen, wie
hier gegen den FC Vaslui, verirren sich regelmäßig nur ein
paar hundert Zuschauer ins kleine Stadion des FC Brasov.

Aus allen Aussagen meiner Gesprächspartner höre ich heraus: Der rumänische Fußball könnte mehr leisten, wenn professionelle Strukturen geschaffen werden. Zumindest Csaba Györffi sollte wissen, wovon er redet: seit seiner Karriere als Spieler ist er dem Verein verbunden und hat so ziemlich jedes Amt bekleidet: er war Fahrer, Vizepräsident, Koch, Interims- und Jugendtrainer. Der FC Brasov kämpfte in der abgelaufenen Saison mit einem nach deutschem Maßstab besseren Drittliga-Kader gegen den Abstieg – ohne das große Geld, ohne große Spieler und mit überschaubarem Erfolg. Damit steht man in der nationalen Liga 1 nicht alleine da. Mit 38 Punkten landete Brasov auf dem 15. Platz und muss wohl den Gang in Liga 2 antreten – zum rettenden Ufer hätte ein Pünktchen gefehlt.

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