a Luca Schepers – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Fri, 27 Sep 2019 11:47:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Buchbesprechung: Miro https://120minuten.github.io/buchbesprechung-miro/ https://120minuten.github.io/buchbesprechung-miro/#respond Fri, 27 Sep 2019 12:00:42 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6542 Weiterlesen]]> Das Gefühl, im Himmel zu stehen

von Luca Schepers (Pretty Little Movies)

Das Verhältnis eines Fußballfans zu seinem Verein und seinen Lieblingsspielern ist ein sehr diffuses und im Grunde genommen auch kaum zu erklärendes. Das macht das angemessene Schreiben über Fußball auch so schwierig, da man sich als Fan immer in einem Zwiespalt zwischen Analyse und Emotion befindet. Ronald Reng gelingt es in seinem neuen Buch „Miro“, in welchem er die Geschichte der eigentümlichen Karriere des Miroslav Klose erzählt, ein weiteres Mal, eine sprachliche Verbindung dieser beiden Pole des Fan-Daseins zu finden. Dabei begreift er das Phänomen „Miro“ als eine Mischung aus tatsächlicher fußballerischer Qualität und dem Gefühl, einen besonderen Menschen vor sich zu haben. Das wohl offensichtlichste Symbol ist der Salto, den Klose nach besonderen Toren zu vollführen pflegte und der in seiner formvollendeten und beruhigenden Schönheit bei gleichzeitiger technischen Perfektion die Stimmung, welche diese Biographie durchzieht, sehr gut abbildet.

Reng erzählt Kloses Geschichte chronologisch, von der Kindheit über den ewigen Traum, einmal auf dem Betzenberg zu spielen, bis hin zum WM-Finale 2014 und seiner heutigen Tätigkeit als Jugend-Trainer. Seine Erzählung ist klar strukturiert und sehr detailreich. Immer wieder kommen alte Weggefährten und vor allem Klose selbst zu Wort. Die vielen kleinen Geschichten, unter anderem der sehr genau beschriebene Wechsel zu Bayern München im Jahr 2007 oder auch die lang anhaltende Freundschaft mit Luca Toni, mit dem man nach der Lektüre des Buches gerne mal essen gehen würde, sind amüsant, interessant und schön erzählt.
Allerdings wird hier, ebenso wie im ebenfalls sehr tollen „Spieltage: Die andere Geschichte der Bundesliga“ (2013), nicht nur die Geschichte eines Menschen erzählt, sondern es ist vor allem eine Erzählung eines großen Umbruchs in der Fußballgeschichte, an dessen Wendepunkt Klose mit 20 Jahren aus der Bezirksliga in die Bundesliga kam. War dies Anfang der 2000er noch möglich, so ist dies heute vollkommen undenkbar. Dabei wirken sowohl Klose als auch Reng nicht wehmütig, wenngleich sie ihre Begeisterung für Olaf Marschall nicht verleugnen können, sondern eher fasziniert von dem Wandel, den der Fußball in den letzten zwei Jahrzehnten durchlaufen hat.

Das Großartige an diesem Buch ist, dass es gelingt, vom Kleinen auf das Große zu schließen, ohne das Kleine als reinen Funktionsträger zu betrachten. Man merkt Reng die Sympathie für seine Protagonisten an, dem man sich nach der Lektüre des Buches auch nur schwer entziehen kann. Miroslav Klose schaut so reflektiert und ruhig auf seiner Karriere zurück und erscheint als ein sehr höflicher und freundlicher Mensch. Dass es gelingt, seine Geschichte so analytisch klar und gleichzeitig von einer ganz eigenen Form der Poesie geprägt, zu erzählen, ist sowohl sprachlich als auch literarisch bemerkenswert.

„Miro“ ist daher in vielerlei Hinsicht ein sehr bemerkenswertes Buch und sollte nicht unter dem Label eines „guten Fußballbuches“ abgetan werden. Viel mehr findet sich hier, wie auch im restlichen Schaffen von Reng, ein sehr vielseitiges Werk, welches von einem tiefen Verständnis für Geschichte und deren Vermittlung geprägt ist. Und am Ende ist es auch die Geschichte eines Jungen, mit dem man selbst auf der Straße gespielt haben könnte. Die Zeit dieser Geschichten dürfte im Fußball wohl größtenteils vorbei sein. Aber das Gefühl, das einen beim Lesen dieser Biographie überkommt und das nicht nur aus Wehmut besteht, zeigt doch, dass Ronald Reng sich hier dem Kern dieses schönen Spiels angenähert hat.

Infos zum Buch
Ronald Reng: Miro. 448 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-492-05953-4, Preis: 22,00 Euro

Das Buch ist bei Piper erschienen und über den Online-Versand zu beziehen.

Uns wurde freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

]]>
https://120minuten.github.io/buchbesprechung-miro/feed/ 0 6542
Der FC Bayern München und die Strategie der Kulturschule https://120minuten.github.io/der-fc-bayern-muenchen-und-die-strategie-der-kulturschule/ https://120minuten.github.io/der-fc-bayern-muenchen-und-die-strategie-der-kulturschule/#comments Mon, 16 Oct 2017 07:00:04 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3705 Weiterlesen]]> Der FC Bayern München ist unbestreitbar der größte und wichtigste Fußballclub in Deutschland. Doch nicht nur seine großen sportlichen Erfolge machen ihn zu einem hochinteressanten Verein, sondern auch seine hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Der Umsatz der ausgegliederten Aktiengesellschaft lag im Geschäftsjahr 2014/2015 bei 523,7 Millionen Euro. In diesem Text möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern der Erfolg und vor allem die dafür verantwortliche Strategiebildung sich mit dem Konzept der Kulturschule nach Henry Mintzberg erklären lassen.

Autor: Luca Schepers, prettylittlemovies.blogspot.de

Die Kulturschule

In seinem Buch „Strategy Safari“ beschäftigt sich der kanadische Wirtschaftswissenschaftler Henry Mintzberg gemeinsam mit seinen Kollegen Bruce Ahlstrand und Joseph Lampel mit verschiedenen Möglichkeiten eines Unternehmens, seine Strategie zu wählen. Er teilt diese Möglichkeiten u.a. in die Lernschule, die Positionierungsschule oder eben die Kulturschule ein. Schauen wir uns zunächst die wichtigsten Eigenschaften der Kulturschule an, deren Grundsatz es ist, die Entwicklung einer Strategie als kollektiven Prozess zu begreifen.

Mintzberg und seine Kollegen[1] verstehen Kultur als eine Eigenschaft, die die Art und Weise einer Personengruppe, Handlungen auszuführen, einzigartig macht und ihr einen Wiedererkennungswert verleiht. Dabei kommt eine wichtige Dichotomie der Kultur zum Tragen: Sie durchdringt jede Faser einer Organisation und bleibt dennoch immer einzigartig. Bezogen auf die Welt des Fußballs wäre “Kultur” in diesem Verständnis also gewissermaßen das Lebensgefühl, das die Fans in der Kurve, aber auch die Mitarbeitenden auf der Geschäftsstelle mit ihrem Verein verbinden und das Sponsoren mit ihren Marken assoziiert sehen möchten. Mintzberg beschreibt weiterhin, dass die Kultur die „Lebenskraft der Organisation“[2] sei (oder das, “was uns zusammenschweißt”[3]), deren Beschaffenheit der eines menschlichen Körpers mit verschiedenen Organen ähneln würde. Allerdings ist sich die Organisation selbst kaum bewusst, dass sie so funktioniert. ‘Kultur’ läuft also eher unter der Oberfläche ab[4]. Mintzberg stellt im weiteren Verlauf fünf wichtige Prämissen der Kulturschule dar:

Als erstes geht es dabei darum, dass die Entwicklung einer Strategie als hochgradig interaktiver Prozess verstanden wird, der seinen Ursprung im gemeinsamen Wertesystem der Mitglieder hat. Im (Profi-)Fußball werden diese Werte von Vereinen in der Regel explizit benannt und/oder in einem andauernden Prozess zwischen Verein und Fans diskutiert und weiterentwickelt[5]. Dieses gemeinsame Wertesystem eignen sich die Individuen unbewusst an[6] – bezogen auf den Fußball also ganz im Sinne von Nick Hornby und seinem berühmten Zitat, dass man sich seinen Verein nicht aussucht, sondern dass das in der Regel genau umgekehrt läuft. Als dritte Prämisse wird aufgeführt, dass die Individuen diese Überzeugungen nur schwer beschreiben können. Daraus ergibt sich die Tatsache, dass Strategie nicht als bestimmte Position verstanden wird, sondern als Perspektive, durch die Überzeugungen des Unternehmens (bzw. hier: des Clubs) bewahrt werden. Als letzte Prämisse wird dargestellt, dass die Kultur eher den Status Quo befördert und nur marginale Änderungen zulässt[7].

Weiterhin zählt die Kulturschule zu den sogenannten „deskriptiven“ Strategieschulen. Diese versuchen nicht eine einzige richtige Strategie darzustellen, sondern zu verdeutlichen, wie Strategien entwickelt werden. Die Betonung liegt eher auf schwer messbaren Faktoren, wie z.B. der emotionalen Bindung an das Unternehmen (oder eben den Verein) und dem zielgerichteten Einsatz selbiger.

Das ständige Betonen der eigenen Überzeugungen fördert prinzipiell den langfristigen Erfolg. Problematisch kann dies jedoch werden, sobald Veränderungen kommen müssen, da sich die starken Überzeugungen nur schwierig ändern lassen. Das (Fußball-)Unternehmen fusioniert mit seiner Kultur: „Ein Unternehmen ist eine Kultur“[8]. Daraus leitet sich dann der nächste Punkt ab, nämlich, dass Flexibilität ein Teil der eigenen Identität werden muss und bestehende Überzeugungen hinterfragt werden müssen. Außerdem wird um die Kultur herum ein Netz aufgebaut, das u.a. Strategie, Belegschaft usw. enthält. Als letzten Punkt stellen die Autoren dann fest, dass es z.B. bei Unternehmensfusionen zu einem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen kommt und dies zu Problemen führen kann[9]. Bezieht man diese Aussage z.B. auf den Amateurfußball, wird deutlich, was hier gemeint ist: Wie viele wirtschaftlich und sportlich sinnvolle Vereinsfusionen sind schon daran gescheitert, dass die Mitglieder von Club A “auf gar keinen Fall mit denen da” zusammen gehen wollten, weil “die da” eben so ganz anders sind als man selbst?

Als eine der entscheidenden Feststellungen kann man die These bezeichnen, dass die Kultur eines Unternehmens als Schlüsselressource betrachtet werden kann. Dabei werden dann nicht mehr die schwer messbaren Faktoren betrachtet, sondern die rationalen und wirtschaftlichen.

Es ist festzustellen, dass Organisationen – und dazu zählen natürlich auch Fußballvereine – bestimmte Maßnahmen ergreifen müssen, um ihren Ressourcenvorteil zu verteidigen. Dazu gehört die Verhinderung von Nachahmern und das Aufbauen eines unangreifbaren Netzes aus verschiedenen Faktoren, sprich: eine Kultur. Diese fungiert als Hindernis für Nachahmer, da sie die Entstehung einzigartiger Ergebnisse befördert. Außerdem ist die Kultur selbst für die einzelnen Teile schwer nachzuvollziehen und zu reproduzieren. Das verschafft der Organisation einen unschätzbaren strategischen Vorteil[10].

Als letztes sollen an dieser Stelle die Gefahr der Zerstörung einer Unternehmens-, Organisations- oder Vereinskultur dargelegt werden. Sobald keine Spontanität mehr vorhanden ist und Managern nur das rein rational orientierte Handeln beigebracht wird, kann dies schnell zum Scheitern führen. Ein weiterer Grund wäre der Verlust des persönlichen Verhältnisses zwischen Mitarbeitern (oder Fans) und Unternehmen (oder Fußballclubs), „Mitarbeiter als Objekte behandeln“ (oder Anhänger*innen als Kunden), sowie ein ausschließliches Managen des Geldes[11] – der Bezug zur Diskussion um die fortschreitende Kommerzialisierung des Fußballs liegt sicherlich auf der Hand.

Alles in allem kann man also sagen, dass die Kulturschule sich an einer interaktiven Strategieentwicklung orientiert und den Fokus dabei vor allem auf eine enge persönliche Bindung des Individuums an die Organisation legt. Diese ist nach Mintzberg der wichtigste Faktor für den Erfolg. Schauen wir uns im nächsten Schritt einmal an, wie sich das Konzept der Kulturschule auf den FC Bayern München übertragen lässt.

Der FC Bayern München e.V.
Der FC Bayern München e.V. wurde am 27. Februar 1900 gegründet und spielt seit dem Jahr 1965 ununterbrochen in der 1. Fußball-Bundesliga. Bereits in dieser Gründungsphase umgab sich der Verein eher mit einem intellektuelleren Umfeld. Er ist der mitgliederstärkste Sportverein der Welt und liegt laut Zahlen der Firma Brand Finance auf Platz fünf der weltweit wertvollsten Fußballmarken. 2002 erfolgte die Ausgliederung der Profiabteilung Fußball vom Verein und die FC Bayern München AG entstand. Strukturell besteht sie aus einem Vorstand, dessen Vorsitz Karl-Heinz Rummenigge führt und einem Aufsichtsrat mit Karl Hopfner als Vorsitzendem. Die AG gehört zu 75,01% dem FC Bayern München e.V. und zu je 8,33% den Hauptsponsoren Adidas, Allianz und Audi[12]. In der modernen Fußballwelt agiert ein Profi-Verein in erster Linie als Unternehmen. Um einen langfristigen Unternehmenserfolg zu garantieren, sind vor allem Alleinstellungsmerkmale extrem wichtig für den Verein. Beim FC Bayern München (wie auch bei anderen Clubs) funktioniert dies über seine Vereinskultur.

(Scheinbare) Verbundenheit mit der Region

Seit seiner Gründung vor über 100 Jahren lebt der FC Bayern bestimmte Werte vor, durch die er sowohl Mitarbeiter als auch Kunden („Fans“) an sich bindet. Dazu gehört zunächst das Image des arroganten Erfolgsklubs, der seine Zuschauer aus einem gutbürgerlichen Milieu rekrutiert. Weiterhin die Tatsache, dass der Verein seit vielen Jahren beständig Erfolge feiert und zu einem immer größer werdenden Unternehmen geworden ist[13]. Ein Teil davon ist selbstverständlich auch, wie später zu sehen sein wird, das Clubmotto „Mia san Mia“. Aber es ist durchaus interessant, dass sich das öffentliche Image des FC Bayern München nicht ausschließlich aus dessen derzeitigem Erfolg generiert, sondern bereits in den Anfängen des Vereins zu erkennen ist.

Mintzberg ging davon aus, dass ein großer Teil der Kultur unbewusst existiere und bestimmte Dinge innerhalb der Kultur als gegeben angesehen werden. Dazu gehören beim FC Bayern vor allem die Siegermentalität, die gesamte Vereinskultur ist auf Erfolg ausgerichtet. Was jedoch unbewusst geschieht, ist, dass der Verein trotz seines hohen Umsatzes (2014/15: 523,7 Millionen €), seiner globalen Ausbreitung und seiner Börsennotierung immer noch als Familienunternehmen gilt. Dies hängt vor allem mit der Tatsache zusammen, dass viele ehemalige Spieler sich inzwischen in hohen Positionen befinden und den Verein leiten, so z.B. Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge u.a.[14]

Auf seiner Homepage beschreibt der Verein die Werte, nach denen er sich richten möchte. Sie sind Teil der Strategie und stellen vor allem die Überzeugungen der Mitglieder der Organisation dar. Ziel der Strategie muss es sein, Menschen an den Verein zu binden, sowohl „einfache“ Mitarbeiter, als auch Profi-Fußballer. Werte wie z.B. Tradition, Verantwortung, Respekt, aber auch Erfolgsbewusstsein sorgen für eine starke, unbewusste Bindung der Menschen an den Verein[15]. Selbst bei einem Misserfolg werden sie sich nicht vom FC Bayern abwenden, da für sie andere Dinge entscheidend sind als der pure Erfolg.

Weiterhin beeinflussen vor allem die Fans die Entstehung der Strategie und der Marke. Durch das Verhalten der Fans wird der Verein geprägt, beim FC Bayern München fühlt man sich erst als Fan und dann als Kunde. Dies ist der große Vorteil eines Fußballvereins: Er hat schon Fans und muss diese dann nur zum Konsumieren bringen[16]. Andere Unternehmen versuchen, aus ihren Kunden Fans zu machen. Besonders wichtig ist dabei das Vereinsmotto „Mia san mia“ (Bayrisch für: Wir sind wir.) Damit bringt der Verein seine Nähe zu seiner bayrischen Heimat zum Ausdruck, die er, trotz seiner fortschreitenden Globaliserung, immer noch hat. Damit kommt man zu einer weiteren Prämisse der Kulturschule, nämlich der unbewussten Aneignung der Überzeugungen.

Fankultur

Wie bereits ausgeführt, spielt die Fankultur bei FC Bayern München eine entscheidende Rolle. Laut der vereinseigenen Homepage gibt es 4.197 verschiedene Fanclubs. Diese Fankultur ist genau das, was Mintzberg als etwas beschrieb, dass die Mitglieder der Organisation nur schwer beschreiben können[17]. Als Mitarbeiter, aber vor allem als Fan eines Fußballclubs fällt es einem sehr schwer zu sagen, was genau einem eigentlich an gerade diesem Club so gefällt. Häufig verfallen die Befragten dabei in Anekdoten, nach denen z.B. ihre Eltern sie damals mit ins Stadion genommen haben und ihre Zuneigung daher rührt[18].

Interessant ist in dieser Hinsicht auch das Vereinslogo. Vereinslogos dienen häufig der Darstellung der wichtigsten Werte und Eigenschaften des Vereins und seiner (Fan-)Kultur. Hier sind innen die Fahnen des Bundeslandes Bayern zu sehen, was die Verbundenheit mit dem Bundesland und der Region symbolisiert. Außen ist ein Schriftzug mit dem Vereinsnamen in den Vereinsfarben rot-weiß zu finden. Die Trikots des Vereins haben ebenfalls diese Farben, was vor allem der Wiedererkennung und Identifikation mit dem Verein dient[19].

Nach der Kulturschule wird das Handeln und die Denkweise eines Unternehmens von der Unternehmenskultur beeinflusst. Auch das kann man beim FC Bayern München erkennen.

Kommerzialisiert und bodenständig?

Zunächst einmal gilt der Verein trotz seiner kompletten Kommerzialisierung und seines hohen Jahresumsatzes als bodenständiger und solide wirtschaftend. Dabei spielt vor allem die bereits beschriebene Nähe zur Region und zu den Fans eine entscheidende Rolle. Gerade deshalb gelingt es dem FC Bayern trotz seines leicht arroganten Images durch alle Bevölkerungsschichten hinweg, Fans bzw. Kunden zu gewinnen[20].

Weiterhin bestätigt sich hier die These, dass Organisationen in der gleichen Umwelt durch ihre Kultur verschiedene Wahrnehmungen entwickeln. In der Fußball-Bundesliga spielen 18 verschiedene Vereine, denen allen ein eigenes Image, eine eigene Kultur zugeschrieben wird. Man würde z.B. Werder Bremen Bescheidenheit und eine hanseatische Denkweise zuschreiben, dem FC Bayern eher den absoluten Siegeswillen, Kampfgeist und bayerische Traditionen. Zu diesem Punkt kommt vor allem dazu, dass Bayern München seit Jahren Spieler aus der Region ausbildet und zu Identifikationsfiguren macht, wie z.B. Thomas Müller, der durch seinen bayrischen Dialekt, seine Volksnähe und seinen sportlichen Erfolg ideal in dieses Bild passt.[21]

Sportliche Maßnahmen

Wie wir bisher gesehen haben, setzt der FC Bayern in seiner Unternehmenskultur auf Dominanz und Siegeswillen. Im Marketing und innerhalb des Unternehmens tun sie dies bereits seit vielen Jahren. Doch auf dem Spielfeld war dies bis vor wenigen Jahren nicht zu erkennen.

In der Fußballtaktik unterscheidet man grob zwischen einem konterorientierten und einem ballbesitzorientierten Spiel. Bei ersterem agiert die Mannschaft eher abwartend, überlässt dem Gegner den Ball, um nach den Ballverlusten des Gegners sehr schnell mit vielen Spielern in Überzahl vor das gegnerische Tor zu kommen. Das ballbesitzorientierte Spiel ist auf das Gegenteil ausgelegt. Man versucht möglichst lange den Ball zu besitzen und den Gegner auseinanderzuspielen und zu dominieren[22].

Als der FC Bayern am Abend des 9. April 2009 mit 0:4 beim FC Barcelona unterging, wünschten sich die Verantwortlichen des Vereins, ebenfalls einen solch dominanten Spielstil zu entwickeln. Es ging vor allem darum, ein Alleinstellungsmerkmal in der Spielweise zu bekommen und das Dominanz-Image auch auf dem Platz umzusetzen:

„Die Bayern wollten ein neues Spiel, eine neue Fußballidentität“[23].

Diese Fußballidentität, die z.B. Borussia Dortmund mit ihrem konterorientierten, sehr laufintensiven Spiel unter Jürgen Klopp entwickelt hatte, ist elementar wichtig für einen Fußballverein, da er sowohl v.a. Spieler und Trainer als auch Fans an sich bindet[24]. Im Zuge dessen verpflichtete Bayern München 2009 einen der Wegbereiter des modernen, ballbesitzorientierten Spiels: Louis van Gaal. Er begann den Weg, den Pep Guardiola von 2013-2016 fortführte und der zur absoluten Dominanz des Vereins in Deutschland führte. Guardiolas Biograph Marti Perarnau bezeichnete die Verpflichtung Guardiolas als einen brillanten Schachzug, da der Verein sich nicht in einem Krisenmoment weiterentwickeln wollte, sondern nach dem Gewinn des Triples auf dem Höhepunkt eine neue Kultur anstrebte.

Der Widerstand gegen Veränderungen

Eine Gefahr der Kulturschule stellt der Widerstand gegen Veränderungen dar. Dabei fusioniert das Unternehmen so sehr mit seiner Kultur, dass sich dann tief verwurzelte Überzeugungen kaum noch ändern lassen.

Den Trainer eines Fußballvereins kann man mit einem Manager in einer hohen Position in einem konventionelleren Unternehmen vergleichen. Als der FC Bayern im Jahr 2013 Pep Guardiola verpflichtete, wirkte er auf viele Menschen innerhalb des Vereins wie ein Heilsbringer. Doch Guardiola brachte ein anderes Kulturverständnis mit. Er hatte jahrelang in Barcelona trainiert und war dort in einer vollkommen anderen Vereinskultur aufgewachsen. Weiterhin war sein Fußballverständnis dem Ideal, das der FC Bayern darstellen möchte, nur bedingt zuträglich. Er galt eher als Intellektueller, als jemand, der die als typisch deutsch und bayrisch konnotierten Attribute wie z.B. „Kämpfen“ oder „Wille“ nicht vertrat[25]. Folgerichtig verließ er den Verein nach drei Jahren wieder.

Der Einwand, dass Guardiola den Club wahrscheinlich auch verlassen hätte, wenn die Stimmung einwandfrei gewesen wäre, ist sicherlich berechtigt. Allerdings stellt sich die Frage, was danach kam. Mit der Verpflichtung von Carlo Ancelotti ist der FC Bayern einen Schritt zurück in Richtung Vereinsfamilie gegangen. Ohne sein Lebenswerk und seine Erfolge kleinzureden, gehört er sicherlich nicht zu den modernsten Trainern, die es derzeit auf der Welt gibt. Er kann sich aber sehr gut unterordnen und gilt, ganz im Gegensatz zu Guardiola, als relativ nahbarer Typ. Er hat etwas von einem Großvater, den eigentlich alle mögen, der sich aber niemals gegen die Familien-/Vereinsführung, v.a. Uli Hoeneß, stellen würde. Dass dies in dieser Situation sicherlich nicht die richtige Entscheidung gewesen ist, musste die Vereinsführung in der Saison 2017/2018 sehr schnell feststellen.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass dieser Widerstand gegen Strategieveränderungen sehr gefährlich sein kann. Der große Vorteil eines Fußballvereins gegenüber anderen Unternehmen ist zwar, dass er wirkliche Fans hat, die sich für ihn engagieren. Allerdings ist dabei die Problematik gegeben, dass dies sehr weiche Faktoren sind und sich die Veränderung der Unternehmenskultur negativ auf die Fans auswirken könnte.

Dazu kommt, dass die Kulturschule stets vor einer Unternehmensfusion warnte. In Bezug auf den FC Bayern kann man dies nicht direkt übertragen, aber die in den letzten Jahren intensivierte Zusammenarbeit mit dem Emirat Katar in Form von Trainingslagern und einer Fluglinie als Ärmelsponsor sorgt für einigen Unmut unter den Fans. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Internationalisierung und die Loslösung von der bayrischen Heimat hier offen zu Tage treten, sondern selbstverständlich mit einem moralischen und politischen Bewusstsein für das, was in solchen Ländern ge- schieht, ganz zu schweigen davon, welche Geschichte der FC Bayern u.a. mit Kurt Landauer als Präsident hat. Es überrascht allerdings nicht weiter, da diese Geschichte in erster Linie von Fans aufgearbeitet wurde und nicht vom Verein selbst. Hier zeigt sich die Wichtigkeit der Fans. Sie stellen einen Gegenpol, eine kritische Öffentlichkeit dar. Im Gegensatz zu herkömmlichen Großkonzernen hat ein Fußballverein die Möglichkeit, sehr schnelles Feedback zu bekommen und den „Kunden“ die Möglichkeit zu geben, ihre Veränderungsideen einzubringen.

Die Unternehmenskultur gilt in der Kulturschule als Schlüsselressource für den Unternehmenserfolg[26]. Durch die bereits erläuterten Punkte baut der FC Bayern eine unnachahmliche Unternehmenskultur auf, die es ihm ermöglicht, über Jahre hinweg Marktführer im deutschen Fußball zu sein. Durch ihre Mischung aus extrem erfolgreichem Fußball und dem Schaffen einer einzigartigen Unternehmenskultur, die sehr viele potentielle Kunden auf der ganzen Welt anspricht, macht sich der Verein nicht nur interessant für andere Unternehmen, die als Sponsor einsteigen können. Er baut dadurch vor allem Hindernisse zur Nachahmung auf. Durch seinen regionalen Bezug zur bayrischen Region, dem ständigen Hinweis auf die eigene Geschichte und die Selbstdarstellung als Familienunternehmen nimmt der Verein einzigartige Eigenschaften in seine Strategie auf.

Der zentrale Punkt der Strategie des FC Bayern ist seine Vereinskultur. Wie bereits erläutert, entstehen viele Aktionen aus der fast schon organischen Struktur, Fanclubs sind nur ein Beispiel dafür. Dabei spielt vor allem die Kollektivität der Kultur eine wichtige Rolle, hier gibt es nicht nur eine Unternehmenskultur, das ganze Unternehmen ist eine Kultur. Die Entwicklung des FC Bayern steht schon fast symptomatisch für die Entwicklung des gesamten Fußballs. Er schiebt ein regionales Image vor, ist dabei vollkommen internationalisiert und trifft ethisch sehr schwer vertretbare Entscheidungen. Und doch ist es den Fans, die eine sehr kritische Öffentlichkeit bilden, weiterhin wichtig, ihren Verein zu unterstützen. Es gibt doch ein richtiges Leben im Falschen. Die Fans wollen ihre emotionale Bindung nutzen, um einen Verein zu bekommen, den sie bedenkenlos anfeuern können. Sollte sich dies jedoch nicht einstellen, so könnte auch ein solch‘ großes Unternehmen eines Tages ein Problem bekommen.

Aktuelle Entwicklungen

Was seit der Rückkehr von Uli Hoeneß zum FC Bayern München geschehen ist, schließt an das an, was oben bereits erläutert wurde. Hatte sich der Verein gerade unter Matthias Sammer von einem Familienunternehmen gelöst, scheint der Club nun auf das eben erläuterte Problem zuzusteuern. Mit Carlo Ancelotti ist ein Trainer gekommen, der für Ruhe und Zurückhaltung steht und sich nicht in die Vereinsgeschäfte einmischt. Mit dem Widerstand gegen eine Berufung von Phillip Lahm und der damit verbundenen Einstellung von Hasan Salihamidzic als Sportdirektor zeigt der Verein eine gefährliche Nähe zur Vetternwirtschaft.

Nach der Entlassung von Ancelotti und der damit verbundenen Rückkehr von Jupp Heynckes ins Traineramt zeigt sich nun exemplarisch, was geschieht, wenn ein Unternehmen zu stark von der eigenen Kultur beeinflusst wird. Unabhängig davon, ob Heynckes nun Erfolg haben wird, scheint sich der Club weiterhin im Kreis zu drehen. Er setzt so sehr auf ein altbewährtes Fundament, dass er sich gar nicht mehr bewusst zu sein scheint, dass es in der (Unternehmens-) Welt des Fußballs immer rasanter vorangeht und man sich alle paar Jahre neu erfinden müsste. Aus den erwähnten Eigenschaften der Kulturschule, die den Unternehmenserfolg gefährden können, dürfen nicht zu viele offen zu Tage treten, ansonsten bröckelt das einst so starke Fundament, auf dem diese Strategie basiert. Wie man jedoch auch unter Bayern-Fans merkt: Die Stimmung kippt.

Bereits die Tatsache, dass Hoeneß direkt nach seinem Gefängnisaufenthalt mit überwältigender Mehrheit wieder zum Präsidenten gewählt wurde, spricht für eine Vereinskultur, die den Bogen längst überspannt hat. Die Warnung an ein Unternehmen, nicht zu sehr mit seiner Kultur zu verschmelzen, wurde offenkundig ignoriert. Die Sehnsucht vieler Mitglieder und Fans des FC Bayern München scheint die altmodisch anmutende Arbeitsweise von Hoeneß und Co. zu sein. Der Abgang von Kaderplaner Michael Reschke scheint ein weiterer Baustein dieser Entwicklung zu sein. Der FC Bayern macht sich nicht nur seinen Standort in Bayern zunutze, sondern baut weiter an seinem Mythos. Begründete sich dieser in den letzten Jahren vor allem durch eine schiere Unbesiegbarkeit in sportlichen Wettbewerben, konstruiert sie sich nun vor allem um wenige Personen herum. Es ist fraglich, ob dieser eingeschlagene Weg eines Familienunternehmens auf lange Sicht gesehen den ganz großen sportlichen Erfolg zulassen wird. Welch‘ seltsame Pointe es wäre, wenn die Fans des FC Bayern, gemeinhin abschätzig als „Erfolgsfans“ bezeichnet, ihrem Verein nicht wegen eines Champions Leauge-Siegs, sondern der familiären Atmosphäre die Treue halten würden.

Fußnoten

[1] Anm.: Im weiteren Verlauf des Textes wird der Übersichtlichkeit halber nur noch von Mintzberg, dem Hauptautor der Buches, gesprochen.

[2] Mintzberg, Henry/Ahlstrand, Bruce/Lampel, Joseph (2005): Strategy Safari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements. Wien: Ueberreuter, S. 302ff.

[3] So der Titel des ersten Nachhaltigkeitsberichts des 1. FC Magdeburg [PDF]

[4] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 301f

[5] Vgl. Peters, Hans (2017): Leitbilder. In: Der Tödliche Pass (85), S. 32ff.

[6] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 302

[7] Ebd., S. 302ff.

[8] Ebd., S. 305

[9] Ungericht, Bernhard (2012): Strategiebewusstes Management. Konzepte und Instrumente für nachhaltiges Handeln. München: Pearson, S. 35

[10] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 35

[11] Ebd., S. 319

[12] fcbayern.com: Meilensteine seit 1900.

[13] Hagen, Rudolph (2002): Management der ersten Liga. Mit den Strategien des FC Bayern München zum Erfolg. Haufe-Verlag, S. 9f.

[14] Ebd., S. 12f.

[15] Biermann, Christoph (2014): Wenn wir vom Fußball träumen. Eine Heimreise. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 216f.

[16] Ebd., S. 222

[17] Mintzberg et al. (2005): a.a.O., S. 8

[18] Biermann, Christoph (2014): a.a.O., S.9f., S.207f.

[19] Müller, Marion (2009): Fußball als Paradoxon der Moderne. Zur Bedeutung ethnischer, nationaler und geschlechtlicher Differenzen im Profifußball. Wiesbaden: Springer, S. 99

[20] Steinkirchner, Peter (2010): Lukrativstes Fußball-Imperium. Die Erfolgsstrategie vom Geldmeister FC Bayern. Online verfügbar unter: http://www.wiwo.de/unternehmen/lukrativstes-fussball-imperium-die-erfolgsstrategie-von-geldmeister-fc-bayern/5232664-all.html, zuletzt geprüft: 14.09.2017.

[21] Perarnau, Marti (2014): Herr Guardiola. Das erste Jahr mit Bayern München. München: Verlag Antje Kunstmann, S. 22

[22] Escher, Tobias (2016): Vom Libero zur Doppelsechs. Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Reinbek: Rowohlt, S. 11.

[23] Ebd., S. 272

[24] Rafelt, Martin (2016): Vollgasfußball. Die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp, Göttingen, Verlag Die Werkstatt, S. 10ff.

[25] Fritsch, Oliver (2015): Der FC Bayern ließ sich nie ganz auf ihn ein. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/sport/2015-12/pep-guardiola-fc-bayern-muenchen, zuletzt geprüft: 14.09.2017.

[26] Mintzberg et al., a.a.O., S. 315


Die Veröffentlichung dieses Beitrags wurde auch durch die Unterstützung des 120minuten-Lesekreises möglich. Du möchtest 120minuten ebenfalls aktiv unterstützen? Dann bitte hier entlang!


Beitragsbild: Von Andreas Thum – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2105366

Du hast auch ein Thema, das Dich bewegt und das gut zu 120minuten passen könnte? Dann wäre vielleicht unser Call for Papers etwas für Dich!

]]>
https://120minuten.github.io/der-fc-bayern-muenchen-und-die-strategie-der-kulturschule/feed/ 1 3705
Der Fußball und das Fernsehen https://120minuten.github.io/der-fussball-und-das-fernsehen/ https://120minuten.github.io/der-fussball-und-das-fernsehen/#comments Tue, 31 Jan 2017 08:00:22 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3035 Weiterlesen]]> Über die mediale Inszenierung der schönsten Nebensache der Welt

Das erste in Deutschland live ausgestrahlte Fußballspiel fand am 24. August 1952 in Hamburg zwischen dem Hamburger SV und Altona 93 statt. Das Fernsehversuchsprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks, kurz: NWDR war für die Übertragung verantwortlich. Seit dieser ersten Liveübertragung sind viele Jahre ins Land gegangen und nicht nur der Hamburger SV hat sich verändert, sondern auch die Fernsehübertragungen. Mittlerweile befindet sich der Fußball in Bezug auf seine mediale Übertragung an einem Scheideweg. Die Europa-Liga scheint nicht mehr komplett unrealistisch, die Schere zwischen kleinen und großen Klubs wird immer größer und die Preise für die Übertragungsrechte an der Bundesliga oder der WM steigen jedes Jahr aufs Neue in schwindelerregende Höhen.

Zeit für eine nüchterne Analyse der grundlegenden Zusammenhänge der medialen Inszenierung des Fußballs. Wie wird eine Fußballübertragung inszeniert? Warum generieren Fußballspiele solch hohe Einschaltquoten? Und: Was sagt das eigentlich über das Verhältnis zwischen uns als Rezipienten und der Fußballwelt aus?

Autor: Luca Schepers (prettylittlemovies.blogspot.de)

Abhängigkeitsverhältnisse

Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Fußball seine heutige globale Ausdehnung und die riesigen Geldbeträge, um die es inzwischen geht, niemals ohne die mediale Verbreitung vor allem durch das Fernsehen hätte erreichen können. Gerade deshalb mutet die „Medienkritik“ mancher (nicht aller) Mitglieder der Fußball-Welt etwas seltsam an, da es in letzter Konsequenz diese Medien sind, die dafür sorgen, dass sie ihren gut bezahlten Job behalten können. Die Massenmedien und der Fußball befinden sich also in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Der Fußball ist darauf angewiesen, dass in den Massenmedien über ihn berichtet wird, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Für selbige ist es wichtig, einen guten Draht zu den Verantwortlichen zu haben, um sich in Zeiten von Twitter, Facebook u.ä. ihre Aktualität zu bewahren (u.a. zu diesem Thema hat Georg Seeßlen in der Jungle World 02/17 einen brillanten Text geschrieben.) Außerdem interessiert Fußball extrem viele Menschen, sodass er als stets sicheres Mittel zur Quotensteigerung gesehen werden darf. Man schaue sich bloß einmal Rupert Murdoch und den Fernsehsender TM3 im Jahr 1999 an. Damit sich jedoch der Kauf des wahrscheinlich teuersten Programmpunkts für einen Fernsehsender lohnt, müssen die Quoten stimmen. Tun sie das nicht, können die Fußballrechte sehr schnell zu einem existenzbedrohenden Risiko werden. Es stellt sich also die Frage, wie ein Fernsehsender eine Fußballübertragung inszenieren muss, um möglichst viele Zuschauer vor den Bildschirm zu ziehen. 

Fußball als Medienereignis

Jedes Medienereignis hat seine eigene Choreographie, sei es eine Nachrichtensendung, eine Königshochzeit oder eben ein Fußballspiel. Das Fernsehen begreift diese Medienereignisse als geschlossene Erzählungen, die eines klaren narrativen Rahmens bedürfen, der für jeden Zuschauer verständlich ist. Es ist wichtig, in ein Medienereignis einzuführen und es nicht abrupt zu beenden. Es versucht, Integrität zu schaffen, indem es die Komplexität reduziert bzw. pauschale Aussagen trifft. Das Fernsehen verarbeitet bei seiner Übertragung das, was in der Realität geschieht, in konsumierbare Bilder, die den Zuschauer auf einer visuellen Ebene ansprechen. Damit geht eine Vereinheitlichung aller Zuschauer einher. Jeder, der über ein Fernsehgerät verfügt, kann sich die Sendung ansehen, unabhängig von Einkommen, Lebensverhältnissen etc.[1]

Frei nach Walter Benjamin[2] verändert sich durch das Fernsehen die Aura des Ereignisses, nur derjenige, der vor Ort ist, kann sie wirklich originär erleben. Und hier setzt die Entwicklung einer der wichtigsten Figuren des Fernsehens ein: Der Korrespondent. Er dient dazu, die Stimmungen vor Ort einzufangen, dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, er sei in diesem Moment „mittendrin statt nur dabei“. Wie wir später noch sehen werden, ist der Korrespondent vor allem in der Fußballberichterstattung eine immens wichtige Figur. Die Fußballübertragung ist ein eben solches Medienereignis. Jede Übertragung, egal ob sie von ARD, ZDF, RTL, Kabel 1 etc. durchgeführt wird, folgt der Logik des Medienereignisses (mal abgesehen von Sport1-Übertragungen, die zuweilen einen fast schon experimentellen Charakter haben).

Eine Fußballübertragung beginnt häufig mit einem kleinen Trailer zum Spiel und der Begrüßung der Zuschauer durch den Moderator. Dabei ist erst einmal interessant, dass die Übertragung lange vor Anpfiff des eigentlichen Fußballspiels beginnt. Es gibt meist einen Moderator und einen „Experten“, also jemanden, der auf Nachfragen hin dem Zuschauer komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar erläutert.

Der „Experte“

Bereits die Rolle des „Experten“ ist interessant, vor allem, wenn man sich die Besetzung anschaut. In der ARD ist es Mehmet Scholl, im ZDF Oliver Kahn, bei RTL Jens Lehmann oder bei Sky Lothar Matthäus. Alle sind ehemalige Fußballspieler, die große Erfolge gefeiert haben. Im Prinzip ist dies ihre einzige wirkliche Legitimation, diese Rolle des „Experten“ ausfüllen zu dürfen. Als wirklicher „Experte“ wäre eigentlich eher z.B. ein Trainer (für spieltaktische Fragen) oder ein Vereinsfunktionär (für Geschäftsfragen) geeignet. Sie sind letztlich diejenigen, die den Fußball verstehen bzw. verstehen müssen und daher eigentlich auch als Experten gelten sollten. Nun kommen wir aber zu dem Punkt, dass das Fernsehen den Zuschauer unabhängig von seinem Hintergrund in sein Programm einbinden muss und die Komplexität reduziert. Würde man regelmäßig jemanden von spielverlagerung.de oder einen Scout des DFB dort hinschicken, bestünde die Gefahr, dass dieser die Komplexität des Fußballs nicht weit genug reduziert und einen Teil der Zuschauer dadurch aus der Übertragung ausschließt. Durch den Fakt, dass Scholl, Kahn oder Lehmann erfolgreiche Fußballspieler gewesen und dem Zuschauer bekannt sind, bauen sie eine engere Bindung zu ihm auf. Der Zuschauer glaubt, dass jemand, der diesen Beruf ausgeübt hat, sich auch am besten dazu äußern kann. Meiner Ansicht nach enthält diese Sichtweise einen kleinen, aber nicht unerheblichen Denkfehler, aber dazu später mehr.

Der „Moderator“

Die Figur, die verhindern soll, dass der „Experte“ zu komplex und unverständlich erzählt, ist der „Moderator“. Seine wichtigste Funktion ist es jedoch, durch das Medienereignis hindurchzuleiten und dem Zuschauer das narrative Gerüst zu geben, welches er sehen möchte. Er moderiert lange vor dem Beginn des eigentlichen Ereignisses die Sendung an, kündigt Berichte an und bereitet den Zuschauer im Dialog darauf vor, was ihn erwarten wird. Der Moderator nimmt die Rolle desjenigen ein, der mit den Zuschauern in einen Dialog tritt. Er schaut direkt in die Kamera, er spricht sie an und vermittelt damit zwischen dem Wohnzimmer und dem Fußballstadion. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann gab es vor Jahren einmal ein UEFA-Cup-Spiel auf Kabel 1 zu sehen, bei welchem zu lange in der Werbung geblieben wurde und man die ersten Sekunden der zweiten Halbzeit nicht sehen konnte. Dies sorgt für einen völlig ungewohnten Effekt: Auf einmal befindet man sich direkt im Spiel, man hat keinerlei Möglichkeit, sich darauf einzustellen und der Kommentator beginnt sofort mit dem Reden. Das ist eine Unmittelbarkeit, die man als Fußballzuschauer nicht gewohnt ist und die so auch nicht akzeptiert wird. Dies ist das Symptom einer generellen Haltung des Fernsehpublikums: Es denkt in traditionellen Erzählmustern.

Exkurs: Umberto Eco und die Live-Übertragung

Man darf nicht vergessen, dass das Kino weit vor dem Fernsehen erfunden und von dessen Narration maßgeblich beeinflusst wurde, ebenso wie von den Strukturen des klassischen Romans. Wenn man so möchte, dann soll eine Fernsehübertragung zwei Dinge erfüllen:

  1. den Erzählmustern des klassischen (Hollywood-) Spielfilms folgen
  2. informieren

In seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ erläutert Umberto Eco im Abschnitt „Zufall und Handlung. Fernseherfahrung und Ästhetik“, dass diese Erwartungen des Publikums an eine Live-Übertragung den Regisseur v.a. bei einem Fußballspiel relativ stark einschränken. Fußball ist ein Spiel, das letztlich sehr ballfokussiert übertragen wird, man wird selten über einen längeren Zeitraum Bilder sehen, in denen nicht der Ball zu sehen ist. Einzig beim Tor, so Eco, könne der Regisseur auswählen, was er zeigt. Was man jedoch nie sehen werde, sei ein Bild der nebenliegenden leeren Straße oder des am Stadion vorbeifließenden Flusses (eine ähnliche Differenz lässt sich zwischen Spiel- und Experimentalfilm ausmachen). Dies interessiert den Zuschauer nicht, er möchte Informationen bekommen. Eco formuliert meiner Ansicht nach zwei sehr entscheidende Gedanken für den Diskurs über Inszenierungen des Fußballs:

„Die Live-Sendung ist niemals eine bloße Wiedergabe, sondern stets […] eine Interpretation.“

und:

„Auch, wenn sein Werk sich auf der untersten künstlerischen Stufe befindet, erlebt der Fernsehregisseur ein Gestaltungsabenteuer, das derart ungewöhnlich ist, dass es ein künstlerisches Phänomen von höchstem ästhetischen Interesse bildet.“[3]

Wir haben es bei aller Informationsweitergabe also immer noch mit einer Interpretation verschiedener Kamerabilder zu tun, die ein Regisseur montiert, die Inszenierung ist niemals rein objektiv, sie folgt einem bestimmten, an den Gewohnheiten des Zuschauers orientierten Narrativ. Die Tatsache, dass die Bilder des Fernsehens montiert werden und nicht einfach so zusammengestellt sind, gibt Sky jedes Wochenende preis, indem man kurz vor der Schalte in die Werbung einen kurzen Blick in den Regieraum wirft, die „Regie-Cam“. Es ist also für jeden Zuschauer transparent, dass das Fernsehen die Fußballspiele inszeniert, dass jemand dort die Bilder steuert.

Nach dem Ende des Spiels gibt es noch eine lange Phase, in der der Moderator Interviews führen lässt, das Spiel noch einmal Revue passieren lässt, sogar noch Zusammenfassungen von anderen Medienereignissen bzw. Fußballspielen zeigt und damit stets mit selbstreflexiven Verweisen arbeitet. Selten einmal wird man es sehen, dass der Moderator nach Abpfiff des Spiels den Zuschauern einen schönen Abend wünscht und die nächste Sendung beginnt.

Anders als z.B. bei DAZN möchte der Zuschauer im klassischen Fernsehformat sanft aus dem Ereignis befördert werden.

DAZN
Während sich die bisherigen Ausführungen auf den ‘klassischen’ Fußball-Fernsehabend oder den allwochenendlichen Sky-Marathon beziehen, verfolgt DAZN ein anderes Konzept. Gern auch mal als “Netflix des Sports” bezeichnet, bietet der Streaming-Dienst genau das, was man unter diesem Label erwarten würde: Jede Menge Live-Spiele unterschiedlichster Ligen (die Bundesliga ist nicht im Angebot, dafür aber die spanische, französische und englische Beletage ebenso wie beispielsweise der kroatische oder australische Fußball), dazu Re-Live-Optionen mit der Möglichkeit, sich das Spiel der Wahl ‘on demand’ anzuschauen. Die Präsentation und ‘Zuschauerführung’ weichen von den bisher im Beitrag dargestellten Merkmalen deutlich ab: man ist häufig direkt im Spiel, Zusatzinformationen zu den entsprechenden Begegnungen bewegen sich eher auf einem minimalistischen Level, der Sport als solcher steht im Vordergrund. Ist die Begegnung vorbei, verabschieden sich Kommentator und Experte (hier ehemalige Spieler, die nicht in einem Studio, sondern als Co-Kommentatoren agieren) recht bald vom Zuschauer vor dem Fernsehgerät, dem Rechner oder dem Tablet, eine ausführliche Auswertung der Partie mit Interviews und Taktikanalysen entfällt. Auffällig auch, dass sich die Co-Moderation auf einem fußballfachlich höheren Niveau bewegt, als man es von ‘klassischen’ Fernsehübertragungen gewohnt ist – was aber nicht weiter verwundern kann, dürfte sich DAZN doch eher explizit an ausgewiesene Fans des Sports und weniger an ein Publikum richten, das sich von einer Fußballübertragung mit allem Drumherum in erster Linie umfänglich unterhalten lassen möchte.

Interessant ist außerdem, wo und wann die Interviews stattfinden. Doch dazu muss man sich erstmal die Frage stellen: Von wo wird eigentlich moderiert?

Der Standort der Moderation: Studio oder Spielfeld?

Moderationen von Fußballspielen finden entweder in einem Studio im Stadion statt oder es stehen „Moderator“ und „Experte“ am Spielfeldrand mitten im lauten Getöse des Innenraums. Wenn aus dem Studio moderiert wird, dann gibt es häufig noch einen Reporter, der am Spielfeldrand steht, der „Field-Reporter“, der Korrespondent. Warum also versucht das Fernsehen, dem Spielfeld so nahe zu sein? Es geht darum, die große Entfernung zwischen Fernsehzuschauer und Stadion aufzulösen. Der Zuschauer soll durch den großen Lärm und die im Hintergrund herumfliegenden Bälle suggeriert bekommen, er sei ganz nah dabei, er könne die Stimmung fühlen. Polemisch gesagt: Es gibt nichts Besseres für eine Fernsehübertragung, als ein Stadion, welches das Gespräch der Moderatoren übertönt.

Das Narrativ, welches der Privatsender „Sky“ vor allem bei den 18:30-Spielen der Bundesliga anwendet, ist eine Modifikation der beiden vorgestellten Varianten. Hier sitzen mehrere Experten an einem Tisch und reden in einem teilweise recht flapsigen Ton miteinander. Hier wird der Zuschauer in der Kneipe angesprochen. Die halbkreisförmige Form des Tisches und die Debatten ähneln fast einer Theke in einer Fußballkneipe. Es wird versucht, dem Zuschauer v.a. in der Kneipe, aber auch zuhause, das Gefühl zu vermitteln, er sei dem Ereignis nicht nur sehr nahe, sondern er sitze mit am Tisch. (Anmerkung: Das prototypische Beispiel dafür sind die Liveübertragungen von Hochzeiten v.a. im Schweizer Fernsehen.)

Die Kulturtechnik des Interviews wird unmittelbar nach dem Spiel ad absurdum geführt: Nach 90 Minuten+X Adrenalin und schwerster körperlicher Betätigung ist es extrem unwahrscheinlich, von einem Spieler eine wirklich interessante Aussage über das Spiel zu bekommen, viel zu sehr sind die Spieler noch von Emotionen geprägt. Aber um den Inhalt dieser Aussagen geht es auch gar nicht. Viel wichtiger ist, dass es direkt auf dem Spielfeld stattfindet, der Spieler soll kaputt sein, man muss ihm die physischen Anstrengungen ansehen. So entsteht ein neuer Realitätseindruck und die Interviews runden in der Nachbetrachtung das ganze Ereignis ab. Dies jedoch als generellen Vorwurf an den Fußball zu betrachten, wäre fehlgeleitet, da u.a. im Tennis oder bei Schach-Turnieren Spieler ebenfalls unmittelbar nach dem Spiel interviewt werden. Beim Fußball geht es mehr um den eben genannten Realitätseindruck, allerdings eint alle drei Sportarten, dass es stets um Aktualität geht. Man möchte Sekunden nach Ende des Spiels bereits wissen, was der Spieler zu sagen hat. An einer inhaltlich interessanten Antwort kann dabei kein Interesse bestehen. Man könnte an dieser Stelle fast schon von einem „Regime der Aktualität“ sprechen.

(Bei der Schach-WM 2016 war es z.B. so, dass die Spieler direkt nach dem Spiel kurz befragt wurden. Der Weltmeister Magnus Carlsen gab die einzig richtige Antwort auf ein solches Vorgehen. Zugegebenermaßen hatte er gerade ein Spiel sehr tragisch verloren.)

Pressekonferenz mit Magnus Carlsen und Sergey Karjakin

Das Zielpublikum

Warum findet dies nun statt? Man könnte begründen, dass Fernsehen immer eine Inszenierung ist, jeder darüber Bescheid wisse und man das so hinnehmen könne. Doch ich bin der Ansicht, dass das eine recht oberflächliche Betrachtung darstellt.

Fußball ist bekanntermaßen die beliebteste Sportart der Welt. Jeder könne eben irgendwie ein bisschen Fußball spielen, heißt es dann oft. Bereits diese Aussage ist doch interessant. Sie suggeriert, dass der Sport für jeden zugänglich sei, da er doch eigentlich überhaupt nicht kompliziert ist. 22 Leute, ein Ball und zwei Tore. Genau diese Haltung schlägt sich in den Fernsehübertragungen nieder. Wenn ein Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft übertragen wird, dann wird die Komplexität des Spiels soweit heruntergebrochen, dass selbst jemand, der niemals Fußball schaut, dem Ganzen folgen kann. Ob das nun sinnvoll ist oder nicht, haben klügere Menschen als ich schon besser erläutert. Man befindet sich dabei eben stets in einem Spannungsfeld einer Demokratisierung des Sports (jeder Besitzer eines Fernsehgeräts kann Fußball schauen) und der Simplifizierung einer Sportart, die nicht simpel ist. Mag man als regelmäßiger Fußballzuschauer irritiert von derlei Simplifizierungen sein, erklären lassen sie sich recht einfach. Ich bin allerdings der Ansicht, dass man komplexe Dinge auch durchaus als komplex darstellen sollte. Wenn ich mir Gedanken über Gravitation mache, würde ich jederzeit anerkennen, dass dies ein hochkomplexes Thema ist. Da man aber niemals alle Dinge in ihrer gesamten Komplexität erkennen kann, muss ich mich damit begnügen, dass ein Gegenstand, den ich in die Luft werfe, herunterfällt. Ich darf deswegen aber nicht von einem Physiker verlangen, das Thema genauso herunterzubrechen. Verständlich sollte er sich natürlich schon ausdrücken, aber niemals unterkomplex. Ein Interview direkt nach dem Spiel ist aus nachvollziehbaren Gründen genau das. Einmal mehr siegt die Vermittlung eines Realitätseindrucks, des „Mittendrin statt nur dabei“-Gedankens, über eine inhaltliche Auseinandersetzung.

Theoretiker vs. Praktiker

Wir kommen nun zu einem Punkt, den ich bereits zu Beginn kurz erwähnt habe, nämlich der Frage, warum der „Experte“ in der Sportübertragung in den allermeisten Fällen ein ehemaliger Spieler ist. Das führt zu einem sehr tiefliegenden Konflikt, den es im Sport, aber auch in der Kunst oder in allen möglichen anderen Lebensbereichen gibt: Muss man selbst einmal aktiv in diesem Bereich gewesen sein, um sich fundiert darüber äußern zu können, bzw. muss man selbst Fußball gespielt haben, um vernünftig über Fußball reden zu können? Die Logik dahinter ist, dass jemand, der sich über das Anschauen von Fußballspielen und das Lesen von Theoriewerken mit dem Sport auseinandersetzt, den wahren Kern des Spiels nicht verstehen würde. Etwas Ähnliches geschieht häufig in der Kunst, dem Filmkritiker wird z.B. vorgeworfen, er könne den Film doch gar nicht beurteilen, da er nie selbst so etwas gemacht habe. Ich halte das für sehr einfach gedacht. Selbstverständlich ist es interessant zu hören, was ein ehemaliger Aktiver, der einen anderen Blick auf die Dinge hat, zu sagen hat. Nichtsdestotrotz ist es ebenso interessant, was ein Fußball-Analyst dazu sagt. Was wir hier vorfinden, ist eine versteckte Intellektuellenfeindlichkeit. Der schöne Arbeitersport Fußball soll nicht „verwissenschaftlicht“ werden, alles soll möglichst einfach bleiben. Eine absurde Vorstellung, wenn man bedenkt, wie viel Geld mit Fußball umgesetzt wird. (Gerade deswegen ist der RB-Leipzig-Hass auch einigermaßen bizarr, aber das soll hier nicht das Thema sein.) Außerdem widerspricht es vollkommen dem aktuellen Zeitgeist. Die meisten Profi-Vereine setzen auf moderne, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Trainingssteuerung o.ä. und nutzen alle möglichen „modernen“ Möglichkeiten. Nur bei den Zuschauern scheint immer noch der Geist der Vergangenheit in den Köpfen zu spuken.

Die bereits erwähnten Fußballsendungen auf Sport 1 führen diesen Gedanken ad absurdum und überziehen alles, was das Fußballfernsehen ausmacht, auf eine solch extreme Art und Weise, dass man nicht umhinkommt, über diese Form des Fernsehens zu schmunzeln bzw. ihr mit zunehmender Faszination zuzusehen. Alleine der „Mobilat Fantalk“ ist eine hochinteressante Sendung. Nur der Vollständigkeit halber: In der „11 Freunde Bar“ in Essen sitzen rund um einen Kneipentisch zwei Moderatoren und verschiedene Gäste. Direkt hinter ihnen steht ein Pulk aus Fußballfans, wie sie typischer nicht aussehen könnten. Die Gäste sind größtenteils ehemalige Fußballspieler oder Trainer. Besonders beliebte Gäste sind Leute wie z.B. Peter Neururer oder Mario Basler. Unvergessen bleiben Baslers verbale Ausfälle gegenüber anwesenden Zuschauern.

'Basler unleashed'

In diesem Video wird alles vereint, was diese Sendung ausmacht: Die Leute trinken Bier, polemisieren und bringen Stammtischparolen in Reinform. Am Ende ruft Basler noch etwas Frauenfeindliches und schon ist die Begeisterung groß. Das ist das, was sich viele Zuschauer wünschen und was die anderen Sender in professionellerer und gemäßigter Form präsentieren. Das bizarrste am „Mobilat Fantalk“ ist auch gleichzeitig das Symbol für das inexistente Interesse der Zuschauer am Fußball: An den Spieltagen der Champions Leauge wurden dort die Spiele in der Kneipe übertragen, ohne, dass der Fernsehzuschauer sie sehen konnte. (Anmerkung: Die Sendung zum CL-Halbfinale zwischen Borussia Dortmund und Real Madrid hatte die höchste Einschaltquote in der Geschichte des Fantalks.)

Die einzige Rechtfertigung dafür, dass Basler in einer Sendung sitzt, ist sein Status als ehemaliger Fußballprofi. Und hier sind wir wieder beim Kernproblem angekommen. Weiß ein Ex-Profi wirklich immer besser über das Spiel Bescheid? Ist er einem „Theoretiker“ wirklich immer vorzuziehen? Ziel des Fernsehens sollte es eigentlich sein, einen Diskurs darüber zu beginnen und vor allem: kluge und meinungsstarke Menschen ins Fernsehen zu bringen. Punktuell beginnt Sky immer mehr damit, das zu forcieren, ihre Zusammenarbeit mit den ehemaligen Bundesligaschiedsrichtern oder auch Leuten wie z.B. Tobias Escher von spielverlagerung.de lässt eigentlich Gutes erhoffen. Doch solange kein generelles Umdenken im Verhältnis zwischen Zuschauer und Fernsehen entsteht, wird sich an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern.

Öffentlich-Rechtliches- und Privatfernsehen

Es scheint mir an dieser Stelle angemessen, eine Unterscheidung zwischen Öffentlich- Rechtlichen- und Privatsendern zu machen.

Die Öffentlich-Rechtlichen Fernsehsender haben, ihrer ursprünglichen Aufgabe folgend, einen Bildungsauftrag. Dadurch, dass sie an keinerlei Quoten gebunden sind, haben sie die Möglichkeit, kreativen und innovativen Konzepten den Raum zu geben, den diese im Privatfernsehen nicht bekommen würden. Eben deshalb hätte die ARD die Möglichkeit, bei einer Fußballübertragung vom hochgradig ritualisierten Charakter der Fußballübertragungen abzuweichen, einen neuen Weg zu gehen. Sky hat diese Möglichkeit in wesentlich geringerem Maße. Für sie ist das Argument der Demokratisierung und der damit einhergehenden Simplifizierung jedoch nicht gültig, im Gegenteil: Wenn jemand einen Sportsender abonniert, ist davon auszugehen, dass er sich dafür interessiert und eine gewisse Grundkenntnis besitzt. Dennoch ähneln sich beide Programme relativ stark. Sie halten sich beide an den Grundzügen des Medienereignisses fest und wollen den Zuschauer dabei auf keinen Fall aus seinen Gewohnheiten herausbringen. Wer jemals eine Vorberichterstattung zu einem Abendspiel auf Sky gesehen hat, wird dies bestätigen. Es ist vor allem leeres Gerede über Themen, die dem Zuschauer kaum etwas über das Spiel sagen. Theodor W. Adorno schrieb in seiner Arbeit zum Radio und zur Popmusik von einem „Nicht-Zuhören, bei dem man nichts verpasst“. Die Vorberichte zu vielen Fußballspielen sind genau das. Die Moderatoren, die Vorberichte, die Experten, der Korrespondent, sie alle dienen selten einem wirklich inhaltlichen Zweck. Sie sind symbolisch aufgeladene Figuren, die dem Zuschauer das Gefühl des Medienereignisses vermitteln soll.

Eine Durchbrechung des Rituals

Ich möchte mich an dieser Stelle einmal sehr lobend über die Berichterstattung des ZDF zur Europameisterschaft 2016 äußern. Selbstverständlich blieben auch sie im Ritual der Fußballübertragung (was zeigt, dass dies nicht genuin negativ zu sehen ist), aber es gelang ihnen doch, einige Neuerungen einzubringen. Zunächst einmal gehört Oliver Kahn zu den wenigen Fernsehexperten, die sich konsequent fortgebildet haben, sich sehr ruhig und gut ausdrücken können und gleichzeitig immer noch die Aura des ehemaligen Profis behalten. Somit ist Oliver Kahn ein Symbol dafür, dass ein Experte den Zuschauer zwar dort abholten sollte, wo er sich befindet, ihn aber auch durchaus weiterbringen sollte. Gemeinsam mit Oliver Welke bildet er ein eingespieltes Duo. Interessant ist die Besetzung von Welke insofern, da er zwar eigentlich Sportmoderator ist, aber in den letzten Jahren eher für seine Satire-Sendung bekannt wurde. So hat man zwei Leute, die ein weites Feld an Erfahrungen mitbringen und ein wirkliches Interesse daran zeigen, dem Zuschauer etwas Inhaltliches zu vermitteln. Die wechselnden Gäste in der Runde stellen sich gegen das eigentliche Ritual der Wiedererkennung. Dadurch wird das vorher adynamische Ritual aufgebrochen und es kommen immer wieder neue Positionen ins Spiel. Mit Stanislawski an der Taktiktafel fügt man einen weiteren Baustein hinzu. So hat man verschiedene, fachlich fundierte Meinungen, die ein harmonisiertes Bild ergeben. In diesem Studio wurde nicht versucht, das Wohnzimmer des Zuschauers nachzustellen, sondern eine wirkliche Differenz zu schaffen. Fernsehen diente hier nicht als Inszenierung von Nähe oder Realität, sondern als Möglichkeit der Fortbildung und Herausforderung des Zuschauers.

Und nun?

„Nur noch selten ist im Fernsehen der Mensch ein Ereignis. Die Formate sind zu tot geritten, die Rituale zu steif, die Protagonisten zu besessen vom eigenen Bild.“ So drückte es Roger Willemsen in seiner (berechtigten) Lobeshymne auf das Dschungelcamp aus.

Die häufig zitierte Aussage, dass der Zuschauer das alles genauso wollen und man von daher nichts daran ändern sollte, ist eine fehlgeleitete. Ja, es gibt Dinge, die genuin für das Fernsehen sind und sich sehr schwer verändern lassen. Dieser Text ist als Anstoß zu einer weitaus größeren und komplexeren Debatte gedacht. Journalismus im Allgemeinen und die Fußballübertragungen im Speziellen müssen sich wesentlich mehr mit Inhalten beschäftigen, sich aus festgefahrenen Denkmustern lösen und aufhören, den Zuschauer zu unterschätzen. Es darf nicht weiterhin darum gehen, den Zuschauern nur das zu liefern, was sie (scheinbar) sehen möchten. Es muss eine Debatte darüber geführt werden. Fernsehzuschauer aller (Bundes-)länder, vereinigt euch. Es muss mehr darüber gesprochen werden, wie Fußball dargestellt wird, was wir als Zuschauer wollen. Wollen wir, dass alles so weitergeht, dass sich nichts verändert? Möchten wir immer das Gleiche sehen? Oder wollen wir uns überraschen lassen? Leute im Fernsehen sehen, die Mut haben, einen neuen Weg einzuschlagen? Man muss auch Fußballfernsehen als Kunst betrachten. Und damit stimmt es dann einmal mehr:

„Jede Epoche hat die Kunst, die sie verdient.“

Fußnoten

[1] Siehe dazu den hochinteressanten Text „Medienereignisse“ von Daniel Dayan und Elihu Katz (2001) im Buch „Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft“. Die beiden kritisieren interessanterweise, dass „im Hinblick auf die Medienereignisse […] das journalistische Paradigma von Objektivität und Neutralität schlichtweg irrelevant“ (S.431) ist.

[2] s. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935).

[3] Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk, S.189-199

Beitragsbild: WDR Kamera / Meid, Maik via Flickr | CC-BY-SA 2.0

Du hast auch ein Thema, das Dich bewegt und das gut zu 120minuten passen könnte? Dann wäre vielleicht unser Call for Papers etwas für Dich!

]]>
https://120minuten.github.io/der-fussball-und-das-fernsehen/feed/ 1 3035