a Sebastian Kahl – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Thu, 14 Dec 2017 17:03:03 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Der letzte Leitwolf https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/ https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/#comments Thu, 09 Mar 2017 17:00:32 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3151 Weiterlesen]]> Am 3. März 2010 war es noch nicht absehbar, doch ein Großer verließ die Nationalmannschaft. München bereitete im Testspiel gegen Argentinien die Bühne für den letzten Auftritt Michael Ballacks im schwarz-weißen Dress. Der Abgang selbst sollte sich elendig lang hinziehen. Der dritte Teil einer Retrospektive (hier geht es zu Teil 1, Teil 2 ist hier zu finden).

Autor: Sebastian Kahl

Das Ende nahm in Wien seinen Anfang. Auch bei der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz liefen die Fäden des deutschen Spiels bei Michael Ballack zusammen. Erneut trieb der nun 31-Jährige sein Team mit wichtigen Treffern an. Im letzten Gruppenspiel gegen Österreich erzielte er das einzige Tor der Partie. Ballacks brachialer Freistoß wurde anschließend in Deutschland zum Tor des Jahres gewählt. Im Viertelfinale gegen Portugal stellte er per Kopf auf 3:1. Nach einem Anschlusstreffer von Helder Postiga gereichte das zum Siegtreffer. 

Es war allerdings keine Ein-Mann-Vorstellung mehr. Der 2008er Kader ist der wohl beste, in dem Ballack zu einem Turnier antrat. Die Achse Lehmann, Metzelder, Frings, Ballack, Klose brachte die nötige Erfahrung mit, während Talente wie Lahm, Mertesacker, Schweinsteiger und Podolski nicht mehr blutjung waren. In der Folge sollten es diese vier auf insgesamt 467 Länderspiele bringen. Die Allrounder Friedrich, Fritz, Jansen und Hitzlsperger sowie der im Turnier glücklose Gomez ergänzten das Aufgebot, das mit einer ungewohnt offensiven Mentalität, nervenaufreibender defensiver Naivität und einer Portion Glück das Endspiel erreichte.

Dort fiel die Niederlage gegen Spanien mit 0:1 noch gnädig aus. “Deutschland, Holland, Italien”, lautet zukünftig die Antwort auf eine Fußball-Quizfrage. Es sind die Finalgegner einer der besten Mannschaften aller Zeiten. Zu groß war die Kluft zur Furia Roja.

„Ballack, ein verwünschter Kapitän.“

Le Parisien (FRA), nach dem verlorenen EM-Finale 2008

 

Für Ballack ergab sich eine bittere Parallele zu 2002. Lagen damals knapp sieben Wochen zwischen verlorenem CL- und WM-Finale, waren es nun kaum mehr sechs zwischen CL- und EM-Finale. Lagen damals noch realistischerweise vier bis sechs Spielzeiten auf einem ähnlichen Weltklasse-Niveau vor ihm, waren es nun mit etwas Glück bei möglichen Verletzungen noch zwei oder drei Spielzeiten in der internationalen Klasse.

Was sich knapp ein Jahrzehnt danach nüchtern aufrechnen lässt, dürfte am Abend selbst im Spielerkopf auf einer ganz anderen Gefühlsebene rumort haben. Der immens wetteifernde Ballack wirkte nie wie jemand, der sich darüber freut, im Anschluss an ein solches Finale bei der Siegerehrung eine Medaille für den zweiten Platz entgegennehmen zu müssen. Es ist wenig verwunderlich, dass sich in dieser Gemengelage ein Konflikt Bahn brach, der wohl schon seit Wochen im Camp schwelte.

Im ersten Turnier unter der Ägide von Joachim Löw wurden die Machtverhältnisse neu ausgelotet, innerhalb des Teams wie auch im Verhältnis zwischen Trainerstab und Mannschaft. Die Altvorderen um Ballack und Frings reklamierten diese Vormachtstellung für sich, sollen so z.B. eine Reduzierung des Fitnessprogramms im Trainingslager durchgesetzt haben. Ballack sprach sich gegen die Besuche der Frauen und Freundinnen im Camp aus, betitelte diese als “unprofessionell”. Ein Novum: Neben den Lebensgefährtinnen der Spieler waren erstmals auch Familienangehörige des Trainerstabs regelmäßig im Camp zu Besuch.[1]

Besonders nach der 1:2-Niederlage gegen Kroatien im zweiten Gruppenspiel schien die Stimmung auf der Kippe. Kapitän Ballack hatte sich Einwechsler Odonkor zur Brust genommen und dessen gezeigte Leistung kritisiert. Lahm und Friedrich gingen dazwischen, Odonkor sei als Ergänzungsspieler die falsche Gewichtsklasse. Während die ältere Generation in unmissverständlicher Sprache ihre Meinung kundtat, störten sich die Jüngeren vor allem am fehlenden Mannschaftsgeist und negativen Vorbildern.[2]

Als Herbergsvater der Sippschaft fungierte Oliver Bierhoff. Der 70-fache Nationalspieler wurde zum Amtsantritt von Jürgen Klinsmann im Sommer 2004 als Teammanager installiert. Die neu geschaffene Position diente als Bindeglied und Blitzableiter zwischen dem Trainerstab der Nationalmannschaft und dem DFB-Präsidium. Teammanager Bierhoff verantwortete neben der Planung und Durchführung der Trainings- und Turnierlager ebenfalls die Marketingstrategie der DFB-Auswahl.

So war es dann auch Bierhoff, der nach Abpfiff des verlorenen EM-Finales wagemutig Ballack ein Spruchband in die Hand drückte, mit dem sich das Team bei den Fans für die Unterstützung bedanken sollte. Als nette Geste gedacht, mutierte die Szene zum unrühmlichen Schauspiel. Neben den unflätigen Ausdrücken, die Ballack Bierhoff dabei entgegen geschleudert haben soll (FAZ: “Pisser”, “Obertucke”), drohte der aufgebrachte Kapitän seinem Teammanager laut kicker-Bericht auch Schläge an. Kevin Kuranyi konnte ihn von Schlimmerem abhalten.[3][4]

Unmittelbar nach der Partie wurde die Situation kleingeredet. Bierhoff zeigte sich verständnisvoll ob der erneuten Enttäuschung und vermutete ein Missverständnis. Ballack schwieg. Wohl auch intern, denn da wurde die Situation nicht aus der Welt geräumt, bevor sich die Auswahlspieler in den Urlaub empfahlen.

Erst im September folgte die Aussprache und eine Entschuldigung seitens Ballack für seine Wortwahl. Trotz Verletzung und Nicht-Nominierung für den Auftakt zur WM-Qualifikation gegen Liechtenstein erschien Ballack im Trainingslager in der Sportschule Oberhaching. Und trotz angenommener Entschuldigung konnte sich Bierhoff eine weitere Spitze gegen Ballack nicht verkneifen. Angesprochen auf das verletzungsbedingte Fehlen des Kapitäns stellte Bierhoff trocken fest, die Nationalmannschaft habe sowohl mit als auch ohne Ballack gute Spiele gemacht und sei nicht so abhängig von ihrem Star, wie häufig angenommen. Dieser wiederum entgegnete, dass die Nationalmannschaft Erfolg hatte, bevor Bierhoff Teammanager war und auch zukünftiger Erfolg nicht von Bierhoff abhängen werde. Einig waren sich die beiden wohl nur, dass sie gut aufeinander in der Nationalmannschaft verzichten könnten.[5][6]

Derweil wusste die BZ, wie die Sympathien in der Mannschaft verteilt waren: Team Ballack umfasste Frings, Schweinsteiger, Podolski, Hitzlsperger, Gomez und Fritz. Auf Seiten Bierhoffs standen Lahm, Metzelder, Klose, Friedrich und Jansen. Der Rest sei neutral – oder froh, überhaupt dabei zu sein.[7]

Kapitän und Adjutant

Der größte Ballack-Befürworter in Mannschaftskreisen war sicherlich Torsten Frings. Beileibe nicht als Frohnatur bekannt, wird auch der eine oder andere jüngere Spieler mit dem knorrigen Bremer aneinander geraten sein. Spätestens seit der EM 2004 gehörte der Lutscher zum Stammpersonal der Nationalmannschaft, gab neben Ballack im zentralen defensiven Mittelfeld den Aufräumer und Wasserträger. Zwei vom selben Schlag bildeten ein Duo, das funktionierte.

Auch bei der EM 2008 bestritt Frings alle Gruppenspiele, ehe ihn eine Rippenverletzung aus der Österreich-Partie im anschließenden Viertelfinale zur Pause zwang. Mit einer Einwechslung im Halbfinale und einem Startelf-Einsatz im Finale bestritt Frings also fünf von sechs Partien. Allerdings war Frings auch einer von sechs Spielern über 30 im Kader und entsprach damit nicht dem Jugendtrend. Die Optionen im zentralen Mittelfeld hießen nun Schweinsteiger, Hitzlsperger und bald darauf Khedira. Die Konkurrenz um den Posten neben Ballack war jünger, handlungsschneller, formbarer.

“Ich weiß, dass er seine Leistung noch bringen kann und bringen wird”, kommentierte Löw Frings’ Status im Oktober 2008. Die Aussage stand am Ende eines Länderspielwochenendes, bei dem Frings sechs von 180 Minuten gespielt hatte.

Am Vorabend des ersten Spiels, gegen Russland, habe Löw seinem Mittelfeldmann gegen 20 Uhr mitgeteilt, dass er mit ihm reden müsse. Erst nach Mitternacht habe er Frings dann auf sein Zimmer bestellt, um ihm “lapidar” mitzuteilen, dass er nicht in der Startelf stehen würde. Frings empfand die Art der Übermittlung als “Unverschämtheit”. Dass er sich im zweiten Spiel gegen Wales nicht einmal warmlaufen sollte, war eine “Demütigung”. Einen Rücktritt wollte er danach nicht ausschließen, denn das Wochenende habe ihm die Augen geöffnet.

Frings müsse “diese Pille eben auch mal schlucken”, befand Löw. Und schob einen Satz nach, den er über die Jahre noch so manchem Spieler ins Poesiealbum schreiben würde: “Ich setze weiter auf ihn.”[8][9]

Ballack sprang für seinen alten Kumpanen öffentlich in die Bresche. Nur wenige Wochen nach der überstandenen, aber sicherlich nicht überwundenen, Spruchbanner-Saga öffneten sich nun alle Schleusen.

In der FAZ kritisierte der Kapitän die Form des Konkurrenzkampfes. Gestandene Leistungsträger, Frings, Klose und auch er, würden plötzlich in Frage gestellt und öffentlich angegriffen. Vom Bundestrainer forderte er ehrlichere Ansagen, wenn Spieler nicht mehr in die Pläne passen sollten. Und zählte flugs Beispiele auf, nannte so Kahn, Kuranyi und Wörns, die ebenfalls mehr schlecht als recht aus der Mannschaft hinauskomplimentiert wurden.

Die Abgänge Kahn und Wörns fallen zwar noch unter die Amtszeit Klinsmanns. Ballack sah aber Löw in derselben Tradition. Kuranyi hatte sich während des vorgenannten Russlandspiels unerlaubterweise von der Mannschaft entfernt, nachdem er trotz Nominierung nur auf der Tribüne Platz nehmen durfte. Löw erklärte hernach die Nationalmannschaftskarriere Kuranyis für beendet. Auch Ballack kritisierte Kuranyis Aktion, sah darin aber vielmehr eine forcierte Handlung. Löw habe ihm schlichtweg keine Chance gegeben.[10]

Löw zeigte sich, verständlicherweise, verwundert und enttäuscht über die öffentlich vorgetragene Kritik. Ballacks Kommentare waren kein simples Rückenstärken eines verdienten Mitspielers. Vielmehr glich der Rundumschlag einer Kampfansage, denn wie Löw in seiner Replik richtig feststellte, waren “Aufstellung und Personalpolitik das Hoheitsgebiet des Bundestrainers und seines Trainerstabs”.

Eines verwundert: Löw betonte, Ballack sei als Kapitän ein wichtiger Ansprechpartner für ihn. Tatsächlich saßen die beiden im September bei Ballacks Besuch in Oberhaching mehrere Stunden zusammen. Auch der Plan für Südafrika stand: Das Spiel sollte schneller, die jungen Talente integriert werden. Allein 2009 würden Neuer, Boateng, Khedira und Özil debütieren. Selbst wenn Frings seine Form zwei weitere Jahre halten sollte, war doch nur noch eine WM-Teilnahme als – dann 33-Jähriger – Ergänzungsspieler realistisch. War es kein Thema? An welchem anderen Punkt sollte ein Trainer denn seinen Kapitän einschalten, wenn nicht um dessen besten Freund im Team auf eine veränderte Rolle oder einen möglichen Abgang vorzubereiten? Ein Reservespieler Frings würde nur funktionieren, wenn sich der Bremer darauf einließ.

Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus. DFB-Sportdirektor Matthias Sammer rügte, dass sich der Kapitän auf dieselbe Stufe wie der Trainer zu stellen versuchte. Letzterer sei “immer etwas Außergewöhnliches”. Karl-Heinz Rummenigge und Jürgen Klinsmann befanden, Ballack müsse sich entschuldigen. Während Lothar Matthäus das gegenseitige Vertrauen erloschen sah, appellierte Klaus Allofs, damals Werder-Manager, an die Vernunft aller, sich an einen Tisch zu setzen. DFB-Präsident Theo Zwanziger monierte zum wiederholten Male binnen mehrerer Wochen, die schmutzige Wäsche der Nationalmannschaft doch bitte nicht in der Öffentlichkeit zu waschen.[11][12][13]

Ballacks Gesundheitszustand verkomplizierte die Posse nur noch. Der 32-Jährige war kurz zuvor an beiden Füßen operiert worden, befand sich in der Reha. Eine Woche schwelte die Geschichte bereits, als ausgerechnet Uli Hoeneß Löw zur Aktion forderte. Bei aller Zeit, die der Bundestrainer ja habe, hätte er “selbst längst nach London fliegen und die Sache aus der Welt räumen können”. Der Schweizer Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld pflichtete ihm bei. Wer den beiden zur gemeinsamen Bayern-Zeit einen solchen Vorschlag gemacht hätte, wäre nie wieder auch nur in die Nähe der Säbener Straße gekommen.[14]

Löw dürfte sich der Symbolkraft eines solchen “Besuchs” bewusst gewesen sein. Der Bundestrainer hatte sich in dieser Situation nicht auf den Störenfried zuzubewegen. Daher wurde telefoniert. Was die Angelegenheit nur schlimmer machte.

Anders als beim Treffen im September dürfte es über die Inhalte keine Missverständnisse gegeben haben, wohl aber über die Interpretation. Ballack kam einer Erklärung des DFB zuvor und ließ bereits am selben Abend eine Erklärung veröffentlichen. Er wolle sich “in kürzester Zeit” mit Löw zusammensetzen und sich entschuldigen. Wohlgemerkt dafür, den Weg über die Öffentlichkeit gegangen zu sein. Während sich Ballack für die Form der Kritik entschuldigen wollte, erwartete Löw eine komplette inhaltliche Kehrtwende.[15]

Ballacks Zukunft in der Nationalmannschaft schien nun wirklich ungewiss. Selbst ein kompletter Rausschmiss war denkbar. Die Abendzeitung wollte von einem Ablasshandel erfahren haben, wonach Ballack zwar weiter Teil der Mannschaft bleiben würde, jedoch nicht mehr ihr Kapitän wäre. Der Favorit auf die Nachfolge: Philipp Lahm.[16]

Drei Tage nach dem Telefonat trafen sich die Parteien zum Friedensschluss. Ballack reiste im Privatjet nach Frankfurt, trotz Reha. Zwei Stunden trafen sich Bundestrainer und Kapitän unter vier Augen. Danach gab der DFB in einer Pressemitteilung zu erklären, Ballack habe seinen Fehler eingesehen: An die Öffentlichkeit zu gehen, habe den Eindruck erweckt, Ballack wolle Löw in seiner Position als Bundestrainer kritisieren. Er blieb Kapitän. Wenige Wochen später sollte er in einem Interview mit dem Pay TV-Sender Premiere zu Protokoll geben, dass er die Öffentlichkeit bewusst gesucht habe, “um ein bisschen wachzurütteln”. Was er da auf der anderen Seite im letzten halben Jahr erweckt hatte, sollte die Zeit zeigen. Die Auflösung des Disputs bestätigte nur, dass Ballack fußballerisch noch zu wichtig für die Nationalmannschaft war. Der Gegenbeweis sollte bei der Weltmeisterschaft 2010 erbracht werden.[17][18]

Meanwhile in London

Währenddessen hatte in London in Folge des verlorenen Champions League Finales 2008 Luis Felipe Scolari die Zügel in die Hand genommen. Und wohl recht schnell schleifen lassen. Denn an der Stamford Bridge war niemand so wirklich mit dem Weltmeistertrainer warm geworden, zu fremd die Methoden, zu schlecht die Ergebnisse. Nach wenigen Monaten war die Amtszeit des Brasilianers beendet. Auch Ballack soll seinem Unmut über den Trainer Luft gemacht haben.[19]

Als Nachfolger wurde Guus Hiddink auserkoren, ein Glücksgriff sowohl für den Verein als auch den deutschen Mittelfeldspieler. Hiddink stabilisierte das Team und brachte den Erfolg zurück, Ballack war gesetzt. Der holländische Coach nutzte ihn so defensiv wie sonst wohl keiner. Ballack agierte teilweise als einziger defensiver Mittelfeldspieler vor der Abwehr. In anderen Phasen teilte er sich die Aufgaben mit Michael Essien. Ein Ligator bei 29 Einsätzen sind Ausdruck für seine offensiv harmloseste Saison in England. Vorne brillierten Frank Lampard, Florent Malouda und der unter Hiddink ebenfalls neu aufblühende Didier Drogba.

Neben seinem Engagement bei Chelsea war Hiddink zugleich Trainer der russischen Nationalmannschaft. Er arbeitete von vornherein mit geborgter Zeit. Da die Konkurrenz aus dem Norden in der Liga bereits enteilt war, musste ein Pokal her, um den Coach am Saisonende mit einer Trophäe zu verabschieden. Wieder einmal ist es gerade der Wettbewerb, in dem es nicht klappte, der in Erinnerung bleibt. Im Halbfinal-Hinspiel der Champions League hatte Chelsea Guardiolas Barcelona ein 0:0 abgetrotzt. An der Stamford Bridge führten sie lange mit 1:0. Mehrere berechtigte Elfmeter wurden den Hausherren nicht zugesprochen. Unvergessen, wie Ballack Schiedsrichter Tom Henning Øvrebø mit wutverzerrtem Gesicht und ausgestreckten Armen über den Platz verfolgt. Die unrühmliche Szene zeigt, unter was für einem Druck er und sein Team standen. Andres Iniesta besorgte schließlich in der dritten Minute der Nachspielzeit den Ausgleich und somit den Finaleinzug Barcas.[20]

Chelseas Triumph sollte wenige Wochen später in Wembley folgen. Dieses Mal bogen sie den Rückstand um, Evertons Louis Saha hatte bereits nach 25 Sekunden getroffen. Drogba antworte nach 20, Lampard nach 70 Minuten. Im Sommer zog Ballack die Option, seinen Vertrag um ein Jahr zu verlängern und mahnte, dem neuen Trainer Carlo Ancelotti die nötige Zeit zu geben. Mit Mourinho, Grant, Scolari und Hiddink würde Ancelotti Chelseas fünfter Cheftrainer in nur drei Jahren werden.

Aber auch der baute auf den Deutschen, der 2009/10 auf 45 Pflichtspieleinsätze (fünf Tore) kam. In der Champions League war überraschend früh Schluss. Bereits im Achtelfinale mussten sich die Blues gegen Internazionale geschlagen geben, verloren sowohl Hin- als auch Rückspiel. In der zweiten Begegnung wurden auf beiden Seiten je vier Spieler verwarnt, Drogba flog nach einem Tritt gegen Thiago Motta vom Platz. Die zynische Spielweise der Mourinho-Truppe sollte u.a. noch Barcelona zur Verzweiflung treiben und am Ende zum Titelgewinn verhelfen. Chelsea war in diesem Sinne einmal mehr schicksalsbehaftet, schieden die Londoner doch bereits zum dritten Mal in Folge gegen den späteren CL-Sieger aus.

In England war die Saison jedoch ein voller Erfolg. Chelsea wurde mit einem Punkt Vorsprung auf Manchester United Meister. Das war vor allem ihrer überragenden Offensive zu verdanken: Nie hatte ein Premier League-Team mehr als 100 Tore geschossen, Chelsea schaffte 103. Dabei schossen sie gleich vier Teams mit sieben oder mehr Buden ab. Drogba wurde mit 29 Treffern Torschützenkönig, Lampard steuerte grandiose 22 Tore bei. Auch den FA Cup konnte Chelsea verteidigen und so das nationale Double klarmachen.

Das Foul und die Folgen

Der 15. Mai 2010: Gegner im Finale von Wembley war Portsmouth, die in der Liga aufgrund finanzieller Probleme abgeschlagen den letzten Tabellenplatz belegt hatten. Trainer Avram Grant wusste die Frustrationen immerhin in einen guten Pokallauf zu lenken. Mit Sunderland, Birmingham und Tottenham wurden drei Premier League-Teams ausgeschaltet.

Für eine Spielzeit hatte auch Kevin-Prince Boateng seine Zelte im Süden Englands aufgeschlagen. Der Deutsch-Ghanaer schaffte zuvor bei Hertha den Durchbruch und erarbeitete sich dort sowie bei seinen Stationen Tottenham und Dortmund den Ruf des Bad Boys. Nach gut einer halben Stunde gerieten er und Ballack im FA-Cup-Finale aneinander. Letzterer hatte sich mit Boatengs Mitspieler Brown ein sehr aktives Kopfballduell geliefert. In der anschließenden Auseinandersetzung wischte Ballack Boateng durchs Gesicht. Referee Chris Foy beließ es bei einer Ermahnung.

Boateng nicht. Nur wenige Minuten später räumte er Ballack resolut ab. Ob vorsätzlich oder nicht, Rücksicht auf Verluste nahm der damals 23-Jährige in der Situation nicht. Wohlwollend ging es ihm darum, den ballführenden Spieler und den gegnerischen Angriff zu stoppen. Zimperlich war Portsmouth aufgrund des Klassenunterschieds ohnehin nicht ins Spiel gegangen. Auf der anderen Seite wirkte es so, als hätte hier einer seine Chance zur Revanche gesehen und genutzt.

Letztere Auslegung entsprach dem geltenden Tenor in Deutschland. Boateng wurde auf Jahre zur persona non grata, denn Ballack schleppte sich im Finale zwar noch einige Momente über den Platz, wurde dann aber noch vor der Halbzeitpause ausgewechselt.

Mit der Diagnose kam der Schock: Teilriss des Syndesmosebandes im rechten Sprunggelenk. Die WM in Südafrika würde ohne den Kapitän der deutschen Nationalmannschaft stattfinden.

Ein solcher Wegbruch der Gallionsfigur war unvorstellbar. “Das Gerüst steht auf sehr wackligen Beinen”, befand der mittlerweile geschasste Torsten Frings im Hinblick auf die Kadersituation. Auf der Position im zentralen Mittelfeld fehlten neben Ballack auch Simon Rolfes und Christian Träsch verletzt. Frings spielte keine Rolle mehr in den Überlegungen des Bundestrainers. Im Februar 2009 war der Bremer noch einmal zu einem letzten Einsatz für die Nationalmannschaft gekommen. Bis zur finalen Absage von Löw, dass er nicht mehr mit ihm plane, sollte ein weiteres Jahr vergehen.[21]

Das Problem mit all den Grünschnäbeln, der “Fraktion Schwiegersohn” (Frings), die ihn und andere Altgediente im Kader ersetzen sollten, waren laut Frings die mangelnde Wettkampfhärte und die fehlende Turnier-Erfahrung. “Gegen England, Argentinien oder Spanien wird es somit eng werden”, prophezeite Frings.[22]

Mit 8:2 Toren in den Spielen gegen England, Argentinien und Spanien zog sich die unerfahrene Truppe dann aber achtbar aus der Affäre. Es sind die K.o.-Spiele, die in der Erinnerung herausstechen. Gerade weil sie in zwei von drei Fällen eben nicht im Desaster endeten. Und weil der Fußball kaum mehr wieder zu erkennen war. Hinten heraus leitete Neuer mehrere Treffer mit schnellen Abschlägen und -würfen ein. Die Abwehr um Mertesacker und Lahm war gefestigt. Schweinsteiger und Khedira ergänzten sich in der Zentrale, ließen Özil davor zur Entfaltung kommen. Der unbekümmerte Thomas Müller wurde zur Entdeckung des Turniers. Vorne schloss Klose unwiderstehlich die Angriffe ab.

Der bemühte Ballbesitzfußball, der auch in der Zeit unter Klinsmann noch notgedrungen gespielt wurde, gehörte der Vergangenheit an. Das Spiel war nun auf Vertikalität und überfallartige Konter ausgelegt. Lagen 2005 zwischen Ballannahme und Weiterleitung im Schnitt noch 2,5 Sekunden, waren es nun nur 1,1. Gegen England und Argentinien wurde die Sekunden-Marke sogar noch unterboten.[23]

Begünstigte Ballacks Ausfall die Spielweise? Selbstverständlich wäre es mit einer solch dominanten Figur nicht dasselbe Spiel gewesen. Die Entwicklung hin zum schnelleren Stil fand aber nicht ausschließlich im Trainingslager von Erasmia nahe Johannesburg statt. Ballack machte den Prozess mit, auch bei den Spielen der EM 2008 war schon ein Unterschied erkennbar. Das Tempo lag dort bei 1,8 Sekunden zwischen Annahme und Verarbeitung. Im englischen Liga-Alltag kam er zurecht, die vertikale Bewegung zwischen den Strafräumen war seine Stärke. Das richtige Gespür, wann er beim Konter aus dem Mittelfeld den Lauf in den Strafraum anbieten müsste, hatte er jahrelang perfektioniert.

Ballack wäre auch in einer erfolgreichen 2010er Mannschaft denkbar. Als einer, der “auf den Ball treten” und “Tempo rausnehmen” als strategische Mittel einsetzen kann. Nicht als Altgedienter, den es durchzuschleifen gilt.

Begünstigte Ballacks Ausfall nicht viel eher die Stimmung im Camp und somit indirekt die Spielweise?

Während der Kader 2008 unter dem “Generationenkonflikt” litt und 2012 von den Grabenkämpfen zwischen Bayern- und Dortmund-Spielern bestimmt wurde, glich die Situation in Südafrika allen Angaben nach eher dem ersten sturmfreien Abend eines Haufens Zwölfjähriger. Viele Spieler vom gleichen Schlag, die die Erfahrung des ersten oder zweiten Turniers eher mit großen Augen aufsaugten als sich die nötige “Wettkampfhärte” abzuholen. Ein guter Teil der Truppe kannte sich eh aus den Junioren-Auswahlmannschaften. 2009 gewann die U21-Auswahl die Europameisterschaft. Fünf Spieler, die dort das Finale bestritten, kamen im Jahr darauf auch in Südafrika zum Einsatz. Die “Fraktion Schwiegersohn” machte die Nationalelf zu ihrer Elf, schneller, als dem einen oder anderen lieb war.

Ein Kapitän ohne Team

“Natürlich ist das nicht einfach”, gab der zugeschaltete Kapitän zu Protokoll. Im Vorbericht der ARD zur Achtelfinal-Partie hatte Ballack den England-Experten gemimt. Wie denn die Stimmung sei, ob Capello aus den Einzelspielern ein Team formen könne. (Durchwachsen. Nein.) Nun sollte es aber um den Capitano gehen. So bejahte der Verletzte die Frage, ob er denn als Fußballer und obendrein Kapitän nicht lieber bei der Nationalmannschaft sei und die WM mitspiele, statt sie vor dem Fernseher zu verfolgen. Fünfzehn Jahre im Stahlbad der Medien hatten Ballack längst zum Profi werden lassen, und doch sind Frustration und Bitterkeit zu erahnen. Bei einem Weiterkommen würde er zur Mannschaft reisen, der Plan stünde. Der Viertelfinal-Einzug fehle zwar noch, aber da mache er sich keine Sorgen.

Auf den moralischen Support schien in Südafrika allerdings niemand gesteigerten Wert gelegt zu haben. Das Viertelfinale verfolgte Ballack im Stadion. In einer Szene fangen ihn die Kameras im Innenraum ein, dem Eingang zu den Katakomben näher als dem Spielfeldrand. Er wirkt vielmehr wie der Ritter von der traurigen Gestalt denn als Kapitän, der seine Mannschaft anfeuert. Und vielleicht liegt hier in der Nachbetrachtung auch schon eine vertane Chance. Es muss verdammt schwer sein, das womöglich letzte Turnier in international hochklassiger Form in solch einer Weise zu verpassen. Dann aber mit den Gegebenheiten zu arbeiten und, nicht im Camp, aber doch vor Ort, den ersten Cheerleader der Mannschaft zu geben, hätte ihm wohl viele Sympathien eingebracht. Oliver Kahn setzte sich bei der WM 2006 auf die Bank, nachdem er den Zweikampf um die Position als Stammtorhüter gegen Jens Lehmann verloren hatte. Der Handschlag zwischen beiden vor dem Elfmeterschießen im Viertelfinale gehört zu den Szenen des Turniers.

Ballack zog sich zurück und reiste nach einer Partie wieder ab, um sich selbst besser auf die neue Saison vorbereiten zu können und die Mannschaft in Ruhe arbeiten zu lassen. Dass im Halbfinale erneut gegen Spanien Schluss war, geriet dank des erfrischenden Stils fast zur Nebensache. Diese Elf habe noch Zeit, daraus würde sie lernen. Unter schlechten Vorzeichen hatte die Mannschaft eine doch erfolgreiche Weltmeisterschaft gespielt. Sogar das Spiel um Platz 3 gewann sie gegen Uruguay mit 3:2. An diesem 10. Juli 2010 sah die Zukunft der Nationalelf vielversprechend aus. Erstmals seit knapp einem Jahrzehnt schien darin auch eine erfolgreiche Variante ohne Ballack denkbar.

Noch im Mai hätte das niemand für möglich gehalten. Nicht einmal Philipp Lahm. Zumindest sprach der Interimskapitän es nicht öffentlich aus, als er gegenüber der SZ davon ausging, “dass Michael nach der WM wieder unser Kapitän sein wird”. Der Wind drehte noch während des Turniers. Lahm dürfte schon während der EM 2008? und zur Causa Frings als Rädelsführer der jungen Garde gegolten haben. Angespornt von den guten Leistungen seiner Mannschaft, schien die Zeit reif, auch extern Ansprüche zu stellen.[24][25]

Die erste Kampfansage lancierte der Münchner ausgerechnet vor dem Halbfinale gegen Spanien. Ballack war soeben abgereist, da warf Lahm am selben Abend in der BILD die Frage auf, warum er das Amt “freiwillig abgeben” sollte. Es sei doch klar, dass er die Kapitänsbinde gerne behalten möchte. In der folgenden DFB-Pressekonferenz befand Bierhoff den Zeitpunkt für “unglücklich”. Ein klares Bekenntnis blieb aus.[26]

Auch die Kritik von außen an Lahm, etwa von Effenberg oder Andi Herzog, störte sich eher am Zeitpunkt. Uli Hoeneß hatte Ballack bereits im Juni zum Rücktritt geraten, befand es für unklug, die EM 2012 mit dann 35 Jahren als großes Ziel ins Auge zu fassen. Lothar Matthäus sprach aus eigener Erfahrung, bereute sein Comeback Ende der 90er und gab die wohl vernünftigste Einschätzung zwischen allen Aufgeregten: Ballacks Fokus sollte auf der eigenen Gesundheit liegen, sodass er überhaupt im Verein noch einmal angreifen könne. Die Nationalmannschaft sei auch ohne ihn gut genug. Die Zeichen der Zeit zu erkennen und nun abzutreten, würde Größe beweisen.[27][28][29]

Schrödingers Kapitän

“Ich bin Kapitän der Nationalmannschaft”, verlautbarte Ballack beim Antritt in Leverkusen. Acht Jahre nach der dreifachen Vize-Saison war der Weltstar auf Bestreben von Bayers Sportdirektor Rudi Völler an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt. Im Hinblick auf Lahm pochte er auf die Hierarchien. Die Kapitänsfrage sei kein Wunschkonzert, bei Ansprüchen müsse er sich an den Trainer wenden. Oder direkt an ihn, denn beim nächsten Länderspiel werde Ballack “noch das eine oder andere Wort [mit Lahm] sprechen”.[30]

Beim ersten Länderspiel nach der WM waren allerdings beide nicht dabei, so wie viele andere Stammkräfte. Für die Statistiker: Im Testspiel gegen Dänemark im August 2010 führte Hitzlsperger die Mannschaft als Kapitän aufs Feld. Ballack fehlte auch Anfang September gegen Belgien und Aserbaidschan beim Auftakt zur EM-Qualifikation aufgrund von Fitnessrückständen. Das ersparte Löw erneut die Entscheidung. Der Bundestrainer wollte ohnehin zunächst mit beiden Spielern reden und “die Frage in aller Ruhe analysieren”. Auch “konzeptionelle Überlegungen” würden dabei eine Rolle spielen. Das legt den Schluss nahe, dass die Entscheidung schon gefallen war. Der offizielle Wechsel auf dem Posten des Kapitäns wäre der logische Endpunkt einer Entwicklung, die konsequent vorangetrieben wurde. Auch wenn die Umsetzung teilweise holpriger war als nötig, siehe Frings. Bierhoff ließ die Haltung der Verantwortlichen durchschimmern, als er bereits im Rahmen des Testspiels gegen Dänemark einen Appell nach Leverkusen schickte. So spüre Bierhoff aus Ballacks Aussagen, dass dieser noch “große Lust auf die Nationalelf” habe, die 100 Länderspiele voll machen und “eine starke EM spielen” wolle. Möglich wären die, dann aber nur nach den Regeln der Teamleitung. Bierhoff: “Ich glaube, das wird er nicht davon abhängig machen, ob er Kapitän bleibt.”[31][32]

So angriffslustig Ballack sich zum Antritt in Leverkusen gezeigt hatte: Sein zweiter Stint bei der Werkself stand unter einem schlechten Stern. Am 3. Spieltag musste er bereits nach einer halben Stunde verletzt ausgewechselt werden. Diesmal war es eine Schienbeinverletzung, die sich als hartnäckig erweisen sollte. Ballack fiel beinahe die komplette Hinrunde aus. In der Saison 2010/11 bestritt er nur 20 von 48 Leverkusener Pflichtspielen, wobei er 14 Mal in der Startelf stand. Glänzen konnte er selten.

Sein Team war allerdings trotzdem gut unterwegs. Leverkusen überwinterte auf Platz drei, punktgleich mit dem Tabellenzweiten Mainz, allerdings zehn Punkte hinter Dortmund. Mit seinem Vereins-Comeback zu Beginn 2011 wurde Ballack dann auch wieder, zumindest medial, ein Thema für die Nationalelf. Und bekam kurioserweise auch von Löw Rückendeckung. “Ballack ist der Kapitän, wenn er wieder dabei ist”, erklärte der Bundestrainer Ende Dezember in der Welt am Sonntag ohne Not. Ballack brauche nur Spielpraxis, dann regle sich alles andere schon.[33]

Die Devise lautete also: Aussitzen und hoffen, dass sich das Problem von allein erledigt. War es bei der ersten Länderspielreise im Februar 2011 durchaus sinnig, abzuwarten und zu schauen, wie sich Ballacks Fitnesszustand entwickelt, wurde mit fortschreitender Rückrunde einfach das Zeitfenster verschoben. Im Rahmen der anstehenden Nominierungen im Frühjahr wurde Ballack vertröstet, die Fitness… Aber man wolle sich in Kürze zusammensetzen und reden. Im Mai lautete der Tenor dann, man wolle “mal sehen, was in der nächsten Saison passiert”.[34]

Dabei war es ungewiss, ob Ballack diese noch in Leverkusen bestreitet, wechselt oder gar ganz aufhört. Denn auch im Verein hatte er beileibe keinen guten Stand. Der dreifache Fußballer des Jahres wurde weniger als heimkehrender Sohn betrachtet, denn mit Argwohn. Der Transfer ging vor allem auf Völler zurück, der seinen alten Weggefährten mit einem Zweijahresvertrag ausstattete. Das kolportierte Grundgehalt belief sich dabei auf sechs Millionen Euro im Jahr. Da hilft es nicht, auch noch Sonderbehandlungen einzufordern. Mit Trainer Jupp Heynckes war Ballack mehrfach aneinander geraten, da er sich halbfit nicht auf die Bank setzen wollte. Andererseits herrschte ohnehin ein Überangebot im zentralen Mittelfeld, defensiv wie offensiv. Das 4-2-3-1 als Grundlage ließe sich mit Simon Rolfes, Arturo Vidal und Renato Augusto sowie dem jüngeren Trio aus Stefan Reinartz (21 Jahre), Lars Bender (21 J.) und Gonzalo Castro (21 J.) eine ordentliche Doppelbesetzung ausmachen. Hinzu kam noch Routinier Hanno Balitsch, der zumindest den Vorteil hatte, fit zu sein und fit zu bleiben.[35][36]

Es war schon kaum mehr realistisch, dass sich Ballack noch einmal zum Leistungsträger eines Champions League-Klubs aufschwingen würde. In Leverkusen war kein Stammplatz zu haben, somit war auch eine leistungsbezogene Nominierung für die Nationalmannschaft in weite Ferne gerückt. Seit März hatte es rumort, dass Ballack noch eine Abschiedsspiel-Nominierung erhalten solle. Im Juni 2011 hatte Fußball-Deutschland schließlich Gewissheit, jedoch nicht ohne eine letzte Episode im Ballack-Löw’schen Rosenkrieg.

Vier Tage des Nachtretens

Am 16. Juni ließ der DFB über eine Pressemitteilung wissen, dass die Nationalmannschaft zukünftig ohne Michael Ballack plane und seinen Jugendkurs fortsetze. Ende März habe ein Treffen zwischen Löw und Ballack stattgefunden, zudem standen Bundestrainer und Kapitän a.D. regelmäßig telefonisch im Austausch. Löw habe dabei den Eindruck erhalten, dass Ballack durchaus Verständnis für die Sichtweise der Teamleitung hat. Im Interesse aller sei daher “eine ehrliche und klare Entscheidung angebracht” gewesen. Ein bereits angesetztes offizielles Freundschaftsspiel gegen Brasilien im August sollte als Abschiedsspiel dienen.[37]

Das Angebot schlug Ballack einen Tag später öffentlich aus. Im Nachhinein ein Test- zum Abschiedsspiel zu deklarieren, sei eine “Farce”. Ferner sei es scheinheilig zu behaupten, mit ihm und seiner Rolle sei “jederzeit offen und ehrlich umgegangen” worden.[38]

Das unwürdige Schauspiel nahm seinen Lauf. Die Reaktionen des DFB reichten von Gleichgültigkeit bis Entrüstung. Während Löw genau wusste, “was in den Gesprächen besprochen wurde”, zeigte Präsident Niersbach für Begriffe wie “Scheinheiligkeit” und “Farce” kein Verständnis. Die Gespräche seien aus seiner Sicht korrekt und fair verlaufen. Zudem soll im März bereits die Entscheidung über die Ausbootung/Abdankung kommuniziert und Stillschweigen vereinbart worden sein. Neben der Partie gegen Brasilien stand auch eine Nominierung im Mai für das Testspiel gegen Uruguay im Raum. So sollte die Marke von 100 Länderspielen erreicht werden. Dies habe Ballack ausgeschlagen.[39]

Ballack behielt am 19. Juni das letzte Wort, wohl aber nicht die Deutungshoheit. In einer Erklärung traf er Aussagen, die denen des DFB scheinbar diametral gegenüber stehen. Beim Treffen im März hätte Löw klar gesagt, dass er Ballack auf einem guten Weg sehe. Die Möglichkeit zur Rückkehr in die Nationalmannschaft wäre nicht versperrt. Vielmehr habe Ballack im Mai entschieden, selbst seinen Auswahl-Rücktritt zu verkünden. Als Zeitpunkt dafür schien ihm der Sommer angemessen. Dies sei so auch mit Löw und Niersbach abgestimmt worden. Während seines Urlaubs habe er dann lediglich eine Stunde vor ihrer Veröffentlichung von der Pressemitteilung erfahren.[40]

Letztlich verlief es wie schon mit Frings. An eine Wunderheilung, dass Ballack mit Mitte 30 nun endlich von Verletzungen verschont bleiben und nochmal an alte Glanztaten anknüpfen würde, wird niemand mehr geglaubt haben. Das Fass nicht während der WM 2010 aufzumachen, ist verständlich. Zumal Löws Vertrag mit dem Turnier auslief und eine Verlängerung an ein gutes Abschneiden geknüpft war. Die Frage, wo ein Spieler, der nicht zum Kader der 23 vor Ort gehört, gerade in der Hierarchie steht, dürfte nicht zu den pressierendsten des Bundestrainers gehört haben.[41]

Das mag und wird in der Mannschaft anders gewesen sein. Bei Ballacks Besuch dürfte dann wohl zu erkennen gewesen sein, dass er eben nicht mehr zu seinem Team kommt. Peter Ahrens brachte den Unterschied zwischen altem und neuen Kapitän auf den Punkt: Lahm ist Klassensprecher, nicht Leitwolf. Darauf sprang die Mannschaft in dieser Konstellation eher an. Und wollte diesen Weg weiter mitgehen. Lahm dürfte sich, ganz Klassensprecher, einer breiten Unterstützung im Team bewusst gewesen sein, die öffentliche Ansage in dieser Art und Weise während des Turniers zu lancieren. Das Ganze lässt sich beklagen oder bejubeln, als Fraktion Schwiegersohn schlecht reden oder zu flachen Hierarchien stilisieren. Es waren, wertfrei, einfach die Zeichen der Zeit.[42]

Und es waren andere Gegebenheiten, mit denen Ballack Mitte der Neunziger zwischen Chemnitz und Kaiserslautern als Jungprofi konfrontiert und in denen er sozialisiert wurde. “[Junge Spieler] hatten sich unterzuordnen, einzuordnen”, erzählte er 2009 in einem Interview mit der 11Freunde. Rechte und Freiheiten hätten junge Spieler nicht gehabt. Dafür konnten sie “innerhalb des Gerüsts wachsen”. Das zu vermitteln, ist Ballack nicht gelungen, wenn er es denn versucht hat.[43]

Nach der von Zwistigkeiten begleiteten EM 2008 soll der Bundestrainer seinem Kapitän ans Herz gelegt haben, seine Kritik an die Mannschaftskollegen doch moderater vorzutragen. Die dafür nötige Einfühlsamkeit mag ihm völlig abgegangen sein. Die Nuller Jahre hindurch verbrachte er in größtenteils “fertigen” Vereinsmannschaften. Bereits die Bayern hatten wenig Raum für junge entwicklungsfähige Spieler, solche die angelehrt werden mussten. Bei Chelsea war der Verdrängungskampf nur noch größer. Gestandene Spieler wurden für teures Geld geholt und, wenn sie nicht die erhoffte Leistung erbrachten oder in die Jahre kamen, durch andere gestandene Spieler ersetzt. Ballack war es im Sommer 2010 nicht anders ergangen. Alle zwei Monate zur Nationalmannschaft zu reisen, mit einer völlig ungewohnten Spielergeneration konfrontiert werden und diese dann in Reih und Glied bringen zu wollen, funktionierte nicht. Bzw. nur bis zu dem Punkt, wo die anderen nicht an der unabstreitbaren spielerischen Klasse vorbeikamen. Und irgendwann fehlten ihm die Kempen, die es auch noch so kannten, von Kahn und Lehmann über Nowotny und Metzelder hinzu Schneider und Frings.[44]

Nach der Weltmeisterschaft hätte die Entscheidung, die intern wohl gefallen war, auch kommuniziert werden können. Oder nach dem Treffen im März, bei dem jeder das rausgehört hat, was er hören wollte. Ballack mag der Letzte sein, der sich in diesem Fall Lahm kampflos geschlagen gegeben hätte, es wäre allemal ehrenwerter gewesen, als die Geschichte ein Jahr lang hinauszuzögern.

Und so schließlich Matthäus zu bestätigen, denn der hatte es am besten gewusst: Selber abtreten, Kräfte schonen, im Verein einen guten Abschluss finden. Auch Ballacks Saison 2011/12, in Diensten von Bayer Leverkusen, blieb von Verletzungen geplagt. Nur dieses Mal lief es chronologisch umgekehrt zur Vorsaison: Die beste Phase hatte Ballack von Oktober bis Dezember. Ein Muskelfaserriss verdarb dann die Rückrunde. Insgesamt machte Ballack 25 von 45 Pflichtspielen mit, stand 20 Mal in der Startelf. Nebenkriegsschauplatz in der zweiten Saisonhälfte war die Entscheidung, wie es weiterging. Wollte Ballack, dessen Vertrag auslief, in die MLS? Sollte Leverkusen verlängern? Dieses Mal entschied er selbst. Und hörte auf.

Unvollendet. Unvergessen?

Während großer Turniere gibt es einige Regelmäßigkeiten in Deutschland: Fatalismus zu Beginn, unangenehmer Patriotismus währenddessen und bei Problemen oder nach dem Ausscheiden die ewige Debatte um Führungsspieler der Marke Lautsprecher – eben Einer, der das Weiterkommen mit schierem Willen sichert.

Bei der EM 2016 war das nach dem zweiten Gruppenspiel nicht anders. Die Auswahlen Deutschlands und Polens trennten sich in Saint-Denis nach müdem Ballgeschiebe in einem torlosen Remis. Aufgrund des Turnierformats half das Unentschieden beiden. Der Auftritt der DFB-Elf ließe sich auch unter dem Motto “ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss” verbuchen.

In den USA hatte der Sportsender ESPN die Partie übertragen. “Sie versuchen immer schön zu spielen, den Ball ins Tor zu tragen”, monierte der diensthabende Experte. Sein Fazit: “Dieser Mannschaft fehlen ein bisschen Persönlichkeit und Charakter.”[45]

Nachdem alle Gazetten den Kommentar aufgegriffen und weitergesponnen hatten, äußerte sich auch Löw. Und wies Kritik an der Mannschaft vehement ab: “Als Außenstehender wäre ich da ganz ruhig.” Der Bundestrainer arbeitete sich an der Debatte als solcher ab, schien aber auch mit seiner Geduld dem ursprünglichen Unruhestifter gegenüber am Ende. “Wenn da irgendjemand jetzt was sagt…”[46]

Dieser Irgendjemand absolvierte 98 Länderspiele, holte insgesamt fünf Meisterschaften und sechs nationale Pokale. In drei Spielzeiten wurde er zum besten Fußballer des Landes gewählt, ein Jahrzehnt hindurch war er stets in der Verlosung. Und einige Zeit lang war er der einzige Lichtblick im ansonsten düsteren Fußballdeutschland.

Was Joachim Löw spitzzüngig formulierte, wirft in leicht geändertem Kontext eine interessante Frage auf: Welchen Stellenwert besitzt Michael Ballack im deutschen Fußball? Ist er aufgrund des fehlenden großen Titels ein Außenstehender, wenn es um die Ikonen des Sports geht? Verschwindet er zwischen den Europameistern von 1996 und den Weltmeistern von 2014 in der Bedeutungslosigkeit, wird so zu „Irgendjemandem“?

Im November 2016 wurde Jürgen Klinsmann als Ehrenspielführer der Nationalmannschaft ausgezeichnet. Die wenigsten deutschen Fans werden die ausgezeichneten Spieler aus dem Stegreif runterbeten können. Dafür ist der Titel zu selten Thema. Auch bei Klinsmann wurde die Verleihung nur als Nachricht versendet, fertig. Als eigens vom DFB vergebener Titel ist es natürlich PR, aber in seiner Seltenheit markiert Ehrenspielführer doch die prägenden Akteure einzelner Epochen: Walter, Seeler, Beckenbauer, Matthäus, Klinsmann; Wiegmann und Prinz bei den Damen.

Als nächste Spielergeneration ist die Reihe bald an den frühen Nullern, wenn sie denn geehrt werden sollten. Einzig Oliver Kahn könnte Ballack hier den Titel streitig machen, führte die DFB-Auswahl 50 Mal an und hat mit dem WM-Finale 2002 einen ähnlichen tragischen Schlüsselmoment wie Uwe Seeler 1966: Kahn sitzend an den Pfosten gelehnt, Seeler erschöpft und enttäuscht vom Platz gehend.

Für Ballack findet sich eine entsprechende historische Parallele möglicherweise in den Achtzigern: Karl-Heinz Rummenigge erzielte in 95 Länderspielen 45 Tore, die fünftmeisten. 1980 bereits Europameister geworden, führte Rummenigge anschließend die Nationalmannschaft von ‘81 bis ‘86 als Kapitän in zwei WM-Endspiele. Dort musste sich Deutschland Italien respektive Argentinien geschlagen geben.

Wer nicht ins Finale kommt, kann es auch nicht verlieren. Zwischen DFB-Pokal, FA und League Cup, Champions League sowie EM stand Michael Ballack in zwölf Endspielen auf dem Platz. Sieben Mal ging er als Sieger vom Feld, fünf Mal als Verlierer. Es ist das Schicksal des Mannschaftssportlers, dass er das Ergebnis, im Guten wie im Schlechten, nur zum Teil beeinflussen kann. Kehrte man alle Resultate um, wäre der Trophäenschrank immer noch voll. Und hätte den verdammten internationalen Titel.

Teil 1 und 2 lesen:

Tränen im Mai

Michael Ballack gilt in Deutschland als Unvollendeter. Das klingt episch, verkauft seine Karriere aber unter Wert. Dem größten Fußballer der Nation in den Nuller-Jahren haftet immer noch das Stigma des… Weiterlesen

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Ballack Begins

Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den… Weiterlesen

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Fußnoten und weiterführende Links

[1] http://www.sueddeutsche.de/sport/deutsche-nationalmannschaft-als-ballack-und-frings-noch-das-sagen-hatten-1.3005701-2

[2] http://sportbild.bild.de/fussball/nationalmannschaft/sport-bild-erklaert-ihn-und-nennt-namen-19687234.sport.html

[3] http://www.kicker.de/news/fussball/nationalelf/startseite/artikel/211281/

[4] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[5] http://www.rp-online.de/sport/fussball/em/dfb/ballack-legt-sich-mit-bierhoff-an-aid-1.1643937

[6] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[7] http://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/zoff-zwischen-bierhoff-und-ballack-eskaliert-boss-zwanziger-fordert-machtwort-von-loew

[8] http://www.spiegel.de/sport/fussball/ruecktrittsandeutungen-frings-fuehlt-sich-von-loew-gedemuetigt-a-584688.html

[9] http://www.spox.com/de/sport/fussball/dfb-team/1005/Artikel/torsten-frings-joachim-loew-nationalmannschaft-wm-enttaeuscht.html

[10] http://www.spiegel.de/sport/fussball/schuetzenhilfe-fuer-frings-ballack-legt-sich-mit-loew-an-a-585625.html

[11] http://www.augsburger-allgemeine.de/sport/Ballack-und-Frings-legen-im-Machtkampf-nach-id4376946.html

[12] http://www.smh.com.au/world/rebel-ballack-must-apologise-to-loew-says-klinsmann-20081024-58f1.html

[13] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/streit-in-der-nationalmannschaft-rummenigge-und-matthaeus-greifen-ballack-an-1710065.html

[14] http://www.abendblatt.de/sport/article107467016/Ballacks-Sorry-veraergert-Loew.html

[15] http://www.abendblatt.de/sport/article107467016/Ballacks-Sorry-veraergert-Loew.html

[16] http://www.abendblatt.de/brazil/article109033011/Wird-Lahm-Kapitaen-der-Nationalmannschaft.html

[17] http://www.abendblatt.de/sport/article107469709/Loews-Friedensbefehl-an-Ballack.html

[18] http://www.abendblatt.de/brazil/article108966905/Ballack-verteidigt-seine-Kritik-an-Loew.html

[19] http://www.telegraph.co.uk/sport/football/teams/chelsea/5674425/Former-Chelsea-manager-Luiz-Felipe-Scolari-points-finger-at-Drogba-Ballack-and-Cech.html

[20] http://www.espnfc.us/story/1050513/tom-henning-ovrebo-my-refereeing-errors-cost-chelsea-in-2009

[21] http://www.t-online.de/sport/id_21446882/nationalmannschaft-frings-laesst-loew-nach-zehn-minuten-einfach-sitzen.html

[22] http://www.spox.com/de/sport/fussball/dfb-team/1005/Artikel/torsten-frings-joachim-loew-nationalmannschaft-wm-enttaeuscht.html

[23]Insel des modernen Fußballs, Der vierte Stern, Raphael Honigstein

[24] http://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-wm-historie-kapitaene-des-dfb-von-regenmacher-bis-leitwolf-1.950666

[25] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/kritik-am-kritiker-isolierter-insulaner-1712751.html

[26] http://www.spiegel.de/sport/fussball/machtkampf-um-die-binde-kapitaenchen-gegen-capitano-a-704880.html

[27] https://www.welt.de/sport/wm2010/article8333838/Loew-und-Bierhoff-aergern-sich-ueber-Lahms-Attacke.html

[28] http://www.n-tv.de/sport/FussballWM/Hoeness-an-Ballack-Hoer-auf-article901523.html

[29] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/lothar-matthaeus-im-gespraech-die-mannschaft-braucht-ballack-nicht-mehr-11013100.html

[30] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-um-kapitaensamt-ballack-sagt-lahm-den-kampf-an-a-706480.html

[31] http://www.spiegel.de/sport/fussball/zukunft-der-dfb-elf-loew-haelt-sich-die-kapitaensfrage-offen-a-711085.html

[32] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-ums-kapitaensamt-michael-ballast-a-704993.html

[33] http://www.n-tv.de/sport/fussball/Loew-verspricht-Ballack-die-Binde-article2232561.html

[34] http://www.spiegel.de/sport/fussball/kurzpaesse-loew-will-mit-ballack-sprechen-diego-zurueck-auf-dem-trainingsgelaende-a-762642.html

[35] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/ballack-zurueck-nach-leverkusen-lieb-und-sehr-teuer-1997174.html

[36] http://www.n-tv.de/sport/fussball/Ballack-spaltet-Leverkusen-article2780066.html

[37] http://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-nationalmannschaft-loew-verzichtet-endgueltig-auf-ballack-a-768727.html

[38] http://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-nationalmannschaft-ballack-wirft-loew-scheinheiligkeit-vor-a-769119.html

[39] https://web.archive.org/web/20110620190427/http://www.kicker.de/news/fussball/nationalelf/startseite/554075/artikel_loew_weiss-was-besprochen-wurde.html

[40] http://www.spiegel.de/sport/fussball/ex-capitano-michael-ballacks-erklaerung-im-wortlaut-a-769274.html

[41] http://www.sn-online.de/Sport/Sport-ueberregional/Loews-Zukunftsplaene-weiterhin-ungewiss

[42] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-ums-kapitaensamt-michael-ballast-a-704993.html

[43] 11Freunde, Heft #95 Oktober 2009

[44] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[45] http://www.rp-online.de/sport/fussball/em/dfb/em-2016-sami-khedira-nennt-kritik-von-michael-ballack-comedy-aid-1.6060918

[46] http://www.fr-online.de/em-2016—hintergrund/nationalmannschaft–loew-laesst-ballack-abblitzen-,34308188,34388566.html

Beitragsbild: Michael Ballack on public viewing screen [_30th June 2008_]
/ Karl-Ludwig Poggemann via Flickr | CC-BY 2.0

Du hast auch ein Thema, das Dich bewegt und das gut zu 120minuten passen könnte? Dann wäre vielleicht unser Call for Papers etwas für Dich!

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https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/feed/ 1 3151
Hoch-professionelle Fußball-Romantik – revisited https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/ https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/#comments Fri, 27 May 2016 08:00:24 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2134 Weiterlesen]]> Liga 3 – ein Saisonrückblick

Vor dem Beginn der Drittligaspielzeit 2015/2016 gingen wir hier bei 120minuten der These auf den Grund, ob die 3. Liga interessanter und relevanter wäre denn je. Wir beleuchteten die dritthöchste deutsche Spielklasse hinsichtlich ihrer fußballerischen Qualität, schauten auf die wirtschaftliche Situation und ließen natürlich auch die Fan-Perspektive nicht zu kurz kommen. Inzwischen ist die letzte Minute gespielt, das letzte Tor geschossen und die letzte Entscheidung hinsichtlich des Aufstiegs in die 2. Bundesliga gefallen – Zeit also, Bilanz zu ziehen.

In unserer Retrospektive auf die 3. Liga 2015/2016 gibt Sebastian Kahl eine sportliche Einschätzung der Spielklasse ab; Endreas Müller interviewte sowohl Fedor Freytag, der “Drittliga-Urgestein” FC Rot-Weiß Erfurt die Daumen drückt als auch Eric Spannaus, dessen SG Dynamo Dresden die Liga souverän in Richtung 2. Bundesliga verließ. Alex Schnarr sprach mit Frank Rugullis, seines Zeichens Leiter des Online-Bereichs bei MDR Sachsen-Anhalt, über die 3. Liga aus Medien-Perspektive, während Christoph Wagner die Spielzeit und insbesondere das hervorragende Abschneiden des 1. FC Magdeburg aus dem fernen Paris verfolgte und zum Abschluss des Textes seine Eindrücke schildert. Ist die 3. Liga also der Ort hoch-professioneller Fußballromantik?

Autoren: Sebastian Kahl (yyfp.rocks), Endreas Müller (endreasmueller.blogspot.de), Christoph Wagner (anoldinternational.co.uk) und Alex Schnarr (nurderfcm.de)

Die 3. Liga als Zweieinhalbklassengesellschaft

Das Klassement der 3. Liga lässt sich heuer in zweieinhalb Gruppen einteilen: An der Spitze zog Dynamo Dresden einsame Kreise. Am dritten Spieltag übernahm die SGD die Tabellenführung und gab sie nicht mehr ab. Nebenbei brach die Mannschaft von Uwe Neuhaus den vereinsinternen Rekord für den besten Saisonstart, blieb die ersten zwölf Partien ungeschlagen. Dresden stellt zwei der treffsichersten Stürmer, den (auch historisch) besten Vorlagengeber und insgesamt die beste Offensive der Liga. Der Aufstieg schien bereits frühzeitig gebucht. Einzig vor Weihnachten durchlebten die Schwarz-Gelben eine Schwächephase (fünf Unentschieden in Folge), wirkten etwas überspielt. Vier Spieltage vor Schluss war die Rückkehr in die 2. Bundesliga auch rechnerisch durch. 

Hinter Dresden stritten sich sieben, acht Teams um den weiteren Aufstiegsrang, die Teilnahme an der Relegation und den Einzug in den DFB-Pokal. Erzgebirge Aue bastelte nach dem Abstieg aus Liga 2 2015 eine völlig neue Mannschaft, die am Ende die beste Defensive der Liga stellte. Das war auch nötig, denn mit im Schnitt nur knapp einem geschossenem Tor pro Partie waren die Veilchen auf der anderen Seite des Platzes eher harmlos. Interessant auch, dass keine Mannschaft weniger Spieler einsetzte als Aue (19, wie auch Münster). Den Titel als bestes Bollwerk der Liga hätten ihnen fast noch die Würzburger Kickers streitig gemacht. Die Aufsteiger arbeiteten sich dank ihrer soliden Abwehr still und heimlich bis auf den Relegationsplatz vor und konnte die Saison mit dem Aufstieg krönen – ein Durchmarsch von der Regionalliga in die 2. Bundesliga.

Einen ähnlichen Umschwung legte Sonnenhof Großaspach hin, die im Vorjahr noch auf Rang 15 landeten. Beide Teams profitieren vom ruhigem Umfeld. Anders die Situation bei den Westfalen: Sowohl der VfL Osnabrück als auch Preußen Münster hätten sich mit mehr Konsequenz von den Verfolgern absetzen können. Die Lila-Weißen tauschten bereits kurz nach Saisonbeginn den Trainer, die Schwarz-Weiß-Grünen zur Winterpause; lagen da auf Rang sechs. Mit dieser Platzierung wären die Verantwortlichen beim 1. FC Magdeburg bereits mehr als zufrieden gewesen – am Ende wurde es gar der vierte Platz. Für die Aufsteiger ging es eigentlich nur um den Klassenerhalt. In der Hinserie nahmen sie die Euphorie aus der gelungenen Qualifikation für Liga 3 mit, Torjäger Beck schloss nahtlos an (40% der Teamtore, höchste Abhängigkeit). Mit dem Frühlingsanfang und dem Erreichen der 45 Punkte-Marke ging den Magdeburgern etwas die Luft aus, sonst wäre nach oben möglicherweise sogar noch mehr drin gewesen. Fortuna Köln schließt die Gruppe derjenigen Mannschaften ab, die fast bis zum Schluss zu den Aufstiegs- bzw. Pokalaspiranten zählten. Sieben Remis sind Liga-Tiefstwert und Zeugnis der Hopp-oder-Topp-Spielweise. Die Südstädter waren vorne wie hinten immer für Tore gut.

Im Schatten der übermächtigen Dresdner wurde der Kampf um die vorderen Ränge zum Schneckenrennen. Die Teams auf den einstelligen Tabellenplätzen verabschiedeten sich erst spät. Ein Grund: Jedes Team (Ausnahme Großaspach) spielte eine Serie von mindestens fünf sieglosen Partien, selbst Dresden, Aue und Osnabrück. Das klare Saisonziel ‘Aufstieg’ hatten denn auch nur die Dresdner ausgegeben. Vielen Vereinen genügte es schon, nichts mit dem Abstiegskampf zu tun zu haben. Die Auswirkungen eines Absturzes in die Regionalliga wären desaströs. Dennoch plagten das Gros der Mannschaften im Laufe der Spielzeit akute Abstiegssorgen. Nur der VfB Stuttgart II schien bereits einige Wochen vor Saisonende wirklich abgehängt. Der Rest spielte ‘Reise nach Jerusalem’, bis es dann am letzten Spieltag noch dramatisch wurde. Am Ende erwischte es neben dem VfB II mit den Kickers den Rivalen in der eigenen Stadt, dazu musste Energie Cottbus den bitteren Gang in die vierte Liga antreten.

Bei Rot-Weiß Erfurt und dem Chemnitzer FC wirkte ein Trainerwechsel. Unter Krämer respektive Köhler gelang der Tabellenritt von der Abstiegszone in die obere Hälfte. Auch Hansa Rostock stabilisierte sich nach einem Wechsel an der Seitenlinie. Den vollzogen übrigens zehn der 20 Teams, Energie Cottbus und der Hallesche FC gleich doppelt. Die Lausitzer legten zwar die zweitbeste ungeschlagene Serie der Saison hin (13 Partien), kamen aufgrund der vielen Unentschieden aber nicht recht vom Fleck. Halle krankte im Frühjahr daran, dass ein halbes Dutzend Stammspieler im Sommer wechseln würde. Der letzte Biss fehlte. Holstein Kiel hielt wiederum an Karsten Neitzel fest, trotz des zwischenzeitlich letzten Tabellenplatzes. Und wurde für die Konstanz belohnt: die Störche landeten im gesicherten Mittelfeld. Der FSV Mainz II begeisterte in der Hinrunde mit tollem Offensivfußball, zahlte in der Rückrunde Lehrgeld. Wie auch der SV Werder Bremen II, ein Grund: Keine Mannschaft musste mehr Spieler einsetzen, 38! Die Stuttgarter Kickers trumpften zunächst durch ein gutes Winter-Transferfenster noch auf, kletterten in der Jahrestabelle ins oberste Drittel und konnten den Absturz ins Amateurlager dennoch nicht verhindern. Bei Wehen Wiesbaden war die Entwicklung durch die sieglosen Monate Februar und März gewissermaßen gegenläufig, erst am letzten Spieltag gelang der Klassenerhalt. Zweitliga-Absteiger VfR Aalen drohte zwischenzeitlich durch eine schlechte Rückrunde durchgereicht zu werden, landete dann aber einen Punkt über den ominösen Strich auf dem 15. Rang.

Die Zusammenfassung verdeutlicht – eine Saison in Liga 3 verläuft selten geradlinig. Die Mannschaften sind sehr eng beieinander und es kann sehr schnell in der Tabelle nach oben oder unten gehen. Zwischen der besten und schlechtesten Platzierung im Saisonverlauf lagen bei Drittligateams im Schnitt mehr als 12 Tabellenplätze. In 1. und 2. Bundesliga beträgt die Schwankung im Saisonverlauf lediglich etwa 8 Tabellenplätze (wobei natürlich auch die zwei zusätzlichen Startplätze in Liga 3 eine Rolle spielen).


Die 3. Liga in Zahlen

Glückwunsch an den FC Erzgebirge Aue zum Staffelsieg. Staffelsieg? Die Veilchen beendeten die Spielzeit 2015/16 doch acht Punkte hinter der SG Dynamo? Nicht in der Ost-Meisterschaft. Im direkten Vergleich der acht Mannschaften aus der ehemaligen DDR schnitten die Auer am besten ab, holten 27 aus 42 möglichen Punkten. So ein Tabellenfilter ist eine nette Spielerei, die Auer feiern wohl eher den Aufstieg. Es verdeutlicht aber auch eines der begleitenden Themen dieser Saison. Die 3. Liga wurde früh zur Ostalgie-Liga erklärt. Oder verklärt?

Die Städte Aue und Rostock trennen 500 Kilometer. Trotzdem werden die Teams häufig unter der Überschrift ‘Ostfußball’ subsummiert. Nach der Wende krankten viele Vereine an ähnlichen Symptomen, landeten durch anhaltende Misswirtschaft in der Bedeutungslosigkeit oder gar Insolvenz. Der 1. FC Magdeburg brauchte schließlich 25 Jahre, um im Profifußball anzukommen. Die Umstände und Hintergründe sind so zahlreich und vielfältig wie es eben Vereine im Osten gibt. Wichtig ist: Im Sommer 2015 waren acht Klubs aus der früheren DDR-Oberliga in einer gesamtdeutschen Spielklasse vereint, so viele wie nie. Und das sorgte für einen Zuschauerboom.

2.687.807 Fans besuchten die insgesamt 380 Partien, so viele wie nie. Mit Einführung der eingleisigen 3. Liga waren es im Schnitt 2,2 Millionen Stadionbesucher pro Spielzeit. Im Ligavergleich lagen die acht Ost-Vereine allesamt unter den Top-10. Nur Osnabrück (Platz 4) und Münster (8) mischten sich noch dazwischen. Dresden und Magdeburg waren mit ca. 27.500 respektive 18.500 die Zugpferde. Magdeburg würde sich sogar in der 2. Bundesliga noch auf Rang 10 einsortieren. Aber auch Rostock und Chemnitz verzeichneten einen enormen Anstieg. Liegt das nun an der höheren Fußballbegeisterung in der Region? Dresden und Aue profitierten vom Aufstiegsrennen. Magdeburg schwamm durchweg auf einer Welle der Euphorie. In Chemnitz dagegen passte sich der Fanzuspruch eher Mannschaftsleistung und Wetter an. Während der mageren Wintermonate verloren sich kaum 5.000 Himmelblaue auf den Rängen.

Was daran liegen, dass es meist auch möglich war, den Spielen gemütlich vom heimischen Sessel aus beizuwohnen – zumindest für Fans aus dem Sendegebiet des MDR. Während Anhänger des SV Wehen Wiesbaden ihre Elf lediglich zweimal im TV bewundern konnten, sahen die Dresdner ihre SGD bei fast jeder Partie. Das sind natürlich die Extrembeispiele. Allerdings tat sich der MDR im Vergleich mit anderen regionalen Sendeanstalten durchaus hervor, was die Übertragung der 3. Liga anging. Denn die Quote stimmte, was sowohl die Marktanteile als auch die Abrufzahlen bei den Livestreams belegen:

Abrufzahlen Livestreams

Bereits die Relegationsspiele des 1. FC Magdeburg verfolgten zu Spitzenzeiten 740.000 Zuschauer. Das entsprach knapp 23 Prozent Marktanteil. Werte, die Dresden in der laufenden Saison ebenfalls mehrmals erreichte oder noch übertraf. Die beste Quote brachten jeweils Ost-Duelle. Einzig die Ost-Teams profitierten davon nicht. Denn für die TV-Rechte erhalten die 20 Vereine der 3. Liga 12,8 Millionen Euro, insgesamt. Zum Vergleich: In ihrer letzten Saison in der 2. Liga kassierten die Auer rund 6 Millionen Euro, allein.

Dahin verabschieden sich die Erzgebirgler nun auch wieder. Da Dresden ebenfalls aufsteigt und Cottbus den bitteren Gang in die Regionalliga antreten muss, dürfte auch die Ostalgie-Liga Geschichte sein. Die inoffizielle Meisterschaft wird es wohl nicht auf den Auer Briefkopf schaffen.


Genauso wenig, wie vermutlich “Drittliga-Gründungsmitglied” beim FC Rot-Weiß Erfurt in der Kopfzeile stehen wird und das, obwohl die Mannschaft aus der Thüringer Landeshauptstadt nach dem Abstieg der Stuttgarter U23 inzwischen die einzige Mannschaft ist, die seit Bestehen der Liga durchgängig dabei ist. Endreas Müller sprach mit Fedor Freytag über die Saison der Rot-Weißen und die Perspektiven von Liga und Team:

Interview mit Fedor Freytag, Anhänger des FC Rot-Weiß Erfurt und Blogger auf Stellungsfehler.de

EM: Rot-Weiß Erfurt steckte in dieser Saison lange im Abstiegskampf. Inwiefern spiegelt der Tabellenstand in dieser Liga das wirkliche Leistungsvermögen der Mannschaften wider?

FF: Dynamo Dresden war die dominante Mannschaft der Liga. Dies bildet sich auch in der Tabelle ab. Deren Vorrunde war überragend, danach gab es einen Effekt, den die Statistiker Regression zum Mittelwert nennen. Würzburg und Aue stehen – jedenfalls für mich – überraschend da oben. Wobei sich die Kickers auf der Basis eines eingespielten Teams sehr smart verstärkt haben. Und Aue hat den Nachweis erbracht, dass auch eine völlig neu zusammengestellte Mannschaft eine stabile Saison auf hohem Niveau spielen kann. Für mich ist Dotchev ja der Antichrist, aber er hat da zweifellos einen großartigen Job gemacht.
Tja, was den Rest betrifft, empfiehlt sich ein Blick auf die Tabelle um den 30. Spieltag herum. Da existierte kein Mittelfeld mehr. So ab Platz 7 oder 8 drohte der Abstieg. Inzwischen hat sich die Tabelle auch nach unten ausdifferenziert, aber lange Zeit war sie ein Beleg für die These, dass ausgeglichene Etats einen ebensolchen Wettbewerb mit sich bringen.

EM: Rot-Weiß Erfurt ist eine Art Dauergast in Liga 3. Siehst Du einen weiteren dauerhaften Verbleib in der Liga als Erfolg oder muss der Blick nach oben gerichtet werden?

FF: Der Abstieg des VfB II steht fest. Damit sind wir der einzige Verein, der seit der Gründung der Liga durchgängig in ihr spielt. Nach dieser Saison ist das eindeutig ein Erfolg. Allerdings gab es schon Jahre, in denen wir oben mitgespielt haben. Damals war die Bewertung natürlich eine völlig andere. Für einen Verein wie RWE ist ein Aufstieg nicht planbar. Planbar sind nur kontinuierliche Verbesserungen in allen für den sportlichen Erfolg relevanten Bereichen. Die wiederum basieren auf einer Konsolidierung der finanziellen Situation. Ich erwarte keine Wunderdinge, wenn die neue Arena im Juli eröffnet wird. Aber eine schrittweise Verbesserung der Ertragslage muss damit zwingend einhergehen. Dies war ja auch das alles überragende Argument für den Komplettumbau des Stadions.

EM: Wo würdest Du RWE gern in fünf Jahren sehen?

FF: Natürlich würde ich den FC Rot-Weiß Erfurt gerne in der Fußballbundesliga sehen. Man muss Darmstadt nicht mögen, aber eine solche Cinderella-Story lässt jeden Fan eines chronisch absturzgefährdeten Drittligisten träumen. Sehr realistisch ist das selbstredend nicht, eben weil es so selten passiert. Quasi Jackpot. Für den Moment wäre ich schon froh, wenn es gelänge den Vertrag mit Stefan Krämer zu verlängern. Mal einen guten Trainer bei der kontinuierlichen Verbesserung einer Mannschaft zu erleben, das ist im Hinblick auf meinen Verein die exzentrischste Hoffnung, der ich mich hingebe.

Danke für das Gespräch!


Nicht in die Fußballbundesliga, dafür aber ins Unterhaus schaffte es die SG Dynamo Dresden in von Fedor Freytag schon angesprochener, vollkommen souveräner Manier. Klar, dass man als Anhänger der SGD mit der just abgeschlossenen Drittliga-Saison eigentlich nur zufrieden sein kann. Nun geht es in der kommenden Spielzeit unter anderem gegen den FC St. Pauli und die Roten Teufel vom Betzenberg. Über die Perspektiven der Mannschaft aus der sächsischen Landeshauptstadt, die abgelaufene Saison und die 2. Liga gibt Eric Spannaus im 120minuten-Interview Auskunft:

Interview mit Eric Spannaus, Buchautor und Anhänger der SG Dynamo Dresden

EM: Werden Dir die Ostduelle aus Liga 3 in der 2. Bundesliga fehlen und wenn ja, warum bzw. warum nicht?

ES: Prinzipiell fand ich die vielen Ostderbys in diesem Jahr sehr reizvoll und spannender als die in der kommenden Saison anstehenden Duelle gegen den SV Sandhausen oder den 1.FC Heidenheim. Die ostdeutschen Mannschaften und Fankurven stehen unter Strom und geben alles. Nicht umsonst haben wir unsere einzigen Niederlagen dieser Saison gegen Cottbus und Erfurt erlitten. Die nostalgieträchtige Ostmeisterschaft in Liga 3 ging nicht an Dynamo, sondern die für mich Überraschungsmannschaft der Saison, Erzgebirge Aue. 6 Mannschaften, welche Dynamo und Aue nicht in die 2. Bundesliga folgen werden, werden einzig durch Union Berlin aufgefangen. Auf die freue ich mich auch sehr, es verdeutlicht aber um so mehr, wie viel Nostalgie verloren gehen wird.
Doch sieht man mal von den feuchten Augen deswegen ab, haben Ostduelle auch Nebenseiten, auf die ich gern verzichten kann, wie zum Beispiel Rostock im Herbst 2014 und Magdeburg vor wenigen Wochen.

EM: In welche Spielklasse gehört Dynamo Dresden für dich langfristig?

ES: Wir Fans der SGD sind bekannt, schnell überschwänglich zu werden. Die einzig würdige Spielklasse ist zumindest die Champions League, weniger muss es nicht sein.
Doch mal ganz im Ernst, wir haben 2 Anläufe in der 2. Bundesliga genommen und sind zweimal mit Pauken und Trompeten gescheitert. Die langfristige Spielklasse sollte daher nicht ganz oben zu finden sein, sondern etwas realistischer in der 2. Bundesliga. Wichtige Spieler haben und werden vielleicht auch noch den Verein verlassen, ob Ralf Minge jedesmal mit seinen Verpflichtungen ins Schwarze trifft, ist nicht gewiss. Lass uns erstmal ankommen und mithalten können, nach oben dürfen Ziele immer gern verschoben werden.

EM: Was war deiner Meinung nach Dynamos Erfolgsgeheimnis, um sich in der relativ ausgeglichenen 3. Liga so absetzen zu können?

ES: Das ist wohl die einfachste Frage. Welche Schlagzeilen hat Dynamo diese Saison geschrieben? Wie viel außersportlicher Knatsch und innermannschaftliche Scharmützel haben die Gazetten beherrscht?

Danke für das Gespräch!


Glücksfall 3. Liga

Die Drittligasaison 2015/2016 war auch aus Medienperspektive interessant, was nicht zuletzt an der bereits mehrfach zitierten ‘Oberliga 2.0’ bzw. der ‘Ostmeisterschaft’ zwischen Dynamo Dresden, Erzgebirge Aue, dem 1. FC Magdeburg, dem Chemnitzer FC, Energie Cottbus, dem Halleschen FC, dem F.C. Hansa Rostock und dem FC Rot-Weiß Erfurt lag. Einen “besonderen Glücksfall” stellte die 3. Liga demzufolge für den Mitteldeutschen Rundfunk dar, wie Frank Rugullis, Leiter Online bei MDR Sachsen-Anhalt, im Gespräch mit 120minuten erläutert. Jener Glücksfall ergäbe sich dabei nicht nur aus dem Umstand, dass die so genannten ‘Ostclubs’ vom Potenzial her durchaus den Vergleich mit Bundesligisten nicht scheuen müssen, sondern auch aus einer für den MDR günstigen TV-Rechte-Lage in Liga 3. Während die ersten beiden Profiligen vollständig von Sportschau und Co. abgedeckt werden, ergibt sich für die regionalen Sender, je weiter man die Ligenpyramide nach unten schaut, ein größeres Maß an Gestaltungsfreiheit. Und dann hilft es natürlich, wenn man als MDR Sachsen-Anhalt zum Beispiel den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC und damit mindestens zwei spannende Derbys pro Saison direkt vor der Haustür hat.

Allerdings hängt der Medienerfolg der 3. Liga Rugullis zufolge nicht unbedingt ausschließlich an den Ostderbys, weil die Liga insgesamt ein unheimlich spannendes Format ist, wie ja u.a. auch die Ausführungen zu Beginn des Beitrags und die Einschätzung von Fedor Freytag belegen. Die Ausgeglichenheit der Liga sorgt dementsprechend für Spannung und Zuschauerinteresse, was natürlich auch der journalistischen Arbeit dienlich ist: Die 3. Liga halte einfach auch abseits von ‘Elb-Classico’ (Dynamo – FCM), ‘Sachsen-Anhalt-’ (FCM – HFC) und ‘Sachsen-Derby’ (Aue – CFC) jede Menge Geschichten bereit. Dabei ist die Frage, was im Zusammenhang mit der 3. Liga aus Medien-Perspektive eigentlich ‘Erfolg’ bedeutet, nicht mal eben in 2, 3 Sätzen zu beantworten; in Rugullis’ professionellem Kontext beschäftigen sich ganze Arbeitsgruppen mit dieser Thematik. Natürlich spielen ‘harte Faktoren’ wie Klickzahlen und Webseiten-Trackings eine (ziemlich große) Rolle; gleichzeitig schaut man beim MDR aber auch auf qualitative Kriterien wie die Wahrnehmung der eigenen Formate aus der Perspektive von Multiplikatoren und Fans, der Resonanz in den einschlägigen Fan-Foren oder darauf, welche Beiträge des MDR wo verlinkt werden.

Aus der Sicht von MDR Sachsen-Anhalt waren es im Online-Bereich vor allem die analytischen Texte über den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC, die – gemessen an Klickzahlen – die erfolgreichsten waren. Aktuelle Beispiele sind die Saisonbilanzen jener Vertreter aus Sachsen-Anhalt, die ähnlich häufig geklickt wurden wie nicht-sportbezogene Nachrichtenbeiträge, die auch überregional für einige Aufmerksamkeit sorgen. Das blau-weiße Lager wird es dabei sicher freuen, zu hören, dass sich laut Rugullis im Vergleich mit dem HFC doppelt so viele MDR-Sachsen-Anhalt-User für Berichte über den Aufsteiger aus der Landeshauptstadt interessiert hätten. Dazu trug nicht zuletzt selbstverständlich auch die für viele unerwartet gute Saison der Blau-Weißen bei, was insgesamt zu einer positiven Resonanz führte. Aus Medienperspektive ist die Formel also denkbar einfach: Erfolgreiche Vereine sorgen selbstverständlich auch für ein gesteigertes Interesse an entsprechender Berichterstattung – was gerade im Fall des 1. FC Magdeburg, aber auch des Halleschen FC in der Vergangenheit auch schon einmal ganz anders war.

Insofern ist die Bewertung einer Saison aus der Perspektive der über die entsprechenden Mannschaften berichtenden Medien letzten Endes doch abhängig vom Erfolg der Teams im Sendegebiet, zumal das Thema “Sport” für den MDR ein ganz zentrales ist. Anders ausgedrückt: Aus Senderperspektive kommt dem Duell “HFC-FCM” von der Priorität her nur eine geringfügig kleinere Bedeutung zu als der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016. Dementsprechend hoch ist auch der Aufwand, der seitens MDR Sachsen-Anhalt in Sachen “Fußballberichterstattung” betrieben wird, wobei Frank Rugullis Wert darauf legt, dass der überwiegende Teil der konzeptionellen Arbeit über die 3. Liga im MDR durch die Leipziger Kolleg*innen von “Sport im Osten” realisiert wird, und das überaus erfolgreich:

Aufgabe von MDR Sachsen-Anhalt ist es in diesem Zusammenhang, gerade bei den Begegnungen mit sachsen-anhaltinischer Beteiligung “genauer hinzuschauen, Inhalte zu liefern und auch mal Sachen auszuprobieren”. Und das erfolgt mit aus Fan-Perspektive schöner Regelmäßigkeit über die punktuelle Einbindung von Bloggern ebenso wie zum Beispiel über das Format “Fan-Ticker”, das zuletzt im Landespokalfinale zwischen dem HFC und dem FCM erfolgreich zum Einsatz kam. Keine Frage, dass die zumindest im MDR-Sendegebiet umfangreiche und durchaus innovative Berichterstattung die Liga für den geneigten Fußballfan noch einmal interessanter machte  – ebenso, wie sich der Erfolg der Liga sicherlich auch für die Berichterstatter*innen selbst nicht unbedingt negativ ausgewirkt haben dürfte.


Hoch-professionelle Fußball-Romantik?

Die 3. Liga als Ort hoch-professioneller Fußball-Romantik also? Für die Anhänger des 1. FC Magdeburg ganz sicher. Als Aufsteiger mit der klaren Maßgabe ‘Klassenerhalt’ in die Saison gestartet, stand am Ende der Spielzeit ein überragender 4. Tabellenplatz und damit die direkte DFB-Pokal-Qualifikation zu Buche. Wo aber soll man aus FCM-Perspektive beginnen bei einem Rückblick auf eine Saison, die man nur aus der Ferne mitbekommen hat? Aus der Ferne und auch nur durch die blau-weiße Brille? Sozusagen als Außenstehender? 120minuten-Autor Christoph Wagner mit einer Einschätzung:

“Neben der FCM-Brille könnte ich ja auch die Ostdeutsche Brille tragen, die mich aber nicht weiterbringt: was interessieren mich Halle oder Chemnitz, außer, dass der Club besagte Vereine doch hoffentlich schlägt? Oder die Stuttgarter Kickers? Preußen Münster? Wegen des ‘Tatort’? Die blau-weiße Brille passt am besten und so soll es sein.

Was war die Freude groß, als im Juni 2015 der FCM den Aufstieg in die 3. Liga perfekt machte nun endlich bei den Großen mitspielen durfte! Noch größer war es, als man schon Ende Juli die Saison im heimischen Heinz-Krügel-Stadion eröffnen durfte. Völlig aus dem Häuschen war man nach dem Auftaktsieg gegen Rot-Weiß Erfurt. Als kurz darauf auch noch Halle geschlagen wurde, glaubte man seinen Augen kaum: Der FCM stand ziemlich weit oben in der Tabelle. Und für 24 Stunden sogar ganz oben, nachdem Chemnitz geschlagen wurde. Dabei war es vollkommen egal, dass Chemnitz den besseren Ball gespielt hat; der FCM hat zweimal getroffen, hatte dabei das Glück auf seiner Seite und bewies auch eine gehörige Portion Cleverness. Sehr oft hatte man den Eindruck, dass der Club sehr darauf erpicht war, schnellstmöglich Punkte zu sammeln, ehe die Luft ausgehen könnte. Das Überraschende oder gar Schöne dabei war, dass eben jene Punktejagd zu Beginn der Saison der Mannschaft nun nicht unbedingt Flügel verlieh, aber doch die nötige Luft verschaffte, um auch bei Durststrecken zu überstehen, ohne in Schnappatmung zu verfallen, die zu unüberlegten Aktionen seitens des Clubs hätten führen können. Als Aufsteiger war klar, dass es hart werden würde.

Wie aber Club, Mannschaft und Fans auch die Löcher überstanden haben, zeigt den Zusammenhalt, der über die letzten vier Jahre gewachsen ist. So richtig wurde diese “Friede, Freude, Eierkuchen”-Stimmung getestet im Vorfeld des Hansa-Spiels, als klar wurde, dass von Clubseite eben nicht korrekt kommuniziert wurde. Dass man sich hinterher aussprach und das auch noch auf Augenhöhe tat, spricht für alle Beteiligten. Als langjähriger Stadiongänger war das für mich eine Herangehensweise, welche in den 90ern hin und wieder mal vonnöten gewesen wäre, um den Club in ruhigeren Wassern zu halten. Lektion gelernt.

Dass die Mannschaft lernfähig ist, zeigte sich in den letzten Wochen. Die Hinrunde war mitunter von unschönem Fußball geprägt. Klar, Magdeburg spielt einen sehr physischen Stil und wird sicher nie den schönsten Ball in irgendeiner Liga spielen. Dennoch kann auch das zumindest gut aussehen. Genau dies geschah in der Rückrunde und ging gleich in Halle los. Die wurden quasi auseinandergenommen und hatten über 90 Minuten keine Chance und obendrein wurden die Zuschauer aus dem eigenen Stadion geworfen. Da es sich um das Derby in Sachsen-Anhalt handelte, ist sicher davon auszugehen, dass eben dieser Faktor die nötigen spielerischen Fünkchen sprühen ließ. Sehr zur Freude meinerseits als Zuschauer des Livestreams in Paris. Der Höhepunkt waren wohl die 65 Minuten gegen Dresden, als Dynamo im HKS wenig bis gar kein Land sah und sich bis auf einige wenige Konter selten vor dem Magdeburger Tor sehen ließ.

Apropos Dynamo Dresden. Schaut man sich die Saison rückblickend an, so war von vornherein klar, dass Dresden aufsteigen würde, ja müsste. Alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen. Erst 2014 aus Liga 2 abgestiegen, waren die Elbflorenzer einfach eine Nummer zu groß für diese Liga und stellten von vornherein klar, wer Chef ist. In typischer Bayernmanier muss man sagen, dass dann doch schon 5 Spieltage vor Schluss der Aufstieg perfekt gemacht wurde. Egal, es war verdient. Gleichzeitig ist es schade, dass der FCM nun nicht mehr gegen Dynamo spielen wird in nächster Zukunft. Denn mit Fug und Recht kann man behaupten, dass diese Paarung wohl eine der geschichtsträchtigsten ist und auch von dem gewissen Etwas einer lang gewachsenen Rivalität lebt.

Vor der Saison sprachen viele von einer Neuauflage der DDR-Oberliga, weil mal eben 8 ehemalige Oberligisten mitmischten. Das ist natürlich Unsinn, es bleiben ja immer noch 12 andere Teams in der Liga und niemand käme auf die Idee, diese Liga ‘Westliga’ zu taufen. Auch hier gibt es einige interessante Vereine, bspw. Preußen Münster, Fortuna Köln und die Stuttgarter Kickers. Im Zusammenhang mit diesen Clubs spricht man gern von Traditionsvereinen. Nun ist das mit der Tradition so eine Sache und man kann sich dafür wenig kaufen. Das durfte der 1. FC Magdeburg zwischen 1990 und 2015 am eigenen Leib erfahren. Die Liga als Sammelbecken für, ja für was eigentlich? Für ostdeutsche Vereine, die es nach 25 Jahren Einheit in den Profifußball geschafft haben, bzw. dort ihr Eckchen gefunden haben oder auch nur auf Zwischenstopp sind.

Aufgrund der Dichte der sogenannten Ost-Derbies allerdings waren auch die Mahner auf dem Plan und wurden in den meisten Fällen eines besseren belehrt. Keine Gewaltorgien, keine Weltuntergangsszenarien. Auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Dennoch wurde es laut im positiven Sinne. Allein die Stimmung im Magdeburger Stadion war sagenhaft. War es zu Beginn der Saison nahezu ausschließlich der Block U, so sprang der Funke beim Spiel gegen Preußen Münster auf die ganze Bude über und für nahezu 30 Minuten war Fußball nichts weiter als eine Nebensache, weil die Massen sich und ihren Club feierten. Opium für das Volk. Auch auswärts machte Blau-Weiß gut etwas her. Man denke an das Halle-Spiel. Dass die Stimmung in den Stadien also mitunter herausragend war und wohl auch bleiben wird, ist auch als Fingerzeig in Richtung der ewigen Mahner und Nörgler zu verstehen, die Fußballfans allzu gern als permanent gewaltbereite Gruppe brandmarken und am liebsten wegschließen würden. In der Tat kann man den Spieß auch umdrehen und Medien und Polizei als Sündenböcke hinstellen. Egal, wie rum man es dreht, alle Beteiligten dürften sich in dieser Hinsicht einiges an Mitverantwortung ans Revers heften und sollten dies auch eingestehen. Nur so wird in Zukunft der Fußball – nicht nur in Liga 3 – ein positives Erlebnis bleiben, was ja sicher auch im Interesse aller Beteiligten ist.

Als Aufsteiger nicht nur für einige Überraschungen zu sorgen, sondern durchweg oben mitzuspielen, ist schon eine Leistung und zugebenermaßen war ich eben nicht überzeugt, dass genau das passieren würde. Umso schöner ist eben jene Rückschau auf diese Saison mit knappen Spielen, großen Siegen und einer Atmosphäre, die einige Bundesligisten spielend in die Tasche steckt. Gleichzeitig weckt so eine Saison auch gewisse Begehrlichkeiten und es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich alle von Liga 2 redeten, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Da aber der Club die Badelatschen nun endlich gegen Fußballschuhe getauscht hat, auch gegen vermeintlich leichte Gegner, kann man davon ausgehen, dass der eingeschlagene Weg beim FCM weiter Schritt für Schritt gegangen wird mit der richtigen Einstellung und, was noch viel wichtiger ist, den richtigen, weil realistischen Zielen vor Augen.”


Verdammt nah dran

Neue Spielstätten mit allen Vorzügen (und Nachteilen) moderner Stadionbauten, alte Arenen, deren Stehplatztraversen auf jedem Zentimeter Fußballgeschichte atmen, ein guter Mix aus kleinen Clubs, wenigen Bundesliga-Zweitvertretungen und etlichen traditionsreichen Vereinen mit großer und reisefreudiger Anhängerschaft, dazu ein Medienumfeld, in dem neben dem Bedienen der Entertainment-Bedürfnisse der Massen noch genug Raum für innovative Berichte, spannende Reportagen und experimentelle Formate bleibt, dazu überwiegend bezahlbare Live-Erlebnisse und eine sportliche Ausgeglichenheit, die die eigene Herzensmannschaft lediglich zwischen den Polen “Aufstiegsrennen” und “Abstiegskampf” oszillieren lässt – Fußballfan-Herz, was willst Du eigentlich mehr?

Aus Fan-Sicht kommt die 3. Liga der Vorstellung von Fußballromantik im Profibereich sicherlich (noch) verdammt nah – wenngleich man gut argumentieren könnte, dass die Vorzüge der Staffel gleichzeitig auch ihr größtes Problem sind: Die kontinuierliche Entwicklung aufstiegsfähiger Kader ist kaum möglich, weil die besten Spieler sich üblicherweise schnell in höhere Sphären verabschieden. Die mediale Abdeckung ist zwar ansprechend, bringt aber nicht genügend Erlöse, um wirklich nachhaltig wirtschaften zu können. Die infrastrukturellen Voraussetzungen sind hoch und stellen insbesondere kleinere Vereine immer wieder vor Herausforderungen. Und trotzdem: Die 3. Liga hat sich während ihres bisher achtjährigen Bestehens als ernst zu nehmendes Profiliga-Format etabliert, was allein schon an der Entwicklung der Zuschauerzahlen deutlich wird: Verfolgten 2008/2009 noch durchschnittlich 5.600 Personen die Saisonspiele live im Stadion, waren es 2015/2016 bereits knapp 7.100 Menschen im Schnitt, die ihren Teams vor Ort die Daumen drückten. Auch die TV-Präsenz nahm exponentiell zu, wie sich am Beispiel des MDR gut ablesen lässt:

Und auch wenn die ‘Ost-Meisterschaft’ erst einmal passé ist, kann man doch davon ausgehen, dass dieser Trend sich fortsetzen wird. Weil abseits von Hochglanzfußball, Millionentransfers und Pay-TV auch im deutschen Profifußball noch Platz für ein gutes Stück Romantik ist.

 

 

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei turus.net. Wir durften den weitreichenden Bilderfundus für die Bebilderung dieses Beitrags verwenden.

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https://120minuten.github.io/hoch-professionelle-fussball-romantik-revisited/feed/ 3 2134
Tränen im Mai https://120minuten.github.io/traenen-im-mai/ https://120minuten.github.io/traenen-im-mai/#respond Sat, 16 Apr 2016 08:00:42 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2063 Weiterlesen]]> Michael Ballack gilt in Deutschland als Unvollendeter. Das klingt episch, verkauft seine Karriere aber unter Wert. Dem größten Fußballer der Nation in den Nuller-Jahren haftet immer noch das Stigma des Verlierers an. Doch wie realistisch war ein internationaler Titelgewinn von 2002 bis 2008 wirklich? Der zweite Teil einer Retrospektive.

Autor: Sebastian Kahl

"Michael Ballack" (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

“Michael Ballack” (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

Prolog

120 Minuten brachten keine Entscheidung. Es stand 1:1. Eine alte Fußballweisheit sagt, der beste Schütze muss im Elfmeterschießen zuerst ran. Erst recht, wenn er der einzige Deutsche im englischen Team ist. Der Gegner konnte vorlegen, somit wurde der Druck noch größer. Die Nummer 13 trat an. Der Keeper war ausgewiesener Elfmeterkiller, maß knapp zwei Meter – und hatte die Ecke geahnt. Doch der Schuss war humorlos, stramm: der Ausgleich. Von den nächsten sieben Schützen vergab nur einer in den Reihen des Gegners, später dreifacher Weltfußballer. 

Zum Zuschauen verdammt, versammelten sich die Mannschaften im Mittelkreis. In Moskau, Austragungsort des Champions League-Finals, war es bereits nach Mitternacht. Irgendwann im Laufe des Spiels hatte es begonnen zu regnen. Nun fehlte ein letzter Treffer – doch auch der letzte Schütze. Gegen Ende der Verlängerung hatte dieser Rot gesehen. Die Verantwortung ruhte auf den Schultern des Kapitäns. Als Innenverteidiger war der nicht für die ersten fünf Schützen vorgesehen. Nun trat er dennoch an…

„…und dann schießt er an den Pfosten. Da habe ich wirklich gedacht, vielleicht hat der da oben etwas dagegen, dass ich das Ding in den Händen halte.“

~ Ballack im 11Freunde-Interview [1]

Terry rutschte aus, der Boden war vom Regen aufgeweicht. Es ging ins Sudden Death, aber die Entscheidung schien bereits gefallen. Van der Sar entschärfte wenig später Anelkas Versuch. Chelsea unterlag Manchester United. Michael Ballack wurde erneut Zweiter.

Wechsel zum Rekordmeister

Im ersten Teil der Retrospektive verließen wir Ballack nach seiner vierfachen Vize-Saison 2001/02. Auch damals stand er im Champions League-Finale, unterlag mit seiner Leverkusener Elf den Galaktischen aus Madrid. Es war seine – zunächst – letzte Partie für Bayer. Mit 25 stand der nächste Schritt in der Karriereplanung an. Angebote aus dem Ausland lagen zahlreich vor, Barca, Chelsea, Inter. Die Wahl fiel allerdings auf Bayern.

Noch zur Kaiserslautern-Zeit hatte der Rekordmeister Interesse bekundet. Ballack war noch nicht als Bundesliga-Spieler etabliert, der Wechsel wäre zu früh gekommen. Stattdessen ging er nach Leverkusen, um im „kleineren“ Klub zu reifen. Ballack konnte sich bei Bayer weiterentwickeln. Er war dort in eine Mannschaft eingebettet, die auf ihn zugeschnitten wurde, die am Limit spielte. Und darüber hinaus. So erreichte Leverkusen drei zweite Plätze in 2002, in Meisterschaft, Pokal und Champions League. Was gern als „Vizekusen“ verspottet wurde, bleibt auch aus heutiger Betrachtung eine große sportliche Leistung.

Ballack selbst war fußballerisch in der Weltspitze angekommen, erhielt erstmals die Auszeichnung als Deutschlands Fußballer des Jahres. Darüber hinaus erkannte auch die internationale Fußballwelt seine Klasse. 2002 wurde Ballack in jede Elite-Auswahl gewählt: UEFA Club Mittelfeld des Jahres, UEFA Team des Jahres, European Sports Magazine Team des Jahres, FIFA World Cup Team, FIFA XI.

Sicherlich sind solche Auszeichnungen auch immer ein Popularitätswettbewerb. Aber zusammengenommen zeigen sie den internationalen Stellenwert eines deutschen Spielers, an den sonst nur Oliver Kahn herankam. Nun passte der Wechsel zu den Bayern. Von ausländischen Vereinen sollen finanziell höher dotierte Angebote vorgelegen haben. Aus Marketing-Sicht schien es Ballack und Berater Becker sinnvoller, dass der beste deutsche Fußballer in der Heimat blieb. Zumindest bis 2006, wenn die Weltmeisterschaft in Deutschland stattfinden würde.

Ballack war zum Zeitpunkt des Wechsels im besten Fußballer-Alter, bereits ein gestandener Spieler, gleichzeitig aber noch mit einigen guten Jahre vor sich. Doch an die spielerische Klasse des Jahres 2002 würde er nach dem Wechsel zu den Bayern nicht nahtlos anknüpfen können. Zum einen warfen ihn ständige Verletzungen aus der Bahn. Zum anderen wurde er an Maßstäben gemessen, zu deren Erreichung von Vereinsseite nicht genug beigetragen wurde. Bisweilen wurde ihm auch der Boden unter den Füßen weggezogen.

Erwartungshaltung in München

Aber der Reihe nach. Auf Seiten der Bayern war der Wechsel Teil einer größeren Einkaufspolitik. Nach dem Gewinn der Champions League kam es zu einer Zäsur. Der Fokus lag nun auf jungen deutschen Spielern, die auch bezahlbar sein sollten. Die Bayern wollten sich nicht am Wettrüsten der internationalen Schwergewichte beteiligen. Im Jahr zuvor hatte etwa Real Madrid umgerechnet 75 Millionen Euro für Zinedine Zidane bezahlt. Für Spieler wie Hernan Crespo (56,5 Mio.), Marc Overmars (40,6 Mio.), Rui Costa (49,7 Mio.) oder Gaizka Mendieta (48 Mio.) mussten Vereine Mondpreise zahlen.

Ballack wechselte hingegen ablösefrei, allein für ein kolportiertes Handgeld von 6 Millionen Euro. Trotzdem sollte der Umbruch von der großen 2001er Mannschaft gelingen. Die war über Jahre gereift, wenn auch taktisch etwas altbacken. Das reichte für drei Meistertitel in Folge und zum Abschluss auch für die europäische Krone. Auf dem Weg ins Finale wurden u.a. Manchester United und Real Madrid ausgeschaltet.

Unvergessen: Jens Jeremies' grandioser Auftritt samt Siegtor im Halbfinale gegen Madrid
Er spielte keine zwei Wochen nach einer Knie-OP. Dieses verfrühte Comeback – vielleicht notwendig für den Verein – war wohl maßgeblich für seine weiteren Knieprobleme. Jeremies fand danach nie wieder zur Form, beendete bereits im Alter von 32 seine Karriere.

Diese Mannschaft hatte sich schon etwas von den Ränkespielen des FC Hollywood emanzipiert, brachte sich nicht mehr selbst durch Leitwolfgerangel aus dem Konzept. Die 2001er Mannschaft war stimmig, kam dann einfach in die Jahre. Mit Kahn und Effenberg gab es zwei klare Tonangeber. Allein mit dem Finale gegen Valencia setzten sie sich in München ein Denkmal; Kahn dank dreier gehaltener Elfmeter, Effenberg dank einer wahnsinnigen Einzelleistung.

Unter diesem Eindruck kam also Michael Ballack ein Jahr später an die Säbener Straße. Und wurde gleich mit der neuen Kultur konfrontiert, die ihn dort erwarten würde. Effenberg wurde im Laufe seiner letzten Saison mehr oder weniger vom Hof gejagt, für zu alt, zu langsam befunden. Aber Ballack solle doch bitte auch so sein wie Effenberg, den Spiritus rector geben.

„Er muss noch viel daran arbeiten, um so weit zu kommen wie Stefan Effenberg ist.“

~ Teamkollege Robert Kovac zum Wechsel [2]

Ballack sollte das neue Herzstück der Münchner Mannschaft werden. Dafür wurde ihm Zé Roberto – sein Teamkollege aus Leverkusen – zur Seite gestellt. Mit Blick auf die deutsche Strategie kam zudem Sebastian Deisler, der zu diesem Zeitpunkt als größtes Talent der Fußballnation galt.

Deislers Karriere wäre eine eigene Retrospektive wert
Mit seinen damals 22 Jahren musste er schon zahllose Verletzungen wegstecken. Zweimal riss das Kreuzband, zweimal der Meniskus. Immer war das rechte Knie betroffen. Bei Hertha kam er in der Saison vor dem Wechsel nur auf elf Einsätze in der Liga, da im Oktober erneut das rechte Knie streikte, Diagnose: Luxation, Kapselriss, Verrenkung der Patella-Sehne. Bei der anschließenden Operation wurde die Kniescheibe fixiert. Als im Winter der anstehende Wechsel zu den Bayern bekannt wurde (10 Mio. Handgeld), sah er sich Anfeindungen in Berlin ausgesetzt. Die Verletzung sei nur vorgeschoben. Damit nicht genug, die Hiobsbotschaft im Mai 2002: Knorpelschaden, rechtes Knie. Erst im Februar 2003 lief Deisler erstmals für Bayern auf, kam in der ersten Saison auf acht Einsätze.

Double zum Auftakt

Zum Beginn der Saison 02/03 meinte Karl-Heinz Rummenigge „Wir haben den stärksten Kader aller Zeiten“. (2) Das war damals schon hanebüchen, allein mit einem Blick auf die Größe der Ü30-Fraktion (Alter im Laufe der Saison): Oliver Kahn (34), Thomas Linke (33), Bixente Lizarazu (33), Niko Kovac (31), Mehmet Scholl (32), Michael Tarnat (33), Thorsten Fink (35), Giovane Elber (30). Außerdem waren mit 29 nah am Zenit oder bereits drüber hinweg: Robert Kovac, Jens Jeremies, Zé Roberto, Pablo Thiam, Alexander Zickler. Diese Spieler kamen allesamt auf mindestens zehn Einsätze, viele gehörten zum Stammpersonal.

In der Champions League führte das nicht all zu weit. Bereits in der ersten Gruppenphase war Schluss, die Gegner: AC Milan, Deportivo La Coruna, RC Lens. Zumindest die Rossoneri spielten auf einem ganz anderen Level, holten im Mai auch den Gesamtsieg über Juve. Die Niederlagen gegen La Coruna waren schon peinlicher, kamen aber ob der schnelleren Spielweise der Spanier nicht allzu überraschend. Zwei Unentschieden gegen Lens brachten die einzigen Punkte und somit den letzten Platz in der Gruppe. Ballack ging mitsamt der Mannschaft unter, traf lediglich in der Qualifikation gegen Partizan Belgrad.

Immerhin dürfte das frühe Aus in der Champions League den Triumph in der Liga gesichert haben. Während sich der amtierende Meister aus Dortmund bis Ende März international aufrieb, konnte sich München auf die nationalen Wettbewerbe fokussieren. Spätestens in der zweiten Saisonhälfte hatte sich die Mannschaft gefunden.

Bayern abhängig von Ballacks Gesundheit

Die Saison lässt sich anhand der Verletzungen Ballacks nachzeichnen. Von Anfang Oktober bis Anfang März verloren die Bayern in der Liga nur ein Spiel. Das war Anfang November in Bremen (2:0). Ballack war nicht dabei. Im Rückspiel bei Deportivo hatte er sich einen Kapseleinriss im Sprunggelenk zugezogen. Im Februar musste er aufgrund einer Grippe für zwei Partien aussetzen, beide endeten nur Unentschieden. Beim 3:0 über Leverkusen Anfang März musste er bereits nach 22 Minuten ausgewechselt werden. Erneut war es das Sprunggelenk: Bänderriss.

Die Bayern hatten zu diesem Zeitpunkt bereits 13 Punkte Vorsprung auf Dortmund. Glücklicherweise, denn die Ausbeute aus den nächsten fünf Spielen – ohne Ballack – war mager: zwei Siege, ein Unentschieden, zwei Niederlagen, nur sieben Zähler. Insgesamt konnte keinerlei Form ohne Ballack konserviert werden. Über den gesamten Saisonverlauf holte Bayern ohne Ballack nur neun Punkte in acht Spielen (Schnitt: 1,125).

Stand Ballack auf dem Platz, gewannen die Bayern in der Regel. Aus 26 Spielen mit Ballack holte Bayern 66 Punkte (Schnitt: 2,54). Einzig auf Schalke wurde eine Ballack-Elf geschlagen; am letzten Spieltag, längst Meister und mit angezogener Handbremse im Hinblick auf das DFB-Pokalfinale eine Woche später. In Berlin erzielte Ballack dann zwei Tore beim 3:1 über Kaiserslautern; Treffer vier und fünf im Wettbewerb. In der Liga bedeuteten zehn Tore und sieben Vorlagen Platz drei in der vereinsinternen Scorer-Liste.

International wurde Bayern deklassiert, die Lücken in der Mannschaft offensichtlich. Anstelle eines echten Umbruchs standen weitere Verpflichtungen entlang der „Hauptsache jung und deutsch“-Schiene.

Diese Spieler kamen ablösefrei oder aus der eigenen Jugend:
Rensing, Feulner, Rau, Schlösser, Trochowski, Lell, Schweinsteiger. Auch Martin Demichelis (für 5 Millionen von River Plate) durfte noch als Talent gelten, spielte in der ersten Saison lediglich sieben Mal über 90 Minuten durch. Nur für Roy Makaay belastete die Vereinsführung das Festgeldkonto (knapp 20 Mio. Euro). Das offenbarte auch die Qualität der Scouting-Abteilung. Makaay hatte die Münchner selbst mit der Nase auf sein Talent gestoßen. Der Holländer kam von Deportivo, erzielte in den zwei CL-Begegnungen vier Tore.

Die Leistungsdichte im Kader wurde zur neuen Saison insgesamt nur noch dünner, Neuzugang Makaay mit 23 Treffern zur Lebensversicherung. Ein klares System war in der letzten Saison unter Hitzfeld nicht mehr erkennbar, die Aufstellung häufig Flickschusterei. Hargreaves und Salihamidzic fielen ihrer Vielseitigkeit zum Opfer, durften ständig auf neuen Positionen ran. Zé Roberto und Schweinsteiger mussten die Außenbahnen bearbeiten, wofür beiden die nötige Geschwindigkeit fehlte.

Umso entscheidender, dass sich Ballack durch die Saison schleppte. Obwohl er häufiger verletzt und durchweg angeschlagen war, machte er mehr Partien als im Vorjahr. Sein Fehlen konnte die Mannschaft da ja schon nicht kompensieren. Eine Wadenprellung hatte er sich noch im Pokalfinale gegen Lautern zugezogen, reiste dann trotzdem zur Nationalmannschaft. Im Juni wurde noch die EM-Quali ausgespielt (1:1 in Schottland). Nach der kurzen Sommerpause machte die Wade zu Saisonbeginn immer noch Probleme. Bei der nächsten Länderspielreise setzte es zunächst ein 0:0 in Island, danach gegen Schottland für Ballack einen Bluterguss. Die Verletzungen legten ihn kurzzeitig für die nächste Bundesliga-Partie in Wolfsburg lahm. Er – und weitere Angeschlagene – setzten aus. Bayern verlor.

Krise und Kritik

Nach fünf Spieltagen, Platz fünf in der Tabelle, brannte bereits der Baum an der Säbener Straße. Kahn kritisierte öffentlich: „Es wird taktisch undisziplinierter Fußball gespielt, […] ohne Sinn und Verstand.“ [3] Es bräuchte eine Rückbesinnung auf die erfolgreiche Spielweise der Vergangenheit und eine „ordnende Hand im Mittelfeld“. Namentlich zählte Kahn zudem den 22-jährigen Hargreaves an. Ballack stellte ihn intern zur Rede.

Bei seiner Rückkehr in Glasgow trieb Ballack die Mannschaft zum Sieg über Celtic (2:1). Am Wochenende verschoss er gegen Leverkusen einen Elfmeter, traf danach selbst, legte ein weiteres Tor auf, Endstand 3:3.

Günther Netzer animierte diese Schwächephase der Bayern, in die gleiche Kerbe der fehlenden Führungsqualitäten Ballacks zu schlagen. Netzer machte dies in seiner Sport Bild-Kolumne an der vorherrschenden Kultur des Kollektivs in der ehemaligen DDR fest. Ballack hätte dort gelernt, sich einzuordnen. Nun begnüge er sich mit seiner Rolle, hole nicht das Optimum aus sich heraus.

An dieser Stelle soll keine Kritik der Kritik von Netzer stattfinden. Dass er (oder der Kolumnen-Ghostwriter) über die Stränge schlug, war Netzer schnell bewusst. Er entschuldigte sich persönlich via Telefon bei Ballack. Viel interessanter ist die Reaktion der Vereinsbosse. Zu erwarten wäre Abteilung Attacke. Zwar gingen Hoeneß und Rummenigge Netzer in der Art und Weise der Kritik an, konnten sich im Nebensatz allerdings nicht verkneifen, ihm in der Sache Recht zu geben. So sagte etwa Rummenigge, der Vorwurf sei eine „Beleidigung aller ehemaligen DDR-Bürger“; im selben Atemzug aber „[Ballack] muss sich mehr einbringen, mehr zeigen. Wir haben ihn als Spielgestalter geholt, der die Mannschaft führt“. [2]

Insgesamt zeigt sich in der Nachbetrachtung eine gewisse Schizophrenie in der Kommunikation der Verantwortlichen seitens Ballack. Kritik von außen, die reichlich vorhanden war, wurde zwar abgewiesen. Aber nur, um häufig aus den eigenen Reihen in anderer Tonalität doch erneut geäußert zu werden. Je nach Tabellenstand wurde das lauter oder leiser, zog sich aber durch die gesamten vier Jahre in München.

In der Winterpause 2003/04 setzten sich Spieler und Führungsriege zusammen. Rummenigges Fazit: „[Wir] müssen Ballack mal in Ruhe lassen, dürfen nicht jede Woche an ihm rumnörgeln“. Keine vier Wochen später hatten sie den Vorsatz schon wieder über den Haufen geworfen. [2]

Die Bayern waren (und sind) immer dann am besten, wenn sie eine Wagenburgmentalität aufbauten, Mia san mia nicht nur als Marketing-Slogan, sondern als Abgrenzung verstehen. Uli Hoeneß verteidigte nach außen, ging regelmäßig die jeweils aktuellen Gegner an (Lemke/ Bremen, Daum/ Köln und Leverkusen, Meier/ Dortmund). Damit schlug er auch gern über die Stränge, um den Fokus von der eigenen Mannschaft zu nehmen und beim Kontrahenten für Unruhe zu sorgen.

Aber sich öffentlich gegen eigene Spieler zu äußern, damit war man in München eher sparsam; etwa Beckenbauer 2001 nach der 0:3-Niederlage in Lyon („Uwe Seeler-Traditionsmannschaft, Altherrenfußball“) [4] oder Hoeneß 2007, nachdem ein 17-jähriger Toni Kroos in Belgrad brillierte („Hört’s mir auf mit dem Hochjubeln“) [5].

Ballack wurde jedoch in jeder Schwächephase angezählt und kleingeredet; innen wie außen und selbst nach Siegen. Nun war selbst ein zweiter Platz nichts mehr wert. Nach dem Wechsel aus Leverkusen kam das für Ballack einem Kulturschock gleich. Über die Jahre betonte er mehrfach, wie wichtig der „Wohlfühlfaktor“ für seine Leistung sei. In München ähnelte die Beziehung zu den Vereinsoberen seinen Auseinandersetzungen mit Rehhagel bei Kaiserslautern. Auch von König Otto wurde er mehrfach öffentlich kritisiert; suchte dann schnell das Weite.

Ein häufiger Vorwurf in München: Ballack schone sich im Verein für die Nationalelf. Lieber solle er sich auskurieren, natürlich in der Länderspielpause. Tatsächlich bereiteten ihm immer wieder Wade und Knöchel Probleme. In keiner seiner Münchner Spielzeiten kam er auf 30 Liga-Einsätze. Tatsächlich spielte er in seiner kompletten Karriere keine Saison durch. Mit Pokal, CL und Nationalmannschaft kam er aber doch immer auf 45 bis 50 Pflichtspiele – und das über ein Jahrzehnt hinweg.

2004 wurde der Spagat zu groß; die enge Taktung der Spiele, die ständigen englischen Wochen ließen ihn auf dem Zahnfleisch gehen. Mit 27 hätte er in den Zenit seiner Leistungsfähigkeit kommen müssen, stattdessen schleppte er sich – auch aufgrund der anhaltenden Kritik – durch die Spiele. Dass die teils mäßigen Leistungen die Kritik nur noch mehr befeuerten, liegt in der Natur des Fußballgeschäfts.

Blamage in Portugal

Am Ende standen er, Verein und Nation gänzlich ohne Titel da. Die Bayern landeten sechs Punkte hinter Bremen auf Rang zwei, flogen im Pokal-Viertelfinale gegen Aachen raus. Die Nationalelf – immerhin Vize-Weltmeister – lieferte eine desolate Vorstellung bei der Europameisterschaft 2004 ab. Das hatte sich bereits angedeutet, etwa beim angesprochenen 0:0 gegen Island. Immerhin bescherte uns das Völlers legendären Auftritt im Gespräch mit Waldemar Hartmann.

Die Tests im Frühjahr oder direkt vor dem Turnier gingen teilweise arg in die Hose. Die Namen Ionel Danciulescu oder Sandor Thorgelle mögen einigen Fans noch in den Ohren klingen. Der Rumäne Danciulescu etwa erzielte seine einzigen zwei Länderspieltore beim 5:1-Sieg über Deutschland. Thorghelles Doppelpack vermieste die deutsche Generalprobe eine Woche vor Turnierbeginn. An der Seitenlinie jubelte sein Nationaltrainer Lothar Matthäus, der damals die Ungarn betreute.

Im Quervergleich zum Turnier vier Jahre zuvor verdoppelte sich die Leistung (jeweils zwei statt ein Tor respektive Punkte), der Ertrag blieb derselbe: Vorrunden-Aus.
Die Ära Völler war nach dem 1:2 gegen eine tschechische B-Elf beendet. Der letzte Gruppengegner der Deutschen war bereits für die nächste Runde qualifiziert, wechselte durch und gewann dennoch. Auf vielen Positionen im Team stand dringend ein Umbruch an, eine Reihe von Stammspielern war nur biederer Durchschnitt (Wörns, Baumann, Ernst, Kuranyi). Internationale Klasse hatten damals nur Kahn, Hamann und Klose, vielleicht Schneider.

Immerhin sammelte ein Grundstock an jungen Spielern erste Turniererfahrung: Lahm, Schweinsteiger, Podolski (drei spätere Weltmeister). Auch Frings, Schneider, Klose und Arne Friedrich sollten bei der WM 2006 zur Rumpfelf der Nationalmannschaft gehören, dann allerdings unter der Leitung von Jürgen Klinsmann.

Weltmeisterschaft 2006: Aus im Halbfinale

Weil es an dieser Stelle passt, bereits der Vorgriff auf die WM im eigenen Land: Deutschland war als Gastgeber automatisch qualifiziert. Die knapp zwei Jahre davor waren somit eine ideale Testbühne für den neuen Teamchef. Klinsmann verpasste Mannschaft, Trainerstab und Verband eine längst überfällige Frischzellenkur, ließ nicht einmal Welttorhüter Oliver Kahn unangetastet. Ballack wurde zum neuen Kapitän ernannt. Insgesamt 55-mal würde er die deutsche Nationalmannschaft aufs Feld führen, u.a. beim Confed Cup 2005, wo die Deutschen einen guten dritten Platz belegten und – viel wichtiger – endlich kreativen, offensiven Fußball spielten.

Bis zum Eröffnungsspiel der WM steuerte Ballack in 21 Länderspielen elf Tore und sechs Vorlagen bei. Beim Eröffnungsspiel selbst saß er nur auf der Bank, die alte Kriegsverletzung an der Wade. Er musste von außen zuschauen, wie seine Mannschaft Costa Rica überrannte (4:2). Es folgten Siege über Polen (1:0), Ecuador (3:0) und Schweden (2:0). Die Mannschaft wuchs mit ihren Aufgaben, getragen von der Euphorie ringsum. Erstmals in seiner DFB-Karriere war Ballack in eine ausgewogene Elf eingebunden, die technisch anspruchsvollen Fußball spielen konnte. Im Laufe der Vorbereitung hatte Ballack eine tiefere Rolle eingenommen, gab weniger den Box-to-Box-Spieler früherer Jahre. Die Stammformation und Aufteilung nahmen die Entwicklung des heute gängigen 4-5-1 vorweg: Frings und Ballack zentral vor der Abwehr, Schneider (rechts) und Schweinsteiger (links) waren keine klassischen Flügelspieler, Podolski ließ sich zudem aus der Spitze fallen.

Auch die in den letzten Testspielen anfällige Defensive zeigte sich im Turnierverlauf verbessert. Noch im März setzte es ein 1:4 gegen Italien. Unter großem Gezeter wurde der Auftritt diskutiert, gar bis zur Absetzung des Verantwortlichen durchexerziert.

Die DFB-Auswahl belegte schließlich den dritten Platz, was wohl die wenigsten Fans ernsthaft erwartet hatten. 2002 ging es zwar ein Level weiter. Dafür war 2006 der Weg deutlich schwerer. Gegen besser besetzte Truppen aus Argentinien und Italien präsentierte sich Deutschland auf Augenhöhe. Es musste jeweils die Verlängerung her. Während gegen die Albiceleste noch via Elfmeterschießen der Halbfinal-Einzug gelang (Ballack Man of the Match), war gegen die Azzurri Schluss. Zum zweiten Mal in Folge (wie dann auch 2010) kam das Aus gegen den späteren Weltmeister.

Eine simple Gegenüberstellung, das Alter aller Starter im Halbfinale:
• Deutschland: 36, 27, 21, 25, 22, 32, 29, 26, 26, 28, 21
• Italien: 28, 29, 32, 32, 28, 29, 28, 27, 28, 29, 29

Italien war eine gut geölte Maschine, zusammengesetzt aus Spielern, die alle im besten Fußballer-Alter, im Zenit standen. Die Achse bestand aus vier Spielern des Meisters Juve. Mindestens Buffon, Pirlo und Totti trugen das Prädikat Weltklasse; Cannavaro und Gattuso waren nah dran. Italien kassierte lediglich zwei Gegentore in sieben Spielen: ein Eigentor und einen Elfmeter; im Halbfinale über 120 Minuten keines. Dafür trafen Grosso und Del Piero kurz vor Schluss. Und beendeten ungeahnt Ballacks Weltmeisterschaftskarriere. Im folgenden Spiel um Platz 3 wechselte Klinsmann durch.

Zusammen mit Jens Lehmann, Philipp Lahm und Miroslav Klose wurde er ins 23-köpfige All Star Team gewählt. Ein kleines Zeichen, dass es voran ging: Bei der EM 2004 war Ballack noch der einzige deutsche Vertreter.

Regimewechsel in München

Apropos 2004: Die trophäenlose Saison forderte mit Ottmar Hitzfeld ihr Opfer. Nach sechs Jahren war Schluss für den „General“. Zu Buche standen vier Meistertitel, zwei DFB- und ein CL-Pokal und bereits lange vor Saisonende die Zeichen auf Abschied. Felix Magath stellte das bayrische Gleichgewicht wieder her, holte in seinen ersten beiden Spielzeiten an der Isar zweimal das nationale Double. Magath zählte erneut zur Kategorie „Scouting vor der Haustür“. Mit einer jungen Stuttgarter Truppe holte er 2003 einen überraschenden zweiten, 2004 einen guten vierten Platz. Seine Schleifer-Methoden eigneten sich, binnen kurzer Zeit alles Athletische aus einer Mannschaft herauszuholen. Taktische Raffinesse auf höchstem Niveau durfte an der Säbener Straße niemand erwarten.

Heuer sind die Bayern eine von nur vier, fünf Mannschaften, die eine realistische Chance auf den Gesamtsieg in der Champions League haben. Das war nicht immer so. Mitte der Nuller-Jahre dominierte der FCB zwar den nationalen Fußball, dafür liefen sie international der Musik hinterher. Sie brachten sich selbst nie in eine Position, aus der eine realistische Chance bestand, die Champions League zu gewinnen. Zumindest nicht in der Ballack-Ära.

Die Einkaufspolitik und nationale Performance unter Magath sind schnell abgehandelt:
Im Sommer ’04 stießen Lucio (12 Mio.) und Torsten Frings (9 Mio.) hinzu, wurden schnell in die Startelf eingebunden. Andreas Görlitz und Vahid Hashemian (je ~2 Mio.) kamen als Ergänzungsspieler zusammen auf acht Einsätze von Beginn. Hashemian verließ den Verein bereits nach einer Saison; ebenso wie Frings. Die Verpflichtung des Dortmunders war ein einziges Missverständnis, für die Vereinskultur denkbar unpassend. Mit dem Nationalmannschaft-Mittelfeld aus Schweinsteiger, Ballack, Frings und Deisler wurde der FC Deutschland ausgerufen.

Unter der Ägide von Magath gab es einige Anlaufschwierigkeiten. Die fest eingeplante Tabellenspitze übernahmen sie erst am 14. Spieltag, besaßen dann aber den langen Atem. Die letzten neun Ligaspielen wurden allesamt gewonnen, die Meisterschaft mit 14 Punkten Vorsprung (auf Schalke) gesichert, der DFB-Pokal eingeheimst (ebenfalls gegen Schalke). Auch das erneute frühe internationale Ausscheiden dürfte für den guten Saisonendspurt mitverantwortlich gewesen sein. Ballack steuerte in 27 Liga-Einsätzen 13 Tore und fünf Vorlagen bei. Die frühere Diskrepanz mit/ohne Ballack war nicht mehr gegeben: Bei allen fünf Saisonniederlagen stand er jeweils in der Startelf.

Die Zugänge im Sommer 2005 mögen wenig inspirierend gewesen sein, Valerien Ismael (8,5 Mio), Julio Dos Santos (2,7 Mio), Ali Karimi. Die Vorstellung war dafür national noch dominanter: 05/06 gingen nur drei Spiele verloren (Ballack immer dabei), die beste Serie umfasste 16 ungeschlagene Spiele in Folge. Ballack war mit 14 Toren und vier Vorlagen zweitbester Scorer im Team. Am Ende reichte es naturgemäß zum nationalen Double aus Meisterschaft (vor Bremen) und Pokal (über Frankfurt).

Chancenlos in der Champions League

Der heilige Gral war aber die Europäische Krone.

„Ich bin der Meinung, dass der FC Bayern damals nicht die Mannschaft hatte, um die Champions League zu gewinnen. National haben wir zwar in vier Jahren drei Doubles gewonnen, doch international sind wir nicht mal in die Nähe des Halbfinals oder Finals gekommen. Das kann kein Pech, kein Zufall gewesen sein.“

~ Ballack im Interview 2011 [6]

War es auch nicht, was allein ein Blick auf den jeweils letzten Gegner zeigt:

2004, Achtelfinale gegen Real Madrid (1:1 und 0:1)
Die Königlichen standen am Ende eines großen Zyklus, von ’98 bis ’02, dreimal im CL-Finale. Dreimal siegten sie. Dabei hatten sie sogar einen Umbruch vollzogen und dennoch das Niveau gehalten. Langsam kippte die Zusammenstellung der Mannschaft in den vollen Galactico-Modus (Beckham für Makelele im Sommer ’03). Während im Angriff Zidane, Figo, Beckham, Ronaldo und Raul wirbelten, verteidigten hinten nicht mehr Fernando Hierro und Manuel Sanchis sondern Ivan Helguera, Raul Bravo oder später Jonathan Woodgate.
2005, Viertelfinale gegen Chelsea FC (2:4 und 3:2)
Die Blues verfügten zu diesem Zeitpunkt über die ausgewogenste Elf der Abramovich-Ära. Die war natürlich mit Geld zusammengekauft, aber auch mit Verstand. Mourinho, der mit Porto UEFA-Cup und CL gewonnen hatte, etablierte bei Chelsea ein flügellastiges System, holte die dazu passenden Spieler, nicht die großen Namen. Während in der Premier League in der Regel noch das klassische 4-4-2 gespielt wurde, dominierte Chelsea im 4-3-3. 04/05 waren sie beinahe unbezwingbar, kassierten nur 15 Gegentore in 38 Spielen (Rekord), blieben 24-mal ohne Gegentor (Rekord), holten 95 Punkte (Rekord).
2006, Achtelfinale gegen AC Milan (1:1 und 1:4)
Ähnlich wie Real die Spielzeiten rund um die Jahrtausendwende dominiert hatte, gab Milan von ’03 bis ’07 den Ton an, sammelte in drei Finalteilnahmen zwei Trophäen. Die heimische Saison ’06 ging im Calciopoli unter, zuvor zeigte die Tabelle Platz zwei hinter Juve. Fast die komplette Dekade stand Carlo Ancelotti an der Seitenlinie, baute in dieser Zeit mindestens zwei große Mannschaften in Milanello auf. Kaka stand bei der Begegnung mit Bayern auf der Schwelle zum besten Fußballer der Welt, hielt vom Herbst ’06 bis Frühjahr ’08 den imaginären Champion-Gürtel. Paolo Maldini gehört zu den Top-20 aller Zeiten, stand mit damals 37 immer noch in vollem Saft. Pirlo, Shevchenko und Gattuso gehörten zur Weltspitze.

Deutschland durchlebte insgesamt zwischen 2003 und 2006 eine der schwächsten internationalen Phasen. Die Liga war nicht wettbewerbsfähig: Bayerns Viertelfinal-Einzug 04/05 war das beste Ergebnis in der CL. Auch Leverkusen, Dortmund, Stuttgart und Bremen versuchten sich in diesem Zeitraum. Spätestens im Achtelfinale war Endstation. Wenig besser lief es im UEFA Cup. Einzig Schalke erreichte 05/06 das Halbfinale. In den zwei vorigen Jahren waren insgesamt sechs Teams schon in der Vorrunde ausgeschieden. Bisweilen rutschte die Bundesliga auf den fünften Platz in der Fünfjahreswertung ab, musste damit einen CL-Startplatz abgeben.

„If you can’t beat them, join them.“

~ Alte Volksweise

Ballack betonte mehrfach in Interviews, dass er in München mittelfristig keine Chance sah, die CL zu gewinnen. Andersherum hätte er es sich noch weitere vier, fünf Jahre in München gemütlich machen können, dabei sicher auch nicht schlecht verdient. Zum Sommer 2006 lief sein Vertrag bei den Bayern aus.

Bereits 2004 war das Tischtuch wohl schon zerschnitten, sodass keine Verlängerung angestrebt wurde. Gerüchte über einen Wechsel häuften sich immer rund um Verletzungspausen, bei zunehmender Kritik von Vereinsseite. Interesse von Real, Juve, Milan, Inter, Manchester United ist verbrieft. Jede große Mannschaft Europas wollte den Jungen aus Chemnitz in ihren Reihen wissen. Inwieweit das Ausspielen der Optionen im Ausland zur Verbesserung der Stellung im Heimischen genutzt wurde? Das wiederholt offensichtliche Timing legt den Schluss nahe. Neu wäre die Methode nicht.

Zum Abschied gab es noch einmal aus beiden Richtungen Spitzen. Ballack hielt die Vereinsführung in der letzten Saison knapp ein halbes Jahr hin, ließ ein gut dotiertes Arbeitspapier unbeantwortet, erbat sich Bedenkzeit. Eine Retourkutsche? Nach der Verkündung des Wechsels beschwerte er sich über „populistische Aussagen, besonders [von] Rummenigge“. [7] Fans seien gegen ihn aufgewiegelt worden. Tatsächlich kassierte Ballack in den letzten Wochen auch Pfiffe im eigenen Stadion. Das eh unterkühlte Verhältnis zwischen Ballack und den Bayern-Fans war auf dem Tiefpunkt angekommen.

Die Bayern gingen bereits im Frühjahr 2006 öffentlich auf Nachfolger-Suche, betonten, dass taugliche Kandidaten endlich wieder Führungsqualitäten haben müssen. „Dort haben wir ein Vakuum“, so Rummenigge im April. [8] Mit Blick auf die heutigen Topmannschaften, den CL-Siegern aus München, Barcelona und Madrid oder den Weltmeisterteams aus Spanien und Deutschland mutet diese Vorstellung des einen Feldgenerals altbacken an.

Wie bescheiden Bayerns Mannschaft zusammengestellt war, wurde in der Saison nach Ballacks Abgang erkennbar. Auch mit dem Aggressive Leader Mark van Bommel, der ja endlich die wichtigen Führungsqualitäten mitbrachte, wurde München nur Vierter. Für Bayern das schlechteste Ergebnis seit Menschengedenken, mussten sie doch damit in den Loser Cup. Im anschließenden Transferfenster gaben sie ebenso viel Geld für Neuzugänge aus (88,2 Mio.), wie in den vier Ballack-Jahren zusammen (88,45 Mio.). [9]

Ballack suchte derweil eine neue Herausforderung, und fand sie in London.

„Die Bayern haben mir damals ein neues Angebot über vier Jahre gemacht, aber ich habe gedacht: Wenn du die Champions League gewinnen willst, musst du dich noch mal verändern. Der andere Grund war, dass ich unbedingt im Ausland spielen wollte. Ich war 28 Jahre alt, als ich die Entscheidung traf, und das war für mich die letzte Chance, noch mal zu einem großen internationalen Verein zu gehen.“

~ Ballack im Interview 2011 [6]

Titel sammelte er gleich in der ersten Saison, allerdings nur nationale, FA- und League Cup. Chelsea war mittlerweile auch in die Falle getappt, eher nach Namen zu kaufen, denn nach Talent und Passform fürs System. Auch Abramovich wollte nach zwei Meistertiteln in Folge endlich die CL gewinnen.

Um Ballack und Lampard samt Essien, Makelele, Mikel und/oder Diarra in ein Team zu packen, wählte Mourinho die Raute, was keinem so richtig zu Pass kam. Am wenigsten Ballack, der meist in der Spitze spielen sollte. Schon in Leverkusen war er besser, wenn er aus der Tiefe kam. Auch Shevchenko – ebenfalls neu im Team – wirkte im Zwei-Mann-Sturm neben Drogba wie ein Fremdkörper.

Manchester United spielte 06/07 flüssiger, vielleicht den schönsten Fußball in der Ferguson-Ära, wurde mit sechs Punkten Vorsprung Meister.

Dass sich Spieler vom Kaliber und ähnlicher Spielweise wie Makelele, Essien, Lampard und Ballack unter einen Hut bringen lassen, zeigte ein halbes Jahr später Avram Grant. Mourinho hatte sich im Herbst mit Abramovich überworfen und wurde entlassen. Ballack war zu dem Zeitpunkt verletzt. Im April musste er sich am ewig-lädierten Knöchel operieren lassen. Dass die OP in München stattfand, wurde in London zum Politikum.

Im Dezember kehrte er zurück, wurde sofort wieder Stammspieler, das nächste halbe Jahr seine beste Zeit bei Chelsea. In Grants 4-3-3 (mit Essien oder Makelele (defensiv) und Lampard) war er bestens aufgehoben, besaß mehr Freiheiten und Bewegungsraum, harmonierte hervorragend mit dem Vize-Kapitän. Im Vorjahr zwar fast komplett dabei, schoss er nur vier Tore. Nun waren es sieben in 18 Spielen. Wurde er zu Beginn noch für teils lethargische Spielweise gescholten, avancierte er in diesem Zeitraum zum Antreiber und Taktgeber.

Seine Sternstunde kam spät im Meisterrennen: Am 36. Spieltag ging es daheim gegen Man United, Chelsea siegte dank zweier Ballack-Tore mit 2:1, zog gleichauf. Doch United gewann seine verbleibenden zwei Spiele, Chelsea nur eines.

Noch im Mai sollte es zum Wiedersehen mit United kommen.

Die letzte Chance

Der Meister aus Manchester hatte wohl den schwereren Weg ins CL-Finale, schaltete in der K.O.-Phase Lyon, Roma und Barcelona aus; Chelsea kam gegen Olympiakos, Fenerbahce und Liverpool weiter. In Moskau standen sich die zwei absoluten Schwergewichte im englischen Fußball gegenüber; the irresistible force vs. the immovable object.

Wer im Zusammenhang mit Michael Ballack über unvollendet redet, kann nur dieses Spiel meinen. 2002 war allein der Finaleinzug von Leverkusen eine Sensation, in München nie in Reichweite. Sechs Jahre nach Glasgow standen die Sterne für Ballack scheinbar in der richtigen Konstellation. Seine gesamte Rückrunde war das letzte Hurra, seine Form so gut wie zuletzt 2006. Nie würde er sie danach wieder erreichen.

Über 90, dann 120, Minuten hatte Chelsea die Nase knapp vorn, zahlreiche Chancen, das Spiel zu entscheiden. Im Mittelfeld hatten sie durch ein 4-1-4-1 (Makelele hinter Ballack und Lampard) zahlenmäßige Vorteile. Essien verteidigte hinten rechts in der Viererkette. United trat im zentralen Mittelfeld mit Scholes und Carrick an.

Chelsea suchte mit langen Bällen Drogba. Der machte die Anspiele fest oder ließ auf die nachrückenden Lampard oder Ballack abtropfen. In der Anfangsphase arbeitete Ballack gut gegen den Ball, war jedoch noch nicht so sehr ins Offensivspiel eingebunden. Insgesamt dominierte zunächst United, besonders über links mit Evra und Ronaldo. Ronaldo traf per Kopfball zum 1:0, stand dabei förmlich in der Luft.

Die Reaktion zum Rückstand? Hatte Ballack seine Aufgaben die erste halbe Stunde nach Vorgabe erfüllt, drehte er nun auf. Im ersten Gegenzug setzte er einen Fernschuss neben das Tor; erzwang mit einem Kopfball eine Ecke; setzte einen Freistoß knapp drüber; zog nochmals in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit aus der Distanz ab.

Der Ausgleich fiel eher aus dem Nichts: ein Fernschuss von Essien, zweimal abgeprallt, Van der Sar rutschte weg, Lampard staubte ab.

Ballack in der Folge nicht mit vielen Spielanteilen, wenn, dann aber sicher. Nur Joe Cole sammelte mehr Kilometer. Die Mannschaft wurde insgesamt besser, dominierte die zweite Halbzeit und die Verlängerung. Chelsea gab insgesamt doppelt so viele Torschüsse ab, nur Drogba mehr als Ballack (6 zu 5). Drogba traf zudem den Pfosten, Lampard nach Vorlage Ballacks die Latte.

Zwei Minuten vor Schluss sah Drogba Rot. Und John Terry musste im Elfmeterschießen ran.

Fortsetzung folgt. Bis erschienen in dieser Reihe:

Ballack Begins

Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den… Weiterlesen

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Referenzen
[1] 11Freunde: “”Man darf sich nicht nur über Fußball definieren””
[2] Reisner, Dino (2005): Michael Ballack – Die Story des Fußball-Superstars. Gründwald: Copress Sport
[3] RP Online: “Kahn poltert gegen Team-Kameraden”
[4] Sport1.de: “Des Kaisers Wutrede” (Video)
[5] Harald Schmidt: “Uli Hoeneß schimpft” (Video)
[6] 11Freunde: “”Wenn du erst mal dreißig bist, wird es eng””
[7] Frankfurter Allgemeine Zeitung: “Unterschrift bei Chelsea – Seitenhieb gegen Bayern”
[8] n-tv: “Rummenigge ledert los”
[9] transfermarkt.de: “FC Bayern München – Alle Transfers”

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei aquafisch für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von aquafisch gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-NC 2.0

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Ballack Begins https://120minuten.github.io/ballack-begins/ https://120minuten.github.io/ballack-begins/#respond Tue, 22 Dec 2015 07:00:11 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1702 Weiterlesen]]> Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den langersehnten Weltmeistertitel – ohne den Capitano. Was bleibt nach eineinhalb Jahrzehnten Profitum? Eine Retrospektive in drei Teilen.

Autor: Sebastian Kahl

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“Michael Ballack” (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

Prolog

Was sollte Urs Meier auch machen? Fast schon entschuldigend zückt er die gelbe Karte und zeigt sie dem Übeltäter. Was hätte der aber auch machen sollen? Zwanzig Minuten vor Schluss, beim Spielstand von 0:0, hatten sich die Südkoreaner zum Konter aufgemacht. Die deutschen Angreifer wünschten gute Fahrt und ihrer Hintermannschaft gutes Gelingen. Kurz vor dem Strafraum lässt der ballführende Chun Soo Lee mit einem Haken Carsten Ramelow aussteigen, sieht vor sich drei Rote gegen zwei Weiße… Und wird von hinten zu Fall gebracht. Urs Meier notiert sich in seinem Block die 71. Spielminute: Gelb für Nummer 13, Deutschland. Das Herz der Fußballnation sinkt, die Bauchbinde der Weltregie informiert die Uneingeweihten nüchtern, bürokratisch: „Michael Ballack – Misses next match“. 

In dem Sprint zurück liegen die Strapazen von 50 Saisonspielen für Bayer Leverkusen; elf Länderspielen: Kopf gesenkt, ungewohnt steif. Und trotzdem schneller als Torsten Frings, der als einziger Kollege den Weg mitgeht. Minuten später zieht er wieder einen Lauf übers halbe Feld an, dieses Mal in den gegnerischen Strafraum. Von rechts kommt die Flanke, er verwandelt den Abpraller zum entscheidenden 1:0. Michael Ballack ist im Sommer 2002, im Alter von 25 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Schaffens: physisch imposant, doch geschmeidig, beidfüßig, schussgewaltig, kopfballgefährlich; kurz: der komplette Spieler. 29 Saisontore für Verein und Land, allein drei in den Playoffs gegen die Ukraine. Folgerichtig „Fußballer des Jahres“, seine erste von insgesamt drei Auszeichnungen. Ein Versprechen in die Zukunft, dass eine darbende Nationalmannschaft vom Titel im eigenen Land träumen konnte. In Japan/Südkorea hievten Kahn und Ballack die Deutsche Auswahl bis ins Finale.

„Vielleicht ist es ein gutes Omen, dass ich nicht spielen kann.“

~ Ballack unmittelbar nach dem Halbfinale [1]

Heimat

Michael Ballack wird am 26. September 1976 in Görlitz geboren. In der Grenzstadt zu Polen verdienten sich u.a. so bedeutende Spieler wie Dixie Dörner, Heiko Scholz und Jens Jeremies ihre ersten Sporen. Familie Ballack zieht aber samt Filius im Frühjahr 1977 nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigem Chemnitz. Das Wohngebiet „Fritz-Heckert“, benannt nach einem hiesigem KPD-Politiker, wird Ballacks erste Spielstätte. Ein Viertel aller Einwohner von Karl-Marx-Stadt wohnt in der modernen Plattenbausiedlung. Betonwände und Wäschestangen dienen den Knirpsen als Tore. Mit sieben Jahren läuft er für die Jugendmannschaft des Lokalvereins BSG Motor Fritz Heckert Karl-Marx-Stadt auf. Die Herrenabteilung spielt immerhin in der zweitklassigen DDR-Liga. Ballack dominiert die Nachwuchsrunde: Als Zehnjähriger erzielt er 57 Tore in 16 Spielen, gegen Crimmitschau soll er zwölf Tore in fünfzig Minuten Spielzeit geschossen haben.

„Ich sah gleich, dass da ein außergewöhnlicher Spieler heranwächst. Er hatte von Anfang an eine gehörige Portion Talent und konnte schon damals mit rechts und links schießen. Ein Ballgefühl, als hätte er schon fünf Jahre Training hinter sich. So was nennt man wohl Naturtalent.“

~ Steffen Hänisch, Jugendtrainer Ballacks bei MFK Karl-Marx-Stadt [2]

Im System des DDR-Sport bleibt so ein Talent nicht unentdeckt. Noch weniger wird einem solchen Talent erlaubt, nicht im größten Verein der Stadt zu spielen. Ab 1988 streift er sich also das himmelblaue Trikot des FC Karl-Marx-Stadt über. Gleichzeitig besucht er die Kinder- und Jugendsportschule. Zwischen Schule und Verein sind Unterricht und Training abgestimmt, der Tag ist durchgeplant. Eine Infrastruktur, über die heute fast jeder Profiverein verfügt. In den 80er-Jahren war es modern. Stephan Ballack, Michaels Vater, beurteilte die Förderung später als vorbildlich: „Das gesamte System dort war gut durchdacht, das war vom Feinsten. Der ganze Unterricht hat sich am Fußball orientiert, ohne das Lernniveau zu vernachlässigen. Nicht nur die sportliche, auch die schulische Begabung musste stimmen.“ [3] Die Schule schließt Ballack mit dem Abitur ab.

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde sowieso Fußballprofi.“

~ Zehntklässler Ballack angesprochen auf mäßige Schulnoten, überliefert von seiner ehemaligen Lehrerin Margita Teuscher [4]
Michael Ballack und Kevin Meinel
Wie nah Glück und Unglück beieinander liegen, zeigt das Schicksal von Ballacks Teamkamerad Kevin Meinel. Gemeinsam spielten die beiden in der Jugend vom FCK/CFC, verstanden sich auf und abseits des Platz bestens. Bei einem Hallenturnier im Januar 1991 erleidet Meinel während eines Spiels einen Schlaganfall, ist anschließend zeitweise halbseitig gelähmt. Die Karriere des hoffnungsvollen Talents ist beendet. Auch Ballack – damals 14 – ist mitgenommen: „Er wollte sogar das Fußballspielen aufgeben – wegen meiner Krankheit“ so Meinel. „Der Micha sprach mir unendlich viel Mut zu. […] Er kümmerte sich um mich in dieser schweren Zeit.“ [5]

Mit 16 hätte für Ballack auch alles schon vorbei sein können, Diagnose: Knorpelschaden im linken Knie! Das Karriereaus drohte. Es folgten neun Monate Pause, Sondertraining, ein halbes Jahr Reha ganz ohne Ball. CFC-Jugendtrainer Ullus Küttner macht ihn wieder fit und führt ihn an die Herrenmannschaft heran. Der Lohn: Profivertrag beim Chemnitzer FC, mit 18. Ballack debütiert in der Zweiten Bundesliga gleich am ersten Spieltag (4.8.1995), kommt insgesamt fünfzehn Mal zum Einsatz. Ein Treffer bleibt ihm vergönnt. Den Abstieg des CFC in die drittklassige Regionalliga Nordost kann er nicht verhindern. Indirekt profitiert er aber davon, 15 Spieler verlassen den Verein.

Ballack wird in der Saison 96/97 Stammspieler, ist bei jeder Partie dabei und erzielt zehn Tore. Ab März ’96 bestreitet er außerdem 19 Spiele für die U21-Nationalmannschaft, trifft dabei sieben mal. Zu dieser Zeit schult man Spieler noch als Libero. Ballack glänzt in der Rolle. Das und sein aufrechter Laufstil, seine Spielübersicht bringen ihm den Spitznamen „Der kleine Kaiser“ ein, in Anlehnung an Franz Beckenbauer. Andere schimpfen ihn dafür einen „Schönspieler“. Der CFC landet auf Platz vier, verpasst den Aufstieg um 18 Punkte. Ballack nicht.

König Otto

Hans-Peter Briegel soll als Erster Ballack als potentiellen Neuzugang ins Gespräch gebracht haben. Briegel war von Sommer ’96 bis Oktober ’97 Sportlicher Leiter beim 1. FC Kaiserslautern. Gerade Kompetenzgerangel bei Spielerverpflichtungen schadete jedoch dem Verhältnis zwischen Briegel und Trainer Rehhagel, sodass Briegel zum Zeitpunkt von Ballacks Verpflichtung schon zurückgetreten war. Rehhagel hatte der Familie in Chemnitz einen persönlichen Besuch abgestattet und den Wechsel gen Westen schmackhaft gemacht. Der FCK war soeben mit zehn Punkten Vorsprung Zweitligameister geworden, ließ sich das Talent 150.000 DM kosten. Dass der Wind in der Belle Etage steifer weht, dürfte dem 19-jährigen Ballack klar geworden sein, als auf seiner Position ebenfalls Ciriaco Sforza verpflichtet wurde, für 6,7 Mio. DM. Der Schweizer trat zu seinem zweiten Stint in Kaiserslautern an. Rehhagel hatte ihn 1995 schon zu den Bayern geholt. Mit dessen vorzeitiger Entlassung verließ auch Sforza München. Bei Inter Mailand wurde er anschließend nicht glücklich, kehrte nach zwei Stationen in zwei Spielzeiten in die Pfalz zurück.

Für Ballack bedeutet das zunächst eine Reservistenrolle. Zudem fällt ihm der Sprung von der Regionalliga direkt in die höchste Klasse des deutschen Fußballs schwer. Sein Bundesliga-Debüt gibt er am siebten Spieltag in Karlsruhe, kommt bis Rundenwechsel lediglich auf 17 Spielminuten. In Bremen wird er eingewechselt und fliegt noch mit Gelb/Rot vom Platz. Wie beim CFC gelingt ihm in der ersten Spielzeit kein Tor. Immerhin ist er beim 4:0 gegen Wolfsburg am vorletzten Spieltag von Beginn an dabei. Der FCK macht da die Meisterschaft 1998 fest: als Aufsteiger, ein Novum der Bundesliga-Geschichte. Ballack beeindruckt die richtigen Leute: Im September wird er erstmals von Vogts für die A-Nationalmannschaft nominiert. Das mühsame 2:1 der Deutschen gegen Malta muss er von der Bank mitansehen.

In Chemnitz gelang ihm im zweiten Jahr der Durchbruch und der Sprung in die Stammformation. Im zweiten Kaiserslauterer Jahr ist er zunächst in der Hinrunde in jedem Spiel dabei. Rehhagel lässt ihn jedoch nur sieben Mal durchspielen. Insgesamt kommt er auf 39 Pflichtspieleinsätze und vier Tore. Dem sensationellen Meistertitel folgt auf dem Betze die Ernüchterung. Zwar übersteht man die Gruppenphase in der Champions League als Erster vor Benfica, Eindhoven und Helsinki. Im anschließenden Viertelfinale setzt es aber zwei Niederlagen gegen die Bayern (2:0 und 0:4). Die Bayern dominieren die Liga, stehen bis auf zwei Spieltage immer an der Tabellenspitze und werden mit fünfzehn Punkten Vorsprung Meister. In der Abschlusstabelle der Bundesliga landet der FCK auf einem guten fünften Platz.

Die 'Causa Sforza'
Doch innerhalb des Vereins stimmt es nicht. Der Unmut bricht sich in Form von Sforza Bann: Zum Saisonende kritisiert er die Sportliche Leitung und Kaderplanung. Das Politikum sollte noch die Folgesaison (99/00) überschatten. Sforza lederte im September nach, Rehhagels Trainingsgestaltung sei veraltet, die Mannschaftsführung fragwürdig. Rehhagel suspendiert den Schweizer zunächst, kommentiert das Verhalten seines nun ehemaligen Kapitäns so: „Er hat mich nicht kritisiert, sondern diffamiert und den Vereinsfrieden brutal verletzt. Noch niemals habe ich mich in einem Menschen so getäuscht.“[6] Sforza steht zwar kurz danach wieder im Kader, der Bruch ist aber nicht mehr zu kitten. Im Sommer 2000 wechselt er erneut zu den Bayern. Ein Kritikpunkt Sforzas: Rehhagels Umgang mit den jungen Spielern, u.a. Michael Ballack.

Ballacks Vertrag lief zum Ende der Saison 99/00 aus. Bereits im Frühjahr ’99 – also mehr als ein Jahr vorher – unterschrieb er bei Bayer Leverkusen einen Vorvertrag für die Folgezeit. Der FCK sah in der Vorgehensweise Bayers einen „eklatanten Verstoß gegen die Regeln der FIFA“. Rehhagel nahm ihn aus der Mannschaft, von allen Seiten wurde ein sofortiger Wechsel im Sommer ’99 angestrebt.

„Wie soll noch eine Zusammenarbeit möglich sein, wenn immer wieder neue Lügen über mich erzählt werden? Ich wollte hier nicht weg. Herr Rehhagel ließ mich nicht mehr regelmäßig spielen, als ich Leverkusen zugesagt hatte.“

~ Ballack im Juli ’99 [7]

Ballack wechselt somit im Sommer 1999 für 8,2 Millionen DM zu Leverkusen. Mit Boshaftigkeit könnte man ihm unterstellen, er habe den Wechsel forciert. Mit Wohlwollen, sein Stellenwert bei Kaiserslautern war einem Talent wie ihm nicht angemessen. Im gleichen Zeitraum – genau: am 28. April ’99 – kam er denn auch zu seinem ersten Auftritt im DFB-Dress. Unter der Ägide von Erich Ribbeck verliert Deutschland in Bremen gegen Schottland mit 0:1. Ballack wird nach einer Stunde für Hamann eingewechselt. Beim Confederations Cup im Sommer ist Deutschland als Europameister qualifiziert. Ballack steht im Aufgebot, gibt im Gruppenspiel gegen Brasilien sein Startelf-Debüt.

Wieder hatte er es geschafft, die richtigen Leute zu beeindrucken.

„Ich habe wesentlich lukrativere Angebote vom FC Chelsea und vom AC Florenz vorliegen gehabt. Auch Bayern wollte mich. Aber das Geld hat für mich keine Rolle gespielt. Allein das Sportliche zählt. In Leverkusen habe ich die besten Chancen, Stammspieler zu werden und in die Nationalelf zu kommen.“

~ Ballack nach seinem Wechsel zu Leverkusen [8]

Legendenbildung

Der 20. Mai 2000, 15.30 Uhr: Zum Anpfiff des letzten Bundesliga-Spieltags steht Bayer 04 Leverkusen an der Tabellenspitze. Der Vorsprung auf die Bayern beträgt drei Punkte. Die haben zwar das bessere Torverhältnis. Bayer reicht aber ein Unentschieden bei der SpVgg Unterhaching, um erstmals Meister zu werden. Haching war längst im Mittelfeld der Tabelle gesichert, sollte der Werkself also nicht im Weg stehen. „Millennium-Meister“ stand auf den mitgebrachten Plakaten der Gästefans geschrieben.

15.46 Uhr, unweit entfernt in München: Bayern führt nach einer guten Viertelstunde bereits 3:0 gegen Werder Bremen.

15.50 Uhr: Schwarz flankt den Ball für Haching aus dem rechten Halbfeld in den Leverkusener Strafraum. Ballack ist in die letzte Abwehrreihe eingerückt. Der Ball fliegt in seine Richtung, nicht mit viel Schnitt, aber er spürt in seinem Rücken Rraklli. Gleichzeitig kommt Torhüter Matysek aus seinem Kasten, Ballack ist schneller. Beim Versuch zu klären, wischt er über den Ball und bugsiert ihn aus acht Metern ins leere Tor.

Markus Oberleitner erhöht in der 72. Spielminute auf 2:0 für die SpVgg. „Unterhaching“ wird zum Synonym des Favoritensturz, Bayern mit einem 3:1-Sieg über Werder Bremen aufgrund der besseren Tordifferenz doch Deutscher Meister.

Dabei fing die Saison für Leverkusen im Duell mit Bayern so erfolgversprechend an: Bereits am zweiten Spieltag kommt es zum direkten Aufeinandertreffen. Leverkusen gewinnt das Heimspiel mit 2:0. Ulf Kirsten und Oliver Neuville besorgen die Tore. Ballack ist nicht dabei. Im ersten Spiel in Duisburg spielt er 90 Minuten. Danach zieht er sich jedoch einen Innenbandriss im Knie zu. Ein Rückschlag für den Verein, kam Ballack doch mit viel Vorschusslorbeeren. Er gilt als größtes deutsches Talent. Manager Rainer Calmund zieht ebenfalls die Parallelen zu Beckenbauer.[9] Trainer Christoph Daum befindet sein Neuzugang sei ein „unheimlich vielseitig verwendbarer Spieler“. Erst Ende November kommt er wieder zur Kurzeinsätzen. Derweil hadern die Bayern mit sich selbst. Im Training werden Matthäus und Lizarazu handgreiflich, Mario Basler gar in einer Schänke in Regensburg. Basler wird umgehend entlassen, Matthäus – mittlerweile auch 38 Jahre alt – im Winter gegangen.

Zwar grüßt München meist von der Tabellenspitze, der Vorsprung auf Leverkusen beträgt kaum mehr als zwei, drei Punkte. Zur Rückrunde mischt auch Ballack wieder voll mit. Ausgerechnet gegen die Bayern erzielt er sein erstes Tor für den neuen Verein. Sein Freistoßtreffer ändert allerdings nichts an der 4:1-Auswärtsniederlage. Dennoch: Leverkusen setzt in der Folge zu einer Serie von elf Siegen und zwei Unentschieden in 13 Spielen an. Darunter ein fulminantes 9:1 in Ulm, was Trainer Christoph Daum im Interview veranlasst zu deklarieren: „Leverkusen ist nicht aufzuhalten“. Um dann mit einem Lachen hinzuzufügen: „Da können Sie die Uhr nach stellen, dass der Herr Hoeneß versuchen wird, mich zu attackieren. […] Vielleicht ist es das, was die Bayern brauchen.“

Die ungeschlagene Serie von 13 Spielen bringt die Tabellenführung. Das vierzehnte Spiel findet in Unterhaching statt. Der Titel geht an Bayern.

Im Sommer steht die Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden an. Es wird die vielleicht dunkelste Stunde der Nationalmannschaftsgeschichte. Jammern auf hohem Niveau, aber: Deutschland ist Titelverteidiger und scheidet bereits in der Vorrunde aus. Noch dazu als Gruppenletzter. Gelingt zum Auftakt noch ein 1:1 gegen Rumänien, setzt es Niederlagen gegen England (0:1) und Portugal (0:3). Das einzige Tor: ein Freistoß von Mehmet Scholl. Ballack wird gegen England eingewechselt, gegen Portugal ist er von Beginn dabei. Die Portugiesen sind vor der Partie schon für die nächste Runde qualifiziert. Trainer Humberto Coelho schickt eine bessere B-Elf aufs Feld. Die deutsche Mannschaft ist ein Sammelsurium an Altgedienten: Matthäus, Linke, Bode. Auch Scholl und Rehmer gehen auf die 30 zu. Spielwitz und Esprit versprüht der 20-jährige Deisler. Es fehlt allgemein an Bewegung und Geschwindigkeit im deutschen Spiel. Ballack geht gegen Portugal ebenso unter wie der Rest. Mutmacher sind kaum in Sicht. Von der Bank kommen Jungspunde wie Kirsten und Häßler (beide 34). Ballack muss zur Pause gar Paulo Rink weichen. Der gebürtige Brasilianer würde noch zwei weitere Länderspiele bestreiten. Verwalter des Niedergangs war Erich Ribbeck. Am Tag nach dem Ausscheiden tritt er vom seinem Amt zurück, geht als erfolglosester Trainer der Nationalelf in die Annalen ein. Sein designierter Nachfolger: Christoph Daum.

Zum 1. Juni 2001 hätte der Leverkusen-Trainer beim DFB übernehmen sollen. Der gebürtige Oelsnitzer (Erzgebirge) wächst in Duisburg auf, wird Deutscher Amateurmeister mit der Zweiten Mannschaft des 1. FC Köln. Seine aktive Laufbahn endet früh, mit 27 macht er den Fußball-Lehrer des DFB. Er wird Trainer und Vorreiter einer neuen Garde: studiert, Wissenschaftler und Motivator. Als Trainer des 1. FC Köln pinnt er die Meisterprämie von 40.000 DM an die Kabinentür. Die Bundesliga-Krone holt er dann 1992 mit dem VfB Stuttgart. In Leverkusen baut er gemeinsam mit Manager Rainer Calmund über Jahre eine gestandene Mannschaft auf. Jens Nowotny, Robert Kovac, auch Carsten Ramelow reifen unter seiner Ägide zu Spielern gehobener oder internationaler Klasse heran. Calmund beweist mit Emerson, Zé Roberto, später Lucio den richtigen Riecher für den südamerikanischen Markt. Leverkusen war für Spieler aus der ehemaligen DDR schon kurz nach der Wende eine gute Adresse. Und auch zehn Jahre nach dem Mauerfall stehen noch Stefan Beinlich, Bernd Schneider, Ulf Kirsten und eben Michael Ballack im Kader. Medienwirksam lässt Daum seine Spieler über Glasscherben laufen. Doch der Erfolg gibt ihm recht: In seinen fünf Spielzeiten fährt Leverkusen drei respektable Vizemeisterschaften ein. Bayer löst Ende der 90er Dortmund als zweite Kraft neben den Bayern ab.

Christoph Daum und die Kokain-Affaire
Nach Ribbecks Abgang bei der Nationalelf sollte Rudi Völler interimsweise den Trainerposten füllen, im Sommer 2001 würde Daum übernehmen. Solange lief sein Vertrag in Leverkusen. Doch bereits im Oktober 2000 ist Schluss. Uli Hoeneß brachte den Stein ins Rollen. Die Fehde der beiden Fußballmacher geht bis Ende der 80er, in Daums Kölner Zeit zurück. Hoeneß kritisiert die Wahl des DFB, Daum zum Nationaltrainer zu machen vage, fragt wie das mit einer gleichzeitigen Antidrogenkampagne zusammenpasse. Daum weist die Vorwürfe des Drogenkonsums zurück, lässt sich kurz darauf doch auf einen Haartest ein. Seine Deklaration auf der zugehörigen Pressekonferenz geht in den allgemeinen Sprachgebrauch über: „Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe.“ Die Testergebnisse strafen ihn Lügen. Daum wird von seinem Amt bei Bayer Leverkusen entbunden. Der Vorvertrag mit dem DFB wird aufgelöst. Daum taucht in den USA unter, muss sich später vor Gericht verantworten.

Nach der Kokain-Affäre bleibt Daum lange Zeit Persona non grata in Fußballdeutschland. Ballack wird sich im Rückblick durchweg positiv äußern, nennt Daum einen „besonderen“, einen „Ausnahmetrainer“.[10] In den knapp eineinhalb Jahren unter Daum reift Ballack zum gestandenen Bundesligaspieler, findet seine Position im zentralen Mittelfeld. Gleichzeitig lässt ihm das taktische Konstrukt genügend Freiheiten seine später legendäre Torgefährlichkeit zu entwickeln.

“Christoph Daum hat als Erster diese [Leverkusener] Mannschaft geformt. Er war auch der vielleicht wichtigste Trainer in meiner Karriere, weil ich unter ihm mit 22 oder 23 Jahren den Durchbruch zum Stammspieler auf diesem Niveau geschafft habe.”

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Christoph Daum [11]

Ist die Mannschaft geschockt, so lässt sie es sich nicht anmerken. Leverkusen gewinnt fünf der nächsten sieben Spiele. Zunächst übernimmt Rudi Völler die Trainingsleitung, anschließend Berti Vogts. Das Meisterrennen ist eng wie selten. Noch Ende April liegen die ersten fünf in der Tabelle nur drei Punkte auseinander – Bayern, Schalke, Dortmund, Leverkusen und Hertha. Den längsten Atem haben erneut die Bayern, bis zur letzten Minute der Saison. Im Fernduell müssen die Schalker mitansehen, wie München in der Nachspielzeit noch den Ausgleich beim HSV erzielt. Erneut war Unterhaching am letzten Spieltag Gegner des Vizemeisters. Das Schalke sein Spiel mit 5:3 gewinnt ist dabei nur ein schwacher Trost.

Für Leverkusen bleibt nur Platz vier. Immerhin berechtigt das zur Teilnahme an der Qualifikation zur Champions League. Und es ist vielleicht auch ein Grund, dass Michael Ballack eine weitere Saison in Leverkusen verbleibt. Denn mittlerweile jagt halb Europa den 24-Jährigen. Real Madrid und Chelsea machen Angebote. Bayern München war schon vor seinem Wechsel zu Leverkusen dran. Ballacks Vertrag läuft eigentlich bis 2005, aber im Sommer 2002 greift eine Klausel, nach der er vergleichsweise billig wechseln kann. So soll es einen Vorvertrag mit den Bayern geben. Nationalmannschaftskollege Deisler – Neuzugang für ’02 – bekam für seine Zusage ein fürstliches Handgeld. Zudem kündigte Effenberg nach dem CL-Sieg seinen Abgang mit Ablauf seines Kontrakts an; ebenfalls im kommenden Sommer.[12] Bis dahin wird der Tiger zum Politikum, Sündenbock einer verkorksten Münchener Saison.

Bayer verstärkt sich nochmals punktuell. Yildiray Bastürk (22J.) kommt vom VfL Bochum und wirkt als kreatives Pendant im Mittelfeld zu Ballack und Ramelow. Zoltan Sebescen (25J.) kostet umgerechnet 6 Millionen Euro, kann mehrere Positionen in Abwehr und Mittelfeld einnehmen. Neue Nummer eins im Tor wird Hans-Jörg Butt. Er kommt mit der Empfehlung von 19 Elfmetertoren in drei Spielzeiten ablösefrei aus Hamburg.

Der wichtigste Neuzugang nimmt aber auf der Bank Platz. Klaus Toppmöller ist der neue Trainer. Der Pfälzer spielte knapp ein Jahrzehnt Erste Bundesliga für Kaiserslautern, später in der Zweiten und unterklassig für den FSV Salmrohr. Dort fungierte er zum Ende als Spielertrainer. Über weitere Stationen, u.a. Bochum, mit denen er in den UEFA-Cup einzieht, landet er als Nachfolger Vogts’ bei Leverkusen. Unter Toppmöller spielt die Werkself nochmal schneller, direkter, etabliert das Umschaltspiel. Das System mit offensiven Außenverteidiger prägt noch Jahre später den europäischen Fußball.[13] Ballack ist eine der wichtigen Säulen in einem Team, das mehr als nur die Summe seiner Einzelteile war.

„Toppi hatte seine Stärken in der Mannschaftsführung. [Er konnte ein] Vertrauensverhältnis zwischen Trainer und Spieler [aufbauen]. Das hat er mit Emotionalität, Charme und auch einer gewissen Witzigkeit hinbekommen.“

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Klaus Toppmöller [11]

Vizekusen

Nach der durchwachsenen Vorsaison gehört Leverkusen nicht zu den Meisterfavoriten. Schalke war denkbar knapp dran, Bayern ist amtierender Champions League-Sieger. Dortmund wirft mit Geld um sich. Allein Marcio Amoroso kostete 50 Millionen DM. Doch bis zum Dezember verliert Bayer kein Ligaspiel. An Spieltag 13 steht man erstmals an der Tabellenspitze. Im gleichen Zeitraum gelingt der Einzug in die zweite Gruppenphase der Champions League. Nach Barcelona, Lyon und Fenerbahce warten nun Juventus, La Coruna und Arsenal. Zwischendurch schießt Ballack Deutschland zur WM. In der Quali-Gruppe belegte Deutschland hinter England den zweiten Platz, musste also in die Play-offs. Beim Hinspiel in der Ukraine (1:1) besorgt Ballack den Ausgleich. Im Rückspiel (4:1) steuert er zwei Treffer bei. Leverkusen wird Herbstmeister, Ballack hat mit bis dahin neun Toren entscheidenden Anteil. Am Ende wird er 17 auf seinem Konto haben, der Bestwert in seiner Mannschaft.

Das größte Weihnachtsgeschenk legt aber Uli Hoeneß den Bayern-Fans unter den Baum. Just zum Start der Winterpause wird der Wechsel von Ballack offiziell, für vergleichsweise schmale 28 Millionen DM. Das Timing ergibt Sinn: Der beste deutsche Feldspieler landet beim größten deutschen Verein. Einige Jahre zuvor wäre der Schritt möglicherweise zu früh gekommen, der junge Ballack im Münchner Starensemble untergegangen. Nun hätte er sich wohl den neuen Verein in ganz Europa selbst aussuchen können. Andere hätten sicher mehr Gehalt gezahlt. Sein Berater Michael Becker ließ sich zuvor schon zitieren: Ballack könne „allein nach sportlichen Aspekten entscheiden“.[14] Hoeneß machte ihm den Wechsel mit der anstehenden Weltmeisterschaft im eigenen Land zusätzlich schmackhaft, schwärmte ihm von seinen eigenen Erfahrungen 1974 vor. Im Vorfeld ins Ausland zu gehen, sei unsinnig, danach noch Zeit genug.

Zwar avancierte Ballack innerhalb weniger Jahre zum Shootingstar und Hoffnungsträger des deutschen Fußballs. In fremden Stadien wurde er deswegen jedoch nicht von allen geliebt. So ist der Wechsel zu den Bayern auch Wasser auf die Mühlen derer, die in Ballack ohnehin den Schnösel sehen. Seine Selbstsicherheit abseits des Platzes wird ihm als Arroganz ausgelegt.

So stehen in Leverkusen die Zeichen auf Abschied. Ballack tritt zu seiner letzten Runde in Leverkusen an. Und was für eine es werden sollte! Nach einer kurzen Schwächephase zum Jahreswechsel folgen zehn ungeschlagene Spiele. Am 24. Spieltag übernimmt Leverkusen nach einem fulminanten 4:0 gegen den bisherigen Primus Dortmund wieder die Tabellenspitze. Anfang März schlägt man im Halbfinale des DFB-Pokals die Rivalen vom 1. FC Köln (3:1 n.V.). Auch in der Champions League stehen K.O.-Spiele an: Im Viertelfinale muss Bayer zunächst auswärts an der Anfield Road antreten, verliert dort mit 1:0. Im Rückspiel besorgt Ballack zweimal die Führung, Leverkusen gewinnt 4:2. Erneut geht es im Halbfinale nach England. Manchester United wird mit zwei Unentschieden (2:2 und 1:1) ausgeschaltet. Ballack ist mit sechs Toren Bayers Toptorschütze im Wettbewerb.

Alles deutet auf einen triumphalen Saisonabschluss hin. Mit dem Ligaspiel gegen Bremen nimmt das Unheil seinen Lauf. Vor dem 32. Spieltag steht Leverkusen an der Tabellenspitze, hat fünf Punkte Vorsprung auf Dortmund, sieben auf Bayern. Bremen kämpft noch um den Einzug in den UEFA-Cup, schockt Leverkusen, siegt auswärts 1:2. In der Woche drauf muss Bayer nach Nürnberg. Der Club macht mit einem 1:0 den Klassenerhalt klar. Schlimmer noch: Dortmund gewinnt seine Spiele, übernimmt die Tabellenführung. Zwar schlägt Leverkusen am letzten Spieltag Hertha mit 2:1. Durch Dortmunds Sieg über Bremen (2:1) ist das nur Makulatur, der BVB wird Meister. Mit dieser Hypothek geht Leverkusen sieben Tage später in das DFB-Pokalfinale, Ballack angeschlagen. Bayer geht zwar in Führung. Mit Seitenwechsel nimmt Schalke Fahrt auf, bezwingt Butt viermal. Kirstens Treffer kurz vor Schluss ist nur noch Ergebniskosmetik. Leverkusen verliert 2:4.

Am 15. Mai 2002 macht Ballack in Glasgow sein (zunächst) letztes Spiel für Leverkusen. Nur vier Tage nach dem verlorenen DFB-Pokalfinale geht es um die nächste Trophäe. Ballacks Fuß ist aufgrund des Einsatz vom Samstag geschwollen. Doch wer irgends laufen kann, spielt auch ein Champions League-Finale. Der Werkself steht niemand geringeres gegenüber als Real Madrid. Zu dieser Zeit firmieren die Königlichen als die Galaktischen. Präsident Florentino Perez machte es sich zur Aufgabe, die besten Spieler der Welt nach Madrid zu holen. Koste es, was es wolle. Die Mannschaft hatte bereits 1998 und 2000 die CL gewonnen. Der Kader ist mit großen Spielern wie Fernando Hierro, Roberto Carlos, Claude Makelele oder Raul bereits bestens besetzt. Perez fügte ihr Luis Figo und Zinedine Zidane hinzu, später Ronaldo und David Beckham. Auf dem Papier war Real eine Übermacht. So geht Madrid bereits nach acht Minuten in Führung, Raul war Lucio entwischt. Doch Leverkusen ergibt sich nicht dem Schicksal, sondern hält dagegen. Ballack fordert die Bälle, ist überall zu finden. Nach einer Viertelstunde holt er auf der Außenbahn einen Freistoß heraus. Die anschließende Hereingabe verwandelt Lucio mustergültig zum 1:1. Bayer spielt schnell und direkt, der Stil ist ausgefeilt. Eine Halbzeit kann Leverkusen mehr als nur mithalten. Die Arbeitsteilung im Mittelfeld stimmt: Ramelow erobert die Bälle, Ballack schleppt und verteilt, Bastürk zaubert. Kurz vor dem Pausenpfiff zeigt Zidane, warum er mit 150 Millionen DM der teuerste Spieler der Welt, das Prunkstück der Galaktischen ist. Mit einem Geniestreich stellt er die Partie auf den Kopf. Auf links gewinnt Roberto Carlos ein Laufduell mit Sebescen, schnalzt den Ball zurück auf Höhe des Strafraums. Zidane ist ungedeckt, Zivkovic kommt zu spät aus der Kette, Ballack aus dem Mittelfeld. Zizou nimmt den Ball volley mit links, zieht ihn aus 16 Metern ins Kreuzeck.

Die weitere Partie wird eine Demonstration des dreimaligen Weltfußballers. Zidane gibt in Halbzeit zwei den Ton an, lässt Bayer am ausgestreckten Arm verhungern. Leverkusen kommt zwar noch zu Chancen, allein ein erneuter Ausgleich gelingt nicht. So gewinnt Real gewinnt den dritten CL-Titel in fünf Jahren. Leverkusen „verspielt“ den dritten Titel innerhalb weniger Wochen, erntet den Spitznamen „Vizekusen“. Dennoch: Bayer unterlag in einem großen Spiel einer großen Mannschaft. Die Art der Niederlage, die Art Fußball zu spielen bringen auch Sympathien. Die Saison als Ganzes war erfolgreich, auch wenn ihr die Krönung verwehrt blieb. Klaus Toppmöller wird Deutschlands Trainer des Jahres 2002. Ballack wird ins UEFA Team des Jahres gewählt.[15] Sechs Spieler der Mannschaft landen in Bayers Jahrhundertelf.[16]

Rainer Calmund würde später einmal sinngemäß sagen, er wird lieber fünf Jahre Vizemeister und spielt regelmäßig Champions League, als einmal Meister zu werden und dann abzusacken. Leverkusen verband beide Szenarien. Das Fenster, um Titel zu gewinnen war schmal. Wie so häufig für nationale Herausforderer der Bayern schloss es nach wenigen Jahren. In kurzer Folge wechselten Robert Kovac (’01), Zé Roberto (’02), Michael Ballack (’02) und später Lucio (’04) von Leverkusen nach München. Hinzu kommen schwere Verletzungen u.a. bei Nowotny und Sebescen, sodass Leverkusen in der Folgesaison nur knapp dem Abstieg entgeht und am Ende auf Platz 15 landet.

Japan/Südkorea

Ballacks Saison 2002 war damit noch nicht vorbei. Nach 50 Saisonspielen für Leverkusen reist er mit der Nationalmannschaft nach Japan und Südkorea zur Weltmeisterschaft. Dass dort noch viele Saisonspiele hinzukommen würden, dachten nach der desaströsen EM 2000 wohl die Wenigsten. Allein die Kadernominierung sorgte – naturgemäß – für Diskussionen. Teamchef Rudi Völler hatte eigentlich kaum Auswahl, ließ dennoch mit Martin Max den Torschützenkönig der Bundesliga daheim. Stattdessen fuhr Carsten Jancker mit, dem in 18 Saisonspielen für Bayern kein Treffer gelang.

Einigermaßen souverän, wenn auch nicht schön, überstand man die Gruppenphase. Saudi Arabien war im ersten Gruppenspiel der beste Aufwärmgegner. Miroslav Klose erzielt drei Tore beim 8:0-Kantersieg. Auch Carsten Jancker trifft. Das hohe Ergebnis trügt über die fußballerische Klasse. In den weiteren Spielen werden die spielerischen Defizite offensichtlich. Im zweiten Spiel leisten die Iren mehr Gegenwehr. Zwar geht Deutschland nach knapp zwanzig ordentlichen Minuten in Führung, wieder durch Klose. In der Folge lässt man sich jedoch immer weiter zurückdrängen, dass Irland schließlich in der Schlussminute noch zum Ausgleich kommt. Im letzten Gruppenspiel gegen Kamerun geht es für beide Mannschaften ums Weiterkommen. Dementsprechend ruppig wird es auf dem Platz. Schiedsrichter Lopez Nieto verwarnt insgesamt 14 Spieler, verweist zwei des Platzes. Bode und Klose sorgen auf Seiten Deutschlands für Jubel und den 2:0-Sieg. Kleine Rache für den Leverkusener Block in der Nationalmannschaft: Sowohl Titelverteidiger Frankreich rund um Zidane als auch Portugal mit Figo scheiden in der Vorrunde aus.

Völler hatte in der Vorrunde dreimal mit der gleichen Startelf begonnen, musste aber zum Achtelfinale nach der Kartenflut notgedrungen wechseln: Rehmer, Bode und Jeremies kamen für die gesperrten Hamann, Ziege und Ramelow. Neuville ersetzte zudem Jancker. Ballack hatte aufgrund von Wadenproblemen mit dem Training aussetzen müssen, konnte aber gegen Paraguay auflaufen.[17] Viel hätte er nicht verpasst. Beide Mannschaften agieren passiv, zuweilen müde. Auch Ballack schleppt sich durch die Partie, kann keine klare Linie ins Spiel bringen. Die besseren Chancen hat eher noch Paraguay, Kahn ist der Rückhalt. Als „typisch Deutsch“ beschreibt der große Cesare Maldini, Trainer der Paraguayer, dann das Weiterkommen der DFB-Auswahl. Bernd Schneider war die rechte Außenlinie durchmarschiert, flankte in die Mitte, wo sein Leverkusener Teamkollege Oliver Neuville aus kurzer Distanz vollendete; in der 88. Minute. Auch Teamchef Völler zeigte sich kritisch nach dem Spiel: „Wir haben in der ersten Halbzeit schlecht Fußball gespielt, eigentlich haben wir gar keinen Fußball gespielt.“[18]

Im Viertelfinale gegen die USA wird es wenig besser. Kehl hatte sich nach seiner Einwechslung im Achtelfinale festgespielt, sodass von den zuvor Gesperrten nur Hamann und Ziege zurück ins Team kamen. Auch Neuville wurde mit einer erneuten Startaufstellung belohnt. Die USA bestimmen das Spiel, verbuchen gleich zu Beginn mehrere Großchancen. Kahn klärt unter Bedrängnis. Erneut ist Deutschland zu passiv, kommt offensiv nur über Standards zur Geltung. Bezeichnenderweise fällt das 1:0 durch einen Freistoß. Ziege bringt ihn aus dem rechten Rückraum, Ballack verwandelt per Kopf (39′). Die Führung brachte kaum Sicherheit. Ein ums andere mal ließ sich die Hintermannschaft mit simplen Kombinationen aushebeln. Doch das späte Gegentor wie noch gegen Irland bleibt aus. Die Gazetto dello Sport titelt nach dem Spiel „Kahn bewirkt Wunder“.

Zurück auf Anfang: Seoul, Austragungsort des Eröffnungsspiels, sieht auch das Halbfinale zwischen Gastgeber Südkorea und Deutschland. Und den bis dahin besten Auftritt der deutschen Elf. Gleich von Beginn gibt die Truppe um Ballack den Ton an, wieder mit Ramelow statt Kehl. Zwar gescholten für seine bisherigen Auftritte, machte er nun auf der ungewohnten Abwehrposition eine gute Partie. Zumindest bis zur 71. Minute: Bei einem Konter der Koreaner geht Ramelow nicht entschieden genug in den Zweikampf, Ballack muss ausbügeln, sieht Gelb. Es ist die dritte im laufenden Wettbewerb, was eine Sperre für das nächste Spiel – das Finale – nach sich zieht. Doch dort sind die Deutschen noch nicht. Das Mittelfeld mit Ballack und Hamann harmonierte und dominierte das Spiel, das Chancenplus konnten sie aber noch nicht vergolden. Zumindest bis zur 75. Minute: Neuville treibt den Ball auf dem rechten Flügel tief in die gegnerische Hälfte, flankt blind in den Strafraum. Dort lauert Bierhoff, reagiert auf den kommenden Ball zu langsam. Aus dem Mittelfeld spurtet Ballack heran, nimmt den Ball aus dem Lauf mit rechts, trifft Torwart Lee. Der Abpraller landet wieder bei ihm. Dieses mal verwandelt er mit links zum 1:0-Siegtreffer, schießt die Deutschen damit ins Finale.

Epilog

„Einen Spieler der Klasse Ballack können wir nicht adäquat ersetzen, das trifft uns jetzt ganz brutal.“

~ DFB-Trainer Rudi Völler über Ballacks Sperre im Finale [1]

Es ist ein interessantes „Was wäre, wenn…?“-Szenario der deutschen Fußballgeschichte: Hätte die Nationalmannschaft gegen Brasilien im Finale gewonnen, wenn Michael Ballack dabei gewesen wäre? In der Erinnerung bleibt, wie Kahn Rivaldos Schuss nach vorne prallen lässt und Ronaldo abstaubt. Die Stunde zuvor hatte Deutschland stark gespielt, besser gestaltet, als man es ihr nach den bisherigen Auftritten zugetraut hätte. Bis zum Finale hatte Deutschland gegen mäßige Kontrahenten biedere Leistungen gezeigt. Die mannschaftliche Geschlossenheit glich die spielerischen Limitationen aus. Die individuelle Qualität von Kahn und Ballack sicherte das Weiterkommen. Brasilien war der stärkste Gegner und die deutsche Elf machte ihr bestes Spiel. Hamann und Jeremies – für den gesperrten Ballack – hielten im Mittelfeld die starken Kleberson und Ronaldinho zeitweise in Schach, entwickelten jedoch kaum Torgefahr. Neuville hatte die Führung auf dem Fuß bzw. Kopf. Ballack muss von außen mitansehen, wie Ronaldo Turniertreffer sieben und acht markiert. Brasilien gewinnt 2:0, wird zum fünften mal Weltmeister. „Brasilien [war] bei diesem Turnier die beste Mannschaft und ist deshalb auch verdient Weltmeister“, so Völler nach dem Spiel. Kahn, Ballack und Klose werden ins All-Star-Team des Turniers gewählt, Ballack außerdem zu Deutschlands Fußballer des Jahres 2002. Seine Kritiker ließ das nicht verstummen.

„Ein Weltstar ist er längst noch nicht. Er braucht noch eine Zeit, um so groß zu sein, wie er jetzt in den Medien dargestellt wird. Die ganz großen Spieler haben nämlich große Titel geholt, und daran muss er noch arbeiten.“

~ Otto Rehhagel nach Ballacks Auszeichnung zum Fußballer des Jahres 2002 [3]

In weiteren Teilen: Die Chelsea-Jahre und Michael Ballacks Abschied aus der Nationalmannschaft.

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei aquafisch für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von aquafisch gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-NC 2.0

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