a Tim Frohwein – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 16 Oct 2019 20:27:31 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 eSport – eine Möglichkeit, den Nachwuchsmangel im Amateurfußball zu bekämpfen? https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/ https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/#respond Fri, 18 Oct 2019 07:00:26 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6593 Weiterlesen]]> eSport sorgt in Deutschland aktuell für Diskussionsstoff: Soll das Zocken von Spielen wie FIFA 2019, League of Legends oder Counter Strike an der Konsole als Sport anerkannt werden? Während Wissenschaft, Politik und Verbände um eine Antwort auf diese Frage ringen, fangen an der Basis viele Fußballvereine an, eigene Erfahrungen mit dem Trend eSport zu machen. Sie hoffen, sich durch Gaming-Angebote für junge Menschen wieder attraktiver zu machen – denn in den letzten Jahren ging es mit dem Fußballnachwuchs stetig zurück.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Von Tim Frohwein

Der Amateurfußball hat Nachwuchssorgen. Nahmen laut DFB-Statistik im Jahr 2015 von der G- bis hoch zur A-Jugend noch 91.961 Juniorenmannschaften am verbandsmäßig organisierten Spielbetrieb teil, waren es 2019 nur noch 84.076. Das entspricht einem Rückgang von knapp neun Prozent binnen vier Jahren. Im Mädchenfußball ist die Situation noch dramatischer: Zwischen 2015 und 2019 sank die Zahl der gemeldeten Mannschaften mit Spielerinnen bis zu einer Altersgrenze von 16 Jahren von 6.702 um rund 28 Prozent auf 4.842.

Die populäre These, dass die Nachwuchsprobleme mit dem demografischen Wandel zu erklären sind – also damit, dass aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge schlichtweg immer weniger Jugendliche nachkommen – ist allerdings nicht haltbar: Wie Andreas Groll von der TU Dortmund in einer Analyse am Beispiel des Bundeslandes Bayern zeigen konnte, nahm dort die Zahl der männlichen Jugendfußballer zwischen 2014 und 2018 in allen Altersklassen kontinuierlich ab – bei zumeist im Vergleich deutlich weniger stark sinkenden, manchmal sogar steigenden Bevölkerungszahlen in den jeweiligen Alterskategorien.¹ Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Im bayerischen Fußballkreis Erlangen/Pegnitzgrund waren in der Saison 2014/15 im F-Jugendbereich noch 1.724 Spieler aktiv, vier Jahre später waren es nur noch 1.254. Das entspricht einem Rückgang von rund 27 Prozent. Parallel zu dieser Entwicklung veränderte sich im Fußballkreis die Anzahl der Jungen, die für die F-Jugend spielberechtigt wären: sie stieg um rund drei Prozent.

Der demografische Wandel kann also nicht immer als Ursache für den Nachwuchsmangel in Betracht gezogen werden. Bei der Suche nach alternativen Erklärungen sind Vereine und Verbände bislang noch nicht weit gekommen. Sind es veränderte Wertevorstellungen der jüngeren Generation, auf die eine feste Bindung an einen Verein einfach zu freiheitsbeschränkend wirkt? Laufen dem Fußball andere Sportarten angesichts einer nie dagewesenen Vielfalt an Sportangeboten den Rang ab? Oder treiben die Teenager von heute einfach weniger realen und stattdessen mehr virtuellen Sport – sprich: spielen sie Fußball lieber an der Playstation als auf dem Rasen?

Der Bayerische Fußball-Verband (BFV) ist überzeugt, dass mit Hilfe von Gaming eine Trendwende geschafft werden kann – und fordert deshalb als einer der ersten Fußball-Regionalverbände in Deutschland seine Mitgliedsvereine dazu auf, entsprechende Angebote bereitzustellen: „Gaming ist fester Bestandteil der heutigen Jugendkultur – ein breit aufgestelltes Vereinsprogramm, das neben dem traditionellen Fußballtraining auch eFootball beinhaltet, ist dabei besonders attraktiv“, schreibt der Verband in einer kürzlich veröffentlichten Broschüre.

eFootball, also das Spielen der FIFA- oder der Pro Evolution Soccer-Reihe an der Playstation oder XBOX, sei jener Bereich des Gamings, für den sich Amateurfußballvereine öffnen sollten, findet der BFV. Von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends ist in der Broschüre nicht die Rede. Anscheinend orientiert sich der Verband hier an der Haltung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Dieser gab nach einer Mitgliederversammlung Ende 2018 bekannt, dass er als sportliche Dachorganisation darauf hinwirken werde, „dass keine eGaming-Aktivitäten in Vereinen angeboten werden, die dem anerkannten Wertekanon des DOSB-Sportsystems nicht entsprechen“ – was sich zum Beispiel auf Spiele wie Counterstrike oder League of Legends bezieht.

„Gaming“, „eGaming“ und „eSport“

„Gaming“ oder „eGaming“ und „eSport“ werden in der öffentlichen Diskussion oft synonym verwendet. Unter allen drei Begriffen werden dabei häufig sowohl das Spielen von Sportsimulationen (z.B. FIFA 2019, NBA 2K19) als auch von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends zusammengefasst. Der DOSB, der sich prinzipiell gegen eine Anerkennung des „eSport“ als Sport ausspricht, sieht in Sportsimulationen – also z.B. auch im „eFootball“ – für „Vereine und Verbände Potenzial für eine Weiterentwicklung“. Ego-Shooter wie Counterstrike oder Strategiespiele wie League of Legends dagegen gehören für Deutschlands Sportdachorganisation zum Bereich des „eGaming“. Diese Spiele passten aufgrund ihrer oft gewaltsamen Inhalte nicht zu dem, „was den gemeinwohlorientierten organisierten Sport prägt“. Dieser Haltung folgen bis jetzt auch der DFB und seine Landesverbände und empfehlen Vereinen aktuell nur, Sportsimulationen, am besten Fußballsimulationen, anzubieten.

In den Fußball-Oberhäusern ist eFootball ohnehin längst angekommen: 22 Vereine aus der 1. und 2. Bundesliga schicken mittlerweile Mannschaften bei der „Virtual Bundesliga“ (VBL) an den Start. Dort duellieren sich ihre Teams, die sich aus mehreren Einzelspielern zusammensetzen, zunächst in einem geschlossenen Ligensystem. Die besten Spieler aus den jeweiligen Kadern sowie einige Nachrücker aus einer Playoff-Runde qualifizieren sich schließlich für die Endrunde, in der der Deutsche Meister ermittelt wird. 2019 setzte sich Michael „Megabit“ Bittner vom SV Werder Bremen im Endspiel gegen seinen Teamkollegen Mohammed „MoAuba“ Harkous durch.

Auch Schalke 04 ist Teil der VBL. Die Gelsenkirchener unterhalten allerdings zudem ein eigenes League of Legends-Team. Hinter dem Phänomen eSport steckt ein riesiges Geschäft, das wissen die Profivereine. Da eFootball nur einen Teil dieses Geschäfts abdeckt, bleibt abzuwarten, ob sie weiterhin der Linie des DOSB folgen – oder sich wie der FC Schalke 04 auch anderen eSport-Bereichen öffnen.

An der Basis machen Amateurfußballvereine in der Zwischenzeit ihre eigenen Erfahrungen mit dem Phänomen eSport. In Bayern sind bereits zahlreiche Vereine dem Appell des BFV gefolgt: Sie nehmen an einem vom Verband organisierten eFootball-Wettbewerb teil. Im angrenzenden Baden-Württemberg ist man da noch nicht so weit. Aber auch hier probieren Vereine sich aus. Bei der SG Lobbach im Odenwald hat die B-Jugend beispielsweise vor einigen Monaten in der eigenen Sporthalle ein eFootball-Turnier auf die Beine gestellt: Auf acht in der Halle verteilten Großbildschirmen trugen 32 Zweier-Teams zeitgleich FIFA 2019-Duelle gegeneinander aus. Den Turniergewinnern winkten als Prämien Einkaufsgutscheine für Elektronik im Wert von bis zu 100 Euro.

Trainer Patrick Münkel hat die Initiative seiner Spieler unterstützt, schließlich kam über Startgelder und den Einnahmen aus dem Verkauf von Speisen und Getränken auch was für die Mannschaftskasse dabei heraus. Trotz dieses Erfolgs, eine eigene eSport-Abteilung wolle man bei der SG Lobbach auf keinen Fall aufmachen, sagt Münkel. „Damit würden wir uns doch ein Eigentor schießen: Statt die Jungs raus auf den grünen Rasen zu schicken, würden wir sie dazu animieren, sich in geschlossenen Räumen vor Bildschirme zu setzen.“ Ein Problem, dass der BFV so nicht sieht, er argumentiert, mit eSport würden bereits vorhandene Mitglieder an den Verein gebunden und neue für alle Sparten gewonnen.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Ähnlich sieht das Sebastian Pleier vom württembergischen VfL Herrenberg, wo man ein mittlerweile „ländleweit“ bekanntes eSport-Projekt aufgesetzt hat: „Wir wollen die Jugendlichen durch Gaming nicht vom Sporttreiben abhalten – ganz im Gegenteil: Für unsere eSportler haben wir einen eigenen Trainingsplan entwickelt. Auch eSportler müssen körperlich wie geistig fit sein, um gut spielen zu können.“ Ähnlich wie bei der Formel 1, wo die Protagonisten ihren Sport auch im Sitzen ausüben, dabei aber topfit sind.

Tatsächlich gibt es Studien, die die körperliche Belastung von Profi-eSportlern untersucht und interessante Ergebnisse zu Tage gefördert haben: Die Pulsfrequenz während der wettkampfmäßigen Auseinandersetzung an der Konsole entspricht mit 160 bis 180 Schlägen pro Minute etwa der eines sehr schnellen Laufs. Außerdem verfügen eSportler über eine sehr gute Hand-Auge-Koordination und ein extrem gutes Reaktionsvermögen.

„eSport an sich hat mit Sport nichts zu tun“, sagt trotz dieser Befunde der Sportsoziologe Andreas Hoffmann von der Universität Stuttgart, wo man sich seit einiger Zeit kritisch mit dem Phänomen eSport auseinandersetzt. In einem Vortrag auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball“ hat er Mitte des Jahres seine Perspektive klargemacht. „Beim eSport gibt es zwar mit der Bedienung des Controllers eine körperbezogene Handlung. Aber diese motorische Aktivität reicht nicht aus, um eSport als Sport zu definieren. Denn Sinn bekommt diese Handlung erst durch das virtuelle Geschehen auf dem Bildschirm. Wenn man hier also von einer Sportart spricht, müsste man sie Mausklicken nennen“, erklärte Hoffmann. Mit dieser Sichtweise ist er auf einer Linie mit 80 renommierten deutschen Sportwissenschaftler*innen, die Ende September eine Stellungnahme zum eSport veröffentlicht haben. Darin machen sie sich dafür stark, „dass wettkampfmäßige Video- und Computerspiele nicht als Sport(art) zu bezeichnen und anzuerkennen sind.“

Von einer Integration des eSports in das eigene Angebot rät Hoffmann Vereinen folglich ab – auch weil man sich damit Konkurrenz ins Haus hole: „Es besteht durchaus die Gefahr, dass Kinder, die schon im Verein Fußball spielen, zum eSport wechseln, wenn sie merken, dass sie dort schneller Erfolge erzielen können.“ Genauso ist es übrigens bei der SG Lobbach gekommen: Dort hat ein Spieler mit dem Fußballspielen aufgehört und sich stattdessen der professionellen eSport-Abteilung des SV Sandhausen angeschlossen.

Sebastian Pleier glaubt trotzdem an den Erfolg des Projekts „eSport“, das er beim VfL Herrenberg verantwortet: „Ein Nebeneinander von realem und virtuellem Sport ist möglich – und bisher klappt das bei uns auch sehr gut.“ Man werde das Projekt deswegen weiter vorantreiben, Turniere und Boot Camps organisieren. „Wir wollen da Vorreiter sein und anderen Vereinen zeigen, dass man sich durch ein eSport-Angebot als Verein für junge Leute attraktiv machen kann.“ Immerhin: Drei der aktuell vier eSportler des VfL waren zuvor bei einem anderen Verein gemeldet oder vereinslos.

Während Wissenschaft, Politik und Verbände noch darüber streiten, wie mit dem Thema eSport umgegangen werden soll, werden an der Basis also bereits Fakten geschaffen: Fußballvereine im ganzen Land experimentieren mit dem Phänomen – teilweise auf Anregung durch Verbände, teilweise ganz unabhängig davon. Bei rund 29 Millionen Menschen, die laut Jahresreport der deutschen Games-Branche 2018 regelmäßig – also mindestens mehrmals im Monat – digitale Spiele spielen, ist klar, dass Vereine den eSport nicht ignorieren können. Er besitzt zweifellos das Potenzial, junge Mitglieder an den Verein zu binden oder neue zu gewinnen. Genauso zweifellos ist aber, dass eine massenhafte Integration von eSport ins Vereinsleben unser Verständnis von Sporttreiben verändern wird – mit ungewisser Zukunft.


1 – Erste Ergebnisse der Analyse wurden am 10. Mai 2019 auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball – (Sozio-)Demografischer Wandel im Amateurfußball“ in Fürth vorgestellt. Die finale Analyse, die auch alternative Erklärungsansätze für den Nachwuchsrückgang im Amateurfußball ausführlich diskutiert, wird demnächst in einem Sammelband erscheinen. Für nähere Infos gerne eine Mail an tim@frohwein.de.

Autoreninfo: Tim Frohwein setzt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich und journalistisch mit dem Amateurfußball auseinander. Seit 2018 organisiert er die Veranstaltungsreihe „Mikrokosmos Amateurfußball“, die die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs stärker in den Mittelpunkt rücken will.

Disclaimer: Eine Kurzfassung dieses Artikels ist bei unserem Partner „Zeitspiel – Magazin für Fußballzeitgeschichte“ erschienen.

Wir bedanken uns beim VfL Herrenberg für die Bereitstellung des Bildmaterials.

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Angekommen an der Basis: Wie Geld den unteren Amateurfußball verändert https://120minuten.github.io/angekommen-an-der-basis-wie-geld-den-unteren-amateurfussball-veraendert/ https://120minuten.github.io/angekommen-an-der-basis-wie-geld-den-unteren-amateurfussball-veraendert/#respond Thu, 11 Apr 2019 10:00:15 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5842 Weiterlesen]]> Geld floss im Amateurfußball schon immer – vor allem deshalb, weil es lange Zeit nur das gab: Bis weit in das 20. Jahrhundert hielt der DFB am Amateurideal fest und ließ ein Berufsspielertum nicht wirklich zu. Doch natürlich kamen die Spieler der höchsten Ligen schon in der Weimarer Republik, während der ersten großen Boomphase des Fußballs in Deutschland, an ihr Geld – auf verschlungenen Wegen. Heute sind es nicht mehr die besten Spieler des Landes, die zum Schein angestellt werden, damit Zahlungen möglich sind. Es sind die besten Spieler des Landkreises, wenn überhaupt. Die Bezahlkultur hat sich bis in die untersten Ligen des Amateurfußballs ausgebreitet – und sie bringt dort einiges durcheinander.

Von Tim Frohwein

Ein mir bekannter Journalist wollte sich kürzlich in einem Artikel dem Thema Bezahlung im Amateurfußball widmen. Als er beim zuständigen Fußball-Regionalverband um Informationen bat, wurde seine Anfrage dort, so berichtete er mir später, mit dem Argument abmoderiert, dass sich in den vergangenen 30 Jahren diesbezüglich eigentlich nichts verändert habe – warum also über das Thema schreiben?

Ich möchte hier die Gegenthese aufstellen: Es hat sich etwas verändert, insbesondere in der jüngeren Vergangenheit. Die Bezahlkultur hat sich weiter denn je in die unteren Ligen ausgebreitet – und wirkt sich dort nicht gerade positiv aus. Doch bevor ich das näher ausführe, lohnt zunächst ein Blick in die Vergangenheit – auch, wenn die Entwicklungsgeschichte der Monetarisierung des Amateurfußballs in Ermangelung wissenschaftlicher Befunde nur ungenau nachzuzeichnen ist.

Das Thema Bezahlung im Amateurfußball ist so alt wie der deutsche Fußball selbst. Schon in der Weimarer Republik, als der Fußball in Deutschland an der Schwelle zum Massensport stand, wurde im Amateurfußball Geld an Spieler gezahlt – nur, dass damals gemäß den offiziellen Bestimmungen eben auch Spieler der höchsten Klasse den Status des Amateurfußballers besaßen. Ein Profifußball-Segment gab es schlichtweg nicht, da der DFB am Amateurideal festhalten und ein Berufsspielertum verhindern wollte. Im Jahrbuch des DFB von 1925 formulierte der ranghohe Funktionär Georg P. Blaschke die Haltung des DFB so: „Wir bekämpfen das Berufsspielertum aus ethischen Gründen, denn wir sehen in unseren Fußballveranstaltungen etwas anderes als bloße Schaustellungen, die der Unterhaltung dienen. Es wäre ein Frevel an unserer deutschen Jugend, wollten wir das Berufsspielertum in Deutschland auch nur im geringsten begünstigen.“

Und auch, wenn der DFB damals Verstöße gegen dieses Statut teilweise rigoros ahndete: Geld an die Spieler floss natürlich trotzdem. Allerdings geschah das selten – und hier lässt sich eine Linie zur Gegenwart ziehen – offiziell: Mit Scheinanstellungen, Schwarzgeldzahlungen oder der Überlassung von Kiosken und Tabakläden an Spieler – in dieser Zeit wurde auch der Ausdruck „Tabakladen-Amateurismus“ geprägt – versuchten die Spitzenvereine, das DFB-Verbot zu unterlaufen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das Amateurideal zu erodieren, bevor dann mit der Einführung der Bundesliga und dem Lizenzspielertum im Jahr 1963 eine halbwegs sichtbare Trennlinie zwischen Amateur- und Profifußballlager gezogen wurde. Freilich wurde der Amateurfußball dadurch nicht zur geldfreien Zone. Weiterhin wurde Geld als Mittel genutzt, um auch im unteren und gehobenen Amateurfußballbereich fähige Spieler anzulocken und sportlichen Erfolg zu ermöglichen. Wissenschaftliche Studien, die genaue Aussagen darüber zulassen, wie weit die Bezahlkultur in den 1960er und 70er Jahren verbreitet war und welche Summen flossen, gibt es leider nicht. Einzelberichte in Zeitungen lassen aber zumindest oberflächliche Einblicke zu. In einem in Ausgabe 13 des Zeitspiel-Magazins abgedruckten Kicker-Artikel aus dem Jahr 1973 beschwert sich beispielsweise der Vorstand eines rheinischen Verbandsligisten über gestiegene finanzielle Ansprüche im Amateurfußball: „Die Amateure der Verbandsliga-Klubs verdienen und verlangen zum Teil mehr als Regionalligaspieler.“ Die Regionalliga war damals die zweithöchste Spielklasse in Deutschland.

Machen wir einen Sprung ins 21. Jahrhundert. Als ich im Jahr 2010 beschloss, das Thema Bezahlung im Amateurfußball als einen Nebenaspekt in meiner Diplomarbeit zu untersuchen, waren noch immer keine aussagekräftigen empirischen Befunde dazu verfügbar. In meinen Recherchen stieß ich stattdessen auf einen kurz zuvor veröffentlichten Text von Christoph Metzelder, der in seiner Kolumne für 11FREUNDE schrieb: „Wenn ich höre, dass in Bezirksligen (achte Spielklasse) Spieler bis zu 600 Euro dafür bekommen, dass sie (Hobby-)Fußball spielen, dann ist das schon ein starkes Stück. Nur mal zum Vergleich: In meinem ersten Seniorenjahr bei Preußen Münster, 1999/2000 in der dritten Liga, bekam ich als 18-jähriger Vertragsspieler 630 Mark steuerfrei. Das war als Abiturient sehr viel Geld. Aber wir reden hier von der dritten Liga und der Arbeit unter Profibedingungen.“

Den Spieler, der im Amateurfußball mehr verdient als in den höchsten Leistungsklassen des Landes – ihn fand man im Jahr 2010 also nicht mehr nur im gehobenen Amateurfußball, sondern bereits in der achten Liga. Meine 2011 veröffentlichte Untersuchung, für die ich rund 200 Münchner Amateurfußballer per Fragebogen um anonyme Auskunft zum Thema Bezahlung gebeten hatte, bestätigte diesen Trend: Alle damals befragten Bezirksligaspieler, 55,2 Prozent der Kreisligaspieler und immerhin noch 30,8 Prozent der Spieler in der darunterliegenden zehnten Liga, der Kreisklasse, wurden von ihren Vereinen entlohnt. Informationen zur Höhe der Bezahlungen hatte ich damals – auch, weil ich mit Auskunftsverweigerungen rechnete – nicht abgefragt.

Nun sind seit der Veröffentlichung der Ergebnisse schon wieder ein paar Jahre ins Land gezogen. Meine Untersuchung ist immer noch die einzige, die Zahlen zum Thema liefert – weshalb ich erfreulicherweise immer noch Interviews geben darf. Die Reaktionen auf diese Interviews liefern Hinweise darauf, dass seit 2010 die Monetarisierung des Amateurfußballs weiter vorangeschritten ist. In einem Leserbrief, erschienen im Straubinger Tagblatt im August 2018, schreibt beispielsweise Oliver Brzycki, Teamchef des niederbayerischen Kreisklassisten DJK Straubing: „Ich führte die letzten zwei Jahre mit einigen guten Spielern aus der Region Gespräche zwecks Vereinswechsel und immer wieder scheiterte eine Verpflichtung am Schluss am lieben Geld, da bei der DJK Straubing kein einziger Spieler Zahlungen erhält.“ Wohlgemerkt: Die Kreisklasse entspricht im Fußballkreis Niederbayern Ost, in dem der DJK gemeldet ist, der zweiten Liga – von unten.

Die Bezahlkultur sorgt also dafür, dass ein ganz bestimmter Spielertypus, dem der Soziologe Heinrich Väth 1994 einen passenden Namen gegeben hat, in immer tiefere Gefilde des Amateurfußballs vorstößt: Der Spielertypus des „Wechslers“. Es gibt heute in den unteren Ligen immer mehr Amateurfußballer, die ständig Augen und Ohren für lukrative Angebote auf dem Markt offenhalten, die sich mit selbstproduzierten YouTube-Videos bei anderen Vereinen anbiedern – und entsprechend bei sich bietender Gelegenheit schnell wieder weg sind. Spieler, die jedes halbe Jahr die Mannschaft wechseln, sind keine Seltenheit mehr. Ich habe im Laufe meiner 17-jährigen Laufbahn im unteren Münchner Amateurfußball so einige von ihnen kennengelernt. Um den Zusammenhang mit der Bezahlkultur deutlich zu machen: Meine Untersuchung zeigte, dass bezahlte Spieler im Schnitt nur 2,8 Jahre bei einem Verein bleiben, während Spieler, die nicht bezahlt werden, alle 5,6 Jahre den Verein wechseln.

Wenn Amateurfußballer auf den Markt reagieren und dieses Kalkül an den Tag legen, ist es nur logisch, dass sie keine starke Verbindung zu dem Verein aufbauen, dessen Trikot sie gerade überstreifen. Auch dafür fanden sich in meiner Untersuchung Belege: Spieler, die fürs Kicken bezahlt werden, schätzen die Geselligkeit in ihrem Verein viel weniger. Verglichen mit den unbezahlten Spielern gaben sie beispielsweise an, seltener nach dem Training im Vereinsheim sitzen zu bleiben; auch private Sorgen und Probleme wurden im Vergleich nicht so häufig mit Vereinskollegen besprochen.

„Es hat sich da vor einigen Jahren eine Spirale in Gang gesetzt, aus der wir nicht mehr rauskommen“, erzählte mir der sportliche Leiter eines Kreisligavereins aus dem Raum München, den ich anlässlich dieses Artikels interviewt habe. Als vor einigen Jahren zunehmend auch niederklassige Amateurfußballvereine angefangen hätten, Spieler mit Geld zu ködern, seien – um konkurrenzfähig zu bleiben – immer mehr Vereine auf diesen Zug aufgesprungen. „Es hat sich hier in der Gegend über die Jahre hochgeschaukelt – und heute zahlen Vereine bereits in der Kreisliga 400 Euro Fixgehalt zuzüglich Prämien und Fahrtkosten. Wer da als Verein nicht mitspielt, bekommt eben keine oder weniger gute Spieler.“ Natürlich könne sich das aber nicht jeder Verein leisten. Und da sprechen wir noch nicht einmal von den Möglichkeiten, die manch mäzengeführter Verein besitzt: Hier kommt es schon mal vor, dass Spieler – ganz wie zu Zeiten der Weimarer Republik – im Betrieb des Mäzens zum Schein angestellt werden, damit auch höhere Summen fließen können.

Beim letzten Treffen der sportlichen Leiter aus dem Fußballkreis München sei diese Entwicklung, so berichtete mir der befreundete weiter, sogar vom anwesenden Verbandsvertreter deutlich kritisiert worden. „Die Mehrheit der sportlichen Leiter hat sich dann auch dafür ausgesprochen, hier entgegenzuwirken. Aber keiner weiß so richtig, wo man ansetzen soll.“ Eine Idee: Eine Art Kodex, zu dem sich die Vereine im unteren Amateurfußballbereich bekennen und sich damit verpflichten, auf Zahlungen an Spieler zu verzichten. „Aber was macht man dann mit den Vereinen, die aus dem gehobenen und erfolgsorientierteren Bereich absteigen? Die wollen ja wieder hoch – und dafür nehmen sie Geld in die Hand“, entgegnete mein Interviewpartner.

Die Bezahlkultur hat sich – Stand 2019 – bis in die unteren Segmente des deutschen Ligasystems ausgebreitet. Zwar kann man bei den Summen, die in Kreis- oder Bezirksliga gezahlt werden, nicht von Berufsspielertum sprechen. Ob man dort aber dem oben formulierten Amateurideal noch gerecht wird und sich entsprechend benennen darf, sei dahingestellt.

Autoreninfo: Tim Frohwein setzt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich und journalistisch mit dem Amateurfußball auseinander. Seit 2018 organisiert er die Veranstaltungsreihe „Mikrokosmos Amateurfußball“, die die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs stärker in den Mittelpunkt rücken will. Die nächste Ausgabe der Veranstaltung findet am 10. Mai im Stadion von Greuther Fürth statt, Thema: „(Sozio-)Demografischer Wandel im Amateurfußball“. Frohwein ist außerdem Mitglied in der Münchner Interessengemeinschaft „Sport ist wichtig“ und schnürt seit über zwanzig Jahren für seinen Heimatverein, den FC Dreistern in München, die Fußballschuhe.

Disclaimer: Eine Kurzfassung dieses Artikels ist bei unserem Partner „Zeitspiel – Magazin für Fußballzeitgeschichte“ erschienen.
Das Titelfoto zu diesem Beitrag stammt vom Autor selbst.

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