q 120minuten – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Sun, 19 Jan 2020 11:55:28 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Es war uns nicht einerlei https://120minuten.github.io/es-war-uns-nicht-einerlei/ https://120minuten.github.io/es-war-uns-nicht-einerlei/#comments Sun, 19 Jan 2020 11:43:09 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6818 Weiterlesen]]> Liebe Leser*innen,

im Dezember haben wir Euch an dieser Stelle darüber informiert, dass wir mit unserem Projekt sprichwörtlich in Klausur gehen. Am Wochenende haben wir uns in Wiesbaden zur Tagung getroffen, um darüber zu sprechen: Wo stehen wir mit 120minuten? Was ist gut, was funktioniert, wo sehen wir Probleme, was muss sich ändern und (wie) können wir weitermachen?

Die Fragen, was gut ist und was funktioniert, waren besonders leicht zu beantworten. Wir haben viele großartige Autor*innen für uns gewinnen können, mit denen wir vertrauensvoll und produktiv zusammenarbeiten. In den vergangenen Jahren sind so Texte entstanden, in denen wir einen anderen, tiefergehenden Blick auf das Thema Fußball werfen. Das macht uns froh und stolz.

Mit unseren tollen Kooperationspartner*innen haben wir mit großer Leidenschaft verschiedene Formate wie zum Beispiel unsere Podcastreihen realisiert. In diesem freundschaftlichen und respektvollen Austausch mit den Kolleg*innen haben wir viel gelernt, spannende Impulse bekommen und sind fabelhaften Menschen begegnet.

Ihr als unsere Leser*innen habt diese Reise mit Interesse und Feedback begleitet. Eure Rückmeldungen und der Dialog mit euch sind uns immer ein wertvoller Antrieb gewesen.

Wir alle stecken viel Zeit, Liebe und Arbeit in die Plattform. Das tun wir aus großer inhaltlicher Überzeugung. Langfristig war es unser Ziel, das Projekt zu monetarisieren. Wir wollten immer in eine Position kommen, in der wir unsere Autor*innen für ihre Arbeit bezahlen können. Auch wir selbst können dieses sehr hohe zeitliche Engagement nicht dauerhaft ohne finanziellen Ausgleich leisten.

Wir haben unseren Aufwand in den letzten Jahren sukzessive erhöht. Der Lohn dafür war eine steigende Anerkennung für unser Projekt, die sich unter anderem in positiver Berichterstattung, einem Grow-Stipendium des Netzwerks Recherche und der Auszeichnung mit dem „Goldenen Blogger 2018“ niedergeschlagen hat.

Diese Faktoren haben wir am Wochenende intensiv und offen miteinander besprochen. Am Ende müssen wir leider feststellen, dass bei allen positiven Aspekten, die dieses Projekt von Anfang an begleitet haben, der finanzielle so schwer wiegt, dass wir uns entschieden haben, 120minuten einzustellen.

Der Schritt ist uns nicht leicht gefallen. Wir haben in den vergangenen Jahren großartige Erfahrungen gemacht, die wir nicht missen wollen. Über Geld zu sprechen, ist bekanntermaßen nicht sexy, aber notwendig. Wir betreiben 120minuten von Anfang an ehrenamtlich neben Arbeit, Familie und Alltag. Dafür ist der Aufwand mittlerweile viel zu hoch; um einen Job daraus zu machen, ist der Ertrag wiederum deutlich zu gering.

Daraus ziehen wir jetzt die Konsequenz: Wir pfeifen ab, das Spiel ist aus. Vielen Dank für Euer Vertrauen, die Liebe und Unterstützung. Es war uns nicht einerlei.

Conny, Christoph, Alex, Mara, Oliver, Jerome

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Württembergische Revolution https://120minuten.github.io/wuerttembergische-revolution/ https://120minuten.github.io/wuerttembergische-revolution/#respond Tue, 31 Dec 2019 08:00:17 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6768 Weiterlesen]]> Im Jahr 1984 warfen die Amateure des SC Geislingen den großen Hamburger SV aus dem DFB-Pokal. 35 Jahre später gewann Deutschland das WM-Halbfinale gegen Brasilien mit 7:1. Was hat das miteinander zu tun? Sehr vieles, wenn man die Geschichte der Spielstrategie kennt. Die These, dass der Grundstein zum Weltmeisterschaftstitel unter der Schwäbischen Alb gelegt wurde, ist gar nicht so abwegig. Eine Spurensuche an fünf Schauplätzen.

Von Bernd Sautter, www.sauttersbücher.de 

Nur wenige Wochen nach der Weltmeisterschaft in Brasilien erscheint im ZEIT Magazin ein Artikel, in dem untersucht wird, warum so viele Bundesligatrainer schwäbisch reden. Tatsächlich starteten sechs Übungsleiter aus Baden-Württemberg als Cheftrainer in den ersten Spieltag der Spielzeit 2014/15: Jens Keller, Tayfun Korkut, Robin Dutt, Markus Gisdol und Jürgen Klopp aus dem Schwäbischen, dazu kam der Südbadener Christian Streich. Es mag vielleicht Zufall gewesen sein, dass plötzlich zum selben Zeitpunkt ein Drittel der Bundesligatrainer aus dem Südwesten stammten. Und trotzdem: Dass eine solche Vielzahl an guten Strategen in Württemberg ausgebildet wurde, das hatte durchaus Methode. Doch folgen wir dem Artikel in der ZEIT noch für einen kurzen Moment. Die Autorin Heike Faller wählte die Überschrift „Geislingen an der Steige“. Tatsächlich ein guter Ort, um die Spurensuche zu beginnen.

Schauplatz 1: Geislingen, 1984

DFB Pokal 1.9.1984 Geislingen – Hamburger SV (HSV) Jubel Geislingen Gerhard Helmer
copyright by Pressefoto Baumann

Gerade mal so passt das SC-Stadion ins enge Tal zwischen zwei Höhenzügen der Schwäbischen Alb. Die Fläche zwischen Eybach und den steilen Hängen reicht gerade aus, um ein Fußballfeld anzulegen. Hoch überm Stadion ragen die Felsen aus dem Wald. Die Szenerie schafft eine malerische Kulisse für einen kleinen Spaziergang, das Tal entlang. Das dachte sich auch SC-Trainer Jakob Baumann. Vor dem Spiel ging er mit der Mannschaft noch ein paar Schritte, um sie auf das kommende Pokalspiel einzustimmen. Baumann, Vater des 5000-Meter-Olympiasiegers Dieter Baumann, musste die Mannschaft im Grunde nur ins Laufen bringen. Wohin sie laufen sollten, das wussten die Spieler bereits von seinem Vorgänger Helmut Groß.

Stadion Geislingen

Dass der HSV gleich in der ersten Pokalrunde ausscheidet, mag heute keine Überraschung mehr sein. 1984 ist es noch eine. Schließlich gelten die Hamburger als europäische Extraklasse. Ihr legendärer Europapokaltriumph ist noch gar nicht lange her. Heute gehört der Geislinger Erstrundensieg gegen Hamburg in den klassischen Reigen legendärer Pokalsensationen. Allerdings lohnt es sich, genau hinzuschauen: denn für die Geislinger Spieler kommt der Sieg überhaupt nicht überraschend. SC-Stürmer Wolfang Haug erinnert sich: „Der Alex hat eigentlich gar nicht viel halten müssen.“ Damit ist der Torwart gemeint. Auch Felix Magath ist das aufgefallen: „Die eigentliche Katastrophe“, sagt er nach dem Spiel, „war, dass wir überhaupt keine Siegchance hatten.“

Tatsächlich ist der Triumph komplett verdient. Der Oberligist presst mit hoher Intensität. Die taktischen Grundlagen wurden von Helmut Groß gelegt. Groß, der den SC zuvor trainiert hatte, ist für die spieltaktische Entwicklung Deutschlands eine der wichtigen Figuren. Obwohl ihn bis heute nur die Insider kennen. Jahre später wird er mit einem gewissen Herrn Rangnick eine württembergische Revolution auslösen. Stichwort: Ballorientiertes Pressing. Die Grundzüge erkennt man beim SC Geislingen deutlich. SC-Verteidiger Bernd Breitenbach wundert sich hinterher, wie hilflos sich der große HSV anstellt: „Wir hatten uns schon während des Spiels gefragt, irgendwann müssen sie doch mal angefangen.“ Haben sie aber nicht. Wie stark die schwarz-weißen Geislinger sind, zeigen auch die folgenden Pokalrunden. Kickers Offenbach war in der zweiten Runde so chancenlos wie der HSV. Selbst beim Ausscheiden gegen den späteren DFB-Pokalsieger Bayer Uerdingen sind die perfekt eingespielten Geislinger total auf Ballhöhe. Über die merkwürdigen Entscheidungen des Schiedsrichters, die zur unverdienten Niederlage führt, wundern sich manche noch heute.

 

Warum in Württemberg so viele gute Trainer wachsen, könnte man mit den vorherrschenden Klischees leicht erklären: Fleiß, Erfindergeist, Beharrlichkeit und ein Hang zur Besserwisserei sind die Eigenschaften, die man den Menschen im Ländle gerne zuordnet. Alles sind prächtige Zutaten für die Grundqualifikation zum Fußballtrainer. Doch selbst wenn die Theorie der passenden Mentalität stimmt, kommt noch ein weiterer, wichtiger Punkt hinzu: Die Schwaben haben sehr genau gewusst, bei wem man sich Strategie und Trainingslehre am besten abschauen kann. Wir wechseln den Schauplatz und wagen einen Blick ins Außer-Württembergische.

Fußballheimat Württemberg - 100 Orte der Erinnerung

Im Oktober 2019 ist beim Arete Verlag “Fußballheimat Württemberg” von Bernd Sautter erschienen. Neben der in diesem Text beschriebenen taktischen Weiterentwicklung des Fußballs, arbeitet der Autor weitere Entwicklungen in der Region heraus, die den Fußball maßgeblich beeinflusst haben, aber auch kuriose Begebenheiten, die in dieser Form noch nicht erzählt wurden. Beim Arete Verlag findet sich eine Leseprobe.

Schauplatz 2: Ukraine

In der taktischen Geschichte des Weltfußballs kommt Deutschland kaum vor. Aufgeschrieben hat sie der Brite Jonathan Wilson. „Revolutionen auf dem Rasen“ heißt sein Standardwerk, etwa 500 Seiten dick. Wilson taxiert die Geburt der spieltaktischen Moderne auf die Sechziger Jahre. Das Zauberwort lautet Pressing. Wilson wundert sich: „Die Idee ist derart simpel, dass man sich fragt, warum sie nicht alle übernahmen, nachdem die erste Mannschaft erfolgreich Pressing gespielt hatte. Und doch verbreitete sich diese Spielweise erst nach und nach. In Deutschland konnte Pressing gar erst in den 1990er-Jahren Fuß fassen.“ Als Geburtsort der Moderne gibt Wilson Kiew an, wo Trainer Wiktor Maslow mit Dynamo als Erster mit Pressing erfolgreich war, übrigens lange vor dem Totaalvoetbal von Ajax Amsterdam oder dem AC Milan unter Arrigo Sacchi. Maslow, in Deutschland bis heute völlig unbekannt, gewann mit einem 4-4-2 unter ständigem Attackieren des Gegners drei sowjetische Meistertitel. Die Abwehr spielte im Raum, also ohne feste Zuteilung. „Durch Manndeckung“, urteilt Maslow, „werden die Spieler gedemütigt, beleidigt und sogar moralisch unterdrückt.“ Dies, wohlgemerkt, äußerte er bereits in den sechziger Jahren. Im Team von Maslow spielten viele begabte Talente unter anderem ein gewisser Walerij Lobanowskyi.

Rund 10 Jahre später sollte Lobanowskyi das Erbe Maslows weiterführen. Während Maslow seinem taktischen Instinkt folgte, arbeitete Lobanowskyi mit wissenschaftlicher Präzision. Schon in der Schule erhielt er für seine mathematischen Fähigkeiten Auszeichnungen. Er studierte am polytechnischen Institut und ging auch den Fußball systemtheoretisch an. Lobanowskyi achtete auf Verschieben der Abwehr und darauf, dass übers gesamte Spielfeld hinweg Überzahl in Ballnähe geschaffen wird. Im Spiel mit dem Ball übte er eine Vielzahl von Kombinationen, die der Mannschaft je nach Situation zur Verfügung standen. Auch die schonungslose Analyse der Einzelspieler war neu. Am Tag nach dem Spiel hing in der Umkleidekabine eine statistische Aufschlüsselung der Partie. Jeder Spieler wusste genau, wie viele Aktionen er auf dem Platz gezeigt hatte. Auf diese Weise gewann Lobanowskyi mit Dynamo Kiew acht sowjetische Meisterschaften.

Abwehrketten ohne Libero, Verschieben und ballorientierte Spielweise konnte man nicht nur in der Sowjetunion lernen. Die neue Flexibilität entstand zeitgleich an vielen Orten auf der Welt. Nur in Deutschland setzte sie sich zaghaft durch. Vielleicht lag es auch an einer Lichtgestalt, die hierzulande das Spiel prägte, und zwar aus einer Position heraus, die in modernen Systemen nicht mehr vorgesehen war. Libero Beckenbauer sollte sich dementsprechend täuschen als er nach der WM 1990 prophezeite, dass die deutsche Mannschaft auf Jahre hinaus unschlagbar sei.  Für die zukünftige Entwicklung des Spieles war der Schauplatz Ruit deutlich wichtiger als der heilige WM-Rasen in Rom. Ruit liegt nur wenige Kilometer südöstlich von Stuttgart. Die Sportschule des Württembergischen Fußballverbandes ist unser nächster Schauplatz.

Schauplatz 3: Ruit

Franz Bartholmes, Leiter der Sportschule Ruit, bemühte sich bereits zur U17-Europameisterschaft 1984 darum, die russische Jugend-Nationalmannschaft in seiner Schule zu beherbergen. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um die Spielstrategien. Der Schulleiter hatte einfach ein Faible für den Osten. Er war ein guter Gastgeber und bemühte sich den internationalen Ruf der Sportschule auszubauen. Trotzdem war sein erster Anlauf noch nicht von Erfolg gekrönt. Die russische Jugendauswahl entschied sich für ein anderes Quartier. Aber Bartholmes blieb dran, und pflegte den Kontakt zu den russischen Verantwortlichen. Prompt wurde er im folgenden Jahr von Dynamo Kiew angefragt. Dort wusste man, dass an der Sportschule ein beheizter Kunstrasenplatz wartete – und ein freundlicher Gastgeber ohne jede ideologische Scheuklappe. Dafür fuhr Dynamo Kiew sogar 2.000 km quer durch Europa – mit einem klapprigen Bus, der schon auf der Hinfahrt dreimal seinen Geist aufgab. Lobanowskyi fand trotzdem Gefallen an der Reise. Vielleicht auch, weil sich zwischen ihm und Bartholmes eine typische Männerfreundschaft entwickelte. So besuchte Bartholmes seinen Freund von Zeit zu Zeit auch in Kiew. Dabei wunderte er sich manchmal, wie unkompliziert die Einreise war. „Wahrscheinlich gab es beim KGB eine Akte mit meinem Namen, aber viel Schlimmes kann nicht darin gestanden haben“, vermutet er. Von Lobanowskyi erfuhr er auch, dass dieser wegen seiner Besuche in Ruit sogar in Moskau antanzen musste. Warum er denn dauernd zum Klassenfeind gehe, wollte man dort wissen. „Ich gehe nicht zum Klassenfeind“, antwortete der Trainer patzig, „ich gehe zu meinem Freund Franz in die Sportschule.“ Lobanowskyi hatte sich bereits das notwendige Renommee für Eigenmächtigkeiten erarbeitet. Es war sowieso nicht seine Art, lange Erklärungen abzugeben – selbst wenn die Prawda oder andere staatliche Medien um ein Interview baten, blieb er wortkarg. Auch in Deutschland verweigerte er sich den Interviewwünschen. In der Öffentlichkeit sprach er wenig. Mit Journalisten noch weniger. Und Deutsch schon gar nicht. Nur auf das Trainingslager in Ruit bestand er, auch wenn er in den folgenden Jahren den Flieger bevorzugen sollte.

Sportschule Ruit

Im Laufe des ersten Ruiter Trainingslagers absolvierte Dynamo ein Spiel gegen Viktoria Backnang, das zu diesem Zeitpunkt vom 28-jährigen Ralf Rangnick trainiert wurde. Für den angehenden Fußball-Professor war es ein Schlüsselerlebnis. Rangnick verstand die Welt nicht mehr: „Ich habe während der Partie angefangen, die Kiew-Spieler zu zählen. Ich dachte, die hätten zwei Mann mehr auf dem Platz. Wir hatten zwar schon gegen Profis gespielt, aber so was hatten wir noch nicht erlebt: Man hatte ständig zwei, drei Gegenspieler. In unserem Fußball gab es das nicht. Wir spielten in Manndeckung – ein Mann gegen den anderen.“ Fortan pilgerte Rangnick nach Ruit, um genau zu studieren, wie es Dynamo seinen Spielern beibrachte, den Raum so verdammt eng zuzustellen. Dort, am Rande des Trainingsplatzes, traf Rangnick auf Helmut Groß, damals Trainer des VfL Kirchheim. Die Beiden studierten ausdauernd die Übungen der russischen Mannschaft. Lobanowskyi stand dabei schweigend am Spielfeldrand. Etwa so regungslos, wie er auch die Spiele seiner Mannschaft verfolgte. Absolut regungslos. Dagegen besaß jede Wachsfigur ein lebendiges Minenspiel. Auf diese Weise bis zur völligen Erstarrung konzentriert ließ der russische Großmeister der Taktik seinen fünfköpfigen Trainerstab arbeiten. Erst in der zweistündigen Besprechung am Abend wurde der Schweiger lebhaft. Dann definierte er sehr präzise das Programm für den nächsten Tag, und zwar bis ins feinste Detail.

Bis dato gab es in Deutschland kein Lehrmaterial zur ballorientierten Raumdeckung. Warum auch? Hierzulande deckte man den Mann – und das war auch gut so. Bei den Versuchen ein ballorientiertes System einzuführen sollten Groß und Rangnick bemerken, wie beharrlich man hierzulande dem Gegenspieler hinterher laufen wollte. Rangnick und Groß unternahmen die ersten Schritte, dies zu ändern. Sie legten den Grundstein zu einer neuen Spielphilosophie. Darin steckte eine Menge Lobanowskyi – und manch eigene Gedanken. Helmut Groß, der mit seinen Analytikern viel zum neuen System beitrug, erklärte es in einem Interview wie folgt: „Meine Vorstellung war, dass man den Ball so schnell es geht erobern sollte. So entstand die Idee der ballorientierten Raumdeckung. Sprich: Beim gegnerischen Angriff müssen sich die Spieler so verschieben, dass sie in Überzahl den ballführenden Gegenspieler angreifen und ihm so den Raum und die Zeit nehmen für eine vernünftige Aktion.“ Jährlich im Januar nutzen Rangnick und Groß die Möglichkeit, in Ruit Anschauungsunterricht zu nehmen.

Als Lobanowskyi dann die sowjetische Nationalmannschaft übernahm und zur Europameisterschaft in Deutschland führte, war das Domizil von vornherein klar. Natürlich Ruit. Bei der Euro 88 sollte die UdSSR bzw. Russland sein bis heute bestes Turnier spielen. Spieltaktisch waren sie den anderen Mannschaften eine Nasenlänge voraus. Das wollten jedoch nicht alle ohne Weiteres erkennen: „Fußball wie vor zwanzig Jahren“, attestierte Franz Beckenbauer. Die Diagnose des Kaisers steht beispielhaft für das Unverständnis, auf das man in Deutschland stößt, wenn man alte Systeme aufbricht. Ein paar Tage später sollten sich die Russen für das Finale qualifizieren. Zuvor waren sie über Italien hinweggefegt – nach allen Regeln der ballorientierten Kunst. Danach brach sogar Lobanowskyi sein Schweigen. Er habe in Ruit am „universellen System“ des Fußballs gebastelt, teilte er den staunenden Journalisten mit. Und das war nicht einmal gelogen. Lobanowskyi arbeitete schon seit Jahrzehnten daran, auch wenn er es selten so bezeichnete. Seine Auswahl kam einem großen Titel niemals näher als in diesem Turnier. Das Problem bestand vor allem in der zweiten gelben Karte für Oleg Kusnetsow, dem Taktgeber der Russen. Ohne den Schlüsselspieler des Systems Lobanowskyi verlor Russland das Finale mit 0:2 gegen die Niederlande. Auch das Spielglück trug an diesem Tag oranje. Marco van Bastens wahnsinniger Volley und ein verschossener Elfmeter der Russen verhinderten den verdienten Titel des Kult-Trainers.

FC PlayFair! e.V.

 

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit dem FC PlayFair! e.V. entstanden. Autor Bernd Sautter engagiert sich im weit verzweigten Netzwerk des Vereins. PlayFair setzt sich für Fußballkultur und die Nutzung der integrativen und sozialen Kraft des Fußball zum Wohl unserer Gesellschaft ein. Der Verein hat bereits mehrere beachtenswerte Initiativen in die Tat umgesetzt und engagiert sich, passend zum Text von Bernd Sautter, im Nachwuchsfußball.

In Zusammenarbeit mit dem Nachwuchsleistungszentrum des FSV Frankfurt, bringt PlayFair Nachwuchsfußballer*innen und -trainer*innen den Fairplay-Gedanken näher. Im Rahmen einer Veranstaltung mit den FSV-Nachwuchsteams, sprachen PlayFair-Vertreter im Oktober nicht nur über Fairplay auf dem Platz sondern auch über Aspekte abseits des Rasens: Umwelt, Integration und die Vorbildfunktion von Sportler*innen und Trainer*innen.

Beim Halbfinale in Stuttgart saß der komplette Trainerlehrstab des Württembergischen Fußballverbandes auf der Tribüne. Das Spiel erbrachte den endgültigen Beweis: Dieses System war einfach überlegen. Also machte man sich an die Arbeit, es seinen Trainern an die Hand zu geben. Ein halbes Jahr später waren die theoretischen Grundlagen gelegt. Im Sommer wurden die praktischen Übungen präsentiert. Im Spiel gegen den Ball etablierte der Verband Pressing und ballorientiertes Verteidigen. Im Spiel mit dem Ball wurden neue Prinzipen erarbeitet. Mit dem Ball ging es vor allem darum, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Onetouch-Fußball, schnelles Umschaltspiel, Blickrichtung Tor nach Balleroberung – das waren für deutsche Verhältnisse innovative Ansätze. Rangnick selbst machte den ersten Praxistest. Als Trainer des Landesligisten TSV Korb stellte er schon in der Winterpause auf Raumdeckung um. Korb verlor anschließend nur noch zwei Mal. Rangnick war klar: „Wenn es mit den Amateuren geht, funktioniert das mit jeder Mannschaft.“ Auch der Verband machte zielstrebig weiter. In den Auswahlmannschaften konnten die Württemberger die neue Strategie etablieren und anhand der praktischen Erfahrungen weiterentwickeln. Nur den großen DFB schien es nicht zu interessieren. Schließlich wurden die Deutschen unter Beckenbauer Weltmeister. Und warum Bitteschön, sollte sich ein Weltmeister nach russischen Ideen richten? Der Kaiser war sowieso davon überzeugt, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung auf Jahre hinaus unschlagbar wäre. Auf diese Art und Weise kassierte der deutsche Fußball einen spieltaktischen Rückstand, dem er mehr als ein Jahrzehnt hinterherlief. Oft waren gute Einzelspieler in der Lage, die taktischen Mängel zu überdecken. So war der Titelgewinn bei der Europameisterschaft 1996 Wasser auf die Mühlen der Manndecker. „Taktik ist eben nicht alles“, relativiert wfv-Trainer Wolfgang Kopp. „Was aber, wenn zwei Mannschaften aufeinandertreffen, die am Ball und in der Physis gleich stark sind? Dann entscheidet die Taktik!“

Kopp arbeitete als Mitglied des württembergischen Trainerlehrstabes beharrlich am neuen System weiter. „In den ersten Jahren hat man wenig bis nichts gesehen,“ räumt er ein. Viele Widerstände waren zu überwinden. So war es durchaus eine Herausforderung plausibel zu machen, dass es für die Verteidiger in bestimmten Situationen besser wäre, die Stürmer alleine zu lassen. „Des geht bei uns net,“ sagten die schwäbischen Trainer. Aber mit der Zeit funktionierte es eben doch. Langsam setzten sich die neuen Prinzipien durch. In den Länderpokal-Turnieren, der Jugendverbandsauswahlen belegten die Württemberger plötzlich reihenweise die ersten Plätze. Auch beim DFB fanden sich offene Ohren. Tina Theune-Meyer, Trainerin der Damen-Nationalmannschaft übernahm die neue Philosophie – und das mit großem Erfolg. Die Ausnahmestellung der Nationalmannschaft in den Neunziger Jahren ist fraglos ihr Verdienst – und das Resultat eines besseren Systems.

„Vieles haben wir bei Lobanowskyi gelernt“, resümiert Kopp. „Er hat oft 11 gegen 11 spielen lassen. Diese Spiele hat er immer wieder unterbrochen, um die Positionen zu verbessern. Außerdem hat er in seinen Trainingsformen Taktik und Kondition immer gemeinsam entwickelt. Das haben wir uns zum Vorbild genommen.“ Von den Innovationen sollten die Württembergischen Trainer noch lange profitieren. Die Liste ist lang: Tayfun Korkut, Jürgen Klopp, Peter Zeitler, Michael Feichtenbeiner, Robin Dutt, Thomas Schneider, Markus Gisdol, Marc Kienle, Alexander Zorniger und viele andere – von all diesen Trainern lässt sich eine Linie ziehen, die schlussendlich auf den zurückgeht, der am liebsten gar nicht darüber reden wollte: auf Walerij Lobanowskyi.

Bleiben wir noch einen kurzen Moment in den achtziger Jahren und folgen dem großen Spieltüftler Helmut Groß. Der Mann im Hintergrund trainierte damals den VfL Kirchheim/Teck. Wir sind im Mittelbau der großen Fußballpyramide: an unserem vierten von fünf Schauplätzen der württembergischen Revolution.

Schauplatz 4: Kirchheim/Teck

Helmut Groß liebte die Sicherheit. Trainer im Profi-Fußball? Das war dem bodenständigen Ingenieur bei weitem zu abenteuerlich. Der Schwabe Groß mochte die Sicherheit, die ein guter Ingenieur hatte, der im Regierungspräsidium in der Abteilung Brückenbau angestellt war. Groß trainierte auf Amateurniveau, unter anderem einige Spielzeiten in Kirchheim/Teck. Mit dem Aufstieg in die Oberliga Baden-Württemberg begann im Jahr 1986 die beste Phase unter der Burg Teck. Ein Aufstieg in die dritthöchste Spielklasse ist zwar kein großes Ding – und trotzdem bemerkenswert. Der Grund: Auch auf diesem überschaubaren Niveau bewährte sich bereits das ballorientierte System.

Stadion Kirchheim

Auch bei der Videoanalyse war Groß weit vorne. Er profitierte von einem frühen TV-Kabelprojekt, kaufte sich zwei Videorekorder und studierte Begegnungen ausländischer Ligen. Mit diesen Ideen übernahm Helmut Groß den VfL Kirchheim/Teck im Jahr 1985. Bereits in der ersten Saison stiegen die Blauen auf. Der Gegner hatte bereits die Aufstiegsparty organisiert. Ein Kirchheimer Spieler sagte später, es wäre schon fast unfair gewesen, weil die Südbadener nichts wußten vom neuartigen Spielsystem. Nach seiner Zeit in Kirchheim wurde Groß Jugendkoordinator beim VfB Stuttgart. Später folgte er seinem Kumpel Rangnick zu vielen Stationen – unter anderem nach Hoffenheim und Leipzig.

Nicht wenige Bundesligisten begannen in den Neunzigern mit dem ballorientierten Verschieben. Der Schweizer Ottmar Hitzfeld führte die Idee bei Borussia Dortmund ein. Auch als Hitzfeld zu den Bayern ging, entschied sich der BVB für eine Fortsetzung der Spielidee, in dem man in Nevio Scala den nächsten innovativen Trainer verpflichtete. Auch nahe der Schweizer Grenze, in Freiburg, wurde längst ballorientiert gespielt, angeleitet zwar vom Nordlicht Volker Finke, aber durchaus inspiriert von der Eidgenössischen Trainerschule, die damals weit voraus war, und irgendwie auf der selben Fährt wie die Kolleginnen und Kollegen aus Württemberg.

Nur beim VfB Stuttgart gingen die Experimente schief. Dort scheiterte der Schweizer Meistertrainer Rolf Fringer an den verkrusteten Strukturen der Mannschaft mit dem Brustring. Danach übernahm sein vormaliger Assistent, den Fringer vom FC Schaffhausen mit nach Stuttgart gebracht hatte, ein gewisser Joachim Löw. Etwa zur selben Zeit taucht im Osten von Württemberg ein Klub auf, der zuvor nie aufgefallen war. Willkommen an der Donau.

Schauplatz 5: Ulm

Die Mannschaft verstand nicht, was dieser Trainer wollte. Keine Manndeckung? Auf dem Platz verschieben, statt dem Gegenspieler bis in die Umkleidekabine zu folgen? Der Trainer verstand zumindest soviel: Sein neues Konzept einer Abwehrkette, die sich je nach Position des Balles verschob, würde er am besten schrittweise einführen. Also ließ Ralf Rangnick zu Beginn seiner Ulmer Zeit als Absicherung einen Libero hinter der variablen Dreierkette spielen. Andere revolutionäre Grundsätze galten vom Fleck weg mit radikaler Konsequenz: zum Beispiel hohes Verteidigen und aggressives Pressing. Weil dafür viel mehr Laufarbeit nötig war, trainierte der SSV Ulm intensiver als je zuvor. „Ich war nie im Leben so fit wie unter Ralf Rangnick“, gesteht Oliver Unsöld, der damals die linke Seite beackerte. Die Konditionsarbeit überließ Rangnick einem Experten: seinem Co-Trainer Rolf Baumann, Bruder des 5000-Meter-Olympiasiegers Dieter Baumann. Auch in punkto Ernährung wurden neue Regeln eingeführt. Rangnicks Ernährungsplan hing in allen Küchen – auch am Kühlschrank der Freundin von Oliver Unsöld. Dass dort noch gegen elf Uhr in der Nacht das Telefon klingelte – auch keine Überraschung. Das war dann der Trainer höchstpersönlich, der nur mal schauen wollte, ob sein Mittelfeldspieler schon im Bett war. Übrigens: Ulm spielte noch Regionalliga. Aber in dem, was Rangnick auf die Beine stellte, war er weiter als die meisten Bundesligaklubs.

Donaustadion Ulm

In der Saison 97/98 gönnte der Trainer seinem linken Mittelfeldspieler nur wenige Einsätze. Weil Unsöld seine Chancen auf einen Stammplatz schwinden sah, wollte er nach Aalen wechseln. Eigentlich war es bereits ausgemachte Sache. Aber dann passierte Zweierlei: Die Mannschaft belohnte sich mit dem Aufstieg in die zweite Liga. Und auf der linken Seite verletzte sich Offensivspieler Uwe Rösler. Die Chance wollte sich der gebürtige Ulmer Unsöld dann doch nicht entgehen lassen. Zähneknirschend stimmte der VfR Aalen zu, dass der Wechsel noch ein halbes Jahr auf Eis gelegt wurde. Stattdessen wollte Unsöld versuchen, einen Stammplatz bei den Ulmer Profis zu erkämpfen. Das erschien auch deshalb verlockend, weil Mannschaft und Trainer zusammen gewachsen waren. Rangnick war die unumstrittene Autorität. Die Spieler hielten zusammen wie Pech und Schwefel – so wie eben  Mannschaften funktionieren, wenn sie einen Lauf haben. Unsöld konnte nichts Besseres passieren, als wieder richtig dazu zu gehören. Beim SSV rannten alle für alle, sogar die Älteren. Bei Dauerläufer Janusz Gora war das sowieso keine Frage, der lief noch mit 35 Jahren – zuverlässig wie das Uhrwerk im Ulmer Münster. Einzig bei Stürmer Dragan Trkulja (36) gab es Aussetzer, aber die waren eingeplant. Trkulja war für die Tore zuständig – und die waren bitter notwendig. Mit seinem hohen Verteidigen nahm Rangnick in Kauf, dass hinten ein paar reingehen konnten. Doch die Mannschaft wusste genau: Spätestens ab Mitte der zweiten Halbzeit würde sich die gute Kondition bemerkbar machen. Je älter ein Spiel wurde, um so häufiger trafen die Ulmer. „Wir wussten immer, dass noch was geht“, sagt Unsöld. Und weil immer öfter noch was ging, konnte die namenlose Ulmer Mannschaft die 2. Bundesliga perfekt machen.

„Ulm? Wer bitteschön ist denn das? Die gehen doch sicherlich wieder runter!“ Für alle Experten war es klar: Vier gehen runter – Ulm und drei andere. Ein Vorbereitungsspiel gegen den Grazer AK schien diese Annahme zu unterstreichen. Ulm kam glatt mit 0:6 unter die Räder und GAK-Trainer Augenthaler wunderte sich: „Was wollt’ denn ihr in der zweiten Liga?“ Tatsächlich bot allein das Auftaktprogramm Grund zur Beunruhigung. Unter den ersten vier Gegnern befanden sich drei Bundesliga-Absteiger – Bielefeld, Karlsruhe und Köln. Am Tag vor dem Auftakt gegen Wattenscheid entdeckte Unsöld seinen Namen in Rangnicks Startformation. „Ich hatte Puls 200 und habe die ganze Nacht keine Auge zugetan.“ Jetzt war Unsöld Zweitligaspieler. Mit Ulm! Schnell sollte sich zeigen, dass die Rangnick’schen Mechanismen auch in dieser Liga funktionierten. Beim Premierenauftritt trug sich Unsöld als erster Torschütze ein. Er nagelte den Ball einfach ins Kreuzeck. Erstes Spiel, erstes Tor. Wahnsinn! Das hätte niemand erwartet – Unsöld nicht – und die 7.000 Zuschauer schon gar nicht. Der 2:0-Sieg gegen Wattenscheid 09 war am Ende völlig verdient. Der SSV war in allen Belangen überlegen. Möglicherweise die Anfangseuphorie, so vermuteten die Experten. Doch sie sollten bald ihre Meinung ändern. Nach einem 2:1-Auswärtssieg gegen den KSC, einem furiosen 6:2-Heimsieg gegen Arminia Bielefeld und einem 1:1-Unentschieden gegen den 1. FC Köln begannen die Kommentatoren genauer auf das zu schauen, was in Ulm vor sich ging. Inzwischen führte dieser turmhohe Außenseiter sogar die Tabelle an. Was auch so bleiben sollte, die gesamte Vorrunde zumindest. Die erste Niederlage setzte es erst im Dezember gegen die SpVgg Greuther Fürth. Der eigentliche Schock war allerdings ein anderer: der Abgang von Ralf Rangnick. Er war dem Ruf des VfB Stuttgart gefolgt. Der Schweizer Martin Andermatt übernahm zur Rückrunde. Gewiss ein guter Trainer, gewiss absolut auf der Höhe der Zeit – aber eben nicht so genial, nicht so visionär und nicht so akribisch wie der große „Professor“ Rangnick.

Sparen wir uns an dieser Stelle das Kasperltheater, das in Ulm zur Aufführung kam und dazu führte, dass der SSV auch postwendend wieder dort versank, wo er herkam. Vor dem Hintergrund der Trainergeschichte ist jedoch interessant, dass es mit Martin Andermatt wieder ein Schweizer war, der in Ulm fortführen sollte, was Rangnick begann. Schweizer und Württemberger waren damals in besonderer Weise offen für moderne Spielstrategien. Ganz im Gegensatz zum DFB.

Der deutsche Fußballverband produzierte bei der EM im Jahr 2000 ein eindrucksvolles Debakel, das man als Komplettversagen aller Systeme interpretieren konnte. Als die Dinge während des Turniers unter Traineropa Erich Ribbeck schief zu laufen drohten, wurde von allen Seiten beschworen, man solle bittschön den 39-jährigen Lothar Matthäus als Libero installieren, um der Abwehr Sicherheit zu geben. Matthäus kickte damals bereits als Fußballrentner bei den New York Metro Stars. So viel Retro musste schief gehen. Deutschland ging als letztes Team in die Geschichte der Sportart ein, das in einem großen Turnier mit einem Libero antrat. Das desaströse 0:3 gegen eine portugiesische B-Auswahl gilt noch heute als eine der schwärzesten Stunden deutschen Fußballschaffens.

Das EM-Debakel gilt heute als endgültiger Auslöser für eine komplette Neuausrichtung des Verbandes – von den Jugendauswahlen bis zur Nationalmannschaft. Rudi Völler übernahm. Deutschland wurde Vize-Weltmeister 2002. Doch anschließend wurde das EM-Turnier vor der Heim-WM vergurkt. Völler nahm seinen Hut. Plötzlich erschien der Württemberger Jürgen Klinsmann und der Badener Jogi Löw auf der Bildfläche. Apropos Baden-Württemberg. In fast 100 Jahren hat der DFB lediglich acht Bundestrainer und Teamchefs benötigt. Genau die Hälfte von ihnen stammen aus Baden-Württemberg. Vermutlich ist das kein Zufall.

Eine abschließende Bemerkung noch zu Ralf Rangnick. Nach seiner Zeit in Ulm scheiterte auch Rangnick beim VfB Stuttgart. Dort zu scheitern ist eine Auszeichnung für jeden ambitionierten Revoluzzer. Aus seiner Stuttgarter Zeit zog Rangnick die Schlussfolgerung, dass ihm Aufbauarbeit bei aufstrebenden Projekten besser liegt, als die Hauptverantwortung bei turbulenten Traditionsclubs. In der Folge führte der Fußballprofessor Hoffenheim, Salzburg und Leipzig zu erstaunlicher Größe. Dabei beschäftigte er viele ehemalige, aus Württemberg stammende Kollegen, die er an seine Wirkungsstätten delegierte. Darum wird bis heute in Leipzig breites Schwäbisch gesprochen. Andersrum fällt bei der Spurensuche in der Sportschule Ruit auf: In steter Regelmäßigkeit begegnet man Jugendmannschaften aus Leipzig. Die württembergische Trainerschule wurde jüngst großzügig ausgebaut. Die schwäbischen Bauherren sind nach wie vor emsige Taktiktüftler. Man weiß nie, ob sie gerade wieder etwas Neues aushecken.

 


Autoreninfo: Bernd Sautter wurde geboren, als das Wembley-Tor fiel. Seine Mutter berichtet, dass er im Alter von vier Jahren die Aufstellung von Uruguay auswendig aufsagen konnte. Mit Fußballheimat Württemberg legt der Fußballautor (Heimspiele Baden-Württemberg) und Blogger (www.propheten-der-liga.de) sein zweites Buch vor.

Bildnachweis: 

Beitragsbild: BAU // Fussball Herren DFB Pokal 1.9.1984 Geislingen – Hamburger SV (HSV), Jubel Geislingen Gerhard Helmer, copyright by Pressefoto Baumann, D-71638 Ludwigsburg, Königsallee 43, Telefon 07141 440087 Fax 07141 440088, KSK Ludwigsburg (60450050) Konto Nr. 58014, email: pressefotobaumann@gmx.de

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Die 60 wichtigsten Episoden der deutschen Fußballgeschichte, Teil 6 https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-6/ https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-6/#respond Fri, 27 Dec 2019 08:00:43 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6791 Weiterlesen]]> Fußball wird seit etwa 150 Jahren in Deutschland gespielt, das heißt, in den Grenzen des damaligen Kaiserreiches. Zunächst waren es vor allem englische Händler, Studierende und Touristen, die das ihnen vertraute Spiel aus der Heimat auch hier gemeinsam spielten. Dort war die reglementierte Fassung des Spiels seit einem halben Jahrhundert bekannt. Diese Serie beschreibt die 60 wichtigsten Momente des Fußballspiels in Deutschland. Im vierten Teil geht es um die Jahre 2006 bis 2018. (Die Teile 1, 2, 3, 4 und 5 sind hier, hier, hier, hier und hier zu finden.)

von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de) unter Mitarbeit der 120minuten-Redaktion | Dezember 2019

2006
Das deutsche Sommermärchen

1992 fassen DFB-Präsident Braun und DFB-Pressesprecher Niersbach einen Entschluss: Deutschland soll wieder eine WM ausrichten. 1998 wirft man den Hut in den Ring, zwei Jahre später ist klar: 2006 wird es soweit sein. Deutschland setzte sich bei der endgültigen Abstimmung am 6. Juli 2000 gegen Brasilien, Marokko, England und – knapp – gegen Südafrika durch.

Die Weltmeisterschaft wird in vielerlei Hinsicht ein Erfolg für Deutschland, insbesondere wirtschaftlich. Nicht nur dank der zahllosen Fanartikel in schwarz-rot-gold, sondern auch touristisch. Der Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wird verwirklicht: Bei einer Umfrage des Europäischen Touristik Institutes erklären 96% der Befragten, dass sie Deutschland als gutes Gastgeberland erlebt haben. Die Euphorie und Begeisterung für den Fußball und das gemeinsame Feiern mit Public Viewing und Fanfesten kommen auch bei den ausländischen Gästen gut an. Gerade in England wandelte sich das Bild von Deutschland.

Regisseur Sönke Wortmann begleitet das deutsche Nationalteam der Männer vom Confed Cup 2005 bis zum Finale mit der Kamera. Sein Vorbild ist Dokumentarregisseur Stephane Meunier, der 1998 das französische Nationalteam der Männer vor und während der WM 1998 im eigenen Land gefilmt hat („Les Yeux dans les Bleus“). Wortmanns Film „Deutschland. Ein Sommermärchen“ wird im Dezember 2006 erstausgestrahlt.

2007
Das Nationalteam der Frauen verteidigt den WM-Titel

Vom 10. bis 30. September 2007 fand die Fußballweltmeisterschaft der Frauen in China statt. Das deutsche Nationalteam ging als Titelverteidigerin in den Wettbewerb und kam ohne Gegentore bis ins Endspiel. Das Finale am 30. September 2007 gegen die Brasilianerinnen gewann Deutschland im ausverkauften Stadion in Shanghai (31.000 Zuschauer*innen) mit 2:0. Torhüterin Nadine Angerer hielt unter anderem einen Foulelfmeter der brasilianischen Spielerin Marta, die nach der Partie zur Spielerin des Turniers gekürt wurde. Das deutsche Nationalteam beendete das Turnier mit einem Torverhältnis von 21:0 und war zudem die erste Frauennationalelf, die ihren Weltmeistertitel verteidigen konnte.

2009
Werder gegen den HSV – 4x in 19 Tagen und eine Papierkugel

„Das Nordderby ist ein einfaches Spiel: Vier Mal in zweieinhalb Wochen und am Ende entscheidet eine Papierkugel.“ So könnte man jenes Derby im Frühjahr 2009 beschreiben.
Das erste Pflichtspiel zwischen dem Hamburger Sportverein und Werder Bremen war ein Spiel um die norddeutsche Meisterschaft am 13. März 1927 vor 7.000 Zuschauern in Bremen. Es endete mit 4:1 für den HSV.

Das erste Aufeinandertreffen der beiden Teams in der Bundesliga war ein 4:2-Heimsieg für Werder am 12. Oktober 1963 vor 40.000 Zuschauern.

Das Spiel am 22. April 2009 war das erste, das nicht nach 90 Minuten entschieden oder beendet war – und der Auftakt zu vier Aufeinandertreffen innerhalb von 19 Tagen:

22. April 2009, DFB-Pokal-Halbfinale – Bremen siegte in Hamburg mit 3:1 nach Elfmeterschießen. Tim Wiese hielt drei Elfmeter.

30. April 2009, UEFA-Cup-Halbfinal-Hinspiel – Hamburg siegte in Bremen mit 1:0.

7. Mai 2009, UEFA-Cup-Halbfinal-Rückspiel – Bremen siegte in Hamburg dank einer Papierkugel mit 2:3. Die Kugel war das zusammengeknüllte Papier der Choreografie, die anschließend nach vorne geworfen worden war und auf dem Rasen landete. Bei einem Rückpass von Michael Gravgaard auf Frank Rost touchierte der Ball das Papier und versprang ins Aus. Aus der folgenden Ecke erzielte Bremen das 3:1.

10. Mai 2009, 31. Spieltag der 1. Bundesliga – Werder siegte zu Hause mit 2:0; der HSV stand völlig neben sich und konnte Werder Bremen kaum etwas entgegensetzen.

2012
Das Finale dahoam – Bayerns Pleite

Das Champions-League-Finale 2012 fand in der Münchner Allianz Arena statt. Ein Heimspiel also für den FC Bayern München, der im Finale am 19. Mai auf den Chelsea FC traf. Doch die Euphorie über das „Finale dahoam“ wandelte sich kurz vor Ende der 90 Minuten in ein Drama und schließlich eine Tragödie.

Bayern, das in jener Saison 2011/12 weder Meister noch DFB-Pokal-Sieger geworden war, wollte die Gunst des Heimspiels nutzen, um doch noch einen Titel zu gewinnen. Das Team spielte energisch und offensiv. Chelsea spielte mit seinen zahlreichen erfahrenen, älteren Spielern sehr defensiv und reagierte eher. Die Münchner dominierten die Partie. Bereits nach 24 Minuten verzeichnete der FCB sieben Eckstöße, Chelsea keinen. Zum Ende der 90 Minuten waren es 17:1 Eckstöße und 27:7 Torschüsse. Das Spiel ging dennoch mit 1:1 in die Verlängerung, nachdem Didier Drogba in der 88. Minute den Ausgleichstreffer erzielen konnte.

In dieser Verlängerung blieb alles wie gehabt: Bayern dominierte, konnte aber keine Chance nutzen und verschoss auch noch einen Foulelfmeter. Chelsea stand sehr defensiv. So kam es zum Elfmeterschießen, bei dem der Torhüter des Chelsea FC, Petr Čech, sowohl gegen Ivica Olić als auch Bastian Schweinsteiger parieren konnte. Chelsea gewann das Elfmeterschießen mit 4:3 und konnte seinen ersten internationalen Titel feiern.

2013
Das deutsche Finale in Wembley

Deutschland und Wembley … diese Beziehung ist seit 1966 sehr kompliziert. Dass sich ausgerechnet in diesem Stadion, in dem das Männernationalteam der Bundesrepublik Deutschland 1966 wegen eines umstrittenen Nicht-Tores den WM-Titel verpasste, zwei deutsche Teams im Champions-League-Finale gegenüberstehen, führte zu allerlei Wortspielakrobatik in der Presse.

Das deutsche Clasicò in Wembley. FC Bayern München gegen Borussia Dortmund. Ein Jahr zuvor hatte Bayern im eigenen Stadion den Henkelpott nicht gewinnen können, nun stand man dem Ligakonkurrenten gegenüber. Jürgen Klopp gegen Jupp Heynckes.

Das Spiel war durchaus ein Leckerbissen. Dortmund begann furios mit hoher Laufintensität, Bayern kam erst nach dem ersten Drittel dank einer taktischen Änderung ins Spiel. Dann begann die richtig spannende Phase, in der auch die Tore fielen. Eins für Dortmund, zwei für die Bayern. Das letzte fiel erst kurz vor Ende der 90 Minuten.

Und damit war nicht nur die Partie zu Ende. Es war auch das vorerst letzte Spiel von Jupp Heynckes als Trainer des FC Bayern und des Dortmunder Spielers Mario Götze, der ab der folgenden Saison für den FC Bayern spielten.

2014
Das Nationalteam der Herren wird Weltmeister

Die meisten von uns wissen, was sie am 13. Juli 2014 gemacht haben. Und die meisten werden wohl das Finalspiel der Männer-WM gesehen haben, in dem Deutschland in der Verlängerung mit 1:0 gegen Argentinien gewinnen konnte.

Die Weltmeisterschaft fand in Brasilien statt – erst zum zweiten Mal seit dem Sommer 1950. Was bleiben für Erinnerungen an dieses so erfolgreiche Turnier? Unabhängig vom Finalspiel und dem jubelnden Mario Götze? Ist es der Kantersieg der Deutschen gegen Brasilien? Luis Suarez’ Biss? Das Freistoßspray oder die Torlinientechnik? Die häufigen Trinkpausen angesichts des schwülen Klimas? Die beleuchtete Jesus-Statue in Rio de Janeiro? James Rodriguez’ Volleyschuss im Achtelfinale oder Angela Merkels Jubelfäuste und Selfies mit Lukas Podolski? Was auf jeden Fall bleibt, ist der Titel dieses Teams unter Jogi Löw.

2015
Der Sommermärchen-Skandal wird publik

Gut ein Jahr, nachdem Deutschland zum vierten Mal Weltmeister geworden war, veröffentlicht der Spiegel einen Artikel, wonach der ehemalige Chef von Adidas, der mittlerweile verstorbene Robert Louis-Dreyfus, dem DFB im Vorfeld der WM 2006 einen Kredit von 10,3 Millionen Schweizer Franken geliehen hatte. Eine schwarze Kasse für den Verband. Aus dieser waren laut Spiegel vier Mitglieder des Abstimmungskommitees geschmiert worden. Als Dreyfus sein Geld zurückforderte, paktierte der DFB demnach mit der FIFA und zahlte dem Weltfußverband 6,7 Millionen Euro für ein Kulturprogramm, das nie realisiert wurde. Das Geld erhielt dann Dreyfus von der FIFA. Bereits vor der WM 2006 war immer wieder gemunkelt worden, dass ein paar Stimmen für die Vergabe nach Deutschland gekauft gewesen seien.

Der DFB erläuterte in einer öffentlichen Erklärung, dass man intern bereits die Vergabe überprüft habe, aber es „keinerlei Hinweise auf Unregelmäßigkeiten“ gebe. Lediglich die im April 2005 getätigte Zahlung von 6,7 Millionen Euro an die FIFA sei möglicherweise nicht dem angegebenen Zweck entsprechend verwendet worden.

Die Gerüchteküche begann zu brodeln, das Finanzamt Frankfurt stellte Untersuchungen an. Im Juli 2017 stand eine Steuerrückzahlung von etwa 26 Millionen Euro seitens des DFB im Raum, die im Oktober auf 19,2 Millionen festgesetzt wurde. Auch wurde dem DFB für das Jahr 2006 rückwirkend die Gemeinnützigkeit abgesprochen, nicht aber ab 2006 für die folgenden Jahre.

Seit 2018 prüft die Staatsanwaltschaft, ob die drei Akteure, die beim DFB hauptverantwortlich für die WM 2006 waren – der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger, der damalige DFB-Pressesprecher Wolfgang Niersbach und Horst R. Schmidt – Steuern in Höhe von circa 13,7 Millionen Euro hinterzogen haben. Die drei hatten zunächst Erfolg mit ihrem Antrag beim Landgericht Frankfurt, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen (9/2018). Im März 2019 wurde offenkundig, dass das Hauptverfahren nun doch im April 2019 eröffnet werde. Doch die Eröffnung wurde im Frühjahr 2019 vom Landgericht Frankfurt abgelehnt. Dieser Entscheid wurde zwar im Herbst des gleichen Jahres revidiert, aber die Eröffnung des Verfahrens nun auf 2020 verschoben.

2016
Olympiasieg der DFB-Frauen und Silber für die Männer

Zwei Jahre nach der Männer-WM fand in Brasilien das olympische Fußballturnier statt, an dem zwei deutsche Nationalteams teilnahmen: das Frauennationalteam und das Männer-U21-Team. Und für beide war das Turnier äußerst erfolgreich. Die Männer wurden Zweiter, die Frauen gewannen ihren Wettbewerb. Es war das erste Mal bei einem olympischen Sommerturnier, dass zwei Teams eines Landes im Finale standen. Außerdem wurden Nils Petersen und Melanie Behringer Torschützenkönig*in. Melanie Behringer ist damit die erste Torschützenkönigin, die auch Olympiasiegerin wurde. Das Turnier war für Nationaltrainerin Silvia Neid ebenso wie für U21-Nationaltrainer Horst Hrubesch das Ende ihrer Amtszeit.

Die Karriere von Silvia Neid im Überblick
Silvia Neid, 1964 in Walldürn im Odenwald geboren, war aktive und erfolgreiche Spielerin und anschließend ebenso erfolgreiche Trainerin. Sie konnte eine Vielzahl an Erfolgen und Rekorden erreichen. Als Spielerin wurde sie 7x Deutsche Meisterin, 6x DFB-Pokal-Siegerin und erzielte das „Tor des Monat“ im Mai 1988. Außerdem war sie von 1982 bis 1996 Nationalspielerin, meistens Kapitänin, gewann 3x die Europameisterschaft (sie erhielt auch das herzallerliebste Kaffeeset vom DFB) und wurde 1x Vizeweltmeisterin. Insgesamt spielte sie 111 Partien für das deutsche Team und erzielte dabei 48 Tore – welch großartige Quote! Schon ab 1996, während ihrer Karriere als Spielerin, arbeitete sie auch als Trainerin. Zunächst im Jugendbereich, dann als Co-Trainerin mit Tina Theune. 2005 beerbte Silvia Neid Theune schließlich und blieb bis 2016 Nationaltrainerin. Sie wurde unter anderem 2x Weltmeisterin (davon 1x als Co-Trainerin) mit dem Nationalteam und 5x mit Jugendteams, wurde 5x Europameisterin (davon 3x als Co-Trainerin), erhielt 3x die olympische Bronzemedaille (davon 2x als Co-Trainerin) und 2016 die Goldmedaille. Sie wurde mit den Verdienstorden der Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg ausgezeichnet und bekam das Bundesverdienstkreuz am Bande, wurde zur DOSB-Trainerin des Jahres gewählt und 3x zur FIFA-Trainerin des Jahres. Letzteres ist ein Erfolg, den kein*e Trainer*in ihr bislang streitig machen konnte. Nach ihrem Rücktritt wurde sie 2016 Leiterin der neuen Scoutingabteilung Frauen- und Mädchenfußball im DFB und ist seit 2019 Teil der „Hall of Fame des deutschen Fußballs“.
Die Karriere von Horst Hrubesch im Überblick
Horst Hrubeschs Karriere lässt sich knapper zusammenfassen, aber sie ist nicht weniger bemerkenswert. Er wurde 1951 in Hamm in Nordrhein-Westfalen geboren und spielte während seiner aktiven Karriere für Rot-Weiss Essen, den HSV und Borussia Dortmund sowie in Belgien für Standard Lüttich. Drei Deutsche Meisterschaften, ein Europapokal der Landesmeister, Europameister und Vize-Weltmeister stehen beim passionierte Angler zu Buche. Anders als Neid wurde er nach der aktiven Karriere nicht direkt Nationaltrainer im Jugendbereich. Zunächst übernahm Hrubesch erfolgreich die Proficlubs Rot-Weiss Essen und Dynamo Dresden. Während der EM 1990 war er Co-Trainer von Erich Ribbeck, anschließend begann Hrubesch Karriere als Jugendtrainer. Er coachte die U19, die U20, die U21, die U18 und ab 2013 erneut die U21, die er zum Schluss seines Engagements 2016 eben zum zweiten Platz bei Olympia führte. Seitdem übernahm er noch interimsweise zunächst das Amt des DFB-Sportdirektors (2017) und dann das des Frauen-Nationalteams (2018).

2017
Einführung des VAR

Über Schiedsrichter*innen-Entscheidungen wird seit bald hundert Jahren diskutiert. Das führte unter anderem dazu, dass in den 1950er Jahren Fernsehanstalten gebeten wurden, keine Zeitlupen zu zeigen. Denn durch diese konnte jede Fehl- oder strittige Entscheidung der Schiedsrichter*innen überprüft und verbreitet werden und man sorgte sich um die Autorität.

In den 1980er und insbesondere den 1990ern wurde immer wieder thematisiert, ob man den Spieloffiziellen ein technisches Instrument an die Hand geben könne, um Entscheidungen zu überprüfen. FIFA-Präsident Joseph Blatter und auch UEFA-Präsident Michel Platini waren strikte Gegner technischer Hilfsmittel und bremsten die Entwicklung der Torlinientechnik. Auch der Test in den Niederlanden mit TV-Bildern war ihnen ein Dorn im Auge: Per Funk waren Schiedsrichter*innen und Assistent*innen mit weiteren Assistent*innen verbunden, die auf die Fernsehbilder zugreifen durften – und so die Entscheidungen auf dem Platz überprüfen konnten.

Der Test dauerte von 2011 bis 2015. Dann wurden die sehr positiven Testergebnisse dem International Football Association Board (IFAB) auf dessen jährlicher Generalversammlung vorgestellt. Die vier britischen Verbände waren zuvor sehr skeptisch, nach der Vorstellung aber zur Einführung bereit. Nur Joseph Blatter blieb strikt dagegen. Man einigte sich, „video replay“ als dreijähriges Experiment durchzuführen. Unter anderem der DFB war den Möglichkeiten, die eine Videoüberprüfung bot, sehr aufgeschlossen und einer der Verbände, die an dem Experiment teilnahmen. So startete in der Saison 2016/17 zunächst die Offline-Testphase in der 1. Bundesliga, bei der die Eingriffe geübt und die technischen Mittel eingerichtet werden konnten. In den Spielzeiten 2017/18 und 2018/19 wurde dann das Experiment durchgeführt.

Die Ergebnisse während der Testphase wurden erneut als so positiv bewertet, dass auch bei der WM 2018 die Videoüberprüfung eingesetzt wurde. Nach Beendigung des Experiments wurde die Videoüberprüfung freigegeben. Jede Liga kann nun entscheidet, ob sie die Technik einführen möchte oder nicht.

2018
WM-Aus in der Vorrunde für das Nationalteam der Herren

Für manche war es eine herbe Enttäuschung oder bittere Überraschung, andere hatten schon vermutet oder gar gehofft, dass Deutschland sich bei der WM 2018 nicht für das Achtelfinale qualifizieren würde. Als es dann tatsächlich geschah, las man häufig von dem Fluch, den schon so manch Weltmeister erlitten hatte. Und tatsächlich hat sich bei den Herren nur einmal seit 2002 der amtierende Weltmeister über die Vorrunde hinaus qualifiziert.

Allenthalben wurden Gründe gesucht: Zu wenig Veränderung? Zu viel Selbstgefälligkeit? Woran lag es? Spieler? Trainer? DFB? Wie hatte das passieren können?

Bereits das erste Spiel verlor Deutschland überraschend mit 0:1 gegen Mexiko. Zwar konnte das Team sein zweites Spiel gegen Schweden mit 2:1 gewinnen, aber das nur mit Dusel.
Viele hofften nach dem Sieg gegen Schweden darauf, dass das Glück zurückgehrt war, aber dies war bekanntermaßen nicht der Fall: Südkorea schlug Deutschland im letzten Gruppenspiel mit 2:0. Trotz behäbigem Spielaufbau und ungenauen Flanken und Pässen konnte das deutsche Team zwar ein paar Torchancen kreieren, nutze jedoch keine davon. Südkorea wiederum konnte diese Schwerfälligkeit über 90 Minuten nicht für sich nutzen, schoss aber in der Nachspielzeit zwei Tore. Deutschland schied als Gruppenletzter aus.

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Beitragsbild: Danilo Borges/copa2014.gov.br Licença Creative Commons Atribuição 3.0 Brasil [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]

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O wonnevolles Fußballspiel! https://120minuten.github.io/o-wonnevolles-fussballspiel/ https://120minuten.github.io/o-wonnevolles-fussballspiel/#respond Wed, 18 Dec 2019 07:50:06 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6722 Weiterlesen]]> Die Fußballberichterstattung und ihr Wandel in der Kultur- und Literaturzeitschrift Die Jugend.

Heutzutage ist Fußball omnipräsent in unserer Gesellschaft – es ließen sich ganze Buchhandlungen mit Büchern und Zeitschriften über Fußball und die ihm innewohnende Kultur füllen. Der Sport ist Teil unserer Alltagskultur geworden. Dass es ein langer Weg bis dorthin war, zeigt folgende Analyse.

Von Simeon Boveland, traditionellzweitklassig.de

Die Kultur- und Literaturzeitschrift Die Jugend, die 1896 in München gegründet wurde, hatte sich das erstrebenswerte und doch utopisch anmutende Ziel gesetzt, alle Genres, alle Themen und alle Textarten zu behandeln. Ihre Programmlosigkeit war ihr Programm und nicht selten wurde über ein Thema zugleich ernst und ironisch berichtet. Da alle Themen gleichermaßen besprochen werden sollten, fanden auch die Sportnachrichten ihren Weg in die Zeitschrift, was zu dieser Zeit noch äußerst ungewöhnlich war. Nachdem ab Mitte des 19. Jahrhunderts vereinzelt Ereignisse und Ergebnisse verschiedener Turn- oder Schützenvereine in Zeitschriften veröffentlicht wurden, gelangten zur Jahrhundertwende auch die Sportarten ins Licht der Öffentlichkeit, die heute als „Breitensport“ bekannt sind. Als bekennender Sportenthusiast möchte ich mich mit diesen Sportnachrichten in der Jugend beschäftigen und zeigen, wie sich die Sportberichterstattung im Laufe der Zeit in der Zeitschrift verändert hat. Sowohl die Aufbereitung und Darstellung dieser Nachrichten als auch die daraus resultierende Wirkung spielen dabei eine Rolle. Es scheint auch die Frage von Interesse, welchem Umstand es zu verdanken ist, dass in einer Kultur- und Literaturzeitschrift überhaupt eine Sportberichterstattung stattfand.

Die Jugend

Die 1896 gegründete Zeitschrift „Jugend – Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben“ setzte sich kein geringeres Ziel als das gesamte Spektrum zwischen Kunst und Leben abzudecken. Die Zielgruppe war das an Kunst, Literatur und Kultur interessierte liberale Bürgertum im Deutschen Reich. Mit dem Programm der Programmlosigkeit sollte alles von Interesse besprochen werden und somit rückte gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhundert zunehmend der Sport und ganz speziell der Fußball in den Mittelpunkt. 1940 wurde die Zeitschrift eingestellt.

Schon in der ersten Ausgabe der Jugend findet sich der erste Sportbericht, der die Stel­lung des Sports und die Ernsthaftigkeit, mit der die Herausgeber ihr „Programm“ und ihre Ziele für die Zeitschrift verfolgten, verdeutlicht. Der Sport und die Sportberichterstattung spielten in den meisten anderen literarischen Zeitschriften keine oder nur eine unterge­ordnete Rolle. Anders in der Jugend, weshalb meine Beobachtungen schon in den frühen Jahren dieser Zeitschrift, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ansetzen. In Bezug auf das Themengebiet Fußball, der sich zu Beginn des Jahrhunderts als Sportart in Deutschland etablierte, erscheint es sinnvoll, hierbei insbesondere die zwanziger Jahre intensiver zu betrachten. Die Fußballbewegung ist für eine Untersuchung der Sportberichterstattung besonders ergiebig, da anhand dieses Beispiels in besonderem Maße deutlich wird, welche Diskrepanz sich zwischen den eigentlichen Ansprüchen und inhaltlichen Maximen der Kultur- und Literaturzeitschrift auf der einen Seite und den intellektuell eher anspruchslos wirkenden Ereignissen und Berichten über körperliche Ertüchtigungen auf der anderen Seite eröffnet.

Die geistige und die körperliche Entwicklung stehen sich hier auf interessante Weise gegenüber. Darüber hinaus gewann der Fußball genau in jener Zeit gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland zunehmend an Popularität und entwickelte sich zu einem Volkssport, der heute der beliebteste im Land ist.

“Sport ist Mord”

Der Sport genoss aber nicht immer einen positive Wertschätzung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts existierten viele Turnvereine, welche die körperlichen, konditionellen und ko­ordinativen Fähigkeiten schulen sollten und den Menschen gleichsam die Möglichkeit bot, sich in Gruppen und Vereinen zusammenzuschließen. In dieser Zeit erwuchs je­doch auch eine große Rivalität zwischen den Turnvereinen und anderen existierenden Sportarten. Besonders jene, die aus dem Ausland nach Deutschland kamen, wurden ei­nerseits argwöhnisch beäugt, andererseits jedoch auch zunehmend beliebter. Hier sind vor allem die Sportarten Tennis, Golf und Fußball zu nennen, die auch neue soziale Ziel­gruppen ansprachen. Sowohl Golf als auch Tennis galten als vornehmere Sportarten und stellten damit einen Gegensatz zu den Turnvereinen dar. Gino von Finetti nimmt diesen sozialen Aspekt in seiner Zeichnung „Sportprotz“ auf, die 1903 in der Jugend ver­öffentlicht wird. Auf dem Bild sind zwei Sportler in sporttypischer Tracht zu sehen, die drei kräftige Turner in Aktion beäugen und feststellen: „Ein schöner, gesunder Sport, das Turnen; schade daß es so billig ist.“ (1903, Heft 48).

Neben Aspekten wie der Rivalität zwischen den verschiedenen Sportarten oder der Öffnung für weitere gesellschaftliche Schichten, wird in der damaligen Gesellschaft selbst die grundsätzliche Idee des Sports und der körperlichen Ertüchtigung in Frage gestellt. Die Idee, dass Kinder und Jugendliche am heiligen Sonntag Sport treiben, um ihre Körper zu stählen, wurde von vielen Seiten nicht gut geheißen und sogar als Torheit beschimpft. In „Sport ist Mord“ (1909, Heft 2) beschreibt der Autor Frido genau diese Situation. Er schildert darin, wie der Domkapitular von Mainz – der ganz nebenbei auch ein öffentlicher Gegner der Jugend war – den Sport und alle körperliche Ertüchtigung als verbrecherische Torheit geißelt. Der Herr nähme sich seiner Meinung nach nämlich nur den Kranken und Siechenden an, diese seien dem Himmelreich näher. Die Gesunden aber, und damit unter anderem auch jene, die sich sportlich betätigen, seien Knechte des Satans. Denn je stärker der Körper, desto mehr gebe er sich den fleischlichen Lüsten hin.

Diese ironische Zusammenfassung der Jugend stellt eine Positionierung auf der Seite des Sports dar. Dies darf aber nicht exemplarisch gesehen werden. Hier lieferte der kirchliche Gegner der Zeitschrift lediglich eine Steilvorlage, die mustergültig verwertet wurde. Doch an anderer Stelle wird immer wieder auch die Skepsis der Redaktion gegenüber der neuerlichen Bewegung deutlich. Besonders die Berichterstattung über den Fußball vollzieht sich überwiegend in bildlichen Darstellungen oder satirischer Lyrik, die weniger der Werbung für diesen Sport, als einer Charakterisierung als unnützer und gewalttätiger Zeitvertreib dient („Ein Kick daneben“ 1902, Heft 26).

O wonnevolles Fußballspiel!

Der erstmals 1874 nach Deutschland gebrachte Fußball breitete sich zuerst vorwiegend in bürgerlichen Kreisen aus und galt als Modesportart des Bürgertums. Viele Arbeiter ver­fügten anfangs weder über genügend Freizeit, noch über die finanziellen Mittel für die nöti­ge Ausrüstung. Erst in der Weimarer Republik erreichte der Fußball auch die Arbeiter­schichten und wurde damit zum Massenphänomen. Der Autor Bohemund beschreibt das Phänomen Fußball im Jahr 1900 in seinem Artikel „Die Fußballschlacht in Ofen-Pest“ sehr passend.

Nach einer kurzen Berichterstattung eines Spiels zwischen einer ungarischen und einer tschechischen Mannschaft, fasst er seine Einstellung zum Fußballsport noch einmal zusammen und stellt in seinem Gedicht fest: „Dass Fußballspiele häufig nicht/ Die Geisteskraft vermehren.“ Zwar stellt er jedem frei, sich an diesem Sport zu erfreuen, be­tont aber, dass es sich dabei nur um ein Spiel handelt. Der Autor bringt kein Verständnis dafür auf, dass die Männer nach einer Niederlage in Trauer versinken. Bei einem Spiel zu verlieren sei nicht schlimm, nur wer sich für eine Niederlage schäme, solle sich wirklich schämen (1900, Heft 19). Schon zu diesem frühen Zeitpunkt in der Geschichte des deutschen Fußballs wird deutlich, welchen Stellenwert die Sportart besitzt, aber auch welche Auffassung darüber in Teilen der Gesellschaft und in der Redaktion der Jugend vorherrscht.

Einerseits ist Fußball lediglich ein Spiel, andererseits wird die geistige Entwicklung durch den Sport in Frage gestellt. Diese kritische Stimme der Jugend wird auch in den folgenden Jahren nicht verstummen. Im Jahr 1936, als Fußball schon zahlreiche Anhänger hinter sich versammelt hat und in unzähligen Vereinen gespielt wird, stellt die Zeitschrift das Buch „Die Mannschaft. Roman eines Sportlebens“ von Friedrich Torberg vor (1936, Heft 3).

Der Rezensent Arnold Weiß-Rüthel findet zwar einige positive Worte für das Buch, jedoch fällt es ihm gleichzeitig schwer, ein objektives Urteil zu fällen, da er selbst kein großes Interesse an Fußball hegt und deshalb Probleme hat, die Thematik in einen künstlerisch-literarischen Kontext zu überführen. Sein Unverständnis dem Sport gegenüber wird in der Passage deutlich, welche die Bezahlung der Sportler im Vergleich zu Künstlern thematisiert. Er stellt hier eine Divergenz heraus, die ihm nicht verständlich werden möchte, was bei einem Sportgegner auch nicht verwundert. Er sieht den Sport als etwas Banales, Dreckiges und Barbarisches, fernab der Zivilisation. Der Kulturmensch, der um das „Wunder der Hygiene“ und weiterer zivilisatorischer Errungenschaften weiß, muss bei der Begeisterung um den Sport feststellen, wie schlecht es um die geistige Entwicklung bestellt ist.

Am härtesten trifft Weiß-Rüthel, dass „wertvollere“, kunstschaffende Menschen darben müssen. Deshalb kann er sich auch den Seitenhieb zum Ende der Rezension nicht verkneifen, in dem er zusammenfasst,, dass ein Kulturmensch mit diesem Buch nicht viel anfangen könne. “Wer sich dafür interessiert, wie es auf Sport- und der gleiche Tummelplätzen zugeht, wird das Buch mit Vergnügen lesen. Soll er!” (Weiß-Rüthel, Die Mannschaft, 1936, Heft 3, S. 47)

Hier eröffnen sich gleich mehrere interessante Perspektiven und Fragen. Auf der einen Seite wird die Verbindung zwischen Sport und Literatur verdeutlicht, die nicht vereinbar erscheint. Bizeps trifft auf geistige Entwicklung, die eine Zeitschrift wie die Jugend vertreten möchte. Auf der anderen Seite hat sich die Zeitschrift das Ziel gesetzt, eine thematische Universalität zu bieten, zu der auch der Sport gehört, besonders vertreten durch den ständig an Beliebtheit gewinnenden Fußball.

Durch die mit der Zeit wachsende Bedeutung des Fußballs in Deutschland verändert sich aber auch die Berichterstattung. Zwar wandelt sich die Grundhaltung der Zeitschrift gegenüber dem Sport nicht, aber immerhin würdigt die Jugend seinen Zuwachs an Anhängern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glich die Berichterstattung über Fußball einem Spiel auf Leben und Tod. Die körperliche Ertüchtigung war ein Nebeneffekt, den die meisten Spieler mit dem Leben bezahlen mussten („Was der Sportberichterstatter schreibt:“ 1903, Heft 8). Das Fußballspiel wurde in Zeichnungen dargestellt, auf denen sich die Spieler gegenseitig traten, unterschrieben mit einem oder zwei Sätzen. Oder aber, wie in dem Beispiel der Fußballschlacht in Ofen-Pest, in Form eines satirischen Gedichts. Die wachsende Begeisterung für den Fußball wurde in der Jugend ab 1913 wieder regelmäßig aufgenommen. Auch dann überwogen noch immer die Zeichnungen von martialischen Fußballkämpfen, doch gesellten sich wegen des wachsenden Interesses der Leser an diesem Sport vermehrt auch Spielberichte hinzu.

Auch auf politischer Ebene entstanden sinnbildliche Parallelen zum Fußballspiel. Die Kampfbereitschaft im Spiel bekam nun eine nationalistische Note, die im Einklang mit der politischen Gesinnung der Gesellschaft vor und während des 1. Weltkrieg stand. Nach dem Krieg und dem Versailler Vertrag veränderte sich nochmals die politische Bedeutung des Spiels. In­ternationale Konflikte konnten durch den Fußball verschärft oder abgemildert werden, wie in dem Gedicht „Schwarz-Weiß-Turnier“ (1922, Heft 10). Hier vertrat 1922 die Mannschaft aus der Schwarzwaldstadt Villingen die deutsche Ehre und den deutschen Ruhm, als sie gegen eine französische Auswahl spielte. Fußball wurde hier als Ventil der außenpolitischen Unterdrückung gesehen, die nach dem Ende des ersten Weltkriegs vorherrschte. Gleichzeitig hatte das Spiel den Charakter eines internationalen Länderspiels zwischen Deutschland und Frankreich. Fußball war in diesem Fall sowohl Sport als auch ein Instrument, um seinem Gegner eine Niederlage zuzufügen. Als bildliche Darstellung hiervon kann die Zeichnung „Fair Play“ von Erich Wilke dienen (1928, Heft 26).

Der vollständige Durchbruch des Fußballs in der kultur- und literaturinteressierten Gesell­schaft gelang schließlich im Jahr 1935, als die „Fußballspieler“ das Titelblatt der Jugend schmückten (1935, Heft 23).

Zusammenfassend waren die Sportnachrichten in der Jugend die ersten Berichterstattun­gen, die eine breite sportliche Vielfalt boten. Gleichwohl können sie nicht mit der heutigen Sportberichterstattung verglichen werden. Die Jugend, die sich eine Universalität zum Programm gemacht hatte und keine Themen oder Genres ausschließen wollte, sah sich gezwungen, sich auf künstlerische und literarische Art und Weise dem entfernten Gebiet des Sports anzunähern.

Einhergehend mit diesem Versprechen der Universalität konnte sich die Zeitschrift der wachsenden Popularität der Sportarten nicht verschließen und ver­suchte, in ihrem Rahmen und ohne ihre eigenen Prinzipien zu verraten, die Forderungen der Leser zu erfüllen. Am Beispiel des Fußballs lässt sich das Vorgehen gut veranschaulichen. Der Fußball erlebte, parallel zu der Jugend, einen beachtlichen Entwicklungssprung, der dem Leser nicht vorenthalten werden sollte und konnte. In Zeichnungen und satirischen Gedichten sollten die wichtigsten Ereignisse literarisch aufgearbeitet werden, um den Sport mit dem eigenen Programm der Zeitschrift in Einklang zu bringen.

Für die Redaktion war Fußball jedoch ein kämpferischer und unnötiger Zeitvertreib, der nicht mit dem eigenen geistigen Niveau zu vergleichen war, welches auch für die Leserschaft der Zeitschrift vorausgesetzt wurde. Deutlich – und das sollte sich über die Jahre auch nicht ändern – verfestigt sich das ambivalente Verhältnis der Zeitschrift zum Fußballsport. Angefangen mit dem „Fluch“ des eigenen Programms, alle Themen abdecken zu müssen, erkannte die Zeitschrift den Fußball zu Beginn nur als sinnfreien Zeitvertreib, dessen Spieler nach einer kämpferischen Niederlage trauern. Mit wachsender Popularität aber schenkt sie ihm die gebührende Anerkennung, ohne ihre grundsätzliche Einstellung zu verändern. Beispielhaft ist hierfür die Zeichnung „Zwei Minuten Schweigen“ von Friedrich Heuber. Hier versammelt, für das große Länderspiel, halten Vertreter aller sozialen Schichten inne, um gemeinsam die Hymne zu hören. Jung und Alt, Groß und Klein, Arm und Reich, Männer und Frauen sind hier vertreten. Der Fußball wird hier als gemeinschafts- und identifikationsstiftendes Element ohne ironischen Unterton gewürdigt (1930, Heft 23).

Es ist diese Gleichheit vor dem Fußball, die damals und heute die Massen fasziniert. Auch zum Schluss gelingt es der Jugend, den Fußball als Thema für eine literarische Verarbeitung zu sehen. Es soll keine bloße Vermittlung von Informationen über sportliche Ereignisse sein, sondern die Annäherung an ein entferntes Themengebiet auf einem literarischen und geistig anspruchsvollen Weg.

 


Autoreninfo: Simeon Boveland hat Geschichte und Germanistik in Freiburg studiert und sich im Rahmen seines Studiums auch mit den Anfängen der Sportberichterstattung auseinandergesetzt. Simeon schreibt auch auf traditionell zweitklassig. Zusammen mit Christoph Mack verfolgt er dort das ambitionierte Ziel dem Hamburger SV und VfB Stuttgart literarisch gerecht zu werden.

Bildnachweis: die Auszüge aus der Zeitschrift Die Jugend werden an dieser Stelle nur digital veröffentlicht und stammen zum Großteil aus den auf http://www.jugend-wochenschrift.de/ gemeinfrei veröffentlichten Ausgaben.

 

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Die 60 wichtigsten Episoden der deutschen Fußballgeschichte, Teil 5 https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-5/ https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-5/#respond Sun, 15 Dec 2019 07:55:08 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6753 Weiterlesen]]> Fußball wird seit etwa 150 Jahren in Deutschland gespielt, das heißt, in den Grenzen des damaligen Kaiserreiches. Zunächst waren es vor allem englische Händler, Studierende undTouristen, die das ihnen vertraute Spiel aus der Heimat auch hier gemeinsam spielten. Dort war die reglementierte Fassung des Spiels seit einem halben Jahrhundert bekannt. Diese Serie beschreibt die 60 wichtigsten Momente des Fußballspiels in Deutschland. Im fünften Teil geht es um die Jahre 1990 bis 2005. (Die Teile 1, 2, 3 und 4 sind hier, hier, hier und hier zu finden.)

von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de)

unter Mitarbeit der 120minuten-Redaktion | Dezember 2019

1990
Die Nationalmannschaft der Herren wird Weltmeister

Die WM 1990 fand in der Hochzeit des Defensiv-Fußballs statt. So wundert es nicht, dass auch das Finale am 8. Juli 1990 zwischen Argentinien und der Bundesrepublik Deutschland in Rom durch einen Elfmeter gewonnen wurde. Andy Brehme konnte ihn in der 85. Minute verwandeln. Es war das erste WM-Finale, das durch einen Elfmeter in der regulären Spielzeit entschieden worden ist. Franz Beckenbauer wurde der zweite Nationaltrainer nach Mario Zagallo aus Brasilien, der sowohl als Spieler als auch als Trainer Weltmeister wurde – wobei Zagallo den Titel als Spieler sogar zweimal holte (1958 und 1962).

1990
Eingliederung des DDR-Fußballs in die BRD

Die Organisation der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten ging schneller voran, als man im DFV gedacht hatte. Das letzte Spiel der DDR-Nationalmannschaft der Männer fand am 12. September 1990 in Brüssel statt, Kapitän Matthias Sammer schoss beide Tore. Eigentlich sollte es Spiel ein Qualifikationsspiel für die EM 1992 sein, doch der DFV hatte das DDR-Team bereits abgemeldet. Um Schadenersatzforderungen zu umgehen, spielte man das Match als Freundschaftsspiel aus. Ohne Wiedervereinigung hätte die DDR-Mannschaft nach Belgien gegen die Nationalmannschaft der BRD gespielt (für den 21. November 1990 terminiert). So löste sich einen Tag vorher, am 20. November 1990, der DFV auf. Die DDR-Nationalelf der Männer kam auf 293 Länderspiele mit 501 Toren und 345 Gegentoren (ohne die bei Elfmeterschießen erzielten Tore) – 138 Siege, 69 Unentschieden und 86 Niederlagen. Das abgesagte EM-Qualifikationsspiel zwischen der nun ehemaligen DDR und der BRD wurde zunächst nicht als Freundschaftsspiel wiederholt, aus Sorge vor Ausschreitungen. Erst zwanzig Jahre später kam es zu einem Freundschaftsspiel zwischen DDR-Nationalspielern der 1990er Jahre und der BRD-Nationalelf, die an der WM 1990 teilgenommen hatte. Wie bereits 1902 spielte die gesamtdeutsche Mannschaft ihr erstes Spiel, ein Freundschaftsspiel gegen die Schweiz.

1990
Gründung der Frauenbundesliga

Seit Mitte der 1980er Jahre wurde über die Einführung einer überregionalen Spielklasse im Frauenfußball diskutiert, um die Leistungsunterschiede zwischen regionalen Spitzenmannschaften und den Niedrigerplatzierten auszugleichen. In West- und Norddeutschland wurden bereits 1985 beziehungsweise 1986 verbandsübergreifende Spielklassen gegründet und auf dem DFB-Bundestag 1986 wurde die Organisation einer deutschen Spielklasse fast einstimmig beschlossen. Es dauerte aber noch über die Frauen-EM 1989 in Deutschland hinaus, bis der DFB seine Idee in die Tat umsetzte. Für die Saison 1990/91 wurde die Frauen-Bundesliga eingeführt. Zunächst gab es zwei Ligen (Nord/Süd) mit je zehn Mannschaften – die der Landesverbände nach Abschluss der Saison 1989/90. Das waren in der Nordliga Fortuna Sachsenross Hannover, SC Poppenbüttel, Schmalfelder SV, SV Wilhelmshaven, VfR Eintracht Wolfsburg (alle zuvor Oberliga Nord), SSG Bergisch Gladbach, KBC Duisburg, VfB Rheine, TSV Siegen (Regionalliga West) und der 1. FC Neukölln (Oberliga Berlin). In der Südliga waren die SG Praunheim (später 1. FFC Frankfurt, künftig Eintracht Frankfurt) und der FSV Frankfurt (Oberliga Hessen), SC 07 Bad Neuenahr (Verbandsliga Rheinland), VfR 09 Saarbrücken (Verbandsliga Saarland), TuS Niederkirchen (Verbandsliga Südwest), SC Klinge Seckach (Verbandsliga Baden), TuS Binzen (Verbandsliga Südbaden), VfL Sindelfingen und VfL Ulm/Neu-Ulm (Verbandsliga Württemberg) und Bayern München (Bayernliga) die Gründungsmitglieder.

Seit 1997 gibt es eine Liga mit zwölf Teams für Gesamtdeutschland. Gründungsmitglieder waren zum Teil dieselben wie 1990: FSV Frankfurt, SG Praunheim, FCR Duisburg, Grün-Weiß Braunweiler, Sportfreunde Siegen, SSV Turbine Potsdam, FC Eintracht Rheine, 1. FC Saarbrücken, TuS Niederkirchen, SC 07 Bad Neuenahr, SC Klinge Seckach und der Hamburger SV. Das waren die vier besten der beiden vorherigen Ligen und die Siegerteams aus einem Wettbewerb, an dem alle anderen 16 Teams teilnahmen. Zur Saison 2004/05 wurde dann eine zweite Liga eingeführt, die bis zur Saison 2017/18 zweigleisig (Nord/Süd) geführt wurde. Mittlerweile gibt es eine zweite Liga für das gesamte Deutschland.

1995
Marc Bosman revolutioniert den Transfermarkt

Sportlich gesehen ist die Profi-Karriere des Belgiers Marc Bosman unbedeutend. Seine Verdienste um den Fußball hat Bosman durch eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung erworben. Anfang der 1990er wollte er den Verein wechseln, doch sein Arbeitgeber wollte ihn nicht ziehen lassen, ohne eine überhöhte Ablöse zu erhalten. Vor dem so genannten Bosman-Urteil war es Gang und Gäbe, dass der aktuelle Klub einem Vereinswechsel zustimmen musste und eine Ablöse verlangen konnte, selbst wenn der Vertrag des Spielers ausgelaufen war. Auch gab es in den Ligen weitreichende Bestimmungen, die die Anzahl ausländischer Profis in den Kadern limitierten. Bosman fand, dass ihn das in der Wahl seines Arbeitsplatzes einschränkte, klagte dagegen und bekam schlussendlich vor dem Europäischen Gerichtshof Recht. Das Urteil schuf einen Präzedenzfall. Es brachte den Profis mehr Selbstbestimmung, internationalisierte den Transfermarkt und befeuerte die Transferaktivitäten der Klubs, die sich nun einfacher mit Neuverpflichtungen einig werden konnten. Insofern ist dieses Urteil einer der Faktoren, die die Entwicklung hin zu den heutigen globalen Transfermärkten und -summen möglich machten. Der Spieler selbst hat von der Regelung nicht mehr profitiert – bei der Urteilsverkündung war Bosmans Karriere so gut wie beendet.

1996
Europameister dank Golden Goal

„Andersrum!“ Das soll Marco Bode in der 95. Minute des EM-Finals 1996 Oliver Bierhoff zugerufen haben. Bierhoff legte sich den Ball nicht auf Rechts sondern auf Links, zog ab – und Torhüter Kouba rutschte die Kugel über die Hände. Das erste Golden Goal der Fußballgeschichte machte Deutschland zum Europameister. Beim 2:1 Sieg erzielte der eingewechselte Bierhoff beide Tore. Der Legionär, der sein Geld in Italien verdiente, debütierte erst im Februar 1996 in der Nationalmannschaft und wird durch seine Tore wohl immer mit diesem Titelgewinn verbunden werden.
Es waren aber andere Spieler im deutschen Kader, die dem Turnier ihren Stempel aufdrückten – auch wenn Bundestrainer Berti Vogts im Turnierverlauf nicht müde wurde zu betonen, der Star sei die Mannschaft. Im Tor war Andreas Köpke sicherer Rückhalt, obwohl er gerade mit Eintracht Frankfurt aus der Bundesliga abgestiegen war. In der Abwehr organisierte Matthias Sammer das Spiel und im defensiven Mittelfeld lernten die Deutschen, Dieter Eilts zu lieben. Alle drei wurden in die Elf des Turniers, Sammer gar zum Spieler des Turniers gewählt. Der Kader bestand aus erfahrenen Spielern und wurde von Berti Vogts aufgrund des beinahe unheimlichen Verletzungspechs voll ausgeschöpft. Wer das Turnier verfolgt hat, erinnert sich sicher an die Nachnomminierung von Jens Todt, die der DFB-Auswahl zugestanden wurde. In die Vorrunde startete die Auswahl mit zwei Siegen, bevor ihr im letzten Gruppenspiel gegen Italien die Grenzen aufgezeigt wurden: Der 0:0-Endstand war mehr als schmeichelhaft. Im Viertelfinale konnte Kroatien überwunden werden, im Halbfinale gelang gegen England eine Revanche für das WM-Finale 1966. In Wembley zog die DFB-Auswahl gegen Gastgeber England nach Elfmeterschießen ins Finale ein, nachdem vor allem die englische Yellow Press in den Tagen zuvor nicht mit offensiven bis geschmacklosen Schlagzeilen gegeizt hatte.
Die EM 1996 markierte den zweiten großen Titel innerhalb von sechs Jahren. Es war das Turnier des Matthias Sammer und die mannschaftliche Geschlossenheit täuschte darüber hinweg, dass im deutschen Fußball bereits einiges im Argen lag. Im Kader fand sich nur eine Handvoll Spieler unter 25 Jahren und die folgenden Turniere sollten zeigen, dass es dem DFB an talentiertem Nachwuchs und guten Ideen mangelte.

1997
Schalke und Dortmund gewinnen die UEFA-Klubwettbewerbe

Für einen kurzen Augenblick im Mai 1997 war das Ruhrgebiet der Nabel des europäischen Fußballs. Schalke 04 errang mit Trainer Huub Stevens den UEFA-Pokal, Borussia Dortmund besiegte wenige Tage später in München Juventus Turin im Finale der Champions League. In der Saison 96/97 trat Schalke zum ersten Mal seit den 1970ern in einem kontinentalen Wettbewerb an. Im Laufe der Saison übernahm Huub Stevens den Trainerposten, der zuvor mit Roda Kerkrade in der ersten Runde gegen die Schalker ausgeschieden war. Mit kampfbetontem Fußball kam die Mannschaft Runde um Runde weiter. Gegen den FC Brügge wurde erst in letzter Minute das Weiterkommen ins Viertelfinale gesichert. Die Schalker Außenseiter, die kaum über internationale Erfahrung verfügten, traten im Finale gegen das mit Stars gespickte Inter Mailand an. Das Hinspiel in Gelsenkirchen gewann man knapp, das Rückspiel im Guiseppe Meazza ging ins Elfmeterschießen – Marc Wilmots versenkte den entscheidenden Elfmeter.
Borussia Dortmund verfügte über einen erfahreneren Kader und fokussierte sich im Frühjahr 1997 auf die Champions League, nachdem der BVB in der Bundesliga den Anschluss an die Tabellenspitze verloren hatte. Unvergessen bleibt das vorentscheidende 3:1 im Finale durch Lars Ricken nur wenige Sekunden nach seiner Einwechslung. Der Titelgewinn unter dem scheidenden Meistertrainer Ottmar Hitzfeld konnte aber nur kurzzeitig übertünchen, dass es erhebliche Spannungen im Mannschaftsgefüge gab. Das Team, das Hitzfeld aufgebaut hatte, war bereits über seinen Zenit hinaus.

1999
Bayern München, Manchester United und die Nachspielzeit

Die Dramaturgie des Finales der Champions League 1999 zwischen Bayern München und Manchester United war eine ganz besondere. Schon nach wenigen Minuten ging der FC Bayern durch einen Freistoß von Mario Basler in Führung. Fortan sah es fast 90 Minuten lang so aus, als würden die Münchner als Sieger vom Platz gehen. Sie erspielten sich einige
Chancen und verwalteten den knappen Vorsprung. Der Spielverlauf sprach eine deutliche Sprache – das Endergebnis war ein anderes. In der 81. Minute wurde der inzwischen 38-jährige Lothar Matthäus ausgewechselt, bei Manchester United brachte Manager Alex Ferguson zeitgleich Stürmer Ole Gunnar Solskjær. Zuvor hatte er schon Teddy Sheringham eingewechselt. Die Joker stachen. In der ersten Minute der Nachspielzeit glich Sheringham nach einem Eckball aus. Die Münchner wirkten paralysiert und kassierten in der 3. Minute der regulären Nachspielzeit das 1:2 – wieder nach einem Eckball, diesmal traf Solskjær. Der Sieg sicherte Manchester United zum zweiten Mal nach 1968 (damals unter dem legendären Trainer Matt Busby) den wichtigsten kontinentalen Titel und hinterließ Spieler, Fans und Verantwortliche des FC Bayern fassungslos.

2002
Die Kirch-Pleite

Für eine Weile war der Medienunternehmer Leo Kirch der heimliche Herrscher der Bundesliga. Über eine Milliarde Euro ließ er sich die Übertragungsrechte der höchsten deutschen Spielklasse für vier Jahre kosten. Das war um die Jahrtausendwende gleichzusetzen mit einem Geldregen für die Klubs: Borussia Dortmund investierte innerhalb von drei Spielzeiten etwa 100 Millionen Euro in Neuzugänge und die Spielergehälter stiegen ligaweit deutlich. Kirch und sein Pay-TV-Sender Premiere diktierten die Anstoßzeiten und die Regeln für die Berichterstattung im Free-TV. Doch seine Rechnung ging nicht auf: die Anzahl der Abonnenten stieg nicht wie gewünscht und so verbrannte der Sender jeden Monat Millionen. Hinzu kamen weitere kostspielige Investitionen für Sportrechte, die sich ebenso wenig rentierten. Im April 2002 hatte KirchMedia mehrere Milliarden Euro Verbindlichkeiten angehäuft und ging in Insolvenz. Die Vereine, von denen einige Investitionen in neue Stadien getätigt hatten, saßen auf dem Trockenen. Ein Fond der DFL für Krisenzeiten sollte Abhilfe schaffen, doch schlussendlich entgingen der Liga durch die Pleite etwa 200 Millionen Euro, die fest eingeplant gewesen waren. Vor der Saison 2003/04 verkleinerte fast die halbe Bundesliga ihre Etats und die Transferausgaben sanken um zwei Drittel. Die Kirch-Pleite verpasste der Liga einen spürbaren finanziellen Dämpfer.

2003
Die Nationalmannschaft der Frauen wird Weltmeister

Die Fußballweltmeisterschaft 2003 sollte ursprünglich in China stattfinden, wurde aber wegen der Pandemie der Infektionskrankheit SARS kurzfristig in die USA verlegt. Die deutsche Frauen-Nationalelf dominierte das Turnier, das vom 20. September bis 12. Oktober 2003 ausgetragen wurde. Der auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Zeitraum des Turniers begründet sich in der Tatsache, dass die chinesischen Fußballligen im Herbst enden. Sowohl die im Nachhinein als beste Spielerin als auch die als beste Torhüterin des Turniers ausgezeichneten Spielerinnen gehörten zum deutschen Team: Birgit Prinz (1. FFC Frankfurt) und Silke Rottenberg (FCR 2001 Duisburg). Ebenso waren unter den vier besten Torschützinnen vier Deutsche, nämlich neben der alleinigen Torschützenkönigin noch die Stürmerinnen Maren Meinert (Boston Breakers) und Kerstin Garefrekes (FFC Heike Rheine). Der Erfolg des deutschen Teams beruhte aber nicht nur auf den Torschützinnen und der Torfrau, sondern war auch eine herausragende Teamleistung. Durch sie konnte das deutsche Team im Halbfinale das amtierende Weltmeisterteam und Favorit USA mit 3:0 eindrucksvoll besiegen.
Eine überzeugende Leistung zeigte das deutsche Team auch im Finale gegen Schweden, hatte zudem aber Glück, denn auf beiden Seiten gab es einige Chancen. So ging das Spiel mit 1:1 in die Verlängerung. Keine zehn Minuten später standen die deutschen Frauen als neue Weltmeisterinnen fest, denn die Innenverteidigerin Nia Künzer (1. FFC Frankfurt) erzielte das 2:1 – das letzte Golden Goal vor der Abschaffung im Sommer 2003. Nia Künzers Tor wurde zum Tor des Jahres in Deutschland gewählt. Es war der erste WM-Titel der deutschen Frauennationalmannschaft. Trainerin Tina Theune (damals Theune-Mayer), die aktiv für Grün-Weiß Brauweiler spielte, erwarb nach ihrer aktiven Laufbahn als erste Frau in Deutschland eine Fußballlehrerlizenz und übernahm im gleichen Jahr den Trainerinnenjob des deutschen Teams. 2003 gehörte auch die ehemalige Bundesligaspielerin Silvia Neid zu ihren Assistentinnen. Neid übernahm 2005 das Amt der Bundestrainerin von Theune und wurde 2007 erneut Weltmeisterin.

WM-Finale 2003, Quelle: Curt Gibbs, CC BY 2.0 via flickr.

2005
Schiedsrichter-Wettskandal

Hoyzer. Vor 15 Jahren ein junger, ambitionierter und hochgelobter DFB-Schiedsrichter mit Vornamen Robert, heute ein Schimpfwort. Den meisten ist das Männer-DFB-Pokalspiel des Hamburger Sportvereins gegen den SC Paderborn ein Begriff. Es war die erste Runde des DFB-Pokals der neuen Saison, der HSV verlor mit 4:2 nach eigener 2:0-Führung. Hoyzer hatte auf zwei haltlose Strafstöße für Paderborn entschieden, ein weiteres Tor des SCP hätte er wegen eines vorangegangenen Foulspiels nicht geben dürfen. Es verging ein halbes Jahr, bis die Schiedsrichter Lutz Michael Fröhlich, Manuel Gräfe, Olaf Blumenstein und Felix Zwayer den DFB am 19. Januar 2005 über die Spielmanipulationen informierten. Robert Hoyzer bestritt für ein paar Tage die Vorwürfe, um dann aber ein umfangreiches Geständnis abzulegen. Er nannte dabei auch Dominik Marks, der ebenfalls 2005 Spiele der 2. Männer-Bundesliga und des Männer-DFB-Pokal schiedste. Auch er hatte Spiele durch seine Entscheidungen manipuliert. Der DFB sperrte Hoyzer und Marks lebenslang und der Bundesgerichtshof verurteilte Hoyzer zu zwei Jahren und fünf Monaten Haft (ohne Bewährung) und Marks zu einem Jahr und sechs Monaten (auf Bewährung). Ein Revisionsgesuch wurde abgelehnt. Obwohl die Haftdauer ohne Bewährung festgesetzt worden war, wurde Hoyzer bereits nach 14 Monaten, am 18. Juli 2008, wegen guter Führung aus der Haft entlassen.Vor dem Haftantritt hatte der DFB gegen Robert Hoyzer Schadenersatzansprüche von 1,8 Millionen Euro gestellt, nach der Haftstrafe einigten sich beide Parteien auf einen Vergleich: 450.000 Euro in 15 Jahren, wobei ihm der DFB später gut zwei Drittel der Summe erstattete. Dafür muss Hoyzer Auflagen erfüllen, darf zum Beispiel keinen Profit aus dem Fall ziehen, indem er ein Buch darüber schreibt oder sein Leben um den Skandal verfilmen lässt. Der Schiedsrichterskandal rund um Robert Hoyzer hat heute vor allem zwei Konsequenzen: „Hoyzer“ oder „hoyzern“ ist ein Schimpfwort gegenüber Schiedsrichter*innen und führt zum Platzverweis, wenn Spieler*innen oder Verantwortliche es nutzen. „Hoyzern“ wurde zudem das Kunstwort des Jahres 2005. Zum anderen rotieren die meist festen Schiedsrichter*innen-Gespanne in zufälliger Reihenfolge. Das bedeutet, dass am Spieltag die vorher festgelegte Zusammensetzung aus Schiedsrichter*in und Assistent*innen getauscht wird. So sollen Absprachen unterbunden und weiteres „Verschiedsen“ möglichst unmöglich gemacht werden.

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Anmerkung:

Die Texte zum Bosman-Urteil, dem EM-Titel 1996, dem Gewinn der Klub-Wettbewerbe 1997, des Champions-League-Finales 1999 sowie der Kirchpleite (2002) stammen aus der Feder von 120minuten-Redaktionsmitglied Endreas Müller.

Beitragsbild: gemeinfrei

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Alles raushauen https://120minuten.github.io/alles-raushauen/ https://120minuten.github.io/alles-raushauen/#respond Thu, 12 Dec 2019 10:30:29 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6744 Weiterlesen]]> Liebe Leser*innen von 120minuten,

heute lest ihr von uns einen Text, der vielleicht eher an einen Brief erinnert, aber wir möchten euch gerne direkt ansprechen mit dem, was uns gerade bewegt.

Das Jahr 2019 war – mal wieder – ein buntes, vielfältiges und spannendes für das Team von 120minuten. Auf unserer Plattform hat sich das unter anderem in der Reihe rund um den Sportjournalismus niedergeschlagen, wir konnten euch eine starke Kolumne von Ronny Blaschke präsentieren, haben wieder tolle neue Autor*innen mit interessanten Themen dazugewonnen und stecken gerade noch mitten in der Veröffentlichung der 60 wichtigsten Momente der deutschen Fußballgeschichte. Wir haben einen Schwerpunkt auf Frauen im Fußball gelegt und uns intensiv der WM in Frankreich gewidmet. Dazu kamen unsere Podcasts, sowohl zu den bei uns erschienenen Texten als auch zu den Schwerpunktthemen des ballesterer Fußballmagazins.

Wir sind zu Beginn des Jahres gewachsen – seither gehört Mara Pfeiffer zur Redaktion – und später wieder geschrumpft, als Lennart Birth uns verlassen hat. Hinter den Kulissen verstärkt uns seit kurzem Maria Hendrischke bei der Textarbeit. Im neuen Jahr steht eine weitere Veränderung in der Redaktion an. Wir haben alle aus Überzeugung viel Zeit, Liebe und Kraft in das Projekt gesteckt, im wunderbaren Austausch mit euch.

Das ist die eine, tolle Seite, die uns das Gefühl gibt, dass es richtig und wertvoll ist, was wir hier machen. Die andere ist, dass wir uns ehrlich eingestehen müssen: 120minuten ist zuletzt nicht weiter gewachsen – und die Kurve des Wachstums war ohnehin immer überschaubar. Das muss nicht schlecht sein, aber ein bisschen wurmt es uns schon. Unsere Redaktion ist sehr klein für den hohen Aufwand, den wir betreiben, in manchen Phasen des zu Ende gehenden Jahres war das zeitlich alles kaum zu wuppen und wir stehen deswegen vor der Frage, wie es weitergehen kann mit unserem Projekt.

Das soll jetzt aber keinesfalls dramatisch klingen, denn wir haben uns schon eine Strategie überlegt, wie wir das Thema anpacken werden. Part 1: Der Dezember steht unter dem Motto „Alles raushauen“. Das bedeutet, wir beschenken euch bis Silvester jede Woche mit einem neuen Longread, unter anderem Teil 5 und 6 der wichtigen Fußballmomente, aber auch noch zwei Überraschungen von Autoren, die bislang nicht für uns tätig waren. Part 2: Im Januar treffen wir, die Redaktion, uns ein Wochenende lang zur Klausurtagung in Wiesbaden.

Dort wollen wir besprechen, wie wir 120minuten für die Zukunft ausrichten können. Wenn ihr es euch grundsätzlich vorstellen könnt, die Redaktion zu verstärken, im Hintergrund an Texten mitzuarbeiten oder regelmäßiger für uns zu schreiben, seid ihr herzlich eingeladen, im Januar zu uns zu stoßen, um gemeinsam zu brainstormen, wie es weitergeht. Part 3: Im ersten Quartal 2020 wird unsere nach außen sichtbare Arbeit ruhen und wir veröffentlichen keine neuen Texte oder Podcast-Folgen. Wir brauchen unsere Konzentration in dieser Zeit für die Arbeit hinter den Kulissen, damit es ab dem zweiten Quartal hoffentlich mit neuer Kraft für uns – und natürlich für euch, unsere Leser*innen – weitergehen kann.

Wir hoffen, ihr habt Lust, diesen Weg mit uns gemeinsam zu gehen und freuen uns, wenn ihr uns Feedback, Ideen und Anregungen zukommen lasst oder uns im Januar verstärkt. Es grüßt euch von Herzen, mit guten Wünschen für die Weihnachtszeit und den Rutsch ins neue Jahr,

die 120minuten Redaktion

 

Beitragsbild: “news” von David Michalczuk via Flickr | Lizenz: CC BY 2.0

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Die 60 wichtigsten Episoden der deutschen Fußballgeschichte, Teil 4 https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-4/ https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-4/#comments Thu, 28 Nov 2019 08:00:27 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6681 Weiterlesen]]> Fußball wird seit etwa 150 Jahren in Deutschland gespielt, das heißt, in den Grenzen des damaligen Kaiserreiches. Zunächst waren es vor allem englische Händler, Studierende und Touristen, die das ihnen vertraute Spiel aus der Heimat auch hier gemeinsam spielten. Dort war die reglementierte Fassung des Spiels seit einem halben Jahrhundert bekannt. Diese Serie beschreibt die 60 wichtigsten Momente des Fußballspiels in Deutschland. Im vierten Teil geht es um die Jahre 1970 bis 1982. (Die Teile 1, 2 und 3 sind hier, hier und hier zu finden.)

von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de) unter Mitarbeit der 120minuten-Redaktion | November 2019

1970
Der DFB erlaubt Frauenfußball in seinen Reihen

Ende der 1960er Jahre wuchs der Druck in Sachen Frauenfußball auf den DFB immer mehr an. Da sich in diesem Bereich eigene Verbände und Strukturen entwickelt hatten, war der DFB in Zugzwang, wenn er das Thema nicht endgültig abschenken wollte. Um der Gründung eines bundesdeutschen Frauenfußballverbandes zuvorzukommen und die Zügel in die Hand zu nehmen, so lange es noch ging, beschloss der DFB auf seinem Bundestag in Travemünde am 31. Oktober 1970 „aufgrund der eingetretenen Entwicklung“, das Verbot für Frauenfußball innerhalb des Verbandes aufzuheben. Allerdings zunächst mit Restriktionen: Die Frauen durften fortan nur mit einem Ball für Jugendfußball spielen, der leichter als der Ball bei den Männern war, ein Spiel dauerte lediglich zwei Mal 30 Minuten und die Schuhe der Damen durften keine Stollen haben. Auch über andere Kleidungsvorschriften, unter anderem einen „Brustpanzer“, wurde diskutiert, umgesetzt wurde das aber letztlich nicht. Die Skepsis gegenüber Frauenfußball blieb insgesamt enorm, wie ein Ausschnitt aus dem Aktuellen Sportstudio von 1970 illustriert. Vermutlich nahm der DFB diesen überhaupt nur in seinen Reihen auf, um einen Machtverlust zu verhindern.

1970
Jahrhundertspiel Deutschland – Italien

Am 17. Juni 1970 ist es nachmittags in Mexiko-City auf 2.200m NN 50°C heiß und schwül. Ein Gewitter kündigt sich an, Regentropfen fallen auf die in den Schreibmaschinen eingesetzten Papiere der Fußballreporter. Es ist der Beginn des so genannten Jahrhundertspiels, des WM-Halbfinales zwischen Italien und der Bundesrepublik Deutschland, das Italien in der Nachspielzeit für sich entscheiden kann. Die über 100.000 Zuschauer*innen im Aztekenstadion sehen, wie Italien früh in Führung geht und die BRD erst in der Nachspielzeit ausgleicht. Verlängerung. Das Bild von Beckerbauer mit Armschleife geht anschließend um die Welt. Er hat sich an der Schulter verletzt, doch das Wechselkontingent der BRD ist erschöpft. So steht er zwar weiter auf dem Platz, läuft aber nur noch mit.

In der Verlängerung geht zunächst die BRD in Führung, Italien dreht das Spiel zum 3:2, die BRD gleicht erneut aus und zuletzt geht Italien abermals in Führung. Endstand 4:3, wobei unzählige Torchancen im Spiel nicht genutzt wurden. Die Partie geht mit dem Titel „Jahrhundertspiel“ als eines, wenn nicht das bis dahin dramatischste Fußballspiel aller Zeiten in die Annalen ein.

1971
Bundesliga-Wettskandal

Am 6. Juni 1971 beging Horst-Gregorio Canellas seinen 50. Geburtstag. Zur Feier des Tages ließ er einen weitreichenden Wettskandal in der Bundesliga auffliegen. Denn der Präsident des abstiegsgefährdeten Bundesligaclubs Kickers Offenbach hatte Telefonate auf Tonband mitgeschnitten, in denen er von Spielern kommender Gegner Bestechungsangebote bekam. Dieses Tonband wurde auch dem DFB vorgespielt. Jurist Hans Kindermann führte die Ermittlungen. In deren Folge gab es 1973 zahlreiche lebenslange Sperren, die dann aber in den meisten Fällen nach wenigen Monaten wieder aufgehoben wurden. Insgesamt wurden 52 Spieler (vor allem von Hertha BSC, Eintracht Braunschweig und dem FC Schalke 04), zwei Trainer und sechs Vereinsfunktionäre verurteilt – auch Canellas, der zum Schein auf die Angebote eingegangen war. Insgesamt flossen 1,1 Millionen DM Schmiergelder. Arminia Bielefeld und Kickers Offenbach wurde die Lizenz für die Bundesliga entzogen.

8. Mai 1974
Der 1. FC Magdeburg gewinnt den Pokal der Pokalsieger

Was haben Paris Saint Germain, Manchester City und der 1. FC Magdeburg gemeinsam? Alle haben den Europapokal der Pokalsieger gewonnen und auch, wenn der Vergleich angesichts der finanziellen Mittel schräg erscheinen mag, ist es unter anderem auch diese Tatsache, die Clubfans stolz macht auf die Geschichte ihres Vereins. Hinzu kommt, dass dem FCM mit dem Finalsieg 1974 gegen den AC Mailand etwas Einmaliges gelang: Er war und blieb der einzige Verein des DFV (dem ostdeutschen Pendant zum DFB), der je den Europapokal gewinnen konnte. Auch dieser Umstand mag mit verantwortlich sein für den bekannten Magdeburger Größenwahn: Es kann einfach nicht jede Mannschaft Europas Beste sein.

Erzählt man die Geschichte dieser erfolgreichsten Spielzeit in der Historie des Clubs, muss man hinzufügen, dass dieser Sieg kein Ausrutscher, sondern verdient war. Die Mannschaft und Trainer Heinz Krügel waren auf ihrem Zenit; der Umstand, dass Mailand in der Krise war und den vermeintlichen Außenseiter unterschätzte, spielte Magdeburg zusätzlich in die Karten. Alles begann im September 1973 im Kuip von Rotterdam, dem späteren Endspielort, gegen den holländischen Pokalsieger NAC Breda, ging über die Stationen Ostrava, Zagora, Lissabon zurück nach Rotterdam, wo der Titelverteidiger AC Milan wartete. Unter dem Interimstrainer, einem gewissen Giovanni Trapattoni, waren die Mailänder unberechenbar, doch Magdeburgs Meistertrainer hatte die Mannschaft hervorragend eingestellt.

Je länger das Spiel lief, desto sicherer wurden die Magdeburger und desto fahriger die Mailänder. Die Folge war kurz vor der Pause das 1:0, bezeichnenderweise ein Eigentor durch Enrico Lanzi. In der zweiten Hälfte folgte die Krönung eines außergewöhnlichen Spiels und der erfolgreichsten Saison für den 1. FCM. Axel Tyll spielt den Ball aus dem Halbfeld in den Strafraum, wo Wolfgang „Paule“ Seguin ihn mitnimmt und aus spitzem Winkel zum 2:0 trifft – die Entscheidung. Es war die 74. Minute, die heute noch bei Heimspielen zelebriert wird.

Zur Siegerehrung erschien die Mannschaft von Kapitän Manfred Zapf in weißen Bademänteln – warum, weiß heute keiner mehr so genau – was diesem Finale eine weitere besondere Note verlieh. Es mag das am schlechtesten besuchte Endspiel in der Geschichte des Europapokals sein, das mindert aber keinesfalls die Leistung des 1. FC Magdeburg. Der Triumph wurde für längere Zeit aber eher Mühlstein denn Freude; zu lange hing der Club vergangenen Erfolgen nach und übersah nach dem Fall der Mauer die Zeichen der Zeit.

1974
BRD-DDR – eine einmalige Begegnung bei der WM

Die DDR und die WM/EM: eine traurige Geschichte. Während der Qualifikation für WM oder EM sah es für die Nationalmannschaft des DFV immer gut aus, bis zur letzten Hürde. Oft fehlte ein Punkt, manchmal ein Tor. Nur einmal schaffte es die DDR, sich für die WM zu qualifizieren: 1974. Und dort gab es gleich ein bemerkenswertes Spiel. Es war das erste und einzige Mal, dass sich zwei deutsche Nationalmannschaften in einer Partie gegenüberstanden.

Hamburg, 22. Juni 1974. An eben jenem Tag sah die Gruppenauslosung vor, dass die DFB-Elf gegen die des DFV antreten sollte. Die Mannschaft von Helmut Schön (West) war als Gastgeber natürlich unter Druck; nichts anderes als der Titel wurde erwartet, nachdem bereits 1972 der erste EM-Titel gewonnen worden war. Für die DDR ging es darum, diesen kleinen Staat mittels des Fußballs noch bekannter zu machen. Das Team von Georg Buschner (Ost) kam als Außenseiter, aber mit den FCM-Spielern Hoffmann und Sparwasser. So entspann sich ein Spiel, welches von Nervosität geprägt war.

Schöns Team kam besser in die Partie, verlor aber zusehends den Faden, als kein Tor fiel. Die Mannschaft von Buschner wuchs in dieses Spiel hinein und nach einer Stunde konnte sie es dominieren. In der entscheidenden 77. Minute fing der Zwickauer Torhüter Jürgen Croy einen Angriff der DFB-Elf ab und initiierte mit einem langen Angriff auf Erich Hamann einen Konter. Hamann hatte so viel Platz, dass er ungestört bis zur Mittellinie und darüber hinaus marschieren konnte, ohne einen Gegenspieler zu sehen. Sein Pass fand Jürgen Sparwasser, just in dem Moment, als er in das große D des Strafraums lief und dort den Ball mit der Nase an Berti Vogts vorbeilegte, Sepp Maier verlud und gekonnt zum 1:0 traf. Alle Versuche von Beckenbauer & Co., den Ausgleich zu erzielen, schlugen fehl.

Später wurde das Spiel oft reduziert auf eben jenen Moment, als Sparwasser traf. Dies schmälert jedoch die Leistung der anderen Spieler im DDR-Trikot ebenso wie die des Trainerstabs. In den Annalen des Fußballs wird die DFV-Auswahl auf ewig eine reine Weste gegen den DFB bewahren; keine andere Mannschaft kann das von sich behaupten.

1974
Herren-Titel bei der Heim-WM

Am 7. Juli 1974 um 17:47 Uhr war es soweit: Die Bundesrepublik Deutschland war Weltmeister bei den interkontinentalen Wettkämpfen im eigenen Land geworden. Die WM begann am 13. Juni 1974 und war die einzige, an der das geteilte Deutschland mit sowohl der BRD als auch der DDR teilnahm. Beide wurden bekanntermaßen gemeinsam mit Chile und Australien in die gleiche Gruppe (I) gelost – so kam es zum einzigen Duell zwischen den Ländern. Auch dank des Sieges der DDR blieb diese in ihrer Gruppe ungeschlagen. Die BRD wurde Zweiter, was aber vielleicht ihr Glück war, denn in der darauffolgenden Zwischengruppenphase spielte die DDR gegen namhafte Länderauswahlen wie die Niederlande und Brasilien, die BRD gegen Polen, Schweden und Jugoslawien. Die DDR schied nach dieser Gruppenphase aus, die BRD kam ins Finale und besiegte am 7. Juli in München mit 2:1 die Niederlande. Dabei waren die zunächst bereits in der ersten Minute in Führung gegangen, doch Paul Breitner und Gerd Müller entschieden das Spiel mit ihren Toren für die westdeutsche Mannschaft. Der BRD-Kader liest sich wie eine Auswahl aus früheren und aktuellen Vorstandsgremien von Bundesligavereinen, es spielten unter anderem Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Berti Vogts, Paul Breitner, Rainer Bonhof, Uli Hoeneß, Wolfgang Overath, Jürgen Grabowski, Gerd Müller, Bernd Hölzenbein, Heinz Flohe, Günter Netzer und Jupp Heynckes.

Der Kader der DDR ist heute dagegen weitestgehend unbekannt, im Team waren Wolfgang Blochwitz, Jürgen Croy, Werner Friese, Bernd Bransch, Joachim Fritsche, Gerd Kische, Lothar Kurbjuweit, Rüdiger Schnuphase, Wolfgang Seguin, Siegmar Wätzlich, Konrad Weise, Erich Hamann, Harald Irmscher, Hans-Jürgen Kreische, Reinhard Lauck, Jürgen Pommerenke, Jürgen Sparwasser, Peter Ducke, Martin Hoffmann, Wolfram Löwe, Joachim Streich, Eberhard Vogel.

1974
TuS Wörrstadt gewinnt die erste Meisterschaft der Frauen

Vier Jahre, nachdem Frauen wieder innerhalb des DFB Fußball spielen durften, führte der Verband eine Meisterschaft im Frauenfußball ein. Ähnlich wie bei den Männern vor Einführung der Bundesliga, spielten die Frauen zunächst innerhalb ihrer regionalen Ligen, von denen es damals allerdings nur vier gab. Die jeweiligen Siegermannschaften spielten ein Halbfinale und ein Finale aus. Es wurde die erste und einzige deutsche Meisterschaft für die Frauen des TuS Wörrstadt. Diese mussten sowohl für das Halbfinale als auch das Finale nur wenige Kilometer reisen, nämlich zunächst nach Bingen am Rhein und schließlich am 8. September 1974 für das Finale gegen DJK Eintracht Erle an den Mainzer Bruchweg. Dort spielten sie vor 3.800 Zuschauer*innen, ungefähr genauso vielen, wie bei den Finalspielen der folgenden Jahre zugegen waren. Lediglich Heimspiele des SSG 09 Bergisch Gladbach lockten Ende der 1970er Jahre die zwei- bis dreifache Zahl an Zuschauer*innen ins Stadion. Unparteiische der Partie war der damalige Bundesligaschiedsrichter Walter Eschweiler.

Die TuS Wörrstadt wurde 1847 gegründet, die Frauenfußballabteilung 1969. Sie besteht bis heute und spielt in der Regionalliga Südwest, der dritten Liga im Frauenfußball. Die siegreichen Spielerinnen waren damals Torhüterin Ulrike Manewal, die Abwehrspielerinnen Bärbel Jung, Birgit Mayer (durch Isolde Nickel ersetzt) und Heidi Ellmer, im Mittelfeld Karin Pätzold, Edith Solbach, die dreifache Torschützin Regine Israel, Bärbel Wohlleben, deren 3:0-Treffer zum Tor des Monats gewählt wurde, Uschi Demler (durch Ursel Petzold ersetzt) Gerhild Binder und Anne Haarbach, später Trabant-Haarbach, die nicht nur erfolgreiche Spielerin, Spielerinnentrainerin sowie Trainerin war, sondern auch bei der Gründung der ersten DFB-Frauennationalmannschaft involviert war. Die beiden Torschützinnen dieser Partie wurden ebenfalls Nationalspielerinnen.

1976
Die DDR wird Fußball Olympiasieger in Montreal

DDR und internationaler Fußball, das war mehr als die Teilnahme an der WM 1974 in der BRD. Zwei Jahre später nahm die Männernationalmannschaft der DDR am Turnier bei den Olympischen Spielen in Kanada teil, bei dem nur Amateurfußballer zugelassen wurden (Handgelder und Prämien waren durchaus üblich, fielen aber unter den Mantel des Schweigens). Das Finale konnte die DDR am 31. Juli 1976 gegen den amtierenden WM-Dritten Polen gewinnen, auch, weil die Mannschaft binnen einer Viertelstunde durch Tore von Schade und Hoffmann in Führung ging. Polen kam in diesem ersten Viertel überhaupt nicht ins Spiel. Zudem lag der DDR-Mannschaft der rutschige Boden mehr als den polnischen Spielern. Zur Pause hätte die DDR, die sich durch ihren Teamgeist auszeichnete, noch höher führen können. Stattdessen wurde Polen nach der Halbzeit durch den Anschlusstreffer zuversichtlicher und spielte offensiver. Doch kurz vor Schluss konnte Reinhard Häfner, der Mittelfeldspieler von Dynamo Dresden, Polens Spieler austanzen und das 3:1 erzielen. Der Endstand.

1981
SSG 09 Bergisch Gladbach ist der erste deutsche Pokalsieger im Frauenfußball

Sieben Jahre nach der ersten Meisterschaft der Frauen wurde im Frauenfußball auch ein eigener DFB-Pokal ausgespielt. In der Saison 1980/81 wurden die Spielerinnen des SSG 09 Bergisch Gladbach, die in den 1980er Jahren den TuS Wörrstadt ablöste und den Fußball dominierte, die ersten Pokalsiegerinnen in Deutschland. Im Finale am 2. Mai 1981 konnte die SSG 09 mit Spielertrainerin Anne Trabant-Haarbach besagte TuS Wörrstadt mit 5:0 schlagen. Das Spiel fand vor 35.000 Zuschauer*innen statt, da es direkt vor dem Finalspiel der Männer angesetzt war.

1982
Erstes offizielles Länderspiel der Nationalmannschaft der Frauen der BRD

1981 wurde Anne Trabant-Haarbach, die Spielertrainerin des erfolgreichen SSG 09 Bergisch Gladbach, von DFB-Präsident Egidius Braun zu einem Treffen mit ihm, Horst Schmidt (Abteilungsleiter und Direktor in der DFB-Zentrale) und Gero Bisanz (Fußball-Lehrer-Ausbildungsstätte an der Deutschen Sporthochschule in Köln) eingeladen. Es ging um die mögliche Gründung einer Frauennationalmannschaft, obwohl sich der DFB stark dagegen sträubte. Der Grund, sich dennoch damit zu beschäftigen, war eine Einladung zur inoffiziellen WM 1981 in Taiwan, die der DFB bekommen hatte.

Wie ernst der DFB das Turnier und die Chancen eines deutschen Teams einschätzte, sieht man auch daran, dass er keine Auswahlmannschaft gründete, sondern eben die SSG 09 Bergisch Gladbach mit Trainerin Trabant-Haarbach anstelle einer Nationalmannschaft teilnehmen ließ. Zum großen Erstaunen des Verbandes gewann die SSG 09 das Turnier. Spätestens jetzt wurde dem DFB bewusst, dass er sich darum bemühen sollte, eine offizielle Nationalmannschaft ins Leben zu rufen.

Gero Bisanz beobachtete im August und September 1982 mehrere Frauenmannschaften und nominierte dann einen Kader mit 16 Spielerinnen – die meisten von der SSG 09. Die bei der WM so erfolgreiche Anne Trabant-Haarbach wurde nur seine Co-Trainerin. Ob bewusst oder ungeplant: Das erste Länderspiel der deutschen Frauennationalmannschaft fand am 10. November 1982 gegen die Schweiz statt, genau wie 1902 das erste Länderspiel der Männer.

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Anmerkungen:

Der Text „BRD-DDR – eine einmalige Begegnung bei der WM“ stammt aus der Feder von 120-minuten-Redaktionsmitglied Christoph Wagner, der Text „Der 1. FC Magdeburg gewinnt den Pokal der Pokalsieger“ wurde verfasst von den Redaktionsmitgliedern Christoph Wagner und Alex Schnarr.

Beitragsbild: Bert Verhoeff / Anefo, Lizenz: CC0.

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Die 60 wichtigsten Episoden der deutschen Fußballgeschichte, Teil 3 https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-3/ https://120minuten.github.io/die-60-wichtigsten-episoden-der-deutschen-fussballgeschichte-teil-3/#respond Wed, 30 Oct 2019 08:00:22 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6590 Weiterlesen]]> Fußball wird seit etwa 150 Jahren in Deutschland gespielt, das heißt, in den Grenzen des damaligen Kaiserreiches. Zunächst waren es vor allem englische Händler, Studierende und Touristen, die das ihnen vertraute Spiel aus der Heimat auch hier gemeinsam spielten. Dort war die reglementierte Fassung des Spiels seit einem halben Jahrhundert bekannt. Diese Serie beschreibt die 60 wichtigsten Momente des Fußballspiels in Deutschland. Im dritten Teil geht es um die Jahre 1938 bis 1968.

von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de) unter Mitarbeit der 120minuten-Redaktion | Oktober 2019

1938
Annexion von Österreich und die Weltmeisterschaft

Im Vorfeld der Abstimmung zur Annexion Österreichs an Deutschland fand am 15. März 1938 in Wien ein Freundschaftsspiel zwischen beiden Ländern statt. Es sollte einen einenden Charakter vermitteln und deswegen mit einem Remis enden. Doch der österreichische Kapitän Matthias Sindelar widerstand dem politischen Druck, ließ sein Team in den österreichischen Farben auflaufen und führte es zum 2:0-Sieg. Sindelar selbst erzielte den ersten Treffer und jubelte demonstrativ vor der Ehrentribüne.

Wenige Monate später spielten österreichische Spieler für Deutschland bei der WM in Frankreich. Das Team scheiterte bereits in der ersten Runde an der Schweiz. In der Nachbetrachtung sah Nationaltrainer Sepp Herberger den Grund für das frühe Ausscheiden in der „Wiener Melange“ des Teams, das aus seiner Sicht lediglich einen „preußischen Einschlag“ gehabt hatte.

1949/1950
Wiedergründung des DFB und Aufnahme in die FIFA

Während des 2. Weltkrieges konnte man bis 1944 den Spielbetrieb in den Ligen aufrechterhalten, wenn auch mit starker Wettbewerbsverzerrung. Denn um zu verdeutlichen, dass niemand bevorzugt behandelt wird, wurden 1939 bewusst Nationalspieler eingezogen. Die Lücken wurden durch Jugendspieler und ehemalige Spieler geschlossen, das Leistungsgefälle war teils eklatant. Nach 1945 wurde Vereinsfußball von den Besatzungsbehörden bereits ab dem Jahresende nach und nach wieder genehmigt. Die Sportbeziehungen zwischen FIFA und Deutschland wurde aber zunächst im November 1945 abgebrochen. Der DFB war bereits seit 1940 aufgelöst. Im Juli 1949 fiel der Entschluss, den DFB wieder zu gründen. Die offizielle Wiedergründung fand am 21. Januar 1950 statt. Bereits wenige Monate später hatte der DFB weit über eine Million Mitglieder.

Nicht zum DFB gehörten das noch bis 1955 französisch besetzte Saarland, das mit dem Saarländischen Fußballverband einen eigenen Verband gründete, sowie der sowjetisch besetzte Teil (die spätere DDR), für den sich im Juli 1950 der Deutsche Fußball-Verband gründete. Acht Monate nach der offiziellen DFB-Wiedergründung wurde der Verband erneut Teil der FIFA und bestritt am 22. November 1950 sein erstes Länderspiel nach Ende des 2. Weltkriegs gegen die Schweiz. Deren Verband hatte zuvor die Wiederaufnahme des DFB in der FIFA beantragt.

1954
Die Nationalmannschaft der Herren wird erstmals Weltmeister

Über Jahrzehnte hinweg wurde der Sieg der deutschen Elf im Finale von Bern überhöht als das „Wunder von Bern“ bezeichnet. Das ist natürlich Quatsch. Deutschland hat einen Treffer mehr erzielt als der Favorit Ungarn – und das, obwohl es gar nicht so aussah, denn nach acht Minuten führte Ungarn bereits 2:0; nach 20 stand es 2:2.

Trotzdem wohnt dieser WM von 1954 ein gewisser Zauber inne: Es war die erste Teilnahme Deutschlands bei einer WM nach 1938, dazwischen lagen der Krieg, Leid und vor allem der Holocaust. Deutschland war besiegt und moralisch diskreditiert.

Dass die Mannschaft ins Finale kam, war schon außergewöhnlich. In der Vorrunde gab es eine 8:3-Klatsche gegen eben jene Ungarn, die nun im Finale standen. Was folgte war ein Spiel zweier Mannschaften auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Ungarn überzeugte durch technische Finesse, Deutschland durch Willen. Als es nach 80 Minuten immer noch 2:2 stand, vermuteten die meisten Zuschauer bereits, dass es ein Wiederholungsspiel geben würde. Dazu kam es nicht, denn in der 85. Minute schoss Helmut Rahn das 3:2. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

„Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern, keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder [. . . ] Schäfer nach innen geflankt . . . Kopfball . . . abgewehrt . . . aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen . . . Rahn schießt . . . Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tor für Deutschland!“ [. . . ] „Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit 3:2 Toren im Finale in Bern.“

Der Sieg wie auch der Radiokommentar von Herbert Zimmermann: einzigartig.

1955
Frauenfußball wird innerhalb des DFB verboten

Am 30. Juni 1955 beschloss der DFB auf seinem Verbandstag, Frauenfußball in den eigenen Reihen zu verbieten. Fanden dennoch Spiele bei im DFB organisierten Vereinen statt, wurden Spielfeld und Zuschauerränge zwangsweise geräumt. Konkret wurde den Vereinen verboten, Frauenfußballabteilungen zu führen oder zu gründen sowie eigene Plätze für Frauenfußball zur Verfügung zu stellen oder Frauenteams auf vorhandenen Plätzen trainieren und spielen zu lassen. Zudem war es Schiedsrichtern und ihren Assistenten verboten, Fußballspiele von Frauen zu leiten.

Begründet wurde das Verbot vorrangig mit vermeintlichen gesundheitlichen Folgen für die Frau sowie das Ansehen der Damen, das durch diese Bewegungen leide, auch, weil eine Frau nicht kämpfen könne. So bezeichnete der DFB das Fußballspiel von Frauen als „Zurschaustellen des Körpers“ und verbreitete beispielsweise, dass es sich negativ auf die Gebärfähigkeit der Frauen, auf die Seele und die „weibliche Anmut“ auswirken würde.

1955
Ein Länderspiel macht Bonn nervös

Am 21. August 1955 bestritt der DFB eines der brisantesten Länderspiele seiner Geschichte: Die Weltmeister-Elf spielte in Moskau: Im (eis)Kalten Krieg und noch vor Adenauers legendärer Reise in die sowjetische Hauptstadt, die 18 Tage später begann und die die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen ergab. Die UdSSR hatte zunächst den DFB eingeladen und als dieser sich von der unerwarteten Offerte überrumpeln ließ, lud sie den Bundeskanzler ein.

Adenauer war von der Länderspielreise nicht begeistert. Schon der innerdeutsche Sportverkehr fand unter systempolitischen Vorzeichen statt, wie sollte es dann erst in Moskau sein? Bonn und der Deutsche Sportbund befürchteten eine große Propagandaveranstaltung, die Adenauers Reise beeinflussen würde. Zudem machte es Bonn nervös, dass Bundesbürger aus der DDR Einladungen zum Länderspiel erreichten, dass diese gemeinsam mit Ostdeutschen in einem Zug nach Moskau fahren sollten, und dass westdeutsche Medien in Moskau der sowjetischen Agitation auf den Leim gehen würden. Folglich durfte sich der DFB-Präsident vom Außenminister anhören, wie der DFB-Tross in Moskau auftreten solle. Teile der (Sport)Presse wurden instruiert, die Verhältnisse in der Sowjetunion kritisch zu hinterfragen.

Letztlich waren die Sorgen unbegründet. Natürlich präsentierte sich Moskau gegenüber Spielern, Fans und Journalisten herausragend. Der DFB-Auswahl unterlief auf und abseits des Platzes kein Fauxpas. Auch die packende 2:3-Niederlage war aller Ehren wert. West- und ostdeutsche Fans interessierten sich primär für den Fußball und weniger für politische Sonntagsreden. Für Moskau war der Auftritt des Weltmeisters letztlich in zweierlei Hinsicht wichtig: Erstens, um sportlich zu zeigen, dass die Sbornaja Weltklasse verkörperte. Zweitens, um die eigene Bevölkerung über den Fußball auf die bevorstehende politische Annäherung an den ehemaligen Kriegsfeind vorzubereiten.

1956 bis 1958
Gründung von Frauenfußballverbänden und erste inoffizielle Länderspiele

Zwar hielten sich die Vereine im DFB ans Verbot ihres Verbandes in Sachen Frauenfußball, nicht verhindern konnte man aber die Gründung eigener regionaler Vereine. Zudem gründeten sich zwei Frauenfußballverbände, nämlich 1956 der Westdeutsche Damen-Fußballverband durch Willi Ruppert und 1957 die Deutsche Damen-Fußball-Vereinigung durch Josef Floritz. Beide stellten eine eigene Frauenfußballauswahl als Nationalmannschaft und spielten zusammen zwischen 1956 und 1965 circa 220 Länderspiele. Diese fanden vor allem gegen England, die Niederlande und Österreich statt, deren Frauennationalmannschaft auf dem gleichen guten Niveau wie die deutsche spielten.

Das erste dieser Länderspiele organisierte der Westdeutsche Damen Fußballverband für den 23. September 1956. Es fand im privaten Stadion der Mathias-Stinnes-Zeche in Essen statt – nach FIFA-Regeln, aber mit gekürzter Spielzeit. Vor 17.000 Zuschauer*innen gewannen die Spielerinnen, die alle aus dem Ruhrgebiet und dessen direkter Umgebung kamen und sich zum Teil kurz vor dem Spiel zum ersten Mal sahen, gegen die Niederländerinnen mit 2:1.

1957 wurde in Nürnberg auch das Gegenstück zur FIFA gegründet: die International Ladies Football Association (ILFA). Sie fasste Frauenfußballverbände aus England, Österreich, den Niederlanden und Deutschland zusammen und hatte ihren Sitz in Luxemburg.

Kaufmann Willi Ruppert wurde im August 1957 wegen Unregelmäßigkeiten in der Kasse des Westdeutschen Damen-Fußballverbandes als Vorsitzender entlassen. Er gründete kurz darauf einen neuen Frauenverband, den Deutschen Deutschen-Fußball-Bund, und organisierte mit Gert Bernarts eine Frauen-EM, an der die Mitglieder der ILFA teilnahmen. Doch nur ein Fünftel der vorab geschätzten Zuschauer*innen besuchte die Spiele am 2. und 3. November 1957 in Berlin, Hotelrechnungen der Spielerinnen konnten nicht bezahlt werden. Gegen die beiden Verantwortlichen wurde wegen dringendem Betrugsverdacht Haftbefehle erlassen.

Die EM-Spiele der deutschen Frauen waren weder spielerisch gut noch erfolgreich. Dennoch wurde überwiegend positiv über die Leistung der Spielerinnen berichtet und gefordert, der DFB solle sein Verbot aufheben und Frauenfußballteams als Mitglieder aufnehmen. Doch der dachte nicht daran und drohte der Stadt Berlin, dass kein wichtiges Männerfußballspiel mehr dort stattfinden würde, sollte man Frauenfußball weiterhin dulden. Dabei war es für den DFB nicht relevant, ob die Spiele auf Plätzen von Mitgliedern stattfanden oder nicht, er wollte Druck ausüben. Bereits ein Jahr zuvor hatte er die Stadt Frankfurt am Main auf die gleiche Weise versucht, einzuschüchtern. Doch Frankfurt wie Berlin boten dem DFB die Stirn und ließen weiterhin Frauen Fußball spielen. Tatsächliche Konsequenzen gab es wohl keine.

1963
Die Gründung der Bundesliga der Herren als Profiliga

Nach dem WM-Sieg 1954 gab es in Deutschland nur für kurze Zeit einen Fußballboom, bevor der Sport wieder stark an Bedeutung verlor. Denn die guten Fußballspieler blieben nicht, sondern wechselten in ausländische Profiligen, wo sie mit Fußball ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Nicht zuletzt deshalb wurde auf dem DFB-Bundestag 1962 beschlossen, auch in Deutschland mit der Bundesliga eine Liga für professionellen Fußball zu etablieren und Lizenzspieler einzuführen, die ein wesentlich höheres Gehalt als Amateurspieler und Vertragsspieler erhalten durften.

In der ersten Bundesligasaison 1963/64 gab es allerdings nur 34 Lizenzspieler, da der DFB mehr aus Not denn Überzeugung handelte und mit Restriktionen den Professionalismus und die Kommerzialisierung einzudämmen versuchte. So brauchten die Spieler einen guten Leumund, um ihren guten Lebenswandel zu bezeugen, durften nicht für ein Produkt werben und ihre monatlichen Gesamtbezüge durften 1.200 DM nicht überschreiten (das entspricht heute vergleichsweise einer Summe von rund 2600 Euro). Damit konnte man auch weiterhin nur mäßig vom Fußball leben. Für den DFB hingegen rechnete sich die Einführung der Bundesliga durchaus dank Gebühren für die TV-Übertragungen, Werbeeinnahmen und Sponsorengeldern.

1966
Das Wunder von Glasgow

Die Bundesliga wurde 1962 wie beschrieben auch ins Leben gerufen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Fußballs zu verbessern. Dass dies bereits innerhalb weniger Jahre Früchte tragen würde, konnte niemand ahnen. Das Jahr 1966 steht stellvertretend für den Erfolg, nach dem der DFB sich so sehr sehnte.

Auf dem Papier war die Paarung Liverpool – Dortmund im Endspiel um den Europa-Cup der Pokalsieger eine klare Sache: die Briten waren der Favorit; nach 90 umkämpften Minuten stand es 1:1. Verlängerung. Hier kam der Moment des Reinhard „Stan“ Libuda: Mitspieler Siggi Held ist frei vor dem Tor, Liverpools Torhüter geht dazwischen und räumt Held ab. Der Ball springt zu Libuda, der Held gefolgt ist. Er nimmt die Kugel direkt. Diese wird lang und länger und landet schließlich am Pfosten, von wo er an den Körper eines Verteidigers fliegt und von dort wiederum abprallt und im Tor landet. 2:1 für Dortmund.

Libuda über diesen Moment:

„Siggi lief durch und ich mit. Ich sah, wie der Ball abprallte. Ich sah ihn kommen. Ich sah mit dem linken Auge das leere Tor, da habe ich abgezogen. Ich dachte mir, jetzt oder nie. Und wie der Ball in der Luft war, spürte ich: der geht rein.“

Dass die Mannen von Trainer Multhaup Geschichte geschrieben haben, wird den Spielern erst in der Heimat klar, als sie von Zehntausenden begeistert empfangen werden.

1966
Das Wembley-Tor

Die Weltmeisterschaft von 1966 wurde nach England vergeben, um das 100-jährige Jubiläum der FA gebührend zu begehen. Selbstverständlich sollte diese Party mit einem Sieg Englands, dem Mutterland des modernen Fußballs, enden. Bevor die Party losgehen konnte, musste allerdings Deutschland bezwungen werden. Dazu bedurfte es der Hilfe eines Schweizer Schiedsrichters und Linienrichters aus Baku.

Das Finale einer WM ist der Höhepunkt eines Turniers und 1966 wurde diesen Ansprüchen gerecht. Es sollte eines der Spiele werden, über die auch Jahrzehnte später noch gesprochen werden würde. Zunächst sah es so aus, als wollte Deutschland die Party vermasseln, denn in der 12. Minute erzielte Haller das 1:0. Nur sechs Minuten später glich Geoff Hurst aus. England dominierte die zweite Hälfte, konnte aber erst in der 78. Minute das 2:1 durch Martin Peters bejubeln. Alles vorbei für Deutschland? Nein, in der 90. glich Wolfgang Weber erneut aus, erzwang so die Verlängerung und ebnete ungewollt den Weg für eine Debatte, die sich bis in die 1990er-Jahre zog.

In der 109. Minute traf Geoff Hurst nach einem Drehschuss die Latte, der Ball flog auf den Boden. Hatte er die Linie überquert? Roger Hunt, der dem „Tatort“ am nächsten stehende Engländer, riss sofort die Arme zum Jubel hoch. Weber köpfte den Ball über das Tor zur Ecke. Der Schiedsrichter, Gottfried Dienst, musste sich mit seinem Assistenten Tofik Bairamov kurz beraten und entschied auf Tor. Niemand weiß, was beide Männer einander in diesen Sekunden mitteilten. Am Ende stand das Tor und England führte 3:2. Der TV-Kommentator Rudi Michels urteilte sachlich nüchtern: „Das wird wieder Diskussionen geben.“ Wie Recht er damit hatte!

Hurst setzte noch einen drauf und erzielte in der 120. Minute, als bereits euphorische Fans auf das Spielfeld liefen, das 4:2. Es folgte pure Freude für England:

„Some people are on the pitch … they think it is all over. It is now! It’s four!“

Kenneth Wolstenholme, BBC TV Kommentator

1968
Gründung der ersten Frauenfußballmannschaft in der DDR

In der DDR spielten Frauen seit dem Ende der 1950er Jahre Fußball, jedoch nicht in Vereinen. Wie in der Bundesrepublik Deutschland waren auch hier die Funktionäre skeptisch oder ablehnend, wenn es um die Frage ging, ob Frauen Fußball spielen konnten und sollten.

1968 wurde im Verein BSG Empor Dresden-Mitte eine Frauenmannschaft gegründet, die nach anfänglichem Argwohn die Spielberechtigung erhielt. Es folgten weitere Gründungen von Frauenmannschaften noch im gleichen Jahr. So viele, dass der Fußballverband der DDR ebenfalls 1968 Wettbewerbe für Frauenfußballmannschaften lancierte – zunächst aber nur regionale Wettbewerbe auf Bezirksebene. Ein Verbot wie in der BRD gab es in der DDR also nicht.

 

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Anmerkung: Die Texte „Die Nationalmannschaft der Herren wird erstmals Weltmeister“, „Das Wunder von Glasgow“ und „Das Wembley-Tor“ stammen aus der Feder von 120-minuten-Redaktionsmitglied Christoph Wagner, der Text „Ein Länderspiel macht Bonn nervös“ wurde verfasst von Matthias Kneifl (Kickschuh.Blog).

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eSport – eine Möglichkeit, den Nachwuchsmangel im Amateurfußball zu bekämpfen? https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/ https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/#respond Fri, 18 Oct 2019 07:00:26 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6593 Weiterlesen]]> eSport sorgt in Deutschland aktuell für Diskussionsstoff: Soll das Zocken von Spielen wie FIFA 2019, League of Legends oder Counter Strike an der Konsole als Sport anerkannt werden? Während Wissenschaft, Politik und Verbände um eine Antwort auf diese Frage ringen, fangen an der Basis viele Fußballvereine an, eigene Erfahrungen mit dem Trend eSport zu machen. Sie hoffen, sich durch Gaming-Angebote für junge Menschen wieder attraktiver zu machen – denn in den letzten Jahren ging es mit dem Fußballnachwuchs stetig zurück.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Von Tim Frohwein

Der Amateurfußball hat Nachwuchssorgen. Nahmen laut DFB-Statistik im Jahr 2015 von der G- bis hoch zur A-Jugend noch 91.961 Juniorenmannschaften am verbandsmäßig organisierten Spielbetrieb teil, waren es 2019 nur noch 84.076. Das entspricht einem Rückgang von knapp neun Prozent binnen vier Jahren. Im Mädchenfußball ist die Situation noch dramatischer: Zwischen 2015 und 2019 sank die Zahl der gemeldeten Mannschaften mit Spielerinnen bis zu einer Altersgrenze von 16 Jahren von 6.702 um rund 28 Prozent auf 4.842.

Die populäre These, dass die Nachwuchsprobleme mit dem demografischen Wandel zu erklären sind – also damit, dass aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge schlichtweg immer weniger Jugendliche nachkommen – ist allerdings nicht haltbar: Wie Andreas Groll von der TU Dortmund in einer Analyse am Beispiel des Bundeslandes Bayern zeigen konnte, nahm dort die Zahl der männlichen Jugendfußballer zwischen 2014 und 2018 in allen Altersklassen kontinuierlich ab – bei zumeist im Vergleich deutlich weniger stark sinkenden, manchmal sogar steigenden Bevölkerungszahlen in den jeweiligen Alterskategorien.¹ Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Im bayerischen Fußballkreis Erlangen/Pegnitzgrund waren in der Saison 2014/15 im F-Jugendbereich noch 1.724 Spieler aktiv, vier Jahre später waren es nur noch 1.254. Das entspricht einem Rückgang von rund 27 Prozent. Parallel zu dieser Entwicklung veränderte sich im Fußballkreis die Anzahl der Jungen, die für die F-Jugend spielberechtigt wären: sie stieg um rund drei Prozent.

Der demografische Wandel kann also nicht immer als Ursache für den Nachwuchsmangel in Betracht gezogen werden. Bei der Suche nach alternativen Erklärungen sind Vereine und Verbände bislang noch nicht weit gekommen. Sind es veränderte Wertevorstellungen der jüngeren Generation, auf die eine feste Bindung an einen Verein einfach zu freiheitsbeschränkend wirkt? Laufen dem Fußball andere Sportarten angesichts einer nie dagewesenen Vielfalt an Sportangeboten den Rang ab? Oder treiben die Teenager von heute einfach weniger realen und stattdessen mehr virtuellen Sport – sprich: spielen sie Fußball lieber an der Playstation als auf dem Rasen?

Der Bayerische Fußball-Verband (BFV) ist überzeugt, dass mit Hilfe von Gaming eine Trendwende geschafft werden kann – und fordert deshalb als einer der ersten Fußball-Regionalverbände in Deutschland seine Mitgliedsvereine dazu auf, entsprechende Angebote bereitzustellen: „Gaming ist fester Bestandteil der heutigen Jugendkultur – ein breit aufgestelltes Vereinsprogramm, das neben dem traditionellen Fußballtraining auch eFootball beinhaltet, ist dabei besonders attraktiv“, schreibt der Verband in einer kürzlich veröffentlichten Broschüre.

eFootball, also das Spielen der FIFA- oder der Pro Evolution Soccer-Reihe an der Playstation oder XBOX, sei jener Bereich des Gamings, für den sich Amateurfußballvereine öffnen sollten, findet der BFV. Von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends ist in der Broschüre nicht die Rede. Anscheinend orientiert sich der Verband hier an der Haltung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Dieser gab nach einer Mitgliederversammlung Ende 2018 bekannt, dass er als sportliche Dachorganisation darauf hinwirken werde, „dass keine eGaming-Aktivitäten in Vereinen angeboten werden, die dem anerkannten Wertekanon des DOSB-Sportsystems nicht entsprechen“ – was sich zum Beispiel auf Spiele wie Counterstrike oder League of Legends bezieht.

„Gaming“, „eGaming“ und „eSport“

„Gaming“ oder „eGaming“ und „eSport“ werden in der öffentlichen Diskussion oft synonym verwendet. Unter allen drei Begriffen werden dabei häufig sowohl das Spielen von Sportsimulationen (z.B. FIFA 2019, NBA 2K19) als auch von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends zusammengefasst. Der DOSB, der sich prinzipiell gegen eine Anerkennung des „eSport“ als Sport ausspricht, sieht in Sportsimulationen – also z.B. auch im „eFootball“ – für „Vereine und Verbände Potenzial für eine Weiterentwicklung“. Ego-Shooter wie Counterstrike oder Strategiespiele wie League of Legends dagegen gehören für Deutschlands Sportdachorganisation zum Bereich des „eGaming“. Diese Spiele passten aufgrund ihrer oft gewaltsamen Inhalte nicht zu dem, „was den gemeinwohlorientierten organisierten Sport prägt“. Dieser Haltung folgen bis jetzt auch der DFB und seine Landesverbände und empfehlen Vereinen aktuell nur, Sportsimulationen, am besten Fußballsimulationen, anzubieten.

In den Fußball-Oberhäusern ist eFootball ohnehin längst angekommen: 22 Vereine aus der 1. und 2. Bundesliga schicken mittlerweile Mannschaften bei der „Virtual Bundesliga“ (VBL) an den Start. Dort duellieren sich ihre Teams, die sich aus mehreren Einzelspielern zusammensetzen, zunächst in einem geschlossenen Ligensystem. Die besten Spieler aus den jeweiligen Kadern sowie einige Nachrücker aus einer Playoff-Runde qualifizieren sich schließlich für die Endrunde, in der der Deutsche Meister ermittelt wird. 2019 setzte sich Michael „Megabit“ Bittner vom SV Werder Bremen im Endspiel gegen seinen Teamkollegen Mohammed „MoAuba“ Harkous durch.

Auch Schalke 04 ist Teil der VBL. Die Gelsenkirchener unterhalten allerdings zudem ein eigenes League of Legends-Team. Hinter dem Phänomen eSport steckt ein riesiges Geschäft, das wissen die Profivereine. Da eFootball nur einen Teil dieses Geschäfts abdeckt, bleibt abzuwarten, ob sie weiterhin der Linie des DOSB folgen – oder sich wie der FC Schalke 04 auch anderen eSport-Bereichen öffnen.

An der Basis machen Amateurfußballvereine in der Zwischenzeit ihre eigenen Erfahrungen mit dem Phänomen eSport. In Bayern sind bereits zahlreiche Vereine dem Appell des BFV gefolgt: Sie nehmen an einem vom Verband organisierten eFootball-Wettbewerb teil. Im angrenzenden Baden-Württemberg ist man da noch nicht so weit. Aber auch hier probieren Vereine sich aus. Bei der SG Lobbach im Odenwald hat die B-Jugend beispielsweise vor einigen Monaten in der eigenen Sporthalle ein eFootball-Turnier auf die Beine gestellt: Auf acht in der Halle verteilten Großbildschirmen trugen 32 Zweier-Teams zeitgleich FIFA 2019-Duelle gegeneinander aus. Den Turniergewinnern winkten als Prämien Einkaufsgutscheine für Elektronik im Wert von bis zu 100 Euro.

Trainer Patrick Münkel hat die Initiative seiner Spieler unterstützt, schließlich kam über Startgelder und den Einnahmen aus dem Verkauf von Speisen und Getränken auch was für die Mannschaftskasse dabei heraus. Trotz dieses Erfolgs, eine eigene eSport-Abteilung wolle man bei der SG Lobbach auf keinen Fall aufmachen, sagt Münkel. „Damit würden wir uns doch ein Eigentor schießen: Statt die Jungs raus auf den grünen Rasen zu schicken, würden wir sie dazu animieren, sich in geschlossenen Räumen vor Bildschirme zu setzen.“ Ein Problem, dass der BFV so nicht sieht, er argumentiert, mit eSport würden bereits vorhandene Mitglieder an den Verein gebunden und neue für alle Sparten gewonnen.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Ähnlich sieht das Sebastian Pleier vom württembergischen VfL Herrenberg, wo man ein mittlerweile „ländleweit“ bekanntes eSport-Projekt aufgesetzt hat: „Wir wollen die Jugendlichen durch Gaming nicht vom Sporttreiben abhalten – ganz im Gegenteil: Für unsere eSportler haben wir einen eigenen Trainingsplan entwickelt. Auch eSportler müssen körperlich wie geistig fit sein, um gut spielen zu können.“ Ähnlich wie bei der Formel 1, wo die Protagonisten ihren Sport auch im Sitzen ausüben, dabei aber topfit sind.

Tatsächlich gibt es Studien, die die körperliche Belastung von Profi-eSportlern untersucht und interessante Ergebnisse zu Tage gefördert haben: Die Pulsfrequenz während der wettkampfmäßigen Auseinandersetzung an der Konsole entspricht mit 160 bis 180 Schlägen pro Minute etwa der eines sehr schnellen Laufs. Außerdem verfügen eSportler über eine sehr gute Hand-Auge-Koordination und ein extrem gutes Reaktionsvermögen.

„eSport an sich hat mit Sport nichts zu tun“, sagt trotz dieser Befunde der Sportsoziologe Andreas Hoffmann von der Universität Stuttgart, wo man sich seit einiger Zeit kritisch mit dem Phänomen eSport auseinandersetzt. In einem Vortrag auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball“ hat er Mitte des Jahres seine Perspektive klargemacht. „Beim eSport gibt es zwar mit der Bedienung des Controllers eine körperbezogene Handlung. Aber diese motorische Aktivität reicht nicht aus, um eSport als Sport zu definieren. Denn Sinn bekommt diese Handlung erst durch das virtuelle Geschehen auf dem Bildschirm. Wenn man hier also von einer Sportart spricht, müsste man sie Mausklicken nennen“, erklärte Hoffmann. Mit dieser Sichtweise ist er auf einer Linie mit 80 renommierten deutschen Sportwissenschaftler*innen, die Ende September eine Stellungnahme zum eSport veröffentlicht haben. Darin machen sie sich dafür stark, „dass wettkampfmäßige Video- und Computerspiele nicht als Sport(art) zu bezeichnen und anzuerkennen sind.“

Von einer Integration des eSports in das eigene Angebot rät Hoffmann Vereinen folglich ab – auch weil man sich damit Konkurrenz ins Haus hole: „Es besteht durchaus die Gefahr, dass Kinder, die schon im Verein Fußball spielen, zum eSport wechseln, wenn sie merken, dass sie dort schneller Erfolge erzielen können.“ Genauso ist es übrigens bei der SG Lobbach gekommen: Dort hat ein Spieler mit dem Fußballspielen aufgehört und sich stattdessen der professionellen eSport-Abteilung des SV Sandhausen angeschlossen.

Sebastian Pleier glaubt trotzdem an den Erfolg des Projekts „eSport“, das er beim VfL Herrenberg verantwortet: „Ein Nebeneinander von realem und virtuellem Sport ist möglich – und bisher klappt das bei uns auch sehr gut.“ Man werde das Projekt deswegen weiter vorantreiben, Turniere und Boot Camps organisieren. „Wir wollen da Vorreiter sein und anderen Vereinen zeigen, dass man sich durch ein eSport-Angebot als Verein für junge Leute attraktiv machen kann.“ Immerhin: Drei der aktuell vier eSportler des VfL waren zuvor bei einem anderen Verein gemeldet oder vereinslos.

Während Wissenschaft, Politik und Verbände noch darüber streiten, wie mit dem Thema eSport umgegangen werden soll, werden an der Basis also bereits Fakten geschaffen: Fußballvereine im ganzen Land experimentieren mit dem Phänomen – teilweise auf Anregung durch Verbände, teilweise ganz unabhängig davon. Bei rund 29 Millionen Menschen, die laut Jahresreport der deutschen Games-Branche 2018 regelmäßig – also mindestens mehrmals im Monat – digitale Spiele spielen, ist klar, dass Vereine den eSport nicht ignorieren können. Er besitzt zweifellos das Potenzial, junge Mitglieder an den Verein zu binden oder neue zu gewinnen. Genauso zweifellos ist aber, dass eine massenhafte Integration von eSport ins Vereinsleben unser Verständnis von Sporttreiben verändern wird – mit ungewisser Zukunft.


1 – Erste Ergebnisse der Analyse wurden am 10. Mai 2019 auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball – (Sozio-)Demografischer Wandel im Amateurfußball“ in Fürth vorgestellt. Die finale Analyse, die auch alternative Erklärungsansätze für den Nachwuchsrückgang im Amateurfußball ausführlich diskutiert, wird demnächst in einem Sammelband erscheinen. Für nähere Infos gerne eine Mail an tim@frohwein.de.

Autoreninfo: Tim Frohwein setzt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich und journalistisch mit dem Amateurfußball auseinander. Seit 2018 organisiert er die Veranstaltungsreihe „Mikrokosmos Amateurfußball“, die die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs stärker in den Mittelpunkt rücken will.

Disclaimer: Eine Kurzfassung dieses Artikels ist bei unserem Partner „Zeitspiel – Magazin für Fußballzeitgeschichte“ erschienen.

Wir bedanken uns beim VfL Herrenberg für die Bereitstellung des Bildmaterials.

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Auf den Spuren der englischen Fußball-Memorialkultur – Impressionen aus London https://120minuten.github.io/auf-den-spuren-der-englischen-fussball-memorialkultur-impressionen-aus-london/ https://120minuten.github.io/auf-den-spuren-der-englischen-fussball-memorialkultur-impressionen-aus-london/#respond Wed, 02 Oct 2019 07:00:20 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6550 Weiterlesen]]> London 2019. Ich war unterwegs in die englische Hauptstadt, um erste Einblicke in die dortige Memorialkultur im Fußball zu sammeln. Meine Recherche im Vorfeld hatte ergeben, dass man bei Queens Park Rangers Asche von verstorbenen Fans im Stadion begraben kann. Eine besondere Möglichkeit für Anhänger*innen, auch über den Tod hinaus ihrem Herzensverein ganz nahe zu sein. Wie genau eine Begräbniszeremonie im Stadion von QPR aussieht, wollte mir der langjährige Clubpfarrer erzählen. Gespannt machte ich mich auf den Weg nach London, wo mir nicht nur an der Loftus Road interessante Elemente der englischen Erinnerungskultur begegneten.

Das Kiyan Prince Foundation Stadium der Queens Park Rangers ( (c) Carmen Mayer)

von Carmen Mayer (trauerundfussball.de) | Oktober 2019

Es war ein kühler, sonniger Tag im April, als ich am Flughafen London-Heathrow landete. Ich war gerade noch dem Brexit entkommen, der eigentlich am Tag meiner Reise hätte beginnen sollen und dann doch noch mal mindestens bis Oktober verschoben worden war. Meine erste Station führte mich in ein Pub in Notting Hill zum Spiel Liverpool gegen Chelsea. Es war der Tag, bevor sich die Hillsborough-Katastrophe zum 30. Mal jährte. Vor der Partie gab es eine beeindruckende Choreographie in Anfield in Erinnerung an die 96 Menschen, die im Stadion ihr Leben verloren hatten. Es war sehr bewegend, als die Bilder der Choreographie auf der Großbildleinwand im Pub übertragen wurden.

Die Kneipe war voll und fest in der Hand der LFC-Fans. Ganz vorne saß neben einem glühenden Anhänger der Reds dessen Hund und starrte wie sein Herrchen gebannt auf die Leinwand. Neben mir saß ein junger Mann mit seiner Freundin und wir kamen ins Gespräch. „Oh, you are from Germany? Jürgen Klopp, he is so great!“, und dann folgte eine Welle der Begeisterung für den Coach der Reds, während das Spiel in der ersten Halbzeit vor sich hinplätscherte. Nach der Halbzeitpause führte Liverpool innerhalb von drei Minuten mit 2:0. Der Pub bebte. Der LFC war zurück im Titelrennen und es wurde nach Abpfiff noch lange gefeiert.

Am nächsten Morgen schaute ich verschiedene Zeitungen durch, um zu sehen, wie viel über den 30. Jahrestag der Hillsborough-Katastrophe berichtet wurde. Es war überschaubar und weniger, als ich erwartet hatte; dagegen war das Gedenken in den sozialen Netzwerken vielfältig. Im Stadion selbst erinnern bis heute auf der Westtribüne 96 weiße anstatt der üblichen blauen Sitze an das Unglück.

West Ham United, ehemaliger Boleyn Ground (Upton Park) und der Memorial Garden

Da ich bis zu meiner Verabredung mit dem Clubpfarrer der Queens Park Rangers noch einige freie Tage zur Verfügung hatte, wollte ich jene Orte aufsuchen, an denen früher die Stadien zweier Londoner Fußballclubs waren und jetzt Wohnkomplexe entstanden waren. Spannend waren sie für mich vor allem deshalb, weil noch Zeugnisse der englischen Fußballmemorialkultur zu sehen waren. Zuerst führte mich der Weg in den Osten von London. Dort stand bis 2016 das Stadion von West Ham United, Boleyn Ground oder auch Upton Park genannt. Auf dem Weg zum ehemaligen Ground lief ich die legendäre Green Street entlang. Links und rechts sind kleine Läden, indische Restaurants, Kosmetiksalons, Kleidergeschäfte, die die neuesten Saris zeigen, Schmuck aus Pakistan oder Köstlichkeiten aus Bangladesch. Schon aus der Ferne sah ich einen noch im Bau befindlichen, großen Wohnkomplex. Hier sollen über 800 exklusive Wohnungen mit dem Namen „Upton Gardens“ entstehen. Übriggeblieben von der alten Heimat der „Hammers“ ist der Memorial Garden, der noch mit den Originalstücken des ehemaligen Stadiongeländes umzäunt ist. Es handelt sich dabei um einen Ort des Gedenkens, keinen Friedhof im klassischen Sinne mit Gräber und Urnen. Vielmehr bietet er den Hinterbliebenen die Möglichkeit, Erinnerungsstücke an ihre Verstorbenen zu hinterlassen. Wer möchte, kann einen kleinen Teil der Asche der verstorbenen Fans verstreuen.

Memorial Garden West Ham © Carmen Mayer

Die rechtliche Situation in Deutschland
In Deutschland ist dies nicht möglich, da aufgrund der Bestattungsgesetze die Asche als Gesamtheit nur auf einem Friedhof, im Bestattungswald oder auf See bestattet werden kann. Bremen hat als bisher einziges Bundesland das Gesetz gelockert und erlaubt mit Auflagen, die Asche von Verstorbenen auf einem privaten Grundstück oder in dafür ausgewiesenen öffentlichen Flächen auszustreuen.

Auf einem Hinweisschild neben dem Memorial Garden ist zu lesen, dass die Baufirma mit West Ham United daran arbeitet, das Gedenkareal würdevoll in die landschaftsplanerische Gestaltung des Wohnkomplexes zu intergieren. Um ins Innere des verschlossenen Memorial Gardens zu gelangen, musste ich eine Nummer anrufen, die auf dem Hinweisschild zu finden war. Kurz darauf kam ein Bauarbeiter, der mir aufschloss. Das Innere des Gardens ist nicht besonders groß. Bei meinem Besuch bestand er aus einem kleinen Feld mit zwei Bäumen, die vereinseigene Schals und Wimpel trugen sowie ein Trikot, auf dem gedruckt stand: „DAD. Always in my heart. R.I.P. Love Sean.“ Außerdem befanden sich dort persönliche Gegenstände und Erinnerungsschilder, auf denen teils Fotos, Namen, Geburts- und Todesdaten der verstorbenen Fans zu sehen waren, manchmal auch persönliche Widmungen.

Boleyn Ground Memorial Garden © Carmen Mayer

Als ich den Garden verließ, kam ich mit dem Bauarbeiter ins Gespräch. Richard arbeitet seit zwei Jahren auf dieser Baustelle und ist zuständig dafür, den Memorial Garden für Besucher*innen zu öffnen. Er selbst ist kein West-Ham-United-Fan, sein Herz schlägt für Arsenal. „Früher gab es zwei Sitzbänke hier im Memorial Garden. Diese wurden aber leider geklaut. Um den Garten besser zu schützen, ging man so auch dazu über, ihn abzuschließen.“ Auf meine Nachfrage, ob der Garden regelmäßig besucht würde, nickte er und berichtete, dass nicht nur Menschen aus London, sondern auch von außerhalb kämen, neulich sogar jemand aus Südafrika. Manche erzählten ein bisschen, andere weinten sehr. „Es wird hier auch an viele jüngere Menschen erinnert“, sagte er und machte eine Pause, bevor er lobend die West-Ham-United-Fans erwähnte, die zweimal im Monat in voller Fanmontur erscheinen und im Garden nach dem Rechten schauen. Wir redeten noch lange über Fußball, Trauer und Tod sowie den Umgang damit, bevor wir uns verabschiedeten. Richard winkte mir noch einmal zu und dann war er um die Ecke im Baucontainer verschwunden.

Arsenal, Emirates-Stadion und altes Highbury-Gelände mit Memorial Garden

Meine zweite Station war die Stätte des alten Stadions von Arsenal, das Highbury, wo heute ebenfalls ein Wohnkomplex steht. Nach anfänglichem Zögern entschloss ich mich, auch das neue Stadion von Arsenal, das „Emirates Stadium“, zu besuchen, das nicht weit weg vom ehemaligen Gelände des Highbury zu finden ist. Ich hatte bisher nur wenige moderne Fußballtempel besichtigt, die waren aber alle nichts gegen die aktuelle Spielstätte der Gunners. Nirgends wurde mir bisher so deutlich vor Augen geführt, wie Geld den Fußball regiert. „Kalt“, „glatt“, „edel“, „exklusiv“, „hochwertig“ sind Begriffe, die mir einfielen, als ich mit meinem Audioguide auf der Stadiontour unterwegs war. Eine persönliche Führung wurde nicht angeboten. Der Audioguide tönte mir zu Beginn ins Ohr: „Wenn Sie Fragen haben, stellen sie diese jederzeit unseren Mitarbeiter*innen. Es gibt keine Frage, die Ihnen nicht beantwortet werden kann“. Ob das wohl stimmte, wollte ich herausfinden. In der VIP-Lounge glitt mein Blick übers Stadion und ich fragte einen älteren Mitarbeiter: „Gibt es bei Arsenal die Möglichkeit, seine Asche auf oder am Spielfeld verstreuen oder begraben zu lassen?“ Er blickte mich nachdenklich an: „Das ist eine wirklich gute Frage, die hat mir in den 20 Jahren, die ich für Arsenal als Guide arbeite, noch nie jemand gestellt.“ Eine Antwort wusste er adhoc nicht, versprach aber, er würde versuchen, das herauszubekommen. Er war sehr bemüht, telefonierte mit verschiedenen Menschen, kam jedoch nicht weiter. Ich saß inzwischen in einem der Sessel vor der VIP-Lounge und blickte in das Stadion mit seinen über 60.000 Plätzen.

The Emirates Stadium © Carmen Mayer

Es war ein schöner Tag, die Sonne fiel in die Arena und doch fühlte ich mich fremd in dieser Welt des Hochglanz-Glitzerfußballs. Meine Gedanken reisten zu den alten Grounds, in denen alles etwas schrammeliger ist, die Gebrauchsspuren aufweisen, bei denen das Flutlicht in den Himmel ragt, der Rasen nicht aussieht, als wenn er gerade frisch aus dem Katalog verlegt worden wäre und wo es nach einer Mischung aus Schweiß, Bratwurst und Bier riecht. Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schulter. Eine Kollegin des Guides sagte mir, dass sie sich um meine Frage kümmern würde. Nach längerer Zeit und einigen weiteren Telefonaten kam sie zurück und meinte, dass es nicht erlaubt wäre, die Asche auf dem Pitch zu verstreuen. Das einzige, was sie anböten, wäre eine „Celebration Corner“ vor dem Stadion, eine Wand, für die man eine Zinkplatte kaufen und sich oder seine Verstorbenen darauf verewigen lassen könnte. Ich bedankte mich für die Mühe und verließ kurz darauf die Lounge, um meine Stadiontour fortzusetzen, die schließlich im Fanshop endete. Den verließ ich zügigen Schrittes und machte ich mich auf den Weg zum ehemaligen Highbury-Stadion.

Es war ruhig im Wohngebiet um Arsenal, ich begegnete kaum Menschen oder Autos, die typischen englischen Häuser reihen sich dort aneinander. Auf einem kleinen Weg gelangte ich ins Innere des ehemaligen Highbury. Dort steht jetzt eine große, noble Wohnanlage namens „Highbury Square“ mit rund 700 Wohnungen. Die Fassaden der ehemaligen Ost- und Westtribüne wurden in den Komplex integriert und beherbergen Apartments, von denen man auf das ehemalige Spielfeld blickt, das jetzt ein schön angelegter Garten ist. Dort befindet sich auch der Memorial Garden, in dem Asche von Arsenal-Fans liegt. Im Gegensatz zu heute war dies im Highbury Stadion möglich. Der Garten ist nicht öffentlich begehbar, sondern nur mit einem Code für die Hausbewohner*innen zugänglich, deshalb konnte ich leider nur durch den hohen Gartengitterzaun ins Innere blicken. Der Memorial Garden ist nur mit Gras und kleinen Büschen bepflanzt. Persönliches findet man dort nicht. Es gibt lediglich eine Bank mit dem Hinweis: “The Bench is dedicated to the memory of many loyal Arsenal Supporters. Arsenal Stadium 1913-2006”.

Arsenal Gardens © Carmen Mayer

Queens Park Rangers, Loftus Road – Asche der verstorbenen Fans, die Teil des Groundes werden

Endlich stand mein Termin im Stadion der Queens Park Rangers mit dem langjährigen Clubpfarrer an. Unterwegs wurde ich an Laternenmästen mit Aufklebern von Union Berlin begrüßt – der Verein hatte hier letzten Sommer ein Freundschaftsspiel. Ich lief die Africa Road entlang, die aufs Stadion zuführt und konnte schon das Hauptgebäude sehen. Es ist etwas in die Jahre gekommen, die Fassade ist grau, im oberen Stockwerk stehen hinter einem Fenster verschiedene Pokale und ein Flutlichtmast ragt in den Himmel. Nach dem Besuch des Glitzerstadions von Arsenal Balsam für mein Fußballherz.

Das blaue Wappen von QPR und ein Schriftzug mit „Loftus Road Stadium“ zieren den Haupteingang. Viele Jahre hieß die Heimspielstätte der Hoops nur „Loftus Road“, im Juni 2019 wurde das Stadion in „The Kiyan Prince Foundation Stadium“ umbenannt. Er war ein sehr talentierter Jugendspieler von QPR, der im Jahr 2006 im Alter von 15 Jahren erstochen wurde. Reverend Cameron empfing mich an der Rezeption des Stadions. „Oh, hello Carmen, I see, the Germans are always on time!“

Mit Wasser ausgestattet, führte er mich in eine Loge. Wir nahmen auf einem blauen Plüschsofa mit Blick auf das Spielfeld Platz. Die Loge war heimelig und wies die eine oder andere Gebrauchsspur auf, aber genau das schaffte ein sehr familiäres Gefühl. Im Februar war Cameron nach über zwölf Jahren zusammen mit einem weiteren Kollegen bei einem Heimspiel verabschiedet worden. „Das waren bewegende Momente. Ich habe viele schöne Erinnerungen mitgenommen und bin sehr dankbar, dass ich Teil dieser Gemeinschaft, dieser Fußballfamilie sein durfte.“ Da sein Nachfolger gerade erst eingearbeitet wurde, hatte Cameron mir angeboten, für unser Gespräch noch mal zur „Loftus Road“ zu kommen, worüber ich sehr dankbar war. Cameron hatte mir zu Ehren noch einmal sein blaues Dienstsakko mit einem Wappen von QPR angezogen, darunter stand „Chaplain“. So lautete die offizielle Bezeichnung für seine Tätigkeit. Normalerweise trug er noch einen weißen Kollar, auch bekannt als weißer, ringförmiger Stehkragen. Auf den hätte er heute verzichtet, lachte er. Mit der Dienstkleidung war seine Funktion unverkennbar.

Zu den Aufgaben eines Club-Chaplains gehört es, die Spieler beim Training zu besuchen, hin und wieder gemeinsam mit ihnen zu essen und an Spieltagen im Stadion für die Fans präsent zu sein. Für vertrauliche Gespräche vor oder nach dem Spiel nutzte Cameron die Loge, in der wir saßen. Aber seine wesentliche Aufgabe war eine ganz besondere: Bei QPR gibt es die Möglichkeit, einen Teil der Asche von verstorbenen Fans hinter der Torlinie zu begraben. Mir ist kein weiterer Proficlub in London bekannt, der das anbietet. Etwa acht bis neun kleine Begräbniszeremonien führte Cameron pro Jahr durch. Die Fans kamen meist aus England, aber auch aus anderen Ländern. „Das ist keine offizielle Beerdigung“, stellte er klar. Nur ein kleiner Teil der Asche, etwa ein kleines Marmeladenglas, findet hier seine letzte Ruhe. Die Beerdigung des verstorbenen Menschen hat schon woanders stattgefunden und die informelle Zeremonie hier passiert einige Zeit später. Es ist vor allem für Hinterbliebene eine sehr wertvolle Erinnerung, dass ihre Liebsten auch über den Tod hinaus nah am Geschehen ihres Herzensvereins teilhaben können.

Tor © Carmen Mayer

Cameron bot mir an, die kleine Zeremonie, die er mit den Hinterbliebenen durchführte, mit mir im Stadion durchzugehen. Nach der Kontaktaufnahme erklärte Cameron den Hinterbliebenen den Ablauf der kostenfreien Zeremonie, so dass diese wussten, was auf sie zukommen würde. Auf Wunsch können bis zu 40 Personen teilnehmen. Der erste gemeinsame Weg führte dann in die Umkleidekabine. „Es war ganz unterschiedlich, wie lange die Familien sich hier aufhielten“, erzählte er. „Manche machten Fotos, andere wiederum verließen die Kabine nach einem kurzen Blick.“ Anschließend ging es durch den Spielertunnel auf den Rasen. Dort wurde fast eine ganze Runde um das Spielfeld gedreht bis zu dem Tor, das auf der Seite der Loftus Road steht. Diese Zeit nutzte der Pfarrer, um ins Gespräch zu kommen über die Verstorbenen. “Manche brachten Fotos mit, andere beklebten das kleine Glas mit der Asche mit persönlichen Motiven, andere waren eher still und wieder andere genossen die Aussicht und machten viele Fotos“, berichtete er. Die eigentliche Zeremonie aus kleinem Gebet und einer Schweigeminute fand anschließend an der Torlinie statt. Auf halber Höhe zwischen Eckfahne und Tor gibt es eine Grube, in die die Asche dann geschüttet wurde. So wird der Fan Teil des Grounds. Platten oder Namen der Toten sucht man allerdings vergeblich, es soll ja etwas Informelles bleiben. Bedauerlicherweise konnten wir am Tag meines Besuches die Grube auch nicht sehen, da sie schon für den nächsten Spieltag mit einer großen Fahne abgedeckt war. Cameron und ich standen noch einen Augenblick an der Linie, vor uns das große, leere Stadion, ein alter Ground mit knapp 18.500 Sitzplätzen. Die Flutlichtmasten grüßten den Himmel. „Ein schöner Platz, um seine letzte Ruhe zu finden“, dachte ich.

Als ich Loftus Road verließ, war es sehr warm geworden. Ich entschloss mich, zum FC Chelsea zu fahren, eine Runde um die Stamford Bridge zu drehen und auf dem dahinterliegenden Friedhof meine London-Reise ausklingen zu lassen.

FC Chelsea, Stamford Bridge und Brompton Cementary

An der Stamford Bridge waren schon einige Auswärtsfans vorm Stadion. Am Abend spielte Chelsea im Europapokal gegen Slavia Prag. Ich drehte eine Runde um die Spielstätte. Auf der Rückseite begrenzt die Friedhofsmauer das Gelände. Es war ruhig. Die Eingänge an der Nord- und Osttribüne waren noch verwaist, auch die der Auswärtsgäste. Hin und wieder traf ich auf ein paar beschäftigte Mitarbeiter*innen des Clubs, die mir zunickten. Plötzlich ging ein Tor auf und zwei Jungs fuhren mit ihren Rasenmaschinen und weiteren Geräten heraus. Es waren die Greenkeeper, die den Rasen für das Spiel am Abend chic gemacht hatten. Ich erhaschte einen längeren Blick ins Innere, wo seit 2006 die Asche des früheren Chelsea-Stürmers Peter Osgood unterm Elfmeterpunkt vor „The Shed“ liegt, und setzte nach einigen Minuten meine Runde fort. Die endete schließlich am Shed Wall, dem südlichen Ende der Stamford Bridge.

Ich verließ die Heimat der Blues und stand wenige Minuten später vorm Eingang des Brompton Cemetery. Der Friedhof besteht seit 1840 und ist einer der ältesten sogenannten Parkfriedhöfe in London. Er ist über 16 Hektar groß (im Vergleich dazu: ein Fußballfeld in Standardgröße ist etwa 0,7 Hektar groß) und eine Mischung aus Park, historischen Denkmälern, Wildtieren und den Gräbern der über 200.000 Menschen, die hier beerdigt sind. Darunter auch der Gründer des Chelsea Football Clubs, Gus Mears. Es war ein schöner Nachmittag und der Friedhof war rege besucht. Jogger*innen, Eltern mit Kinderwagen, Menschen in Businesskleidung, die ihr Lunch aßen, Gärtner*innen, die sich um die Wegbepflanzung kümmerten, eine ältere Dame, die ein Grab goss. Eichhörnchen liefen mir vor die Füße und weiter hinten fanden sich alte, historische Denkmäler. Ich lief in Richtung jener Friedhofsmauer, die das Chelsea-Gelände vom Friedhof trennt. Vor mir die Gräber, im Hintergrund das Stadion. Ich setzte mich auf eine Bank. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume des Friedhofs und über der Stamford Bridge zogen weiße Wolken vorüber. Trauer und Fußball treffen aufeinander, das gilt auch hier für diesen ganz besonderen Ort.

Brompton Cemetery © Carmen Mayer

Es war später Nachmittag als ich den Friedhof verließ und in einen roten Doppeldeckerbus stieg. Ganz vorne oben war ein Platz frei. Es war dichter Verkehr, der Bus schaukelte durch Fulham, links und rechts am Straßenrand waren viele Fans unterwegs zum heutigen Viertelfinalspiel der Europa-League. Meine Reise durch die englische Fußballmemorialkultur war zu Ende, ich blickte aus dem Fenster des Busses und aus meinen Kopfhörern ertönte „Football is coming home“.

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Autor*innen-Information: Carmen Mayer ist Trauerbegleiterin in Berlin in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Krankheit, Trauer, Tod und Verlust und forscht zum Thema Trauer und Fußball, worüber sie auch eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben hat. Daraus ist dann das Projekt Trauer und Fußball entstanden. Sie ist Dauerkartenbesitzerin bei Turbine Potsdam und ihr Herz schlägt auch noch grün-weiß für den SV Werder Bremen.

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