q Zeitspiel – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Fri, 30 Aug 2019 12:57:53 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Dürfen Vereine sterben? https://120minuten.github.io/duerfen-vereine-sterben/ https://120minuten.github.io/duerfen-vereine-sterben/#respond Fri, 30 Aug 2019 12:56:47 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6477 Weiterlesen]]> Widdewiddewitt, Tradition und Größe macht Anspruch, und Geld macht Erfolg!

von Hardy Grüne, dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 15 des Zeitspiel-Magazins, das Heft mit dem Schwerpunkt “Überleben im Turbokapitalismus” kann hier bezogen werden.

350.000 Euro via Crowdfunding in Wattenscheid. Deren 120.000 Euro in Wuppertal. Über eine Million bei einer Fananleihe zur Rückzahlung einer Fananleihe in Kaiserslautern. Angeschlagene Fußballklubs lassen sich reihenweise von ihren Fans die, sorry, Ärsche retten. Denn „Tradition darf nicht sterben“.

Dafür bin ich auch. Schon aus persönlichen Erfahrungen. Mein Verein, der 1. SC Göttingen 05, starb 2003, nachdem über lange Zeit alljährlich händeringend Geld akquiriert worden war, um von Halbserie zu Halbserie zu kommen. Auch von Fans, die trotz ehrenamtlicher Arbeit brav Eintritt zahlten, ihr Bier bevorzugt im Klubhaus tranken („dann bleibt das Geld im Verein“) und eine Menge Geld für ein Stück Stoff in den Vereinsfarben ausgaben.

Bei Geld hört die Liebe auf, heißt es. Im Fußball gilt das nicht. Da fängt die Liebe bei Geld erst richtig an. Wattenscheid, Wuppertal und Kaiserslautern stehen für ein Dilemma, das sattsam bekannt ist: Große Ambitionen und hohe Risikobereitschaft treffen auf eine Fangemeinde, die ein „Wir müssen wieder groß werden“-Mantra pflegt und sich mit dem Tunnelblick des Schwerverliebten die Welt schön malt wie dereinst Pippi Langstrumpf: „Tradition und Größe machen Anspruch, widdewiddewitt, und Geld macht Erfolg! Wir machen uns die Welt, widdewidde, wie sie uns gefällt…“

Von der Last der Tradition

Um keinen Zweifel zu lassen: Der Tod eines Fußballklubs mit 100 Jahren Tradition ist eine bittere Sache. Es stirbt ein Stück Stadtgeschichte. Auch in Göttingen trauerte man 2003 und erinnerte sich wehmütig an die goldenen Tage. Dann gingen alle zur Tagesordnung über. Göttingen ist – außerhalb von WM und EM – schon lange keine Fußballstadt mehr, sondern eine Basketballstadt. Da tragen die Gegner Namen wie ratiopharm Ulm oder s.Oliver Würzburg. Lediglich eine Handvoll Fußballfans kehrte die Trümmer des 1. SC 05 zusammen und setzte sie in Verbund mit dem Vorstadtverein RSV Geismar als RSV Göttingen 05 wieder zusammen. Baute mit eigenen Händen eine Stehtribüne, opferte zig Stunden ehrenamtlicher Arbeit und freute sich, als es wieder aufwärts ging. Die Reise führte von der achtklassigen Bezirksklasse zurück in die Oberliga, wo man wieder auf das alte Problem traf, das schon den 1. SC 05 gekillt hatte: zu hohe Kosten, zu geringe Einnahmen. Ohne externe Geldgeber war die Liga nicht zu wuppen. Der ersehnte Geldgeber kam und gab das Motto „one team, one dream“ aus. Ziel: Regionalliga. Tatsächlich aber ging es zurück in die Bezirksliga, hinterließ das Engagement des Geldgebers, der nach einem knappen halben Jahr die Brocken hinwarf, verbrannte Erde und eine gespaltene Tradition. Heute gibt es in Göttingen zweimal 05 – den RSV 05 in der Kreisliga und den 1. SC 05 in der Landesliga. Bei letzterem bauten Fans übrigens kürzlich mit eigenen Händen in ihrer Freizeit eine Bratwurstbude.

In der Liebe wirkt Geld oft toxisch auf die Beziehungschemie. Eine Crux, die auch im Fußball auftritt. Gerade bei den so genannten „Traditionsvereinen“. Ein Begriff, der einst als Qualitätssiegel galt und heute als Kampfschwert zwischen Traditionalisten und Modernisten dient. Ein Traditionsverein blickt auf eine schillernde Vergangenheit zurück, steht oft in einer schwierigen Gegenwart und sieht sich in der heiligen Verpflichtung, zu „alter Größe“ zurückzukehren. In der Regel steht eine mehr oder weniger große Fan- und Zuschauerszene dahinter, die sich wehmütig an „früher“ erinnert und fordert, man müsse dorthin zurückkommen – notfalls eben mit Gewalt. Sprich mit Geld. Als die Meldung vom drohenden Finanzcrash aus Wuppertal kam, schrieb ein Anhänger der Bergischen an den Red-Bull-Konzern und warb um Unterstützung. In Kaiserslautern hoffte man derweil auf den Einstieg des russischen Geldadeligen Michail Ponomarew – was wiederum in Krefeld-Uerdingen Ängste auslöste; denn dort weiß man, dass der KFC 05 nicht halb so sexy ist wie der FCK. Und Ponomarews Liebe zum KFC sollte besser nicht auf eine harte Probe gestellt werden.

Vernunft (und Moral?) scheinen ausgeschaltet, wenn es um den finanziell angeschlagenen eigenen Klub geht.

Dazu passt die Kritik an den Warnern, denen zugeblafft wird, man müsse „jetzt erstmal zusammenstehen und den Klub retten, analysieren können wir später“. Wobei „später“ häufig „nie“ heißt, weil nach der wie auch immer gelungenen Rettung sofort die Forderung auftaucht, dass nun, wo es doch „endlich wieder läuft“, aber auch wirklich „die Rückkehr zu alter Größe“ folgen müsse. Unterdessen ist der Keim für die nächste Krise schon gelegt – beispielsweise weil man externen Geldgebern die Kontrolle über seinen Verein übergab, die damit ihre eigene Interessen verfolgen.

„Alle wollen an die fetten Fleischtöpfe“

Wirtschaftlich angeschlagene Traditionsvereine wecken das Mitgefühl von Fans im ganzen Land. So wurde die SG Wattenscheid 09 als wichtiger Traditionsverein gefeiert, der unbedingt zu retten sei, alleine für seine treuen Fans. Nun will ich Wattenscheid 09 nicht das Label als Traditionsverein absprechen und schon gar nicht den Fans der Schwarz-Weißen zu nahe treten, möchte aber doch daran erinnern, dass der Aufstieg des Klubs in die Bundesliga 1990 vor allem einem Geldgeber zu verdanken war und dass die SG 09 seit Menschengedenken dafür steht, nicht sonderlich viel Publikum anzulocken. In seinen Erfolgsjahren war der Verein die graueste Maus, die man sich nur vorstellen konnte.

Bei Tradition verklärt sich der Blick, wird die Debatte unscharf. Und geht es nicht eigentlich auch vielmehr um eine „Erinnerung“ an Fußball? Als Klubs wie Wattenscheid 09 oder der Wuppertaler SV noch „oben“ mitspielten? Stehen sie nicht stellvertretend für jene „gute alte Zeit“, als das Kapital (angeblich) noch kein Interesse am Fußball hatte und von Fußball spielenden Unternehmen wie Red Bull nichts zu sehen war? Es gibt ein ganzes Bündel von Vereinen, die in diesem Kontext leuchtende Augen auslösen: Rot-Weiss Essen, Alemannia Aachen, Kickers Offenbach, Waldhof Mannheim, SpVgg Bayreuth, Schweinfurt 05, Chemnitzer FC, Rot-Weiß Erfurt, VfB Oldenburg oder VfB Lübeck, um nur eine Handvoll zu nennen. Für jene Klubs ist die Existenz im Schatten des Eventfußballs doppelt schwer. Denn ihre Vergangenheit ist auch Last und sorgt für Handlungsdruck nahe der Unvernunft. Die Zugkraft des traditionsreichen Namens hilft zwar bei der Sponsorensuche, lockt aber zugleich Finanzhasadeure an, die das Blaue vom Himmel versprechen. Und die treue Fanszene garantiert einerseits das Überleben und verleitet andererseits zu waghalsiger Finanzpolitik, weil die Ungeduld zu groß ist. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt?

Gejammert wird – gerne mit empörtem Verweis auf DFB, DFL oder überhaupt Kommerzfußball – über die Rahmenbedingungen. „Alle wollen an die fetten Fleischtöpfe“, sagte Christopher Fiori, Geschäftsführer von Kickers Offenbach, gegenüber „Sport1“. Während in der Regionalliga kümmerliche 90.000 Euro fließen, sind es in der 3. Liga gegenwärtig 1,1 Millionen und in der 2. Bundesliga gar zehn Millionen Euro. Fiori: „Das lässt den einen oder anderen in die Unvernunft abgleiten.“ Eine fatale Dynamik, denn die Klubpolitik wird einseitig an einer limitierten Zahl von Geldtöpfen ausgerichtet. Das war im Leistungsfußball natürlich schon immer so, doch derart unter Druck wie aktuell standen die Klubs selten. Zumal es kein Entrinnen gibt. Denn wer es durch das Nadelöhr Regionalliga tatsächlich in die 3. Liga schafft, kommt auch dort nicht zur Ruhe. Von 19 Drittligaklubs der Saison 2017/18 waren 15 mit durchschnittlich 662.000 Euro verschuldet. Ihre Hoffnung: der so genannten „Pleiteliga“ entgehen und in die 2. Bundesliga aufrücken, wo die wirklich üppigen TV-Gelder fließen. Dass die 3. Liga unter diesen Umständen zur Insolvenzmaschine wird (zuletzt VfR Aalen, FSV Frankfurt, Chemnitzer FC, Rot-Weiß Erfurt) darf nicht überraschen.

Zuspitzung der Ligapyramide

Nun ist unstrittig, dass die Rahmenbedingungen zwischen 3. Liga und den fünftklassigen Oberligen schwierig sind. Der ökonomische Druck aus dem Kommerzfußball kommt „unten“ an. Die vielen Tausend bestens ausgebildeten Fußballer, die im Profilager keinen Platz gefunden haben, sorgen für eine nie dagewesene spielerische Qualität, kosten aber auch ihren Preis. Die Infrastruktur ist teuer. Die Schnittstelle der Unvernunft liegt übrigens nicht in der 3. Liga, sondern in der Regionalliga, wo die unsägliche „Meister müssen aufsteigen“-Problematik erschwerend hinzukommt und dafür sorgt, dass sich Klubs erst mit hohem Risiko verschulden, um dann trotz Meisterschaft doch nicht aufzusteigen.

Dennoch ist die gebetsmühlenartige Wiederholung von Schlagwörtern wie „Überlebenskampf“, „Verantwortung des DFB“ oder „Wir brauchen mehr TV-Geld“ ermüdend. Denn schlussendlich ist es eine Systemfrage. Leistungsfußball ist ein kapitalistisches System, da macht man entweder mit und unterwirft sich den Regeln oder lässt es bleiben. Leider ist der Lerneffekt vor allem bei Traditionsvereinen (und auch deren Fans!) gering bis nicht existent. Tradition wird häufig als Berechtigungsschein für einen Platz im höherklassigen Fußball betrachtet. Doch höherklassiger Fußball hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Werfen wir mal einen kurzen Blick auf die Entwicklung der Ligapyramide. 1963 gab es in den beiden deutschen Staaten 100 Erst- und 200 Zweitligisten. 1981 schrumpften die Zahlen auf 32 Erst- und 56 Zweitligisten, seit 1994 sind es jeweils 18 Erst- bzw. Zweitligisten. Auf Drittligaebene sank die Zahl von 250 im Jahr 1981 auf aktuell 20, und selbst in der Viertklassigkeit sind heute nur noch 72 Teams vertreten. Es hat eine ungeheure Verdichtung des Leistungsfußballs in Deutschland gegeben.

Daraus ergibt sich die logische Konsequenz, dass eine Menge Vereine herausgefallen sind und auch nie zurückkehren werden. Die meisten wird man wohl nicht vermissen, oder weiß noch jemand, dass der SC Concordia Hamburg über Jahrzehnte zu den führenden Amateurvereinen in Norddeutschland zählte? Und selbst Traditionsklubs wie Schwarz-Weiß Essen fehlen wohl nur wenigen. Zur drastisch verschlankten Ligapyramide – noch einmal: von etwa 330 Erst- bis Drittligisten der späten 1980er-Jahre sind 2019 ganze 56 geblieben – gesellen sich neue Player wie RB Leipzig und Hoffenheim. Dazu kommen die üblichen Bewegungen innerhalb der Pyramide, drängten Klubs wie Mainz 05 oder FC Augsburg erfolgreich nach oben. Daraus ergibt sich ein Dominoeffekt, rutschten langjährige Bundesligisten wie VfL Bochum, 1. FC Kaiserslautern, MSV Duisburg und die Ostvereine (deren Schicksal freilich Spezialfälle sind) aus der Erstklassigkeit und kämpfen heute bisweilen in der 3. Liga ums Überleben.

Halten wir also fest: Das Geld ist knapp (war es immer), und die Ligapyramide ist schlanker geworden. Kosten für Spielergehälter, Infrastruktur und Umfeld explodierten im Zuge der Turbokapitalisierung des „großen“ Fußballs, dessen Effekte sich in sämtliche Nischen ausgedehnt hat. Ein traditionell am Sonntagnachmittag spielender Viertligist steht heute in Konkurrenz mit dem englischen Premier-League-Klassiker Liverpool gegen Manchester United, der für ein paar Cent im Klubhaus live verfolgt werden kann. Zugleich haben sich die großen Sponsoren vom kleinen Fußball abgewandt und konzentrieren sich auf die ganz großen Namen wie Cristiano Ronaldo oder Manchester City. Hinzu kommt der demografische Wandel. Mit den Ehrenamtlichen, die viele Vereine auch der alten dritten und vierten Ligen über Jahrzehnte zusammengehalten haben, verschwinden auch die typischen Kleinsponsoren aus dem Mittelstand, die mit ihren regelmäßigen Geldbeträgen zum Spielbetrieb beigetragen haben. Sie geben ihre Unternehmen auf oder versterben, und die Erbengeneration hat andere Interessen als den lokalen Fußballklub. Letzteres gilt auch für die Zuschauer, die sich längst nicht mehr mit einem Fingerschnipp aktivieren lassen, nur weil der Ball rollt und der Grill angeworfen wird. Alles in allem ein toxisches Gemisch, das bereits seit den 1980er-Jahren brodelt und immer größere Blasen bildet. Vor allem bei jenen Klubs, die innerhalb eines Systems, in dem quasi ausschließlich „viel Geld“ als Antrieb funktioniert, verzweifelt nach oben wollen.

Information
Dieser Text ist aus Ausgabe 15 des Zeitspiel-Magazins, welcher uns im Rahmen unserer Kooperation mit dem Magazin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.

Bildnachweis: 

“Wuppertal – Stadion am Zoo 2008” by Ies is licensed under CC BY-SA 3.0

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It’s A Different World: Frauen im Fußball https://120minuten.github.io/its-a-different-world-frauen-im-fussball/ https://120minuten.github.io/its-a-different-world-frauen-im-fussball/#comments Thu, 02 May 2019 08:00:18 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5915 Weiterlesen]]> Eigentlich sollte es längst selbstverständlich sein, dass Fußball nicht nur ein Männer-, sondern auch ein Frauensport ist. Sei es in Sachen Spieler*innen, Fans oder Funktionäre. Die Realität sieht oft leider anders aus. Wie also können Frauen im Fußball sichtbarer werden? Der Frage geht dieser Text aus dem „Zeitspiel“-Magazin nach.

„Das soll unser Fußball sein?“ „Nein! Setzt euch gegen Sexismus ein.“ Tolle Choreo in Freiburg. (Foto: Nordtribuene.org)

von Mara Pfeiffer, 120minuten.github.io | April 2019

Frauen im Fußball sind Spielerinnen, Fans, Journalistinnen, Trainerinnen, Verantwortliche und Funktionärinnen. Frauen im Fußball sind aktiv, begeistert, hetero, lesbisch, schwarz, weiß, divers. Frauen im Fußball interessieren sich für kickende Männer und Frauen. Frauen im Fußball sind Ultras und VIPs, stehen in den Kurven und auf dem Rasen. Frauen im Fußball fahren auswärts, trinken Bier und Apfelschorle. Frauen im Fußball lieben ihren Sport.

Wir haben dieselben Themen, wie Männer im Fußball. Doch viel zu oft werden wir auf einen Aspekt reduziert: Unser Frau-Sein. Darauf regen sich zwei Seelen, zumindest in meiner Brust. Auf der einen Seite habe ich keine Lust, mein Geschlecht zu thematisieren, weder, wenn ich als Fan in der Kurve stehe, noch, wenn ich als Journalistin über Fußball schreibe.

Da sich aus der Rolle als Frau in diesem von Männern dominierten Business aber nach wie vor auch ganz eigene Problemfelder ergeben – Stichworte Sexismus, sexualisierte Gewalt, Job-Diskriminierung – ist es notwendig, das Gespräch hierzu weiter zu führen. Mit dem Ziel, beim Fußball als Frau wie als Mann irgendwann nur über das zu reden, was auf dem Rasen passiert, statt darüber, welches Geschlecht Spieler*innen oder Protagonist*innen haben.

Netzwerk ist Trumpf

Eine, die das Thema „Frauen im Fußball“ seit Jahrzehnten umtreibt, ist Antje Hagel. Die 57-Jährige arbeitet im Offenbacher Fanprojekt und hat 1994 das Fanzine „Erwin“ mitgegründet. „Ich hatte immer den Wunsch, Frauen sichtbar zu machen“, erklärt Hagel. Das gelingt da am besten, wo diese Banden bilden und so gründeten Besucherinnen der Tagung „Abseitsfalle – Fußballfans, weiblich“ der Koordinationsstelle Fan-Projekte (KOS) 2004 direkt ein Netzwerk, um sich gegenseitig zu unterstützen, verzahnen und sichtbar zu machen: F_in – Netzwerk Frauen im Fußball. „Ich saß mit Nicole (Selmer stellv. Chefredakteurin ballesterer) auf dem Podium anlässlich der Ausstellung ‚Tatort Stadion‘ und dachte danach nur: Ich möchte die noch mal treffen, das war alles viel zu kurz“, erinnert Hagel sich lachend an die Anfänge. In der Mailingliste für den informellen Austausch lesen aktuell etwa 200 Frauen, einmal im Jahr treffen die F_ins sich zum persönlichen Austausch.

„Die Treffen sind auch deshalb toll, weil immer neue Frauen dazu kommen.“ Darunter viele Ultras, aber auch Journalistinnen oder Wissenschaftlerinnen. Um die Berührungsängste mit Veranstaltungsorten gering zu halten, gehen die Frauen gern an solche, die keine klassischen Fußballzentren sind – in diesem Sommer findet das Treffen in Jena statt. Männer sind dabei nicht willkommen. „Darüber haben wir viel gesprochen und es geht definitiv nicht um eine Ausgrenzung, sondern den Schutzraum für die Teilnehmerinnen.“

Allen Frauen gemein sind „Erfahrungen in von Männern dominierten Feldern. Wir sind alle besonders, in einem ganz positiven Sinne“, beschreibt Hagel die geteilte Rolle. Über diese persönlichen Erlebnisse wird gesprochen, andere Erfahrungen werden gemeinsam gemacht, sei es durch neue Erkenntnisse bei Vorträgen oder in Workshops, „bei denen einige Frauen zum Beispiel das erste Mal eine Sprühdose in die Hand nehmen.“ Auch eine Wattwanderung haben die F_ins schon hinter sich, was zunächst ungewöhnlich klingen mag, aber „sehr nah, besonders und persönlich war.“ Erlaubt ist ohnehin alles, gewünscht, was verbindet und die Frauen im Miteinander stärkt, bevor sie in ihre jeweiligen Strukturen zurückkehren.

Module gegen Sexismus

Zur Stärkung der Frauen auch in der Kurve gehört es, Probleme, die sie dort erleben, sichtbar zu machen. Mit der Fanorganisation Unsere Kurve und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte hat F_in im letzten Sommer eine Online-Umfrage „Zum Umgang mit Sexismus, sexualisierter Belästigung und Gewalt im Kontext Fußball“ unter dessen Akteuren initiiert, deren erste Ergebnisse jetzt vorliegen. Zu den Anforderungen, die sich daraus ergeben, gehören klare Ansprechpartner*innen und Vernetzung auf lokaler Ebene ebenso wie ein positives Engagement der Verbände und Möglichkeiten der Weiterbildung. Eine selbst formulierte Aufgabe der ehrenamtlich in F_in organisierten Frauen ist deshalb derzeit, Module gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im Stadion zu entwickeln, die dann beispielsweise bei Workshops in den Verein an deren Mitarbeiter*innen weitergegeben werden können.

Frauen sprechen Fußball

Banden zu bilden ist nicht nur da wichtig, wo es auf den ersten Blick offensichtlich scheint, also rund um den Fußball der Männer. Im Bereich Frauenfußball spielen Sichtbarmachung und Vernetzung ebenfalls eine wichtige Rolle, nicht nur, aber auch für Frauen aus Ländern, in denen Gleichberechtigung generell ein noch schwierigeres Thema ist als in Deutschland. „Fußball als Empowerment-Strategie“, unter diesem Motto steht Discover Football. Das Projekt will Fußball für Begegnungen zwischen Frauen nutzen, die sich sonst nie getroffen hätten. Alle zwei Jahre veranstalten die Macher*innen ein Festival.

„Wir laden um die 100 Frauen ein, die teilweise noch nie gereist sind, kein Englisch können“, erzählt Sonja Klümper. Seit 2010 ist die Diplompädagogin mit einem Bachelor in Sozial- und Politikwissenschaften bei Discover Football, seit 2011 Projektkoordinatorin. Eine besondere Herausforderung ist die Finanzierung über Projektmittel, die Planungssicherheit selten über ein halbes Jahr gewährleistet. „Es ist schon irgendwo prekär, das so zu machen, andererseits sind wir sehr stolz darauf, was wir auf diese Art bisher schon geschafft haben.“

Plattform zur Begegnung

Mit dem diesjährigen Fußballturnier, das wie immer von einem breiten Kulturprogramm flankiert wird, feiern Projekt und Festival zehnjähriges Bestehen, Ende des Jahres soll aus diesem Anlass auch eine Ausstellung über die Entwicklung im Frauenfußball eröffnen. „In unserer Arbeit erleben wir, es sind strukturelle Probleme, die Frauen mit Diskriminierung beim Fußball und in der Gesellschaft haben.“ Im Netzwerk vereint spüren die Spielerinnen, sie sind nicht alleine mit ihren Problemen. „Wir wollen nicht irgendwo hingehen und dort klassische Entwicklungsarbeit machen, das ist gar nicht unser Thema“ betont Klümper.

Anliegen der Projektmitarbeiter*innen ist es, eine Plattform zur Begegnung zu bilden und die Frauen bei ihren Besuchen in ihren Themen zu stärken. „Wer in bestimmen Ländern in den Fußball geht, ist schon stark und entscheidungswillig, die Einladung zum Festival verändert aber oft positiv, wie die Frauen anschließend zuhause wahrgenommen werden.“ Geht es um Sichtbarmachung, ist ein Anliegen von Discover Football, Stereotype in der Darstellung von Frauen aufzubrechen. „Wir wollen Geschichten über sie erzählen, die auf den ersten Blick so nicht zu erwarten sind und die ohne diesen Austausch untergehen würden.“

Neuer Podcast: FRÜF – Frauen reden über Fußball

„In FRÜF steckt, was der Name verspricht: Frauen reden über Fußball. Hinter FRÜF steckt ein stetig wachsendes Podcast-Kollektiv von Frauen, für die Fußball mehr ist als nur eine Sportart. Wir sind Fans, Journalistinnen, Spielerinnen – und manche von uns sogar alles davon. Wir sind diskussionsfreudig, aber solidarisch. Uns interessieren fußballerische Trends, der Diskurs über 50+1 oder die gesellschaftliche Relevanz von Antirassismus-Kampagnen des DFB genauso wie die Unterschiede im Umgang mit Frauen- und Männerfußball, die weibliche Fußballsozialisation oder der Umgang mit Sexismus im Stadion. Über solche Fragen sprechen wir in wechselnder Besetzung in unserer monatlichen Sendung.

FRÜF ist keine Sportschau in rosa und keine Analyse von Spielerfrauen-Instagram-Profilen – bei FRÜF geht es um Fußball. Punkt. Wir geben dabei weiblichen Perspektiven und Stimmen eine Plattform, die in anderen Sendungen einfach viel zu selten auftauchen – weil wir es können. Denn wir sind viele.“ Kristell Gnahm & Rebecca Görmann

Weibliche Fans als Inspiration

Die Geschichte(n) weiblicher Fankultur erzählt die Ausstellung Fan.Tastic Females – Football Her.Story, die erstmals im September 2018 in Hamburg gezeigt wurde und seit Oktober auf Tour ist. Unter der Federführung von Football Supporters Europe (FSE), die auch Träger der Ausstellung sind, haben rund 70 Ehrenamtliche aus Europa und der Türkei (Frei-)Zeit, Arbeit und Herzblut investiert, um weibliche Fankultur jenseits der gängigen Stereotype zu zeigen. Die Ausstellung vereint 80 Videos von Frauen aus 21 Ländern, für die Teams von Freiwilligen monatelang durch Europa reisten, um Interviews zu führen. Dabei haben die Macher*innen auf die Bedürfnisse der Fans behutsam Rücksicht genommen, wenn diese beispielsweise ihr Gesicht nicht zeigen oder auch anonym bleiben wollten, was in manchen Ländern schon aus Selbstschutz notwendig ist, oder aber dem Schutz der Fangruppe dienen kann.

„Ohne eine stabile Vertrauensbasis, die über Jahre erarbeitet wurde, wäre das Projekt nicht möglich gewesen“, erklärt Sue Rudolph aus dem Orga-Team. So gelingt es, die ganze Vielfalt weiblicher Fans zu zeigen: Kutten bis Ultras, Frauen in Führungspositionen oder nationalen Netzwerken. Damit kann das Anliegen der Macher*innen gelingen, „Vorbilder zu schaffen, die vielleicht sogar andere Frauen inspirieren, sich ihren Platz auf der Tribüne zu erobern.“

Höhepunkte hinterm Bus

Wie aber geht Frau selbst mit der ihr zugewiesenen Rolle in der Männerdomäne Fußball um beziehungsweise wie bricht sie diese idealerweise auf? Für mich ist dabei immer wichtig, zu betonen: Die meisten Erfahrungen, die ich als weiblicher Fan im Stadion und als Journalistin im Fußball gemacht habe, sind positiv. Ersteres ist auch deswegen bedeutsam, weil Fans in einigen Medien als unzivilisierte, pöbelnde Rowdys verunglimpft werden, die eine Schneise der Verwüstung hinter sich herziehen. Allerdings werden negative Erfahrungen zum einen nicht weniger prägend, wenn sie vereinzelt auftreten. Zum anderen spüre ich durchaus, im beruflichen Umfeld nehmen diese zu, je intensiver ich mich dem Fußball widme.

Mein erster Heimbereich war der Q-Block des FSV Mainz 05 und dort habe ich in zig Jahren im Gewimmel niemals auch nur eine negative Erfahrung gemacht. Dumme und übergriffige Sprüche gab es nur von Gästefans oder eben auswärts. Aus Gesprächen weiß ich, dass viele Frauen diese Erfahrung machen. Offenbar hält die gemeinsame Leidenschaft für ein Team Männer eher davon ab, die Frauen im eigenen Block zu belästigen, wobei ich das nicht mit Zahlen belegen kann, sondern nur qua Erfahrungsaustausch. So erklärte mir einmal ein FCK-Fan nach dem Sieg seiner Mannschaft in Mainz mit Alkoholfahne, er werde jetzt hinter dem Bus seiner Reisetruppe dafür sorgen, dass mein Tag nicht ohne Höhepunkt ende.

Brüste für Einsfuffzig

Anfang der 2010er Jahre gab es in Mainz noch das wunderbare Fanzine „TORToUR“, das an Spieltagen auch verkaufend unter die Menschen gebracht werden musste. In einer Ausgabe habe ich von meinen Erfahrungen als Verkäuferin berichtet, das liest sich unter anderem so:

„Erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass eine Gruppe junger Männer mich an ihren Tisch winkte. Die Drei bestellten ein Heft, ich händigte es ihnen aus, kramte nach Wechselgeld und wollte mich verabschieden, als einer von ihnen um eine weitere TORToUR bat. Gerne händigte ich ihm sein zweites Heft aus, da erreichte bereits die Bitte um eine weitere Ausgabe mein Ohr. Bei aller Begeisterung musste ich doch stutzen: ‚Ihr interessiert euch wohl sehr für die Heimfans?‘ Worauf der eifrige Käufer erklärte: „Nee, gar nicht. Aber das Heft kostet ja nur Einsfuffzig, und wenn du dich vorbeugst, um es uns zu geben, kann ich dir in den Ausschnitt gucken.‘“

Inzwischen habe ich die derbsten Sprüche eindeutig als Journalistin zu hören bekommen. Los geht das mit Situationen, die ich in der Summe fast als Kleinigkeiten abtue, wie den Kollegen, der mir bei meinem Besuch im TV-Studio erklärte, es sei toll, „Mal etwas Blondes, Weibliches auf dem Sofa“ zu haben. Er tat dies erst, nachdem alle anderen den Raum verlassen hatten, wohl, weil er es eigentlich besser weiß, sich den Spruch aber nicht verkneifen wollte. So wie der Kollege, der befand, im Anschluss an ein gemeinsames Projekt hätten sich für mich mehr neue Kontakte ergeben als für ihn. Er erklärte, das liege daran, dass ich „Brüste habe und die auch zeige“ – seine charmante Art kann natürlich unmöglich der Grund gewesen sein.

Gekommen, um zu bleiben

Als Journalistin war ich von Anfang an transparent mit meiner 05-Vereinsliebe und schreibe einige Formate auch bewusst mit dem Kurven-Ansatz. Das nutzen vereinzelte Kollegen, um eine künstliche Angriffsfläche zu schaffen. „Fangirl mit Kugelschreiber“ ist da eine versuchte Beleidigung, über die ich angesichts der zahlreichen Sportjournalist*innen, die sich „ihrem“ Verein klar zuordnen lassen, ohne das offen zu thematisieren, nur lachen kann.

Gar nicht lustig sind Angriffe von Lesern, die sich statt mit den Inhalten meiner Artikel nur mit meinem Geschlecht befassen. Wenn Texte mit der Mutmaßung kommentiert werden, mir sei „beim Schreiben die Milch eingeschossen“ oder mir mitgeteilt wird, ich kritisiere den Trainer bloß deswegen nicht, weil ich ihn „ganz offensichtlich ficke“, kann ich daran nichts Witziges finden und es beschäftigt mich auch nach vielen Jahren in diesem Job.

Fest steht aber auch, Rückzug ist keine Option. Ich liebe das, was ich tue, so wie viele meiner Kolleginnen, so wie die weiblichen Fans, Wissenschaftlerinnen, Fanprojekt-Mitarbeiterinnen, die Aktiven und Funktionärinnen. Wir sind, wie die Band „Wir sind Helden“ das vor Jahren so wunderbar textete und sang, „Gekommen um zu bleiben“ und lassen uns aus dem Fußball, der längst auch unsere Domäne ist, nicht vertreiben. Wir breiten uns aus, bilden Banden und schlagen Wurzeln. Wir mischen mit, suchen uns Räumen und erheben unsere Stimme. Wir sind „Frauen im Fußball“ und wir gehören genau hierher. Mit uns ist jeder Zeit zu rechnen.

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Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 14 des Zeitspiel-Magazins, das Heft mit dem Schwerpunkt “Die andere Hälfte – Frauen und Fußball” kann hier bezogen werden.

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Autorinneninfo: Mara Pfeiffer ist freiberufliche Journalistin und Autorin. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem 1. FSV Mainz 05, aktuell unter anderem als Kolumnistin für die Allgemeine Zeitung Mainz, im SWR Flutlicht oder als Expertin bei Amazon. Auch in Büchern hat die „Wortpiratin“ sich dem Verein schon gewidmet, zuletzt erschien ihr 05-Krimi „Im Schatten der Arena“.

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Seitenwechsel – Wie auf dem thüringischen Basar https://120minuten.github.io/seitenwechsel-wie-auf-dem-thueringischen-basar/ https://120minuten.github.io/seitenwechsel-wie-auf-dem-thueringischen-basar/#respond Sun, 20 Jan 2019 08:00:10 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5564 Weiterlesen]]> Wendezeit – Schicksalszeit. Die Monate um 1989 haben in Deutschland viel durcheinander gewirbelt. Der Umbruch hat auch im Fußball entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze tiefe Spuren hinterlassen. Dies ist die Geschichte von zwei Männern, die von der Wende profitierten, einem Verein, für den der Umbruch den bodenlosen Absturz bedeutete und Verbänden, die die Veränderungen verschlafen haben.


Von Jonas Schulte, groundblogging.de, dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 13 des Zeitspiel-Magazins, das Heft mit dem Schwerpunkt “Wendejahre” kann hier bezogen werden.

Tiefenort, Thüringen, Tauwetter. Ein smarter Herr mit Mustang-Jeans steht im Waldstadion Kaffeetälchen am Spielfeldrand und lauert auf seine Chance. Er ist einer von knapp tausend Zuschauern, die ein Spiel des DDR-Profivereins Kali Werra Tiefenort verfolgen. Aber er ist derjenige, der das Spiel ganz besonders genau beobachtet. Was hat er vor?

Es ist Anfang 1990, Blue-Jeans und West-Autos sind in der DDR damals noch wenig verbreitete Konsumgüter. Der Mann fällt auf, wird von den einheimischen Fans argwöhnisch beäugt. Er ist im Auftrag des SV Asbach – einem hessischen Bezirksligisten – über die Grenze ins thüringische Tiefenort gekommen. Er heißt Dirk Bodes, ist zu der Zeit Vorsitzender des Asbacher Fußballvereins. Der selbst gegebene Auftrag: Profispieler von der anderen Seite der löchrigen Grenze rüber in den Westen holen, den eigenen Feierabend-Fußballverein mit gestandenen Vollblut-Fußballern verstärken. „Ich wusste, dass dort kurz hinter dem Eisernen Vorhang hervorragend ausgebildete Fußballer spielten“, erinnert sich der Bau-Ingenieur heute. Was Reiner Calmund mit den Ost-West-Transfers von Andreas Thom und Ulf Kirsten im Großen gemacht hat, das versuchte Dirk Bodes im Kleinen. Er erkannte die Zeichen der Zeit.

Warum fuhr Bodes ausgerechnet nach Tiefenort, diese verschlafene Gemeinde in der westthüringischen Provinz? Weil dort, zwanzig Trabi-Minuten entfernt vom früheren Todesstreifen, der Profi-Fußball zu Hause war. Die Fördertürme ratterten, die Schlote rauchten. Das Kalibergbau-Unternehmen „VEB Kali Merkers” war die wirtschaftliche Triebfeder der Region und unterhielt eine traditionsreiche Fußballmannschaft, die auf das DDR-typische Namens-Ungeheuer BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort hörte. Die Fußball-Kumpel gehörten damals zum Establishment der DDR-Liga, der damals zweithöchsten Spielklasse im Osten. Das Stadion im Kaffeetälchen, mitten im Wald gelegen, war eine DDR-weit gefürchtete Fußballfestung.

Die Kali-Spieler waren, wie das zu der Zeit so üblich war, im Bergbau angestellt, wurden aber meist Vollzeit für die Betriebssportgemeinschaft abgestellt, konnten also getrost als Profis durchgehen. Ihr Problem: Die Wende und die Abwicklung ihres völlig maroden Betriebes über die Treuhandgesellschaft kosteten sie ihre Arbeitsplätze. Der Kalibergbau in Merkers wurde nur kurz nach dem Zusammenbruch der DDR eingestellt. Die Zeit der völligen Unsicherheit brach über die Region an der Werra hinein.

Dunkle Zeiten im Osten, Goldgräber-Stimmung hingegen bei den Fußballvereinen im westlich angrenzenden Hessen. Die innerdeutsche Grenze wurde mehr und mehr durchlässig. Amateur-Vereinsbosse wie Dirk Bodes nutzten das für sich. „Ich hatte beruflich an der Grenze zu tun, hatte selbst zwei Grenzübergänge als Bauleiter errichtet und mich dabei umgehört, was der Fußball drüben zu bieten hatte.“ Und bei der BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort wurde Bodes fündig. „Ich habe mir damals zwei, drei Spiele dort angeguckt. Und dann wusste ich: Diesen Heiko Adler und diesen Udo Ratz, das sind die Besten. Die wollen wir.“ Erstgenannter hatte die berühmte Fußballschule von Carl Zeiss Jena durchlaufen, war also technisch und taktisch bestens ausgebildet.

SV Asbach – Darmstadt 98, 2:1 (August 1998) – Heiko Adler, Libero rechts, war Turm in der Schlacht. Foto: Hartmut Wenzel / Hersfelder Zeitung

Nach den Spielen wanzte sich Bodes an die Spieler seiner Wahl heran. „Wir haben nach Abpfiff konspirative Gespräche geführt. Das war wie in einem Agententhriller.“ Das Kribbeln kam bei Bodes vor allem daher, dass man es auf den ostdeutschen Plätzen natürlich nicht gerne sah, wenn sich die „Besser-Wessis“ an die eigenen Spieler ran machten. „Bei einem Spiel wurden uns sogar Schläge angedroht. Da mussten wir dann galant ins Auto steigen und abfahren.“

Heiko Adler im Trikot von Kali Werra Tiefenort im Spiel gegen Sachsenring Zwickau, Quelle: bereitgestellt von Zeitspiel

Doch nur mit Anklopfen und Nachfragen kann man keinen Fußballprofis für einen Amateurverein begeistern. Dirk Bodes hatte aber ein Ass im Ärmel. Arbeitsverträge bei einem örtlichen Lebensmittel-Unternehmen. „Wir haben den beiden Spielern gesagt. Hört mal, die paar Mark im Fußball werden euch nicht mehr weiterhelfen. Ihr braucht einen Job.“ Doch Heiko Adler und Udo Ratz, die beiden gestandenen DDR-Fußballprofis, blieben zunächst standhaft und sagten nicht zu. Zwei Spiele und einen Kneipenbesuch später war es dann so weit. Neben der beruflichen Perspektive konnte Bodes mit Naturalien überzeugen. „Die hatten alle so halb fertige Häuser. Das kannte ich von zu Hause so gar nicht. Da habe ich als Bau-Ingenieur dem Udo Ratz gesagt: ‚Ich pflaster dir den Hof.‘“ Das habe dann die letzten Prozentpunkte gebracht. „Da war es um den Einen geschehen. Und weil Ratz und Adler Freunde waren, haben wir sie dann im Verbund bekommen.“

Während im kleinen Asbach Freude über die Transfer-Coups herrschte, hatte bei der BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort längst die Ernüchterung eingesetzt. Schon unmittelbar nach dem Mauerfall verließen quasi über Nacht etwa 30 Spieler die Region und damit den Verein. Die Zweitligakicker mussten sich zwar zunächst noch für eine Spielzeit über Amateurverträge an Kali Werra binden. Das galt aber nicht für die Jugend und die zweite Mannschaft, ihres Zeichens Mitglied der drittklassigen Bezirksliga, deren Spieler im Nu auf dem Transfermarkt standen. Die BSG begann auszubluten, der Glanz glorreicher Fußball-Tage bröckelte den Tiefenortern unter der Hand weg. Heiko Adler, einst Wechsel-Profiteur, heute im Vorstand von Kali Werra Tiefenort rückblickend: „Der DFB reagierte damals nicht schnell genug. Das war eine Unverschämtheit. Es hätte Ablöse-Regelungen und Ausbildungs-Entschädigungen gebraucht.“ Die Spieler seien in der DDR ja bestens geschult worden, angrenzende West-Vereine wie Borussia Fulda, der Hünfelder SV aber eben auch der SV Asbach bekamen fertige Fußballer zum Nulltarif. „Das Geld hätte Kali Werra dringend gebraucht.“

Die Kumpel konnten zwar in der letzten Saison des DDR-Fußballs nochmal den Aufstieg von der Bezirks- in die zweitklassige DDR-Liga schaffen. Danach begann ein fast beispielloser Abwärtstrend. Der als FSV Kali Werra Tiefenort nun bürgerlich neu gegründete Verein spielte zwischenzeitlich noch einmal in der Thüringenliga. Danach begann der freie Fall bis aktuell in die Kreisliga A. Dort spielen sie heute immer noch im legendären Kaffeetälchen mit seinem Fassungsvermögen von 8.000 Zuschauern. Wenn sich heute 100 Zuschauer in die hoch aufgeschossene, verwitterte Anlage mitten im Wald verirren, ist das schon viel.

„Natürlich mussten die Vereine drüben einen bitteren Niedergang erleben. Das war schon traurig mit anzusehen“, muss Dirk Bodes zugeben, obwohl er und der SV Asbach seinen Profit aus dem Niedergang des DDR-Fußballs geschlagen haben. „Da waren tolle Vereine mit viel Tradition dabei.“ Weil die Betriebssportgemeinschaften direkt an die Betriebe angedockt waren, hätten sie nach der Wende ohnehin keine Überlebenschance gehabt. „Diesen Umstand haben wir halt für uns genutzt.“ Immerhin: Als kleine Entschädigung ist Bodes in Tiefenort heute mit seiner Firma als Werbebanden-Sponsor vertreten.

In Asbach hingegen standen die Dinge zum Besten. Die beiden Ost-Importe Adler und Ratz, denen später noch weitere folgen sollten, kamen zum ersten Training, waren da allerdings etwas verwundert. „Wir hatten ja von Asbach keine Ahnung“, erinnert sich Heiko Adler. Beim ersten Training auf dem damals noch ebenerdigen Sportplatz in Asbach waren die vormaligen Profis doch leicht verwundert. „Wir haben gedacht, das sei nur das Trainingsgelände. Und dann haben wir die einheimischen Spieler gefragt: ‚Wo ist denn hier euer Stadion?‘“ Lautes Gelächter folgte. Man war halt größeres gewohnt in Tiefenort. Dennoch entwickelte sich schnell ein harmonisches Miteinander. „Unsere beiden Ost-Importe waren absolute Musterprofis. Exzellente Fußballer und Top-Menschen“, schwärmt der damalige Vorsitzende Bodes noch heute von den Qualitäten der beiden Neuzugänge. „Sie haben sich professionell verhalten, waren bei jedem Training voll da und daran haben sich unsere bisherigen Spieler orientiert.“ Spannend sei vor allem der Austausch zwischen Wessis und Ossis gewesen, findet Adler: „Wir wussten vorher ja nicht viel von der Lebenswelt der Anderen. Wir hatten zum Beispiel völlig andere Ausrüstung. Die guten, alten Germina-Fußballschuhe aus der DDR.“

Quelle: Zeitspiel Ausgabe 13

Die Spielermischung in Asbach entpuppte sich als eine Symbiose, die einen optimalen Verlauf nahm. „Wir konnten vor allem mit unserer taktischen Ausbildung unseren neuen Mitspielern einiges beibringen“, weiß Heiko Adler zu berichten. „Ich bin dann irgendwann auf die Libero-Position gegangen und habe trotzdem immer auf der Höhe der anderen Verteidiger gespielt. So haben wir das in der DDR gelernt. Aber die Asbacher kannten das noch gar nicht.“ Dirk Bodes gerät noch heute ins Schwärmen. „So lange ich den Verein erlebt habe, war der Adler mit Abstand der beste Spieler. Ein überragender Mann. Der stand wie eine deutsche Eiche hinten drin, da war kein Vorbeikommen.“ Aber auch Udo Ratz hat bei seinem früheren Vorsitzenden einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Da klebte der Ball am Fuß. Ein technisch beschlagener Mittelfeldmann.“

Mit der schlagkräftigen Truppe fegte der SV Asbach über die Fußball-Region hinweg. „Wenn wir mit unseren Jungs gekommen sind, dann hatten alle Muffe.“ erinnert sich Bodes mit einem Grinsen im Gesicht. Mit Mike Lindemann kam noch der ehemalige Torjäger von Kali Werra hinzu. Enrico Keil komplettierte das Tiefenort-Quartett beim SVA. Der kleine Dorfverein eilte von Sieg zu Sieg und von Aufstieg zu Aufstieg. 1998 dann der Höhepunkt. Der Verein aus dem 1.500-Seelen-Dorf stieg in die Oberliga Hessen auf. Fortan kamen namhafte Gegner in den Vorort von Bad Hersfeld. „Jedes Spiel wurde ein Fest. Der ganze Ort stand hinter uns. Der SVA war wie eine große Familie“, schwelgt Heiko Adler in Erinnerungen. Am Sportplatz wurden dann auch endlich die Tribünen gebaut, die Heiko Adler anfangs noch vermisste.

16. August 1998: Der SVA Bad Hersfeld bezwingt vor großer Kulisse den SV Darmstadt 98 mit 2:1, Foto: Wenzel / Hersfelder Zeitung

Höhepunkte sollten die beiden Meisterschaftsspiele gegen den SV Darmstadt 98 werden. Vor heimischer Rekordkulisse von rund 4.000 Zuschauern haben die Asbacher die Lilien mit 2:1 nach Hause geschickt. Alles überragender Turm in der Schlacht damals: Libero Heiko Adler. „An dem haben sich die Darmstädter die Zähne ausgebissen“, so Bodes. Auch im Rückspiel am Böllenfalltor konnten die Fußballer vom Dorf bestehen und ein 1:1 mit nach Hause nehmen. Auch wenn es nach nur einer Saison wieder runter in die Landesliga ging. „Das sind Festtage, die in Asbach sicher niemand mehr vergisst“, ist sich Bodes sicher.

Zurück in der Gegenwart. Vielleicht ist es die Ironie des Schicksals, dass heute auch der SV Asbach am Boden ist, genauso wie der FSV Kali Werra Tiefenort. Die Osthessen mussten im diesjährigen Saison-Endspurt der Gruppenliga ihre erste Mannschaft zurückziehen. Auf dem Land schlägt der demographische Wandel zu. Es gibt nicht mehr genug gute Fußballer, um Vereine wie den SVA überregional am Leben zu halten. Eine Fusion mit den anderen Vereinen aus Bad Hersfeld steht an. Aus dem SVA, der SG Hessen und dem FSV Hohe Luft soll künftig die SG Festspielstadt werden. In Anlehnung an die jährlichen Festspiele in der Hersfelder Stiftsruine.

Was wohl passiert wäre, wenn es die Wende nicht gegeben hätte? Wäre dann Kali Werra Tiefenort immer noch ein Profiverein? Wo stünde der SV Asbach? Würden beide Mannschaften trotzdem heute am Abgrund stehen? Fragen über Fragen, an denen sich alternative Geschichtsforscher abarbeiten könnten. Eines ist für Dirk Bodes jedoch klar: „Hätte es die Wende nicht gegeben, hätten wir Spieler wie Heiko Adler nicht verpflichten können, dann hätten wir es damals niemals in die Oberliga geschafft. Nie! Das kann man so deutlich sagen.“ So wurde die Wendezeit für den Fußball auf beiden Seiten der Grenze zur Schicksalszeit.

Mannschaftsfoto der BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort (li) und des SV Asbach, Quelle: bereitgestellt von Zeitspiel

Information
Dieser Text ist aus Ausgabe 13 des Zeitspiel-Magazins, welcher uns im Rahmen unserer Kooperation mit dem Magazin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.
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