Der Fußball und das Fernsehen

Über die mediale Inszenierung der schönsten Nebensache der Welt

Das erste in Deutschland live ausgestrahlte Fußballspiel fand am 24. August 1952 in Hamburg zwischen dem Hamburger SV und Altona 93 statt. Das Fernsehversuchsprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks, kurz: NWDR war für die Übertragung verantwortlich. Seit dieser ersten Liveübertragung sind viele Jahre ins Land gegangen und nicht nur der Hamburger SV hat sich verändert, sondern auch die Fernsehübertragungen. Mittlerweile befindet sich der Fußball in Bezug auf seine mediale Übertragung an einem Scheideweg. Die Europa-Liga scheint nicht mehr komplett unrealistisch, die Schere zwischen kleinen und großen Klubs wird immer größer und die Preise für die Übertragungsrechte an der Bundesliga oder der WM steigen jedes Jahr aufs Neue in schwindelerregende Höhen.

Zeit für eine nüchterne Analyse der grundlegenden Zusammenhänge der medialen Inszenierung des Fußballs. Wie wird eine Fußballübertragung inszeniert? Warum generieren Fußballspiele solch hohe Einschaltquoten? Und: Was sagt das eigentlich über das Verhältnis zwischen uns als Rezipienten und der Fußballwelt aus?

Autor: Luca Schepers (prettylittlemovies.blogspot.de)

Abhängigkeitsverhältnisse

Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Fußball seine heutige globale Ausdehnung und die riesigen Geldbeträge, um die es inzwischen geht, niemals ohne die mediale Verbreitung vor allem durch das Fernsehen hätte erreichen können. Gerade deshalb mutet die „Medienkritik“ mancher (nicht aller) Mitglieder der Fußball-Welt etwas seltsam an, da es in letzter Konsequenz diese Medien sind, die dafür sorgen, dass sie ihren gut bezahlten Job behalten können. Die Massenmedien und der Fußball befinden sich also in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Der Fußball ist darauf angewiesen, dass in den Massenmedien über ihn berichtet wird, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Für selbige ist es wichtig, einen guten Draht zu den Verantwortlichen zu haben, um sich in Zeiten von Twitter, Facebook u.ä. ihre Aktualität zu bewahren (u.a. zu diesem Thema hat Georg Seeßlen in der Jungle World 02/17 einen brillanten Text geschrieben.) Außerdem interessiert Fußball extrem viele Menschen, sodass er als stets sicheres Mittel zur Quotensteigerung gesehen werden darf. Man schaue sich bloß einmal Rupert Murdoch und den Fernsehsender TM3 im Jahr 1999 an. Damit sich jedoch der Kauf des wahrscheinlich teuersten Programmpunkts für einen Fernsehsender lohnt, müssen die Quoten stimmen. Tun sie das nicht, können die Fußballrechte sehr schnell zu einem existenzbedrohenden Risiko werden. Es stellt sich also die Frage, wie ein Fernsehsender eine Fußballübertragung inszenieren muss, um möglichst viele Zuschauer vor den Bildschirm zu ziehen. 

Fußball als Medienereignis

Jedes Medienereignis hat seine eigene Choreographie, sei es eine Nachrichtensendung, eine Königshochzeit oder eben ein Fußballspiel. Das Fernsehen begreift diese Medienereignisse als geschlossene Erzählungen, die eines klaren narrativen Rahmens bedürfen, der für jeden Zuschauer verständlich ist. Es ist wichtig, in ein Medienereignis einzuführen und es nicht abrupt zu beenden. Es versucht, Integrität zu schaffen, indem es die Komplexität reduziert bzw. pauschale Aussagen trifft. Das Fernsehen verarbeitet bei seiner Übertragung das, was in der Realität geschieht, in konsumierbare Bilder, die den Zuschauer auf einer visuellen Ebene ansprechen. Damit geht eine Vereinheitlichung aller Zuschauer einher. Jeder, der über ein Fernsehgerät verfügt, kann sich die Sendung ansehen, unabhängig von Einkommen, Lebensverhältnissen etc.[1]

Frei nach Walter Benjamin[2] verändert sich durch das Fernsehen die Aura des Ereignisses, nur derjenige, der vor Ort ist, kann sie wirklich originär erleben. Und hier setzt die Entwicklung einer der wichtigsten Figuren des Fernsehens ein: Der Korrespondent. Er dient dazu, die Stimmungen vor Ort einzufangen, dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, er sei in diesem Moment „mittendrin statt nur dabei“. Wie wir später noch sehen werden, ist der Korrespondent vor allem in der Fußballberichterstattung eine immens wichtige Figur. Die Fußballübertragung ist ein eben solches Medienereignis. Jede Übertragung, egal ob sie von ARD, ZDF, RTL, Kabel 1 etc. durchgeführt wird, folgt der Logik des Medienereignisses (mal abgesehen von Sport1-Übertragungen, die zuweilen einen fast schon experimentellen Charakter haben).

Eine Fußballübertragung beginnt häufig mit einem kleinen Trailer zum Spiel und der Begrüßung der Zuschauer durch den Moderator. Dabei ist erst einmal interessant, dass die Übertragung lange vor Anpfiff des eigentlichen Fußballspiels beginnt. Es gibt meist einen Moderator und einen „Experten“, also jemanden, der auf Nachfragen hin dem Zuschauer komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar erläutert.

Der „Experte“

Bereits die Rolle des „Experten“ ist interessant, vor allem, wenn man sich die Besetzung anschaut. In der ARD ist es Mehmet Scholl, im ZDF Oliver Kahn, bei RTL Jens Lehmann oder bei Sky Lothar Matthäus. Alle sind ehemalige Fußballspieler, die große Erfolge gefeiert haben. Im Prinzip ist dies ihre einzige wirkliche Legitimation, diese Rolle des „Experten“ ausfüllen zu dürfen. Als wirklicher „Experte“ wäre eigentlich eher z.B. ein Trainer (für spieltaktische Fragen) oder ein Vereinsfunktionär (für Geschäftsfragen) geeignet. Sie sind letztlich diejenigen, die den Fußball verstehen bzw. verstehen müssen und daher eigentlich auch als Experten gelten sollten. Nun kommen wir aber zu dem Punkt, dass das Fernsehen den Zuschauer unabhängig von seinem Hintergrund in sein Programm einbinden muss und die Komplexität reduziert. Würde man regelmäßig jemanden von spielverlagerung.de oder einen Scout des DFB dort hinschicken, bestünde die Gefahr, dass dieser die Komplexität des Fußballs nicht weit genug reduziert und einen Teil der Zuschauer dadurch aus der Übertragung ausschließt. Durch den Fakt, dass Scholl, Kahn oder Lehmann erfolgreiche Fußballspieler gewesen und dem Zuschauer bekannt sind, bauen sie eine engere Bindung zu ihm auf. Der Zuschauer glaubt, dass jemand, der diesen Beruf ausgeübt hat, sich auch am besten dazu äußern kann. Meiner Ansicht nach enthält diese Sichtweise einen kleinen, aber nicht unerheblichen Denkfehler, aber dazu später mehr.

Der „Moderator“

Die Figur, die verhindern soll, dass der „Experte“ zu komplex und unverständlich erzählt, ist der „Moderator“. Seine wichtigste Funktion ist es jedoch, durch das Medienereignis hindurchzuleiten und dem Zuschauer das narrative Gerüst zu geben, welches er sehen möchte. Er moderiert lange vor dem Beginn des eigentlichen Ereignisses die Sendung an, kündigt Berichte an und bereitet den Zuschauer im Dialog darauf vor, was ihn erwarten wird. Der Moderator nimmt die Rolle desjenigen ein, der mit den Zuschauern in einen Dialog tritt. Er schaut direkt in die Kamera, er spricht sie an und vermittelt damit zwischen dem Wohnzimmer und dem Fußballstadion. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann gab es vor Jahren einmal ein UEFA-Cup-Spiel auf Kabel 1 zu sehen, bei welchem zu lange in der Werbung geblieben wurde und man die ersten Sekunden der zweiten Halbzeit nicht sehen konnte. Dies sorgt für einen völlig ungewohnten Effekt: Auf einmal befindet man sich direkt im Spiel, man hat keinerlei Möglichkeit, sich darauf einzustellen und der Kommentator beginnt sofort mit dem Reden. Das ist eine Unmittelbarkeit, die man als Fußballzuschauer nicht gewohnt ist und die so auch nicht akzeptiert wird. Dies ist das Symptom einer generellen Haltung des Fernsehpublikums: Es denkt in traditionellen Erzählmustern.

Exkurs: Umberto Eco und die Live-Übertragung

Man darf nicht vergessen, dass das Kino weit vor dem Fernsehen erfunden und von dessen Narration maßgeblich beeinflusst wurde, ebenso wie von den Strukturen des klassischen Romans. Wenn man so möchte, dann soll eine Fernsehübertragung zwei Dinge erfüllen:

  1. den Erzählmustern des klassischen (Hollywood-) Spielfilms folgen
  2. informieren

In seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ erläutert Umberto Eco im Abschnitt „Zufall und Handlung. Fernseherfahrung und Ästhetik“, dass diese Erwartungen des Publikums an eine Live-Übertragung den Regisseur v.a. bei einem Fußballspiel relativ stark einschränken. Fußball ist ein Spiel, das letztlich sehr ballfokussiert übertragen wird, man wird selten über einen längeren Zeitraum Bilder sehen, in denen nicht der Ball zu sehen ist. Einzig beim Tor, so Eco, könne der Regisseur auswählen, was er zeigt. Was man jedoch nie sehen werde, sei ein Bild der nebenliegenden leeren Straße oder des am Stadion vorbeifließenden Flusses (eine ähnliche Differenz lässt sich zwischen Spiel- und Experimentalfilm ausmachen). Dies interessiert den Zuschauer nicht, er möchte Informationen bekommen. Eco formuliert meiner Ansicht nach zwei sehr entscheidende Gedanken für den Diskurs über Inszenierungen des Fußballs:

„Die Live-Sendung ist niemals eine bloße Wiedergabe, sondern stets […] eine Interpretation.“

und:

„Auch, wenn sein Werk sich auf der untersten künstlerischen Stufe befindet, erlebt der Fernsehregisseur ein Gestaltungsabenteuer, das derart ungewöhnlich ist, dass es ein künstlerisches Phänomen von höchstem ästhetischen Interesse bildet.“[3]

Wir haben es bei aller Informationsweitergabe also immer noch mit einer Interpretation verschiedener Kamerabilder zu tun, die ein Regisseur montiert, die Inszenierung ist niemals rein objektiv, sie folgt einem bestimmten, an den Gewohnheiten des Zuschauers orientierten Narrativ. Die Tatsache, dass die Bilder des Fernsehens montiert werden und nicht einfach so zusammengestellt sind, gibt Sky jedes Wochenende preis, indem man kurz vor der Schalte in die Werbung einen kurzen Blick in den Regieraum wirft, die „Regie-Cam“. Es ist also für jeden Zuschauer transparent, dass das Fernsehen die Fußballspiele inszeniert, dass jemand dort die Bilder steuert.

Nach dem Ende des Spiels gibt es noch eine lange Phase, in der der Moderator Interviews führen lässt, das Spiel noch einmal Revue passieren lässt, sogar noch Zusammenfassungen von anderen Medienereignissen bzw. Fußballspielen zeigt und damit stets mit selbstreflexiven Verweisen arbeitet. Selten einmal wird man es sehen, dass der Moderator nach Abpfiff des Spiels den Zuschauern einen schönen Abend wünscht und die nächste Sendung beginnt.

Anders als z.B. bei DAZN möchte der Zuschauer im klassischen Fernsehformat sanft aus dem Ereignis befördert werden.

DAZN
Während sich die bisherigen Ausführungen auf den ‘klassischen’ Fußball-Fernsehabend oder den allwochenendlichen Sky-Marathon beziehen, verfolgt DAZN ein anderes Konzept. Gern auch mal als “Netflix des Sports” bezeichnet, bietet der Streaming-Dienst genau das, was man unter diesem Label erwarten würde: Jede Menge Live-Spiele unterschiedlichster Ligen (die Bundesliga ist nicht im Angebot, dafür aber die spanische, französische und englische Beletage ebenso wie beispielsweise der kroatische oder australische Fußball), dazu Re-Live-Optionen mit der Möglichkeit, sich das Spiel der Wahl ‘on demand’ anzuschauen. Die Präsentation und ‘Zuschauerführung’ weichen von den bisher im Beitrag dargestellten Merkmalen deutlich ab: man ist häufig direkt im Spiel, Zusatzinformationen zu den entsprechenden Begegnungen bewegen sich eher auf einem minimalistischen Level, der Sport als solcher steht im Vordergrund. Ist die Begegnung vorbei, verabschieden sich Kommentator und Experte (hier ehemalige Spieler, die nicht in einem Studio, sondern als Co-Kommentatoren agieren) recht bald vom Zuschauer vor dem Fernsehgerät, dem Rechner oder dem Tablet, eine ausführliche Auswertung der Partie mit Interviews und Taktikanalysen entfällt. Auffällig auch, dass sich die Co-Moderation auf einem fußballfachlich höheren Niveau bewegt, als man es von ‘klassischen’ Fernsehübertragungen gewohnt ist – was aber nicht weiter verwundern kann, dürfte sich DAZN doch eher explizit an ausgewiesene Fans des Sports und weniger an ein Publikum richten, das sich von einer Fußballübertragung mit allem Drumherum in erster Linie umfänglich unterhalten lassen möchte.

Interessant ist außerdem, wo und wann die Interviews stattfinden. Doch dazu muss man sich erstmal die Frage stellen: Von wo wird eigentlich moderiert?

Der Standort der Moderation: Studio oder Spielfeld?

Moderationen von Fußballspielen finden entweder in einem Studio im Stadion statt oder es stehen „Moderator“ und „Experte“ am Spielfeldrand mitten im lauten Getöse des Innenraums. Wenn aus dem Studio moderiert wird, dann gibt es häufig noch einen Reporter, der am Spielfeldrand steht, der „Field-Reporter“, der Korrespondent. Warum also versucht das Fernsehen, dem Spielfeld so nahe zu sein? Es geht darum, die große Entfernung zwischen Fernsehzuschauer und Stadion aufzulösen. Der Zuschauer soll durch den großen Lärm und die im Hintergrund herumfliegenden Bälle suggeriert bekommen, er sei ganz nah dabei, er könne die Stimmung fühlen. Polemisch gesagt: Es gibt nichts Besseres für eine Fernsehübertragung, als ein Stadion, welches das Gespräch der Moderatoren übertönt.

Das Narrativ, welches der Privatsender „Sky“ vor allem bei den 18:30-Spielen der Bundesliga anwendet, ist eine Modifikation der beiden vorgestellten Varianten. Hier sitzen mehrere Experten an einem Tisch und reden in einem teilweise recht flapsigen Ton miteinander. Hier wird der Zuschauer in der Kneipe angesprochen. Die halbkreisförmige Form des Tisches und die Debatten ähneln fast einer Theke in einer Fußballkneipe. Es wird versucht, dem Zuschauer v.a. in der Kneipe, aber auch zuhause, das Gefühl zu vermitteln, er sei dem Ereignis nicht nur sehr nahe, sondern er sitze mit am Tisch. (Anmerkung: Das prototypische Beispiel dafür sind die Liveübertragungen von Hochzeiten v.a. im Schweizer Fernsehen.)

Die Kulturtechnik des Interviews wird unmittelbar nach dem Spiel ad absurdum geführt: Nach 90 Minuten+X Adrenalin und schwerster körperlicher Betätigung ist es extrem unwahrscheinlich, von einem Spieler eine wirklich interessante Aussage über das Spiel zu bekommen, viel zu sehr sind die Spieler noch von Emotionen geprägt. Aber um den Inhalt dieser Aussagen geht es auch gar nicht. Viel wichtiger ist, dass es direkt auf dem Spielfeld stattfindet, der Spieler soll kaputt sein, man muss ihm die physischen Anstrengungen ansehen. So entsteht ein neuer Realitätseindruck und die Interviews runden in der Nachbetrachtung das ganze Ereignis ab. Dies jedoch als generellen Vorwurf an den Fußball zu betrachten, wäre fehlgeleitet, da u.a. im Tennis oder bei Schach-Turnieren Spieler ebenfalls unmittelbar nach dem Spiel interviewt werden. Beim Fußball geht es mehr um den eben genannten Realitätseindruck, allerdings eint alle drei Sportarten, dass es stets um Aktualität geht. Man möchte Sekunden nach Ende des Spiels bereits wissen, was der Spieler zu sagen hat. An einer inhaltlich interessanten Antwort kann dabei kein Interesse bestehen. Man könnte an dieser Stelle fast schon von einem „Regime der Aktualität“ sprechen.

(Bei der Schach-WM 2016 war es z.B. so, dass die Spieler direkt nach dem Spiel kurz befragt wurden. Der Weltmeister Magnus Carlsen gab die einzig richtige Antwort auf ein solches Vorgehen. Zugegebenermaßen hatte er gerade ein Spiel sehr tragisch verloren.)

Pressekonferenz mit Magnus Carlsen und Sergey Karjakin

Das Zielpublikum

Warum findet dies nun statt? Man könnte begründen, dass Fernsehen immer eine Inszenierung ist, jeder darüber Bescheid wisse und man das so hinnehmen könne. Doch ich bin der Ansicht, dass das eine recht oberflächliche Betrachtung darstellt.

Fußball ist bekanntermaßen die beliebteste Sportart der Welt. Jeder könne eben irgendwie ein bisschen Fußball spielen, heißt es dann oft. Bereits diese Aussage ist doch interessant. Sie suggeriert, dass der Sport für jeden zugänglich sei, da er doch eigentlich überhaupt nicht kompliziert ist. 22 Leute, ein Ball und zwei Tore. Genau diese Haltung schlägt sich in den Fernsehübertragungen nieder. Wenn ein Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft übertragen wird, dann wird die Komplexität des Spiels soweit heruntergebrochen, dass selbst jemand, der niemals Fußball schaut, dem Ganzen folgen kann. Ob das nun sinnvoll ist oder nicht, haben klügere Menschen als ich schon besser erläutert. Man befindet sich dabei eben stets in einem Spannungsfeld einer Demokratisierung des Sports (jeder Besitzer eines Fernsehgeräts kann Fußball schauen) und der Simplifizierung einer Sportart, die nicht simpel ist. Mag man als regelmäßiger Fußballzuschauer irritiert von derlei Simplifizierungen sein, erklären lassen sie sich recht einfach. Ich bin allerdings der Ansicht, dass man komplexe Dinge auch durchaus als komplex darstellen sollte. Wenn ich mir Gedanken über Gravitation mache, würde ich jederzeit anerkennen, dass dies ein hochkomplexes Thema ist. Da man aber niemals alle Dinge in ihrer gesamten Komplexität erkennen kann, muss ich mich damit begnügen, dass ein Gegenstand, den ich in die Luft werfe, herunterfällt. Ich darf deswegen aber nicht von einem Physiker verlangen, das Thema genauso herunterzubrechen. Verständlich sollte er sich natürlich schon ausdrücken, aber niemals unterkomplex. Ein Interview direkt nach dem Spiel ist aus nachvollziehbaren Gründen genau das. Einmal mehr siegt die Vermittlung eines Realitätseindrucks, des „Mittendrin statt nur dabei“-Gedankens, über eine inhaltliche Auseinandersetzung.

Theoretiker vs. Praktiker

Wir kommen nun zu einem Punkt, den ich bereits zu Beginn kurz erwähnt habe, nämlich der Frage, warum der „Experte“ in der Sportübertragung in den allermeisten Fällen ein ehemaliger Spieler ist. Das führt zu einem sehr tiefliegenden Konflikt, den es im Sport, aber auch in der Kunst oder in allen möglichen anderen Lebensbereichen gibt: Muss man selbst einmal aktiv in diesem Bereich gewesen sein, um sich fundiert darüber äußern zu können, bzw. muss man selbst Fußball gespielt haben, um vernünftig über Fußball reden zu können? Die Logik dahinter ist, dass jemand, der sich über das Anschauen von Fußballspielen und das Lesen von Theoriewerken mit dem Sport auseinandersetzt, den wahren Kern des Spiels nicht verstehen würde. Etwas Ähnliches geschieht häufig in der Kunst, dem Filmkritiker wird z.B. vorgeworfen, er könne den Film doch gar nicht beurteilen, da er nie selbst so etwas gemacht habe. Ich halte das für sehr einfach gedacht. Selbstverständlich ist es interessant zu hören, was ein ehemaliger Aktiver, der einen anderen Blick auf die Dinge hat, zu sagen hat. Nichtsdestotrotz ist es ebenso interessant, was ein Fußball-Analyst dazu sagt. Was wir hier vorfinden, ist eine versteckte Intellektuellenfeindlichkeit. Der schöne Arbeitersport Fußball soll nicht „verwissenschaftlicht“ werden, alles soll möglichst einfach bleiben. Eine absurde Vorstellung, wenn man bedenkt, wie viel Geld mit Fußball umgesetzt wird. (Gerade deswegen ist der RB-Leipzig-Hass auch einigermaßen bizarr, aber das soll hier nicht das Thema sein.) Außerdem widerspricht es vollkommen dem aktuellen Zeitgeist. Die meisten Profi-Vereine setzen auf moderne, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Trainingssteuerung o.ä. und nutzen alle möglichen „modernen“ Möglichkeiten. Nur bei den Zuschauern scheint immer noch der Geist der Vergangenheit in den Köpfen zu spuken.

Die bereits erwähnten Fußballsendungen auf Sport 1 führen diesen Gedanken ad absurdum und überziehen alles, was das Fußballfernsehen ausmacht, auf eine solch extreme Art und Weise, dass man nicht umhinkommt, über diese Form des Fernsehens zu schmunzeln bzw. ihr mit zunehmender Faszination zuzusehen. Alleine der „Mobilat Fantalk“ ist eine hochinteressante Sendung. Nur der Vollständigkeit halber: In der „11 Freunde Bar“ in Essen sitzen rund um einen Kneipentisch zwei Moderatoren und verschiedene Gäste. Direkt hinter ihnen steht ein Pulk aus Fußballfans, wie sie typischer nicht aussehen könnten. Die Gäste sind größtenteils ehemalige Fußballspieler oder Trainer. Besonders beliebte Gäste sind Leute wie z.B. Peter Neururer oder Mario Basler. Unvergessen bleiben Baslers verbale Ausfälle gegenüber anwesenden Zuschauern.

'Basler unleashed'

In diesem Video wird alles vereint, was diese Sendung ausmacht: Die Leute trinken Bier, polemisieren und bringen Stammtischparolen in Reinform. Am Ende ruft Basler noch etwas Frauenfeindliches und schon ist die Begeisterung groß. Das ist das, was sich viele Zuschauer wünschen und was die anderen Sender in professionellerer und gemäßigter Form präsentieren. Das bizarrste am „Mobilat Fantalk“ ist auch gleichzeitig das Symbol für das inexistente Interesse der Zuschauer am Fußball: An den Spieltagen der Champions Leauge wurden dort die Spiele in der Kneipe übertragen, ohne, dass der Fernsehzuschauer sie sehen konnte. (Anmerkung: Die Sendung zum CL-Halbfinale zwischen Borussia Dortmund und Real Madrid hatte die höchste Einschaltquote in der Geschichte des Fantalks.)

Die einzige Rechtfertigung dafür, dass Basler in einer Sendung sitzt, ist sein Status als ehemaliger Fußballprofi. Und hier sind wir wieder beim Kernproblem angekommen. Weiß ein Ex-Profi wirklich immer besser über das Spiel Bescheid? Ist er einem „Theoretiker“ wirklich immer vorzuziehen? Ziel des Fernsehens sollte es eigentlich sein, einen Diskurs darüber zu beginnen und vor allem: kluge und meinungsstarke Menschen ins Fernsehen zu bringen. Punktuell beginnt Sky immer mehr damit, das zu forcieren, ihre Zusammenarbeit mit den ehemaligen Bundesligaschiedsrichtern oder auch Leuten wie z.B. Tobias Escher von spielverlagerung.de lässt eigentlich Gutes erhoffen. Doch solange kein generelles Umdenken im Verhältnis zwischen Zuschauer und Fernsehen entsteht, wird sich an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern.

Öffentlich-Rechtliches- und Privatfernsehen

Es scheint mir an dieser Stelle angemessen, eine Unterscheidung zwischen Öffentlich- Rechtlichen- und Privatsendern zu machen.

Die Öffentlich-Rechtlichen Fernsehsender haben, ihrer ursprünglichen Aufgabe folgend, einen Bildungsauftrag. Dadurch, dass sie an keinerlei Quoten gebunden sind, haben sie die Möglichkeit, kreativen und innovativen Konzepten den Raum zu geben, den diese im Privatfernsehen nicht bekommen würden. Eben deshalb hätte die ARD die Möglichkeit, bei einer Fußballübertragung vom hochgradig ritualisierten Charakter der Fußballübertragungen abzuweichen, einen neuen Weg zu gehen. Sky hat diese Möglichkeit in wesentlich geringerem Maße. Für sie ist das Argument der Demokratisierung und der damit einhergehenden Simplifizierung jedoch nicht gültig, im Gegenteil: Wenn jemand einen Sportsender abonniert, ist davon auszugehen, dass er sich dafür interessiert und eine gewisse Grundkenntnis besitzt. Dennoch ähneln sich beide Programme relativ stark. Sie halten sich beide an den Grundzügen des Medienereignisses fest und wollen den Zuschauer dabei auf keinen Fall aus seinen Gewohnheiten herausbringen. Wer jemals eine Vorberichterstattung zu einem Abendspiel auf Sky gesehen hat, wird dies bestätigen. Es ist vor allem leeres Gerede über Themen, die dem Zuschauer kaum etwas über das Spiel sagen. Theodor W. Adorno schrieb in seiner Arbeit zum Radio und zur Popmusik von einem „Nicht-Zuhören, bei dem man nichts verpasst“. Die Vorberichte zu vielen Fußballspielen sind genau das. Die Moderatoren, die Vorberichte, die Experten, der Korrespondent, sie alle dienen selten einem wirklich inhaltlichen Zweck. Sie sind symbolisch aufgeladene Figuren, die dem Zuschauer das Gefühl des Medienereignisses vermitteln soll.

Eine Durchbrechung des Rituals

Ich möchte mich an dieser Stelle einmal sehr lobend über die Berichterstattung des ZDF zur Europameisterschaft 2016 äußern. Selbstverständlich blieben auch sie im Ritual der Fußballübertragung (was zeigt, dass dies nicht genuin negativ zu sehen ist), aber es gelang ihnen doch, einige Neuerungen einzubringen. Zunächst einmal gehört Oliver Kahn zu den wenigen Fernsehexperten, die sich konsequent fortgebildet haben, sich sehr ruhig und gut ausdrücken können und gleichzeitig immer noch die Aura des ehemaligen Profis behalten. Somit ist Oliver Kahn ein Symbol dafür, dass ein Experte den Zuschauer zwar dort abholten sollte, wo er sich befindet, ihn aber auch durchaus weiterbringen sollte. Gemeinsam mit Oliver Welke bildet er ein eingespieltes Duo. Interessant ist die Besetzung von Welke insofern, da er zwar eigentlich Sportmoderator ist, aber in den letzten Jahren eher für seine Satire-Sendung bekannt wurde. So hat man zwei Leute, die ein weites Feld an Erfahrungen mitbringen und ein wirkliches Interesse daran zeigen, dem Zuschauer etwas Inhaltliches zu vermitteln. Die wechselnden Gäste in der Runde stellen sich gegen das eigentliche Ritual der Wiedererkennung. Dadurch wird das vorher adynamische Ritual aufgebrochen und es kommen immer wieder neue Positionen ins Spiel. Mit Stanislawski an der Taktiktafel fügt man einen weiteren Baustein hinzu. So hat man verschiedene, fachlich fundierte Meinungen, die ein harmonisiertes Bild ergeben. In diesem Studio wurde nicht versucht, das Wohnzimmer des Zuschauers nachzustellen, sondern eine wirkliche Differenz zu schaffen. Fernsehen diente hier nicht als Inszenierung von Nähe oder Realität, sondern als Möglichkeit der Fortbildung und Herausforderung des Zuschauers.

Und nun?

„Nur noch selten ist im Fernsehen der Mensch ein Ereignis. Die Formate sind zu tot geritten, die Rituale zu steif, die Protagonisten zu besessen vom eigenen Bild.“ So drückte es Roger Willemsen in seiner (berechtigten) Lobeshymne auf das Dschungelcamp aus.

Die häufig zitierte Aussage, dass der Zuschauer das alles genauso wollen und man von daher nichts daran ändern sollte, ist eine fehlgeleitete. Ja, es gibt Dinge, die genuin für das Fernsehen sind und sich sehr schwer verändern lassen. Dieser Text ist als Anstoß zu einer weitaus größeren und komplexeren Debatte gedacht. Journalismus im Allgemeinen und die Fußballübertragungen im Speziellen müssen sich wesentlich mehr mit Inhalten beschäftigen, sich aus festgefahrenen Denkmustern lösen und aufhören, den Zuschauer zu unterschätzen. Es darf nicht weiterhin darum gehen, den Zuschauern nur das zu liefern, was sie (scheinbar) sehen möchten. Es muss eine Debatte darüber geführt werden. Fernsehzuschauer aller (Bundes-)länder, vereinigt euch. Es muss mehr darüber gesprochen werden, wie Fußball dargestellt wird, was wir als Zuschauer wollen. Wollen wir, dass alles so weitergeht, dass sich nichts verändert? Möchten wir immer das Gleiche sehen? Oder wollen wir uns überraschen lassen? Leute im Fernsehen sehen, die Mut haben, einen neuen Weg einzuschlagen? Man muss auch Fußballfernsehen als Kunst betrachten. Und damit stimmt es dann einmal mehr:

„Jede Epoche hat die Kunst, die sie verdient.“

Fußnoten

[1] Siehe dazu den hochinteressanten Text „Medienereignisse“ von Daniel Dayan und Elihu Katz (2001) im Buch „Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft“. Die beiden kritisieren interessanterweise, dass „im Hinblick auf die Medienereignisse […] das journalistische Paradigma von Objektivität und Neutralität schlichtweg irrelevant“ (S.431) ist.

[2] s. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935).

[3] Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk, S.189-199

Beitragsbild: WDR Kamera / Meid, Maik via Flickr | CC-BY-SA 2.0

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