Auf der Suche nach nationaler Einheit und Identität. Das „Drachen“ genannte Team ist das erste Mal bei der WM dabei – und soll ein Land vereinen, das kaum vereinbar ist.
Autor: Ulrike Bertus, @isntfamous
Als am 15. Oktober der Stuttgarter Vedad Ibisevic Bosnien-Herzegowina zur Weltmeisterschaft in Brasilien schoss, da jubelte in der Heimat nicht jeder. Im Großteil der Republik Srpska war es, so Beobachter, ruhig. Keine Freude, keine Autokorsos. Die Hunderttausende, die die siegreiche Mannschaft am Flughafen in Sarajevo empfingen, waren kaum bosnische Serben – eine Ausnahme bildete der Sport-Reporter Marian Mijajlovic, der feiernd aus seiner Kabine auf das Spielfeld rannte.
Bosnien-Herzegowina ist gespalten. Seit der Gründung des Landes 1992 und dem Dayton-Abkommen 1995 gibt es zwei Länder in einem, zwei Nationen, die in einem Staat zusammenleben und – vor allem nach Ansicht der Republik Srpska – zusammenleben müssen. An dem Gefühl der Uneinigkeit ändert auch der Fußball, in vielen Ländern ein verbindendes Element, nichts. Um das zu verstehen, um die riesige – sowohl politische als auch gesellschaftliche – Aufgabe des 21. der Fifa-Rangliste zu begreifen, muss man einige Jahrzehnte zurückgehen.
Auf dem Gebiet, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine Teilrepublik Jugoslawiens war, leben und lebten vor allem drei Ethnien: Bosniaken, Serben und Kroaten. Den größten Teil machten, auch in Srpska, die Bosniaken aus. Mit dem Zerbrechen Jugoslawiens und dem darauffolgenden Bosnienkrieg kam es zum Konflikt zwischen den Ethnien. Die bosnischen Serben waren für einen Verbleib in der jugoslawischen Föderation und einen engen Verbund mit Serbien; die Bosniaken hingegen sprachen sich für einen unabhängigen Staat aus. Die Minderheit der Kroaten, die im westlichen Herzegowina lebte, wollte zu Kroatien gehören. Die Konflikte eskalierten, die so genannten ethnischen Säuberungen (beispielsweise 1995 in Srebrenica, ausgeübt durch die bosnischen Serben an den Bosniaken) waren trauriger Höhepunkt des Krieges.
Die größten Verluste gab es in Srpska, von wo Bosniaken durch die Serben vertrieben oder getötet wurden. Ziel sei es gewesen, so Experten, dadurch die Anzahl der Bosniaken zu senken und so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die Region an Serbien anzugliedern.
Insgesamt starben zwischen 97.000 und 107.000 Menschen, vor allem unter den getöteten Zivilisten (rund 40 Prozent) gab es auf Seiten der Bosniaken viele Opfer; 90 Prozent der toten Zivilisten gehörten dieser Bevölkerungsgruppe an. Viele flüchteten jedoch – entweder in die Nachbargebiete oder aber ins Ausland.
Alle Spieler der Nationalmannschaft Bosnien-Herzegowinas, die bei dieser WM antreten, gehören der Generation an, die den Krieg und die Folgen bewusst erlebten. Edin Džeko, ehemaliger Spieler des VfL Wolfsburg und nun Stürmer bei Manchester City, geboren 1986, erlebte den Krieg als Bosniake in Sarajevo, gemeinsam mit seiner Großfamilie in einer Ein-Raum-Wohnung. Sejad Salihović, geboren 1984 und Stammspieler bei der TSG Hoffenheim, flüchtete 1991 mit seinen Eltern nach Berlin. Vedad Ibisevic, geboren 1984, zog mit seiner Familie während des Krieges nach Tuzla, wo die Mehrheit wie auch seine Familie zu den Bosniaken zählte. Nach Kriegsende immigrierte die Familie erst in die Schweiz, dann in die USA. Asmir Begović, Torwart bei Stoke City und 1987 geboren, flüchtete mit seinen Eltern nach Deutschland und ging später nach Kanada – ein Werbespot gemeinsam mit Adidas geht auf die Flucht und den Krieg ein.
“Jeder hat seine eigene Story, aber irgendwie verbindet uns die gleiche Geschichte mit der Kriegszeit.
Das überträgt sich dann auf dem Platz.“Ermin Bicakcic
Auch in der Republik Srpska ist der Sport beliebt; nur eben nicht die Nationalmannschaft, in der nur zwei Serben spielen2)– einer von ihnen ist der Rekordnationalspieler Zvjezdan Misimović, der ehemalige Bundesligaprofi (unter anderem Bayern München und VfL Wolfsburg) und nun bei Guizhou Rehne in China unter Vertrag stehende Mittelfeldspieler. Die Bosniaken stellen den großen Teil der Spieler, das wird von kroatischer wie auch von serbischer Seite kritisiert. Spieler und Trainer aber betonen in Interviews immer wieder, dass die Herkunft in der Mannschaft kein Thema ist und man sich gut versteht. Das Miteinander des Teams könnte als Vorbild für ein ganzes Land dienen.
Der Konflikt im Land ist ethnischer Natur und die Auswirkungen zeigen sich auf allen Ebenen. Die bosnischen Serben wollen kein erzwungenes Land gemeinsam mit den Kroaten und den Bosniaken, die Bosniaken haben unter dem Krieg gelitten und die Kroaten sehen sich als vernachlässigte Minderheit. Auch 19 Jahre nach dem Dayton-Abkommen gibt es keine gemeinsame Identität des Landes. Es gibt getrennte Klassen in den Schulen, kaum eine natürliche Durchmischung. Hinzu kommt erschwerend, dass der Krieg mit den Vergewaltigungen, Vertreibungen und den ethnischen Säuberungen immer noch nicht hinreichend verarbeitet oder nur aufbereitet ist. Von rund 8.000 Opfern des Massakers in Srebrenica sind immer noch nicht alle Leichen identifiziert, Schuldige sind nicht betraft, das Hochwasser im Mai 2014 hat zudem die Minenproblematik noch einmal erschwert und wieder aktuell gemacht. 12.000 Landminen sind noch im ganzen Land verteilt, das Hochwasser hat die markierten Minenfelder über- und die Waffen vermutlich weggeschwemmt.
Die Drachen fahren für einen Staat nach Brasilien, den es nur auf dem Papier gibt. Selbst einen eigenen Fußballverband hat der serbische Teil, die Vorbereitungen für eine eigene Nationalmannschaft im Stile des katalanischen Teams laufen; der Großteil der Fans drückt der serbischen – und für die WM nicht qualifizierten – Nationalmannschaft von Serbien die Daumen. Im kroatischen Teil sieht es ähnlich aus: dort unterstützt man die kroatische Nationalmannschaft.
Eine nationale Identität zu entwickeln, positiv aufgeladene Erinnerungsorte gemeinsam zu haben, das braucht seine Zeit. Der Politikwissenschaftler Arthur Heinrich nannte den Sieg des Weltmeistertitels 1954 für Deutschland die „wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik“. Plötzlich war man wieder wer, hatte etwas, auf das man stolz sein konnte. Erinnerungen sind einer der wesentlichen Punkte für die Entstehung von Identität und Selbstverständnis. Es braucht Erinnerungsorte, die in Personen, Emotionen, positiv aufgeladenen Botschaften oder aktuellen Ereignissen manifestiert werden3) und so eine gemeinsame Erinnerung und ein gemeinsames Gefühl schaffen. Einen ähnlichen Effekt wie 1954 erhoffen sich nicht wenige auch von der Teilnahme an der WM. Wenn die Mannschaft um den Leverkusener Kapitän Emir Spahic auch nicht als klarer Favorit gehandelt wird, stehen die Chancen nicht schlecht, die Vorrunde zu überstehen. Mit Argentinien hat man zu Beginn zwar sofort einen starken und vor allem beeindruckenden Gegner, die zwei anderen Gruppenteilnehmer Iran und Nigeria könnten aufgrund auch der individuellen Stärke durchaus zu schlagen sein. Immer wieder wurde in den vergangenen Wochen der Vergleich mit Kroatien bemüht: bei seiner ersten WM-Teilnahme 1998 in Frankreich belegte das Team sofort den dritten Platz (nachdem 1994 noch alle Länder Ex-Jugoslawiens aufgrund des Krieges von der FIFA gesperrt waren).
Je weiter man kommt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass der Euphorie-Funke im eigenen Land überspringt – auf Serben, Kroaten und Bosniaken. Dem Fußball rechnet man die größte Chance zu, das Land zu einen.
“Für mich sind da keine Serben,
keine Kroaten, keine Bosniaken.
Wir sind eins.“Nationaltrainer Safet Susic über sein Team im November 2013
Der Fußball könnte als verbindendes Element fungieren, wenn die Mannschaft denn erfolgreich in Brasilien ist. Jugoslawien war bis zum Zusammenbruch eine der stärksten Ligen Europas, die Erinnerungen an die erfolgreiche Nationalmannschaft lebt auch in den anderen ehemaligen Teil-Republiken überall fort. Dejan Savicevic, einer der bekanntesten Spieler von Roter Stern Belgrad in den 1990er Jahren und Teil der unglückseligen Nationalmannschaft von 1992, ist heute Präsident des montenegrinischen Fußballverbandes. Der Trainer Bosnien-Herzegowinas Safet Sušić war mit 343 Einsätzen und 85 Toren lange Rekordspieler bei Paris Saint-Germain. Und der ehemalige Nationaltrainer Kroatiens Slaven Bilic war in der Zeit von 1987 bis 1993 einer der erfolgreichsten Spieler bei Hajduk Split, heute trainiert er Besiktas Istanbul. Es gibt eine gesamtjugoslawische Fußballverbundenheit.
“Die Drachen
können die Völker Bosnien-Herzegowinas einen.“Titel der Financial News in Großbritannien nach der erfolgreichen Qualifikation
Die Grenze zwischen Gemeinschaftsgefühl/nationaler Identität und Nationalismus ist schmal. Während Nationalismus andere Gruppen generell abwertet, gibt es das bei nationaler Identität nicht. Für Bosnien-Herzegowina gilt es, das eine zu entwickeln und das andere nicht. Der Beitrag, den die Nationalmannschaft dazu leisten wird, wird wohl nicht gering sein. Die Weltmeisterschaft in Brasilien wird zeigen, inwiefern sich eine Art nationaler Identität entwickeln kann und wird und ob der Sport vielleicht das tut, das man ihm so häufig zuschreibt: Grenzen überwinden.
Name | Ethnie | Verein | Position |
---|---|---|---|
Asmir Avdukic | – | FK Borac Banja Luka | Tor |
Asmir Begovic | Bosniake | Stoke City | Tor |
Jasmin Fejzic | – | VfR Aalen | Tor |
Muhamed Besic | Bosniake | Ferencvaros Budapest | Abwehr |
Ermin Bicakcic | Bosniake | Eintracht Braunschweig | Abwehr |
Sead Kolasinac | Bosniake | Schalke 04 | Abwehr |
Mensur Mujdza | Kroate | SC Freiburg | Abwehr |
Ognjen Vranjes | Serbe | Elazigspor | Abwehr |
Avdila Vrsajevic | – | Hajduk Split | Abwehr |
Anel Hadzic | – | Sturm Graz | Mittelfeld |
Ized Hajrovic | Bosniake | Galatasaray Istanbul | Mittelfeld |
Senad Lulic | Bosniake | Lazio Rom | Mittelfeld |
Haris Medunjanin | Bosniake | Gaziantepspor | Mittelfeld |
Zvjezdan Misimović | Serbe | Guizhou Rehne | Mittelfeld |
Miralem Pjanic | Bosniake | AS Rom | Mittelfeld |
Sejad Salihovic | Bosniake | TSG 1899 Hoffenheim | Mittelfeld |
Emir Spahic | Bosniake | Bayer Leverkusen | Mittelfeld |
Toni Sunjic | Kroate | Zorja Lugansk | Mittelfeld |
Tino Sven Susic | Bosniake | Hajduk Split | Mittelfeld |
Senijad Ibričić | Kroate | Erciyespol | Mittelfeld |
Edin Visca | – | Istanbul BB | Mittelfeld |
Edin Dzeko | Bosniake | Manchester City | Sturm |
Vedad Ibisevic | Bosniake | VfB Stuttgart | Sturm |
1) Biermann, Christoph: Die Fußballmatrix – Auf der Suche nach dem perfekten Spiel; Kiepenheuer & Witsch; 1. Auflage 2011.
2) In der Nationalmannschaft spielen, aufgeteilt nach Ethnien: Bosniaken – 13. Kroaten – 3. Serben – 2. Nicht recherchierbar – 5.
3) Vgl: Groll, Michael, Über den Zusammenhang zwischen Fußball, nationaler Identität und Politik, in: Mittag, Jürgen, Nieland, Jörg-Uwe (Herausgeber): Das Spiel mit dem Fußball – Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen; Klartext Verlag, Ausgabe 2007, Seite 179 ff.
4) Vgl. Ballesterer Nummer 29 – August/September 2007, Seite 19 ff.
Bildnachweis:
Vedad Ibisevic, CC BY-SA 3.0, jeollo von http://www.vfb-exklusiv.de – Eigenes Werk, Neuzugang 2012: Ibisevic bei seinem ersten VfB-Training.
Edin Dzeko of Manchester City kicks off. Jon Candy, http://www.flickr.com/people/37195744@N03
Zvjezdan Misimovic, October 2011, CC BY-SA 3.0, Степиньш Ольга – http://www.soccer.ru/gallery/45617
Beitragsbild: Cracked Wall, Leonardo Aguiar (sensechange) via Flickr
Als am 15. Oktober der Stuttgarter Vedad Ibisevic Bosnien-Herzegowina zur Weltmeisterschaft in Brasilien schoss, da jubelte in der Heimat nicht jeder. Im Großteil der Republik Srpska war es, so Beobachter, ruhig. Keine Freude, keine Autokorsos. Die Hunderttausende, die die siegreiche Mannschaft am Flughafen in Sarajevo empfingen, waren kaum bosnische Serben – eine Ausnahme bildete der Sport-Reporter Marian Mijajlovic, der feiernd aus seiner Kabine auf das Spielfeld rannte.