England – Deutschland: Eine Rivalität

England gegen Deutschland: man denkt sofort an Wembley 1966 oder an Turin 1990. Es werden Erinnerungen an einen Septemberabend in München 2001 oder an Bloemfontein 2010 wach. Es gibt aber auch Aspekte, die selten oder gar nicht betrachtet wurden.

Autor: Christoph Wagner, An Old International

Deutschland gegen England. Während diese Begegnung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Säbelrasseln und Krieg nach sich zog, ist diese seit den 1950er Jahren ausschließlich mit Fußball verbunden. So sehr, dass viele bei dieser Spielansetzung von einem Klassiker sprechen. In der Tat haben einige Spiele das Zeug zum Klassiker und zur Legendenbildung. In England ist das schon geschehen: Keine Mannschaft wird mehr in den Fußballhimmel gelobt als jene, die 1966 den Weltmeistertitel im eigenen Land gewann. Dabei war die Mannschaft die 1970 im Viertelfinale an Deutschland scheiterte, weitaus besser und stärker als jene Helden von 1966. Das untermauert einmal mehr die These, dass nie die besten Mannschaften Turniere gewinnen, sondern die konstantesten.

Das Jahr 1966 war und ist immer noch ein besonderes für den englischen Fußball. Ramseys Helden bezwangen Deutschland in einem spannenden Spiel mit 4-2. Damit hatte Ramsey Recht behalten. Bei seinem Amtsantritt 1963 postulierte er, dass England die WM gewinnen würde. Jedoch konnte keiner ahnen, wie dramatisch dieses Finale werden würde. So sehr, dass Fritz Wirth in seinem Spielbericht für Die Welt hinterher feststellte, dass dieses Spiel auf Jahre hinweg für Diskussionsstoff sorgen würde. Wohl selten lag ein Reporter richtiger als mit dieser Aussage. Allein das umstrittene dritte Tor für England sorgte in Deutschland für Diskussionsstoff, wenn auch nur, um in einen Jammerton zu verfallen, ob des erlittenen Unrechts. Der weitere Verlauf der Geschichte hat jedoch gezeigt, dass dies Jammern auf hohem Niveau war und nachfolgende DFB-Mannschaften sehr erfolgreich bei internationalen Turnieren abschnitten. Spätestens mit der Feststellung durch zwei britische Forscher 1995, dass der Ball NICHT die Linie überquert hat, war das Thema durch. Und erst recht nachdem 2010 ein Tor für England, das nach ähnlichen Umständen zustande kam wie jenes von 1966, nicht gegeben wurde, ist das Wembley-Tor eine Fußnote der deutschen Fußballgeschichte. Nach 44 Jahren wurde endlich das erlittene Unrecht durch die Nichtanerkennung des Treffers von Frank Lampard ausgeglichen. Dieser Fokus auf dieses eine Spiel versperrt jedoch die Sicht auf weitere große Spiele, die sich diese beiden Kontrahenten lieferten. Aber auch auf immer wiederkehrende Themen in der Sportberichterstattung in englischen Tageszeitungen.

Das Land geht vor die Hunde

Es besteht sicher kein Zweifel daran, dass Fußball Englands Nationalsport ist. Dies ist seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Fall. Nach 1945 wurde dem Fußball allerdings die Rolle als Gradmesser für den Zustand der Nation beigemessen. Und schaut man sich die Resultate in den 1950er Jahren an, so kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass es nicht besonders gut stand, um den Nationalsport und das Land. Bei der WM 1950 schied England in der Vorrunde aus, nachdem man gegen die USA verloren hatte. Drei Jahre später dann die Offenbarung im Wembley-Stadion als man gegen Ungarn 3-6 unterging. Die WM im folgenden Jahr war nur unwesentlich besser als die vorige aber immerhin konnte England das Viertelfinale erreichen, wo dann Uruguay zu stark war. Als also die Westdeutsche Nationalmannschaft im Dezember 1954 nach London kam, gab es für England allen Grund zur Wiedergutmachung. Auch für Deutschland ging es um den guten Ruf. Seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft hielten die Ergebnisse nicht Schritt. Es gab Niederlagen gegen Belgien und Frankreich. Zudem hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass die WM-Elf sich unerlaubter Mittel im Finale bedient hat. Angeblich wurden Spritzbesteck und leere Ampullen in der Kabine gefunden.[1]

An dieser Stelle ist es notwendig, den Blickwinkel zu erweitern. Fußball mochte und mag immer noch der Nationalsport Englands sein, jedoch ihm allein die Fähigkeit zuzuschreiben, den Zustand der Nation ablesbar machen zu können, ist vermessen. Vielmehr müssen auch andere Faktoren miteinbezogen werden. Beispielsweise die wirtschaftliche Leistung Großbritanniens, die seit Ende des Krieges kontinuierlich wuchs und das britische Wirtschaftswachstum, das bis 1973 konstant über 2% p.a. lag. Es ging den Briten also besser als vor 1939. Was sicher viele dazu bewogen hat, von einem Abstieg zu sprechen, waren die Zahlen im Vergleichszeitraum aus Deutschland, wo das Wachstum weitaus höher lag. Allerdings waren die Vorzeichen in der jungen BRD auch ganz andere. Das Land musste neu aufgebaut werden, was eine große Kraftanstrengung erforderte. Nicht zu verleugnen ist allerdings ein neidischer Blick der Briten auf das Wirtschaftswunder, welches ab Mitte der 1950er für Wachstum und damit Wohlstand sorgte. Es war eine Frage der Perspektive. Relativ gesehen, hat Großbritannien an Boden verloren, insgesamt aber ist der Fortschritt unbestreitbar. Hinzu kommt, dass 1954 ein Großteil der Lebensmittelrationierungen abgeschafft wurden, was die Versorgungslage erheblich verbesserte. Mit dem National Health Service, NHS, gab es erstmals eine Institution, die allen Bürgern kostenfreien Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglichte. Daneben sorgte die englische Cricket Mannschaft für eine lange Siegesserie gegen Australien, als die sogenannte Ashes-Serie zwischen 1953 und 1956 dreimal gewonnen wurde. Das Rugby-Team gewann mehrfach das Five-Nations-Turnier: 1953, 1954 und 1957 1958. Roger Banister war der erste Mensch, der die Meile unter 4 Minuten lief. Der Mount Everest wurde von einem Briten erklommen. Zu guter Letzt gab die Krönung von Elizabeth II. dem Land neue Hoffnung. Das Land geht vor die Hunde? Mitnichten. Der Premierminister Harold Macmillan brachte es 1957 auf den Punkt:

The British have never had it so good.[2]

Als zur Weltmeisterschaft 1966 in England das deutsche Wirtschaftswunder weiterhin Früchte trug und trotz eines Dämpfers 1965 dennoch für wachsenden Wohlstand sorgte, wurden dagegen die Sorgenfalten in Großbritannien tiefer. Die Abwertung des Pfund wurde durch Austeritätsmaßnahmen nicht abgewendet, sondern nur verzögert. Die Titelseiten der Zeitungen lasen sich apokalyptisch: „Großbritannien ist noch tiefer in den roten Zahlen.“ Und „Die Welt macht Druck auf das Pfund.“ Da kamen Titelseiten wie nach dem Sieg gegen Portugal durchaus recht: „Großartig! Englands ruhmreiche Jungs!“ Für den Daily Express wurde zu viel über Großbritanniens Versäumnisse und zu wenig über die Errungenschaften berichtet. „Es ist an der Zeit, dies zu ändern.“ Da kam das Finale in Wembley gerade recht als der Ort, an dem dieser Prozess beginnen sollte.[3] In der Tat sorgte der Sieg logischerweise für eine Welle der Euphorie, die nicht selten mit dem 8. Mai 1945 gleichgesetzt wurde.
Die englisch-deutsche Fußballrivalität bezieht sich aber nicht nur auf das Finale von Wembley 1966. Vielmehr zieht sich auch ein roter Faden des Misstrauens durch die Jahrzehnte seit 1954.

Englisches Misstrauen

Seit der Wiederaufnahme sportlicher Beziehungen herrschte ein offen zur Schau getragenes und gesundes Misstrauen seitens der englischen Presse gegenüber der deutschen Mannschaft. So auch beim Freundschaftsspiel 1954. Die Herberger-Elf musste auf insgesamt acht Spieler aus dem WM-Finale von Bern verzichten, und natürlich war unter diesen Umständen nicht an einen Sieg zu denken. Für die Zeitungen wie Daily Mirror und Daily Express war die Sache klar: die Deutschen hatten bereits ihre Entschuldigung parat. Mehr noch, in England wurde zu dieser Zeit noch ohne Auswechselspieler gespielt, und wurde diese neue Praxis nicht nur mit Skepsis, sondern durchweg negativ und als kontinentale Unsitte, ja Betrug, betrachtet, die strikt abgelehnt wurde. Dass Deutschland nun auch Wechselspieler nutzte, half wenig, um das Misstrauen zu schmälern. Die oben bereits erwähnte Dopinggeschichte wurde von Desmond Hackett vom Daily Express aufgegriffen. Vor dem Spiel im Dezember 1954 fragte er den Bundestrainer Sepp Herberger – Old Herr Hush, Hush – ob denn seine Mannschaft wieder aufpeppende Injektionen bekäme. Darauf erwiderte dieser etwas wirsch, dass ihn, Hackett, dies nichts anginge. Nicht nur, dass Deutschland mit Auswechselspielern antrat, sie brauchten auch noch Aufputschmittel, um gegen England zu bestehen.[4]

Spannend wurde es dann 1966, als im Verlauf des Turniers vier Spieler der gegnerischen Mannschaften Argentinien, Uruguay und der Sowjetunion gegen Deutschland vom Platz gestellt wurden. Auch hier war für die Schreiber schnell klar, dass dies nicht mit rechten Dingen zugehen konnte und dass deutsche Spieler sich besonders durch Theatralik auszeichneten. Auch hier war der Unterton: die Deutschen schummeln und betrügen und sind nicht vertrauenswürdig. Hugh McIlvanney schrieb im Spielbericht zum Viertelfinale gegen Uruguay im Observer, dass Helmut Haller die Hauptrolle spielte im deutschen Theater. Nur wenige Minuten, nachdem er aussah wie ein Krüppel nach einem Foul erzielte er das vierte Tor. Auch The Times stimmte in den Kanon ein. Geoffrey Green, der Fußballkorrespondent dieser Bastion des Konservatismus, beschrieb, dass die Deutschen dem Referee sehr gern zu Hilfe kamen und flamboyante Purzelbäume schlugen. Der Reporter des Daily Express, Alan Thompson, ging sogar noch weiter und befand, die fallenden deutschen Spieler lieferten eine „oskarreife Vorstellung.“

Die Reaktion von Bundestrainer Helmut Schön war konkret und ließ darauf schließen, wie sehr ihn diese Anschuldigungen trafen und beleidigten. Er, dem es so wichtig war, dass seine Mannschaft einen guten Eindruck hinterließ, bedauerte, dass das Spiel bereits einen bitteren Beigeschmack bekommen hatte, bevor überhaupt gespielt wurde.

„Wir haben diese Anschuldigungen nicht verdient und ich hoffe, sie sind bald vergessen oder die Atmosphäre im Finale ist vergiftet, bevor überhaupt ein Ball gespielt wurde.“[5]

Rechtzeitig vor dem Spiel erfolgte dann jedoch eine Kehrtwende. Die Deutschen wurden gepriesen für ihre Disziplin und Fitness. Selbstverständlich ging man davon aus, dass England das Finale gewinnen würde, trotzdem wurde die Leistung, vor allem aber der Spielstil der deutschen Mannschaft anerkannt. Desmond Hackett im Daily Express stellte fest, dass beide Teams einen nahezu identischen Stil pflegten und schob hinterher, dass England gewinnen würde, weil sie diesen Stil besser spielten. Beide Teams würden sich über den Kampf definieren und nicht wie die südamerikanischen WM-Teilnehmer über Technik und Tricks. Diesen wurde noch mehr Misstrauen entgegengebracht als der angeblichen deutschen Schauspielerei. Dieser Umschwung war eine gekonnte Vorbereitung auf die Spielberichte, in denen die Deutschen dann als hervorragende Sportsmänner und große Verlierer bezeichnet wurden.

Trotz dieser recht negativen Berichterstattung über die deutsche Mannschaft war es lange nicht klar, ob England überhaupt ins Finale kommen würde. England spielte wenig überzeugend im Verlauf des Turniers. Das Auftaktspiel gegen Uruguay war ein lahmes 0-0 und die Presse machte keinen Hehl daraus, dass es so mit dem Titel nichts würde. Nach dem Spiel schrieb der Reporter für The Times, Geoffrey Green, dass England “nach all der langen Zeit der Vorbereitung, frustriert wurde”. Sein Pendant beim Daily Express blieb weiterhin optimistisch, dass England durchaus in der Lage wäre besser zu spielen, wenn erst die Ausscheidungsspiele begännen. Er schloss seinen Bericht mit dem Wunsch, dass England auch englischen Fußball spiele. Auch wenn die folgenden Spiele gegen Frankreich und Mexico nicht besser wurden, so stimmten wenigstens die Ergebnisse. Hackett brachte es auf den Punkt, indem er schrieb, dass der Fortschritt zu begrüßen sei, allein die Art und Weise wie diese Spiele gewonnen wurden, ließe zu wünschen übrig. Dies änderte sich im Laufe des Turniers, insbesondere nach dem Halbfinale gegen Portugal, welches man wohl als das beste Spiel der WM bezeichnen kann. Hugh McIlvanney sah eins der besten Spiele überhaupt. Er war vollkommen überrascht, wie 22 Spieler sich kampfeslustig, aber gleichzeitig doch spielfreudig geben und dabei auch sportliche Vorbilder sein konnten. Der Kontrast zum anderen Halbfinale zwischen der Sowjetunion und Deutschland konnte kaum größer sein. Beide Mannschaften spielten hart und knüppelten. So sehr, dass ein Beobachter festhielt, dass solch eine Spielweise selbst unter dem Niveau der 4. englischen Liga sei. All das war aber nach dem Finale vergessen. England hatte gewonnen und alles schien gut und die Welt in Ordnung.

Der Krieg in der Fußballsprache
Natürlich fehlten auch die Bezüge zum Krieg nicht. Dabei ist es im Fußball gar nicht so leicht, ohne kriegerische Sprachmittel auszukommen. Man nehme die Worte Offensive, Defensive, Angriff, Verteidiger und es wird klar, wie nah dieser Bezug ist und wie leicht er herzustellen ist. Ein Schuss wird zu einer Rakete umgeschrieben, wenn er scharf ist und er schlägt im Tor ein. Diese Verbindung fiel den englischen Autoren in Bezug auf die deutsche Mannschaft leicht, eben wegen der jüngeren Vergangenheit. Beispielsweise wurde die deutsche Abwehr 1954 von der Times als “veritable Siegfried-Linie” beschrieben, was hier durchaus als Kompliment zu verstehen ist. Im Daily Express führte Stanley Matthews einen “One-Man Blitzkrieg against Germany”. Als sich die Welt wenige Tage danach erdreistete zu behaupten, mit allen Spielern vom WM-Finale hätte man England geschlagen, sprach Peter Wilson im Daily Mirror vom Dolchstoß in den Rücken. Während der WM 1966 gab es eine vollkommen neue Erfahrung: erstmals weilte ein deutsches Team einen ganzen Monat in England. Kein Wunder also das Peter Seddon schreibt, “When the Germans invaded Derbyshire”. Gemeint ist das Mannschaftsquartier in Ashbourne im Peak District. Ein Einwohner hatte bereits genug von den vorherigen Konflikten als er meinte, er hätte die Deutschen bereits genug auf den Kampfplätzen in den vergangenen Kriegen gesehen und müsse nun nicht bei deren Training zuschauen. Im Gruppenspiel gegen Argentinien strahlte die Mannschaft fröhliche Aggression aus und bahnte sich den Weg nach vorn wie eine gut gedrillte Miliz.

Wie aber berichteten deutsche Reporter von der WM in England? Würde man plump zurückschlagen? Oder eine feine verbale Klinge schwingen? Während sich englische Autoren meist an der Spielweise, bzw. an der Fallschule der Deutschen rieben, gingen ihre deutschen Kollegen auf die wirtschaftliche Situation Großbritanniens ein. So erwähnte ein Schreiber, dass mit einer weltweiten Zuschauerzahl von 400 Millionen zu rechnen sei, die das Finale an den Fernsehgeräten verfolgen würden. Daraufhin ließ sich der Autor zu einer ironischen Bemerkung hinreißen. Er schrieb, sollte England verlieren, würde es ein weiteres und noch größeres Staatsbegräbnis werden als jenes von Churchill im Jahr zuvor. Damals saßen 350 Millionen vor den Bildschirmen. Jedoch relativierte er seine Aussagen kurzerhand, indem er von einem englischen Sieg ausging.[6]

Für einen anderen war der Verweis auf die wirtschaftliche Lage mit einem deutschen Sieg verbunden. Nach einem solchen würde der Wert des englischen Fußballs tiefer fallen als der des britischen Pfund. Hier wurde die wirtschaftliche Situation mit Fußball gleichgesetzt. Der Autor legte den Finger in die Wunde, denn nur ein Jahr später wurde das Pfund entwertet, was als Ausdruck der unsicheren ökonomischen Situation gilt. Selbst wenn mit Herberger und Rahn zwei der Hauptakteure des WM-Gewinns von 1954 zu Wort kamen, so wurde dies nicht mit dem berühmten erhobenen Zeigefinger getan. Auch gab es keine Erinnerung, dass Deutschland ja bereits einmal diesen Titel gewonnen hatte. Ganz im Gegenteil, man sprach sachlich über die Chancen beider Mannschaften und bot den Lesern die Möglichkeit zu einer eigenen Meinung zu kommen.

30 Years of Hurt: Die EM 1996 in England

Während der Europameisterschaft 1996, die 30 Jahre nach dem WM-Sieg wieder in England stattfand, waren die Zeitungen sehr viel aggressiver in ihrer Herangehensweise. Die Berichterstattung von 1996 hatte mit jener von 1966 nicht mehr viel gemein. Hierbei ist nicht einmal nur die Boulevardisierung gemeint, denn die fand auch in den deutschen Printmedien statt. Vielmehr überraschte die offen zutage tretende Fremdenfeindlichkeit in vielen Tageszeitungen, allen voran im Daily Mirror und im Daily Express. Jetzt fand der Krieg auf den Sportseiten statt. Die Deutschen waren Panzer oder zumindest Kampfmaschinen, die ihre Gegner eiskalt platt machten. Die Krönung kam dann kurz vor dem Halbfinalspiel als die Titelseite des Daily Mirror die englischen Spieler Paul Gascoigne und Alan Shearer in Stahlhelmen darstellte unter der Überschrift:

“Achtung! Surrender! For you, Fritz, ze Euro 96 is over!”

Daneben schrieb der Chefredakteur Piers Morgan einen Kommentar, der in Ausdruck und Vokabular sehr stark an Neville Chamberlains Kriegserklärung an das Dritte Reich aus dem Jahre 1939 erinnerte. Helmut Haller, der im WM-Finale von 1966 das 1-0 erzielte, wurde als Dieb hingestellt, weil er sich angemaßt hatte, den Spielball mitzunehmen. Ein wunderbares Beispiel für fake news. Auf Film- und Fotoaufnahmen von 1966 ist Haller mit Ball unter dem Arm zu erkennen. Er geht in normalem Tempo vom Platz und scheint unbehelligt dabei. Trotzdem wurde er als Dieb abgestempelt.[7]

Auch 1996 gab es Vorwürfe an die deutsche Mannschaft, sie würde falsche Tatsachen vortäuschen. Die Wadenverletzung Klinsmanns sei eigentlich ein Ablenkungsmanöver, um England in Sicherheit zu wiegen. Klinsmann spielte nicht, aber England hat trotzdem verloren. Der Tenor ist aber klar: Deutschland nutzt alle Möglichkeiten, um seine Gegner in die Irre zu führen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

War die Reaktion 1966 verhaltener, so wurde 1996 doch etwas schärfer reagiert auf deutscher Seite. Bundestrainer Berti Vogts war dabei am trockensten, indem er sagte, dass das Halbfinale gegen England ein ganz normales Spiel sei, denn Deutschland ist es gewohnt im Halbfinale zu stehen. Für England dagegen war es eine vollkommen neue Erfahrung, da könne man die hochkochende Euphorie schon verstehen. In der FAZ forderte Roland Zorn die Spieler auf: “Jungs, haut sie weg!” Es war eine Reaktion auf die an Xenophobie grenzende Berichterstattung der englischen Presse und sicherlich war Zorn mächtig genervt vom ewigen Kriegsgeheul seiner englischen Kollegen. Für seinen Kollegen Steffen Haffner war die Anwesenheit von Panzern in den Sportseiten der sicherste Indikator dafür, dass ein Spiel England gegen Deutschland anstand.

Das Ende eines Klassikers?

Von einem Ende zu sprechen, würde zu weit gehen. Vielmehr ist es eine Periode, eine Zeit der Veränderung. In diesem komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen England und Deutschland, in der vergangene Konflikte sehr oft die Hauptrolle gespielt haben, ist momentan wenig Potential für ein weiteres Knallerspiel. Das hat seine Ursache in der Entwicklung beider Nationalmannschaften. Die geht seit einigen Jahren in diametral entgegengesetzte Richtungen. Hier soll keine Ursachenforschung betrieben werden, nur ein Blick auf die Resultate seit 2004 lässt deutlich werden: die Three Lions kommen über das Viertelfinale nicht hinaus, während die DFB-Elf bei EM und WM seit 2006 mindestens immer im Halbfinale stand. In der Breite ist das die erfolgreichste Zeit seit der Ära Schön von 1966-1976.

Von den neun Spielen seit 2000 haben nur die vom Herbst 2000, vom September 2001 sowie das Achtelfinale von 2010 das Zeug in die Reihe der großen Spiele beider Mannschaften aufgenommen zu werden. Im Oktober 2000 stand die WM-Qualifikation für 2002 an und England erwartete Deutschland zum letzten Spiel im alten Wembley-Stadion. Die Gäste versauten mit einem 1:0-Sieg die Party und beendeten nebenbei auch die Trainerkarriere von Kevin “Mighty Mouse” Keegan. Danach wurde Wembley in Trümmer gelegt. Wer meint, dass damit der Fluch von Wembley besiegt sei, der sah sich getäuscht. Knapp ein Jahr später dann der “wurst nightmare” (laut The Sun) für Deutschland. Das Rückspiel in der Qualifikation in einer sehr ausgeglichenen Gruppe. Gewinnt Deutschland, wäre alles klar gewesen und die Qualifikation in trockenen Tüchern. Gewinnt England, würde es eng. Alles schien normal zu laufen als Deutschland durch Carsten Jancker bereits in der 6. Minute in Führung ging. Danach nahm das Unheil seinen Lauf. Dreimal traf Michael Owen und seine Klubkollegen Steven Gerrard und Emile Heskey machten die Hand voll. Die BBC bezeichnete diese Niederlage als das neue Waterloo. Bei der WM 2002 schien die Ordnung wieder hergestellt: England schied im Viertelfinale aus, Deutschland unterlag Brasilien im Finale 2:0.

Und dann kam Bloemfontein. Jeder weiß, was geschah. Lampards Bogenlampe fliegt an die Latte und von dort sicher ins Tor. Ein hektischer Manuel Neuer holt den Ball sehr schnell aus dem Tor und bringt ihn ins Spiel zurück. Und der Schiedsrichter lässt weiterspielen. Wembley heißt seitdem Bloemfontein, zumindest in England.

Seit 2010 gab es drei weitere Begegnungen, allesamt Test- oder Freundschaftsspiele. Auf absehbare Zeit wird dies die Regel sein. Trotz Premier League hat England seit 1996 kein Halbfinale bei einem Turnier mehr erreichen können, musste 2008 sogar bei der EM in Österreich und der Schweiz zuschauen. Für Deutschland dagegen ist das Erreichen des Halbfinales ja wieder einmal Pflicht. Eigentlich schade, angesichts dieser Geschichte an Toren (ob gültig oder nicht), Tragödien und Tränen.

Endnoten

[1]Dazu auch Drepper, D., “Das Pervitin-Wunder von Bern?”, Zeit Online, Oktober 2010, Zugriff am 24. April 2017: http://www.zeit.de/sport/2010-10/bisp-doping-bern-1954; schon 2004 wehrte man sich gegen angebliche Dopingvorwürfe, wie dieser Spiegel Onlinebericht beweist: “Vitamin C, sonst nichts.” Zugriff am 24. April 2017: http://www.spiegel.de/sport/fussball/erzuernte-weltmeister-vitamin-c-sonst-nichts-a-293370.html
[2]Dazu auch Porter, D., “Never-Never Land: Britain under the Conservatives 1951-1964”, in N. Tiratsoo (ed.), From Blitz to Blair: A New History of Britain since 1939 (London: Phoenix, 1998), 118-119; Kynaston, D., Modernity Britain: Opening the Box 1957-59 (London: Bloomsbury, 2013), 55-56.
[3]Daily Express, 29. Juli 1966.
[4]Daily Express, 1. Dezember 1954.
[5]Daily Mirror, 27. Juli 1966.
[6]Die Welt, 30. Juli 1966.
[7]Daily Mirror, 24. Juni 1996.

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