Alfons Sikora spielte von 1972 bis 1976 für Rot-Weiss Essen, Borussia Dortmund und den 1. FC Mülheim in der 1. und 2. Bundesliga (Nord). Als Sikora nach Dortmund wechselte, wurde er vom “Kicker” als “der neue Sigi Held” gefeiert, ein unglaublich talentierter, aber verletzungsanfälliger Stürmer. Sikora erzielte 14 Tore in 100 Spielen und war Toptorjäger für den 1. FC Mülheim in dessen Debütsaison in der 2. Liga 1972/1973, die seinerzeit in eine Nord- und Südstaffel unterteilt war. Mülheim beendete die Spielzeit auf einem bemerkenswerten 11. Rang in einer Liga mit Vereinen wie Bayer Leverkusen, dem VfL Wolfsburg, Hannover 96 und dem BVB.
In diesem Interview spricht Sikora über eine Zeit in der Geschichte von Borussia Dortmund, über die wenig bekannt ist, die Zeit in der 2. Bundesliga nämlich. Sikora zieht Parallelen zur derzeitigen Liga-Zugehörigkeit des HSV, erinnert sich an sein Leben als Spieler des 1. FC Mülheim, dem kleinsten Klub, der je in der 2. Liga spielte, und spricht über Begegnungen mit einigen der Bundesliga-Legenden, wie zum Beispiel Beckenbauer, Overath, Lippens und Uwe Seeler. Es war eine Zeit, in der Vereine wie Borussia Mönchengladbach und Bayern München den europäischen Fußball dominiert haben und Weltmeister Deutschland die Mannschaft war, die es zu schlagen galt. Die Zeit großer Erfolge für den deutschen Fußball, aber auch des größten Betrugsskandals in der Geschichte der Bundesliga.
von Benjamin McFadyean, Borussia Dortmund Fanclub, London
Ben McFadyean (BM): Alfons Sikora, vielen Dank für die Gelegenheit, Sie hier zuhause zu treffen und dieses Interview zu machen! Es ist eine traumhafte, ländliche Gegend, ich kann verstehen, warum Sie gern hier leben!
Alfons Sikora (AS): Danke, es ist schön, Sie kennenzulernen! Ich habe einige Ihrer Interviews gelesen, besonders das mit meinem ehemaligen Mannschaftskollegen bei Rot-Weiss Essen, Manni Burgsmüller. Ein tolles Interview, gute Arbeit. Vielen Dank, dass Sie den Weg hierher gefunden haben, um mich zu interviewen.
BM: Danke für das Kompliment, Manni war ein fantastischer Gesprächspartner. Als jemand, der seit den 1980er Jahren BVB-Fan ist, habe ich mit diesem großartigen Klub viele Höhen und Tiefen erlebt. In den 80ern steckten wir meist im Mittelfeld fest, dann der Erfolg der 90er Jahre und dann die 2000er und alles nach der legendären Ära von Jürgen Klopp. Es ist schwer zu glauben, aber der BVB hat in den 1970er Jahren tatsächlich vier Jahre in der 2. Liga gespielt. Letzte Saison stieg der “Dino” HSV nach 55 Jahren aus der 1. Liga ab, ein Tiefpunkt für einen großen Verein, der, wie der BVB, im Weltfußball alles erreicht hat, inklusive des Gewinns des Europapokals der Landesmeister 1982.
Es ist großartig, einen der Spieler zu treffen, die damals in der Zweitligazeit des BVB dabei waren und ich bin mir sicher, dass Sie diese Periode ein wenig beleuchten können. Lassen Sie mich daher mit einigen Fragen zum BVB in Liga 2 starten. Ich war immer daran interessiert, mehr über die dunkelsten Stunden von Borussia Dortmund zu erfahren und Sie sind ja, genau wie ich, ein BVB-Fan auf Lebenszeit. Wie war es damals, als 20-Jähriger vom Siebentligisten VfB Altena beim BVB zu unterschreiben? Obwohl Sie einer der Topscorer bei Altena waren, war das doch sicher ein großer Schritt zum BVB, oder?
AS: Ich kam als 20-Jähriger zum BVB und es war in der Tat ein großer Schritt aus der Landesliga nach Dortmund, die gerade in die 2. Liga abgestiegen waren (am Ende der Saison 71/72). Als wichtigster Stürmer von Altena und nach dem Aufstieg in die Landesliga war der Wechsel nach Dortmund für mich eine riesige Chance. Um ehrlich zu sein, hätte ich auch kostenlos für die Borussia gespielt – dass ich dafür bezahlt wurde, Spieler des BVB zu sein, war ein Traum, der in Erfüllung ging. Es waren aber andere Zeiten, obwohl der Vergleich mit dem HSV schon passt. Ich kann mich noch daran erinnern, als wäre es gestern gewesen, wie Hamburg mit Stars wie Uli Stein, Felix Magath und Horst Hrubesch 1982 den Europapokal gewann. 55 Jahre in der 1. Liga zu spielen ist eine riesige Leistung und ich hätte nicht gedacht, dass ich diese Ära in meinem Leben noch würde zu Ende gehen sehen! Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand erwartet hätte, dass der BVB jemals in die 2. Liga absteigt, aber Fußball ist nun mal ein Geldgeschäft. Wenn ein Verein zu lange in der Krise ist, ist ein Abstieg meiner Meinung nach manchmal das Beste, was ihm passieren kann. Wie man beim BVB gesehen hat, und ich denke, das wird auch beim HSV zutreffen, braucht es so etwas Schlimmes wie einen Abstieg, um zu erkennen, welch riesige Aufgabe es ist, so einen Klub zu modernisieren. Genau wie der BVB wird auch der HSV mit Sicherheit zurückkommen, aber nicht vergessen: Dortmund hat dafür vier Jahre gebraucht.
BM: Lassen Sie uns über Ihre Zeit beim BVB sprechen. Die Leidenschaft für Borussia Dortmund teilen wir; wenn ich mich in Ihrem Haus so umsehe, ist das definitiv ein BVB-Haus. Sie haben hier viele Erinnerungsstücke, Pokale, einige großartige Fotos. Man kann deutlich sehen, dass der Verein Ihnen viel bedeutet. Sie müssen wirklich gerührt gewesen sein, die Möglichkeit bekommen zu haben, bei diesem Klub zu unterschreiben. War das aber als junger Stürmer nicht auch ziemlich einschüchternd, dazuzustoßen und den damaligen Superstar, Nationalspieler und Europacupsieger Sigi Held ersetzen zu sollen? Oder mit Nationalspielern und erfahrenen Offensivakteuren der damaligen Zeit wie Hoppy Kurrat, Jürgen Schütz oder Werner Lorant um einen Platz in der ersten Elf zu streiten?
Das Dortmunder Team der Saison 1971/72 hatte einen Spielerstamm mit Leuten wie Wolfgang Paul, dem legendären Kapitän der Europapokalsieger-Mannschaft von 1966. Paul ist zusammen mit Siggi Held auch heute noch Botschafter des BVB; an beide wird man sich immer als Teil der ersten deutschen Mannschaft erinnern, die je einen europäischen Titel gewinnen konnte. Allerdings war der Verein gerade abgestiegen und Teil von Borussia Dortmund der frühen 70er Jahre zu sein, muss doch auch eine große Herausforderung gewesen sein, auch wenn man so große Spieler im Kader hatte, oder?
AS: Ja und nein. Jürgen (Schütz) war ein Starstürmer in der italienischen Serie A und hat dort für den AC Turin und die AS Rom gespielt, in der finanzkräftigsten Liga der damaligen Zeit. Das waren schon Legenden, obwohl der BVB in der Saison 1971/72 hauptsächlich aus Nachwuchsspielern wie mir, Ingo Peter, Friedel Mensink und Stürmerkollege Jürgen Wilhelm bestand, wir waren alle Anfang 20. Der BVB beendete die Spielzeit 11 Punkte hinter dem Tabellenführer und glauben Sie mir, auch wenn es nur die 2. Liga war, mussten wir uns als junge Spieler sehr schnell zurechtfinden.
Ich hatte die große Ehre, zusammen mit Hoppy auflaufen zu dürfen. Ich kannte ihn gut und hielt auch über die Spielerkarriere hinaus noch Kontakt. Ich war sehr traurig, als ich von Hoppys Tod im letzten Jahr erfuhr. Ich habe große Erinnerungen an einen großartigen Menschen und Fußballer – Hoppy war einzigartig, wenige identifizierten sich so stark mit dem BVB wie er. Er war schon einzigartig.
BM: Ich wurde 1983, mit 12 Jahren, Fan des Vereins und ein Spieler von damals, der mich beeindruckte, war Torhüter Horst Bertram, der als Nummer 1 von Eike Immel abgelöst wurde. Bertram steht in einer Linie mit Dortmunder Torhüterlegenden wie Immel, Teddy de Beer, Klos und Weidenfeller, alles verlässliche und überragende Keeper, auf die sich der BVB verlassen konnte. Spieler, die unvergessen bleiben; Roman Weidenfeller hat diese Woche sogar sein Abschiedsspiel im Westfalenstadion als einer von nur sieben Spielern in der Geschichte des Klubs, dem diese Ehre zuteil wurde. Ein anderer war Horst Bertram. Was sind Ihre Erinnerungen an ihn?
AS: Horst kam von den Kickers Offenbach, die damals abgestiegen waren, und galt als großes Talent. Wir waren beide Nachwuchsspieler und obwohl er im Konkurrenzkampf mit der damaligen Nummer 2, Jürgen Rynio, stand, hatte er eine starke Karriere mit dem BVB. Irgendwann zog er an Rynio vorbei und wurde zu einem der Eckpfeiler des BVB-Teams, das 1976 den Aufstieg schaffte. Ohne Bertram wäre es ein anderer Klub gewesen, obwohl er letztlich von Eike Immel abgelöst wurde. Wie Weidenfeller jetzt, wird auch Bertram stets in Erinnerung bleiben. Ein super Typ und großartiger Sportler, der bis 1983 blieb. Wie Weidenfeller, der insgesamt 16 Jahre bei Borussia Dortmund verbrachte, spielte auch Bertram sehr lange, 12 Jahre, für den Klub. Natürlich ist es für Torhüter etwas einfacher, aber die Hingabe und Loyalität dieser Typen zum BVB spricht für sich, oder?
„Hoppy war einzigartig, wenige identifizierten sich mehr mit dem BVB als er.“
BM: Für mich, der den BVB seit den frühen 80er Jahren verfolgt, ist es wirklich großartig, eine Verbindung mit einem Spieler zu finden, mit dem Sie zusammengespielt haben und dem ich von der Tribüne aus zuschaute. Schöne Erinnerungen auf jeden Fall und die Wertschätzung und der Respekt, den Sie für Spieler wie Bertram und Kurrat haben, merkt man deutlich. Sie haben mein Interview mit Manni Burgsmüller erwähnt und obwohl Sie nicht mit ihm zusammengespielt haben (Burgsmüller ist der BVB-Rekordtorschütze mit insgesamt 135 Treffern) war Manni, wie Sie sagten, ein Gegenspieler in der Liga. Woran erinnern Sie sich da besonders? Er hat auf jeden Fall ein paar schöne Tore erzielt und galt sowohl auf als auch neben dem Platz als Trickser, nicht wahr?
AS: Manni war die Sensation des Tages, ich habe gegen ihn gespielt, als er bei Bayer Uerdingen war und ich beim 1. FC Mülheim. Schon als junger Spieler war Manni ein Schlitzohr und ich glaube, er lernte eine Menge von meinem alten Freund und Kollegen bei Rot-Weiß Essen, Willi ‚Ente’ Lippens. Er war ein großartiger Mensch in der Umkleidekabine, ‚Ente’ hat das ganze Team bei Laune gehalten und war außerdem ein ordentlicher Stürmer. Wenn Sie so wollen, war Ente Mannis Mentor bei Rot-Weiss Essen. Ich glaube, Manni hat sehr viel von ihm gelernt, denn Sie müssen wissen, dass Lippens damals der Torjäger schlechthin war. Er spielte sogar mit Johan Cruyff für Holland, obwohl ‚Ente’, soweit ich mich erinnere, nicht ein Wort Holländisch sprach!
„Burgsmüller hat alle seine Tricks von Ente Lippens gelernt“
BM: Wenn man sich die Fotos aus Ihrer Karriere so anschaut, wird deutlich, dass Sie in allen großen Stadien der damaligen Zeit gespielt haben: Das Berliner Olympiastadion, das Olympiastadion München, die damalige Spielstätte der Bayern, Borussia Mönchengladbachs Bökelberg, das Hamburger Volksparkstadion, übrigens auch alles Spielstätten, die ich als Fan besucht habe. Obwohl Sie nur fünf Jahre als Profi aktiv waren, haben sie gegen die Besten der damaligen Generation gespielt und sowohl in der 1. Liga mit Rot-Weiss Essen als auch in der 2. mit Borussia Dortmund. Welche besonderen Erinnerungen gibt es an die damalige Zeit?
„Die heutigen Spielergehälter machen einen krank“
AS: Ich kann nur mit großem Stolz und großer Dankbarkeit auf diese Zeit zurückblicken. Was für eine Ehre, neben der goldenen Generation deutscher Spieler wie Overath, Beckenbauer und Gerd Müller selbst Spieler gewesen zu sein. Ich habe in den größten Stadien in Deutschland gespielt für große Teams wie Rot-Weiß Essen und den BVB, aber auch für den 1. FC Mülheim, als der Klub die erfolgreichste Zeit seiner Vereinsgeschichte hatte und in der 2. Liga antrat. Was Spieler betrifft, gibt es da meinen Mannschaftskameraden Holger Osieck, der später 11 Jahre als Trainer beim DFB tätig war und als Assistenz von Franz Beckenbauer 1986 bei der WM in Mexiko war und das Turnier mit Deutschland 1990 in Italien gewann. Osieck war immer dabei an der Seitenlinie mit seinem roten Pullover. Osieck war der Spieler des 1. FC Mülheim, der es am weitesten gebracht hatte, er trainierte die Nationalmannschaften von Australien und Kanada und große Vereine wie Olympique Marseille und den VfL Bochum. Holger ist immer noch ein Freund. Wir haben uns vor 10 Jahren mal getroffen; der Erfolg hat ihn nicht verändert. Er ist ein Duisburger durch und durch, ein Ruhrpottjunge.
In dieser Zeit hat man natürlich nicht so viel verdient wie die Spieler heute (das maximal mögliche Gehalt in der Bundesliga betrug 3.000 DM) und es gab nur hin und wieder mal einen Bonus, aber trotzdem war das für uns damals schon richtig gutes Geld. Die heutigen Gehälter, besonders in der Premier League in England, eine Million pro Woche, vergleichen Sie das mal mit einem ganz normalen Facharbeitergehalt. Ich finde diese Summen inakzeptabel. Millionen? Was soll man mit so viel Geld anfangen? Erst Mitte der 70er Jahre haben Spieler wie Gerd Müller 20.000 DM pro Monat verdient. Aber die heutigen Entwicklungen, wenn man zum Beispiel die 40 Millionen pro Saison für Neymar nimmt, macht einen das doch krank. Damals war es halt eine andere Zeit. Wir haben hart gearbeitet, hatten aber auch regelmäßig ein paar Drinks und viele von uns haben geraucht. Es waren andere Zeiten.
BM: Wissen Sie, ich bin genau so erstaunt, in England sind inzwischen sogar die Ticketpreise unbezahlbar geworden mit durchschnittlich 50 Pfund pro Karte. In der Bundesliga liegt der Durchschnitt wenigstens bei 30 Pfund, aber die Gehälter der Spieler sind auch geringer. Allerdings verdienen die Topstars immer noch Millionen, in meinen Augen ist das zuviel.
Blicken wir noch mal zurück auf den BVB in den frühen 1970er Jahren. Sie waren Stürmer in der Saison 72/73, Dortmund war gerade in die 2. Liga abgestürzt. Das bekannte BVB-Fanzine „Schwatzgelb“ hat 2001 den Abstieg in einem geschichtlichen Beitrag als „den Abstieg ins Bodenlose“ bezeichnet. Vier Spielzeiten verbrachte man im Unterhaus und spielte plötzlich gegen Mannschaften wie Rot-Weiß Lüdenscheid, Eintracht Gelsenkirchen, Lüner SV, Sportfreunde Siegen oder Arminia Gütersloh, von denen die meisten heute irgendwo am Ende der deutschen Ligenpyramide kicken. Es war, wie es „Schwatzgelb“ bezeichnete, „kaum die glänzende Glitzerwelt des BVB, die wir heute im Signal Iduna Park sehen“. Es dauerte vier Jahre, aus der Liga herauszukommen; können Sie uns vor Augen führen, wie es um damals um den BVB bestellt war und wie der Verein den Aufstieg schaffte? Wo liegen aus Ihrer Sicht die Unterschiede zu dem, was wir heute in Dortmund erleben?
„Es waren harte Jahre für den BVB bis zum Aufstieg, aber das Westfalenstadion war pures Glück!“
AS: Naja, zum einen ist da das Westfalenstadion. Sie müssen verstehen, dass die WM 1974 für den deutschen Fußball ein Wunder war. Nach dem Spielmanipulationsskandal der frühen 70er Jahre war der deutsche Fußball in einem schlechten Zustand. 52 Spieler waren wegen Betrugs angeklagt worden, inklusive bekannter Spieler von Schalke 04, Arminia Bielefeld und dem 1. FC Köln und Nationalspielern wie Manfred Manglitz, Klaus Fischer, Reinhard Libuda, Rolf Rüssmann und Zoltan Varga. Bielefeld und Offenbach mussten sogar zwangsabsteigen. Die Fans blieben den Spielen fern, der BVB hatte 1972 eine Begegnung gegen Preußen Münster vor 1.500 Fans. Sie gewannen 7:0, aber können Sie sich 1.500 Zuschauer vorstellen? Der Zuschauerschnitt bei den Bayern halbierte sich infolge des Manipulationsskandals!
Das waren andere Zeiten. Der BVB war nach dem Abstieg in einer schwierigen Situation und als ich zur Mannschaft stieß, waren von den alten Legenden nur noch wenige da. Wolfgang Paul und Hoppy Kurrat waren diejenigen, die vom Europapokalsieger-Team noch übrig waren. Walter Kliemt war Präsident, der Verein war in finanziellen Schwierigkeiten. Obwohl sie das Trainingsgelände in Brackel an die Stadt Dortmund verkauft hatten, hatten sie noch Probleme, eine Lizenz für die 2. Liga zu bekommen. Als Spieler war das eine harte Zeit, es war nicht alles so organisiert und es gab keine klare Richtungsvorgabe.
Der BVB musste mit jungen Spielern neu anfangen, es gab kaum Geld, 9 Spieler hatten den Verein verlassen, inklusive Held, Wosab und Neuberger, es war fast eine komplett neue Mannschaft. Sie wurde durch junge Talente ersetzt, wie Reinhold Mathis von den Sportfreunden Siegen und Mensink vom OSC Bremerhaven. Die Zeiten, in denen das große Geld ausgegeben wurde, waren lange vorbei, die Zuschauerzahlen gering und das Talent überschaubar. Wir waren jung und hoffnungsvoll, aber es waren harte Zeiten bis 1975, dem Jahr vor dem Aufstieg.
BM: Ich habe gelesen, dass der BVB während seiner vier Jahre in der 2. Liga einen Zuschauerschnitt von 8.735 hatte. 1973/74 waren es nur knapp 10% des heutigen Schnitts (78.000 in der Spielzeit 17/18). Mensink und Mathes waren nicht Sigi Held, soviel ist sicher, und dann der Manipulationsskandal… Rolf Rüssmann spielte übrigens von 1980 bis 1985 für den BVB und war einer meiner Lieblingsspieler, Klaus Fischer genauso. Ich erinnere mich, dass er für den DFB und Schalke ein unheimlich wichtiger Spieler war nach der Begnadigung durch den DFB. Ich kann mich erinnern, dass der BVB in den Achtzigern vor 18-20.000 Zuschauern spielte, aber niemals vor 1.500 oder 8.000. Das muss doch herausfordernd gewesen sein? Auch in finanzieller Hinsicht ganz anders als heute, obwohl wir natürlich alle wissen, dass der Verein 2005 fast bankrott gegangen wäre.
AS: Was passierte, war das Westfalenstadion. Das neue Stadion war ein enormer Glücksfall für den Klub, plötzlich war ganz neuer Elan spürbar. Die Bauzeit begann 1971 und 1975 folgte dann der Umzug in die neue Spielstätte. Jeder wollte da ein Teil von sein und plötzlich kamen die Massen. Ich habe mir vor Kurzem mit meinem Neffen in Dortmund ein Spiel angesehen und obwohl er, wie sein Vater, Bayern-Fan ist, waren wir beide von der Erfahrung überwältigt. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Das Westfalenstadion brachte jedenfalls eine rekordverdächtige Zahl an Fans und brachte den Klub zurück auf den Weg in die Bundesliga in der Spielzeit 76/77. Allerdings wurde die Mannschaft auch mit einigen großartigen Spielern verstärkt. Kliemt wurde durch den neuen Präsidenten Heinz Günther ersetzt, was aus meiner Sicht längst überfällig war.
BM: Ich glaube, es gab auch zwei Investitionen der Stadt Dortmund, und zwar erst 200.000 DM und dann noch mal 800.000, wofür die Stadt mit einem ‚DO’ und einem Blumenkamm auf den Trikots belohnt wurde. Durch das neue Stadion und die Unterstützung der Stadt dürfte der Verein zu dieser Zeit in einer besseren finanziellen Situation gewesen sein. Ich meine, dass auf diese Weise auch der Name der Stadt auf den Rücken der Shirts kam. Jetzt hat das jedes Team, aber der BVB war diesbezüglich mal wieder Vorreiter.
„Die Stärke des BVB ist, dass die gesamte Region hinter dem Klub steht, genauso wie Firmen und Fans“
AS: Wenn man sich den BVB anschaut, ist es ja auch jetzt so: Die Stärke des Klubs ist, dass die gesamte Region hinter ihm steht. Damals, in den frühen 70er Jahren, haben sich auch lokale Unternehmen wie Hoesch engagiert, die Stadt Dortmund genauso. Jetzt ist es die ganze Region, der BVB hat hunderte Sponsoren. Die Menschen der Region und die Firmen der Region, das ist die Stärke des Klubs.
BM: Es ist toll, zu hören, dass Sie den BVB immer noch verfolgen und zu Spielen gehen. Ich liebe das Gefühl der Einheit bei unserem Klub, und Sie haben erwähnt, dass Sie über die Jahre den Kontakt mit Held und Libuda und Kurrat gehalten haben. Hat denn der BVB auch die Beziehung zu Ihnen gepflegt?
AS: Jetzt verfolge ich den Klub nur noch wie jeder ganz normale Fan. Leider ist die Beziehung zum BVB sehr eingeschränkt, eine Saison als Spieler ist nicht so viel, schätze ich. Es gab dort viele andere Spieler, aber für mich ist es trotzdem besonders. Ein Verein, der mir sehr ans Herz gewachsen ist, ist auch der 1. FC Mühlheim, mit dem ich in der Bundesliga Nord gegen Vereine wie Bayer Uerdingen, Hannover 96, Bayer Leverkusen, den VfL Wolfsburg und Arminia Bielefeld gespielt habe. Was so besonders war, ist, dass Mühlheim ein kleiner Klub war, der im deutschen Fußball nie eine große Rolle gespielt hat. Wir kamen eigentlich nie höher als in die Landesliga (jetzt die 6. Liga in Deutschland), wir waren ein kleines Team aus einer kleinen Stadt mit nur etwa 100.000 Einwohnern. Ich kam 1972/73 zum BVB und es war magisch, Dortmund war wirklich etwas Besonderes, aber es brachte nicht den erhofften Durchbruch. Plötzlich stand ich in Mühlheim in der Startelf, wir hatten einen phantastischen Teamgeist und erreichten in unserem ersten Jahr in der 2. Liga den 11. Platz.
BM:…und Sie wurden direkt Torschützenkönig mit 11 Treffern?
AS: Es gab da einen besonderen Nimbus rund um den Verein und die Stadt, plötzlich spielten wir vor 10-15.000 Zuschauern in einer kleinen Stadt wie Mülheim. Spieler wie Holger Osieck, Herbert Stoffmehl und ich waren wie lokale Berühmtheiten. Wir spielten vor großen Kulissen, die Menschen kamen aus der ganzen Region, die Ruhrstadion-Atmosphäre war legendär. Insbesondere in Derbys gegen Oberhausen (12 km von Mühlheim entfernt) oder Rot-Weiß Essen machte es Dich stolz, für die Stadt zu gewinnen und oben mitzuspielen. Die Leute aus der Gegend standen Schlange, um einem nach dem Spiel ein Bier auszugeben und ich kann mich erinnern, dass ich damals mein erstes Wunschkennzeichen bekam: MH-AK 1949. Die Stadt, meine Initialen und mein Geburtsjahr. Es war magisch, insbesondere in den 1970ern, und irgendwie klappte alles beim 1. FC Mülheim, alles wirkte so einfach, wir konnten nicht aufhören, zu gewinnen. Einfach nur für den 1. FC in der 2. Bundesliga zu spielen, war ein Riesenerfolg.
Dann gab es einen großen Karriere-Wendepunkt und die Möglichkeit, richtiges Geld zu verdienen. 1974 wurde ich in die 1. Liga zu Rot-Weiß Essen transferiert und bekam die Chance, mich auf dem höchsten Niveau zu beweisen. Plötzlich hießen die Gegenspieler Uwe Seeler, Franz Beckenbauer oder Wolfgang Overath. Ich habe in den besten Stadien und gegen die größten Stars gespielt und denke nicht, dass es irgendwie noch besser hätte kommen können. Diese Erinnerungen kann mir niemand nehmen, besonders an Uwe Seeler vom HSV, eine lebende Legende. Rot-Weiß Essen spielte in der 1. Liga, aber das harte Training… ich denke nicht, dass mein Körper dafür gemacht war. Auch damals haben wir häufig schon zweimal am Tag trainiert. Ich hatte dann noch einmal eine kurze Phase beim 1. FC Mülheim in der Saison 1975/1976, aber es war ein anderer Verein. Es gab finanzielle Probleme, was bedeutete, dass der Klub die meisten talentierten Spieler hatte verkaufen müssen. Sie wurden durch Nachwuchsspieler ersetzt und ich spielte aufgrund von Verletzungen nur 4 Partien. Leider stieg Mülheim 1976 dann ab. Ich hätte sie gern zurück in der 2. Liga gesehen, allerdings ist das in den letzten 40 Jahren nie passiert. Aber wir leben in Hoffnung, es ist ein besonderer Verein. Meine Karriere wurde mit 27 Jahren durch eine Verletzung beendet, irgendwas mit den Bändern. Mit dem heutigen Stand der Medizin wäre es eine simple Operation gewesen, aber damals, in den 70ern, konnte eine solche Verletzung nicht behandelt werde und ich musste meine Schuhe an den Nagel hängen.
Rückblickend schätze ich mich glücklich. Ich hatte eine großartige Karriere, ich habe für meinen BVB gespielt, ich habe in den schönsten Stadien gespielt und gegen Legenden des Spiels. Stellen Sie sich mal vor, damals habe ich sogar noch meinen Uni-Abschluss gemacht, während ich in der 1. Liga gespielt habe – heute wäre so etwas wohl undenkbar.
Alfons Sikora wurde im August 2018 von Benjamin McFadyean interviewt, der in England lebt und dort den Borussia Dortmund Fanclub London gegründet hat. Der Fanklub ist auf Twitter und Facebook zu finden.
Kursiv gedruckt sind die Anmerkungen des Autors.
Bildnachweis: Spox.com, 1.FC Mühlheim/Stadtsparkasse Mühlheim a.d Ruhr, APA
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