Pariser Euro-Notizen

Ein Turnier vor der Haustür

Autor: Christoph Wagner, anoldinternational.co.uk

Teil 1 unseres EM-Rückblicks von Alex, der sich an Fußball-Entzug versuchte, lest ihr hier.

Es ist Europameisterschaft und sie findet unmittelbar vor meiner Haustür statt. Die WM 2006 sah ich in England, was eine besondere Erfahrung war, weil die Engländer festgestellt haben, dass die Deutschen durchaus eine fröhliche Party organisieren können. Die Betonung hier liegt auf fröhlich; dass die Deutschen in der Regel gut im Organisieren sind, hat sich auch auf der Insel herumgesprochen. Nun also dieses Turnier in Frankreich. Unter durchaus besonderen Vorzeichen.


EM-Tagebuch von einem, der sich nicht entziehen kann, weil er vor Ort lebt und den Prinzenpark vor der Haustür hat. Wie soll man so ein Tagebuch beginnen? Gar nicht so einfach, etwas zu finden. Fangen wir doch mal mit den äußeren Begebenheiten an. Frankreich hatte 2015 ein schweres Jahr. Die Anschläge vom Januar und November habe tiefe Spuren hinterlassen und es herrscht immernoch Ausnahmezustand. Erst im Frühjahr hatte die Regierung ein neues Arbeitsgesetz mit Hilfe eines Notparagraphen der Verfassung durchgedrückt. Dass sich etwas ändern muss, ist klar. Nur scheint mir die Tatsache, dass eine neue Arbeitsgesetzgebung, die auf eben solche Art beschlossen wird, sehr stark gegen eben jene zu sprechen, die dieses Gesetz einführen wollen, sowie das Gesetz selber. Klar, Widerstand wird es immer geben gegen neue Gesetze und Regelungen. Hier wurde nicht einmal der Diskurs gesucht, sondern knallhart von oben auf- bzw. durchgedrückt. Während man in England und Deutschland getrost von Fußball als dem Nationalsport sprechen kann, ist der Streik der Sport der Franzosen. Dabei geht es sehr häufig um nichts weiter als das Prinzip. Die Metrofahrer streiken regelmäßig. Diesmal geht es aber um mehr und die Streiks haben sich auf die Müllabfuhr und die Regionalzüge sowie die SNCF (die französische Staatsbahn) ausgedehnt. Es gibt regelmäßig Demonstrationen gegen die linke Regierung und seit dem Frühjahr gibt es eine neue Bewegung: nuit debout, zu deutsch: Die Nacht wach bleiben. Diese Bewegung findet ihren Ausdruck in täglichen Demonstrationen in Paris und anderswo in Frankreich.

8. Juni 2016

In der Woche vor Turnierbeginn gab es im Büro von Kollegen natürlich Fragen, ob man denn die Europameisterschaft verfolgen würde und ob ich denn wolle, dass die DFB-Elf gewinnt. Das sind durchaus Fragen rhetorischer Natur. Mit einem Kollegen bespreche ich dessen Ergebnisvorhersagen für die Gruppenspiele. Bei den meisten sind wir einer Meinung. Mit ihm rede ich auch über das public viewing am Eiffelturm, welches er nicht besuchen würde, aus Vorsicht. Die Vorzeichen sind deutlich zu spüren.
In der 120minuten-Redaktion trudeln seltsame E-Mails ein. Die Firmen wollen Beiträge bei uns veröffentlichen zu mitunter seltsamen Themen. selbst der Fahrradhersteller Cube, einer der Ausrüster der Nationalelf, ist darunter.Das würde sicher Klicks bringen, ist aber nicht unser Anspruch. Diese E-Mails wandern sogleich in den Papierkorb.
Die EM hat noch gar nicht begonnen, das ist man auch schon irgendwie genervt vom Kommerz, der dieses Turnier begleitet. Überall, wo man hinschaut, sieht man das Turnierlogo prangen: Auf dem Saft, dem Bier. Die Equipe Tricolore hat sich für eine Burgerkette einspannen lassen und eine andere ist einer der wichtigsten Hauptsponsoren. In den Supermärkten stapelt sich das Bier bis unter die Decke und es grinsen die Spieler einen an. Ein weiteres Zeugnis, dass der Fußball ein Vehikel des Kommerzes ist. Und ich stelle mir die Frage nach der Systemrelevanz.

10. Juni 2016

Und da geht es los. Der Sohnemann ist heiß und will das Eröffnungsspiel sehen. Die erste Halbzeit geht ja noch in Ordnung, danach ist Bettchen angesagt. Zu seiner Enttäuschung gab es kein Tor. Rumänien steht sicher und lassen nur wenig zu und bekommen einen Strafstoß zugesprochen. Frankreich rennt an und kommt erst gegen Ende zu einem weiteren Tor. Aber was für eins! In den Winkel. Superbude.
Derweil beginnt in Marseille eine ganz andere Diskussion. Oder vielmehr, es beginnt eine Diskussion über Gewalt, über Hooligans, über ein Problem, von dem man in Frankreich ausging, dass es nicht mehr vorhanden sei. Welch eine fahrlässige Fehleinschätzung!

11. Juni 2016

Das Beste am Spiel England – Russland war die Aussage meines Sohnes zu Harry Kane: ‘Guck’ mal, der hat so ein dummes Gesicht.’ Er hat nicht ganz Unrecht. Die Geschehnisse in Marseille, im Stadion bestimmen weiterhin die Schlagzeilen. Man ist dabei schnell mit Urteilen, ohne die Lage genau zu kennen. Wer hat sich da mit wem geschlagen? Da es Marseille war, kann man davon ausgehen, dass es auch Einheimische waren, PSG Hools waren auch nicht weit weg und natürlich russische und englische Hooligans.

12. Juni 2016

Kroatien gegen die Türkei im Prinzenpark vor der Haustüre. Na, wenn da mal nichts passiert. Und so sollte es auch sein. Gegen 14 Uhr gab es wohl eine Auseinandersetzung, angezettelt von Pariser Hooligans. Davon habe ich nur hinterher Berichte eines befreundeten Journalisten gehört. Meine Eindrücke waren fröhlicher. Beide Seiten standen nebeneinander, sangen, tranken und unterhielten sich. Im Meer aus Rot und Weiß fielen die Farben der Schweden, Belgier, Iren, Deutschen regelrecht auf. Eine Gruppe von kroatischen Bikern ließ die Motoren aufheulen um zu zeigen: Seht her, wir haben die größten. Männlichkeitsrituale. Muss auch mal sein. Es blieb friedlich. Es roch nach Bier, Regen und Pisse.
Am Morgen hatte ich auf dem Weg zum Bäcker das Vergnügen, vier Kroaten den Tipp zu geben, die Metro statt des Autos zu nutzen, um zum Eiffelturm zu gelangen. Wie der Zufall es so wollte, sah ich die Vier nach Abpfiff wieder. Sie waren dankbar für den Tipp und hatten ein schönes Spiel gesehen. Sie kamen aus Göppingen, hatten also fast ein Heimspiel.
Mehr Details über Marseille, Nizza. Die gesamte Organisation erscheint absolut chaotisch, nicht durchdacht zu sein. Die Polizei verprügelt England Fans in Marseille, die im Stadioninnenraum Schutz suchen vor russischen Prügelschergen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass frz. Polizisten durchaus in der Lage sind, nicht zu differenzieren und überreagieren, sobald etwas außerhalb der Norm geschieht.

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Rückschau zum Mai 2013
PSG hatte nach einer gefühlten Ewigkeit die Meisterschaft erneut gewonnen. Der Präsident wollte angemessen mit den Fans auf den Champs Elysees feiern. Nur hat der gute Mann keine Ahnung von seinem Club und schon gar nicht von Fußball oder Fußballfans. Die Champs Elysées ist eine Prachtstraße. Das Gros der PSG-Fans sind sicher keine Prachtfans, die den Präsidenten erfreuen würden. Es sind sehr oft Leute aus den Vororten, die eine ganz andere Welt darstellen als die Straße im Zentrum von Paris. Der Club und das Stadion Prinzenpark sind im 16. Arrondissement, in einem der teuersten Bezirke von Paris; komplett fremd, wie aus einer anderen Welt erscheinen da die Fans, die in Jogginghosen ins Stadion gehen und eben keine teuren Hemden tragen. Die Feier geriet aus den Fugen, weil Anhänger und Polizei aneinandergerieten. Wie schnell, das merkte ich, als ich, auf dem Rad kommend, plötzlich in eine Wolke Tränengas fuhr. Was war geschehen? Einige Jugendliche hatten sich einem nicht als Polizeifahrzeug markierten Auto genähert, in dem uniformierte Polizisten saßen. Was wollten die Jugendlichen an dem Auto? Die Antwort blieb mir unbekannt. Die Polizisten sprangen raus und sprühten Pfefferspray in Richtung der jungen Männer und mir ins Gesicht. Es brauchte eine Viertelstunde, bis das Brennen an Augen, Nase und Mund nachließ und noch einmal so lang, bis ich mich in der Lage fühlte, wieder aufs Rad zu steigen. Klar, man kann fragen, was mache ich dort. Ganz einfach: Die Feier lag auf meinem Heimweg vom Französischkurs. Alle anderen Strecken waren zu lang und bedeuteten einen Umweg. Das nur als Beispiel, wie frz. Polizisten mitunter auf Fußballfans reagieren. Die Meisterfeier im Mai 2013 wurde abgebrochen.
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Klar, die Russen trifft auch Schuld und das nicht zu knapp. Sie waren organisiert und hatten nichts anderes im Sinn, als Unruhe zu stiften, die Engländer auch, logisch. Aber irgendwie war der russische Auftritt doch eine andere Hausnummer. Die Gemengelage ist unübersichtlich; wer hat mit wem koaliert um wen zu verprügeln. Erschreckend waren aber die Statements einiger Osteuropäer. ‘Weiter so’, sagte ein hoher russischer Beamter und der Westen sei verweichlicht, fügte er hinzu. Nun denn. Ein bekannter Rechtsradikaler ist Chef einer offiziellen Fanorganisation. Die Russen feiern ihre Kampferfolge, übersehen dabei aber gern, dass darunter auch Unbeteiligte sind, die in keinem Fall irgendwie involviert waren und deren Hauptanliegen eher der Fußball und nicht der Krawall war. Sie feiern sich, weil sie einen Mann Mitte 50 ins Koma geprügelt haben. Ich freue mich auf die WM 2018.

13. Juni 2016

Ich treffe mich mit Julien in der Pariser Innenstadt, um das Spiel Belgien gegen Italien in einer Bar zu sehen. Obwohl Julien gebürtiger Pariser ist, schlägt sein Herz für die Roten Teufel. Es war ein abwechslungsreiches Spiel: Belgien wollte, konnte aber nicht, Italien konnte, wollte nur noch nicht so recht. Dennoch war es irgendwann klar, dass Italien das Ding reißen würde. Die waren einfach zu abgeklärt. Belgiens Jungspunde dagegen rannten gegen diese mit allen Wassern gewaschenen Italiener an. Die Stimmung in der Bar ist gut. Es sind auch viele Iren und Schweden anwesend. Gut ist dabei den Umständen entsprechend zu verstehen.
Irgendwann nach dem Spiel Deutschlands gegen die Ukraine machen Bilder von Joachim Löws Handbewegung in die Hose und an die Nase die Runde. Dass daraus ein Mediensturm erwuchs, ist schier unglaublich. Das er noch eine Entschuldigung hinterherschieben musste, ist eine Frechheit. Was Lukas Podolski in der Pressekonferenz sagte, sollte daran erinnern, dass die Mehrzahl der Sportjournalisten männlich ist. Ich frage mich, warum ich so etwas überhaupt schreibe. Warum man dazu Worte verlieren muss.

16. Juni 2016

Im Büro kommt die Frage nach den Sternen auf dem DFB-Trikot auf. Gefragt hat meine Chefin, sie ist Österreicherin. Wie schön, wenn man da mit Schadenfreude hineinrufen kann: ‘Das kann man in Österreich ja nicht wissen, wofür die Sterne auf dem Trikot stehen.’ Danach ging es zurück ins Glied und die Arbeit weiter.

22. Juni 2016

Etwas ganz anderes: Während des Turniers beschließt unsere liebe Bundesregierung eine erneute Stufe der Überwachung. Diese soll sogar die Überwachung von Minderjährigen beinhalten. Wen wundert es da, dass mehr und mehr Leute sich von der Politik der Etablierten wegbewegen und sich an den Rändern ihre Überzeugungen holen?

26. Juni 2016

Feldversuch. Besuch einer Kneipe, die Bratwurst und deutsches Bier anbietet und als Treffpunkt für Deutsche in Paris bekannt ist. Bin ich froh, dass ich die WM 2006 NICHT in Deutschland erlebt habe. So ein aggressiver Feierzwang ist sehr sehr nervig und anstrengend. ‘Wer nicht singt, ist (Nazi, schwul, Hartz IV oder so). Die Feierprolls waren dabei nicht nur junge Männer, sondern bezogen alle ein: Männer, Frauen, alt, jung. Hinzu kommt der Kommentator: Bela Rethy. Sollte ich jemals wieder nach Deutschland ziehen, werde ich public viewing vermeiden. Freude dagegen beim Sohnemann: er hat alle drei Tore gegen die Slowakei gesehen, zu Hause mit Mama.

27. Juni 2016

Island führt gegen England seit der 19. Minute und England hat keinen Plan. Das ist wohl die bisher größte Überraschung bei dieser EM. Dabei mauern sie gar nicht, sondern bieten ein kampfbetontes Spiel, gegen das England keine Mittel findet. Ein erfahrener Trainer wie Hogdson ist mit seinem Talent am Ende, bzw. hat seine Mittel ausgeschöpft und musste feststellen, dass es nicht gut genug ist. Die Football Association sollte sich auflösen und die Mannschaft gleich mit. Schadensbegrenzung.

1. Juli 2016

Wales – Belgien. Was vor dem Turnier nach einem mäßigen Kick klang, war bei der Euro 2016 ein Viertelfinale und kein schlechtes obendrein. Belgien macht ein tolles Tor zum 1-0 durch Nainggolan, der aus 30m trocken abzieht und in den Winkel trifft. Irgendwann gleicht Wales aus und das Spiel kippt. Wales macht das 2-1 und Belgien verliert die Ruhe; es mangelt an Erfahrung. Kurz vor Schluss dann das 3-1 und der Drops ist gelutscht.

2. Juli 2016

Deutschland dagegen schreibt Geschichte. Seit 1970 hat keine deutsche Nationalmannschaft die italienische geschlagen. In Bordeaux war es nun soweit. Bis es soweit war, dauerte es 120 Minuten und man musste 18 (!!!) Elfmeter überstehen, ehe Jonas Hector den entscheidenden versenkte. Wieviele Herzattacken gab es im Stadion? In Deutschland? In Italien? Jogis Jungs lagen hinten, kamen wieder ran und behielten die Oberhand. Wie gut ging es meinem Sohn dabei. Der ist kurz vor Anpfiff der Verlängerung einfach eingeschlafen. War er beim 1-0 noch aus dem Häuschen, hat er beim Ausgleich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, ob Boatengs Fehler.

3. Juli 2016

Welch ein Kontrast dagegen Frankreich gegen Island. Nach 40 Minuten ist das Ding gegessen, Frankreich führt 3-0 und erhöht noch vor der Pause auf 4-0. Es droht ein Debakel als Giroud auch noch das 5. Tor macht nach 51 Minuten. Keine 5 Minuten später fällt das 1-5 aus isländischer Sicht. Ein Müllertor. Flanke von rechts auf den kurzen Pfosten, kein Verteidiger ging mit, bzw. hatte Sigthorsson auf der Rechnung, der Lloris im Tor keine Chance ließ. So gewinnt man keine Blumentöpfe, auch nicht im eigenen Land. Island gewinnt die 2. Hälfte 2-1 und Frankreich spielt gegen Deutschland im Halbfinale, ein erneuter sogenannter Klassiker unter den internationalen Begegnungen steht also an.
Spielerisch war die EM bisher keine Offenbarung. Die Vorsicht feiert fröhlich Urständ. Oder optimistischer ausgedrückt: es herrscht Disziplin allerorten und damit spiegeln sich im Fußball die Merkelsche Politik der Zurückhaltung, bzw. Schäubles Sparsamkeitszwang wider. Nur nichts riskieren sonst könnte man eventuell als Verlierer den Platz verlassen. Leider lebt der Fußball selten von Ordnung und Disziplin allein, Unordnung muss sein im Kopf wie auf dem Rasen.

7. Juli 2016

Und dann ist es vorbei. Gegen Frankreich. Die nicht besser spielen aber eben die Buden machen, weil sie Stürmer haben. Die DFB-Elf nicht. Unterschied. Selten sah man eine einseitigere 1. Halbzeit als in diesem Spiel. Allein, der Ball wollte nicht ins Tor. Und wenn der Ball nicht will, kann man auch noch Jahre spielen und es passiert nichts. Aber dann geschah doch etwas: ein Handspiel im Strafraum von Schweinsteiger, dem Kapitän. Dankend nimmt Frankreich diesen so wichtigen Strohhalm an. In der zweiten Hälfte kommt zum Pech noch Unvermögen hinzu; Les Bleues sagen Merci und es steht 2-0.
Um mich gegen Kommentare zu wappnen, trage ich ein grünes T-Shirt am folgenden Tag:

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10. Juli 2016

Da diese EM so ziemlich jede Serie hat reißen lassen jede und Ordnung aufgewirbelt hat, sage ich einen Sieg Portugals im Finale voraus. Als Cristiano Ronaldo nach 25 Minuten weinend den Platz verlässt, bin ich mir meiner Sache ziemlich sicher. Denn ohne ihn ist Portugal viel besser, weil ausgeglichener. Und so kommt es dann auch. Selbstredend habe ich auch die Verlängerung vorhergesagt. Frankreich hatte im Kopf wohl schon das Turnier gewonnen und waren mental überhaupt nicht auf dem Platz. Lediglich Moussa Sissokho wollte, hatte aber keinen, der mitspielen wollte/konnte. Der spielt übrigens bei Newcastle United in der 2. Liga.

Das letzte große Turnier?

Einige Kommentatoren haben die Euro 2016 als das letzte große Turnier bezeichnet. So schrieb Jonathan Wilson im Editorial von Heft 19 von The Blizzard und John Doyle schrieb ähnliches im 8by8 Magazin im Juni. Das ist sehr hoch angelegt und wahrscheinlich nicht zu halten. Begründet wird dies mit den bevorstehenden Turnieren. Schon in 2 Jahren wird die WM in Russland stattfinden. Was die Spieler 2016 in Frankreich auf dem Platz gezeigt haben, war erschreckend. Die nächste Europameisterschaft 2020 wird ein Wanderzirkus, um des 60. Geburtstags dieser Veranstaltung zu gedenken. Es wird kein Ausrichterland geben, sondern es wird überall gespielt werden. Nur das Finale soll auf neutralem Boden stattfinden. Um der Historie der Europameisterschaften gerecht zu werden, sollte das Finale in Moskau stattfinden; immerhin hat die Sowjetunion 1960 die erste Auflage dieses Turniers gewonnen. Danach kommt es ganz dick, steht der Zug in die Wüste an: 2022 Katar. Seit Jahren gibt es Berichte über eine verschobene Wahl für dieses Austragungsland, die Bedingungen der Arbeiter auf den Baustellen für die Stadien; immerhin muss eine komplette Stadieninfrastruktur einfach mal so aus dem Wüstenstand entstehen. Hinzu kommt die politische Lage in Katar und in Russland. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, dass man vom letzten großen Turnier spricht.

Abbild der Zeit

Doch soll hier nicht vorgegriffen und die Zukunft vorhergesagt werden. Vielmehr soll dieses Argument etwas näher beleuchtet werden. Was macht ein Turnier groß? Der Sport, die Atmosphäre, die Stadien, das Gastgeberland? Man braucht einige Zeit der Recherche, um ein sportliches Ereignis zu finden, welches diese Kriterien erfüllt. Spontan fallen da die Olympischen Winterspiele 1994 in Lillehammer ein. Die Atmosphäre war entspannt, sogar sehr entspannt hatte man den Eindruck. Die Großmannssucht vorheriger bzw. nachfolgender Veranstaltungen war nicht zu spüren. Aus sportlicher Sicht kommen Jens Weißflog und Björn Dæhlie in den Kopf. Beim Fußball muss man wohl das sogenannte Sommermärchen 2006 als Maßstab, was die Feierlaune der Deutschen angeht, anlegen. Die englische Presse überschlug sich mit Lobeshymnen und wohl auch die Deutschen selbst waren etwas überrascht von soviel Positivität. Fußballerisch dagegen war es eher magere Kost. Man denke an das Spiel Holland – Portugal, welches keine Mannschaft mit 11 Spielern beendete. Oder Zizous Kopfstoß. Diese Auflistung könnte weitergehen und jedes Turnier auf Höhepunkte untersuchen, sowohl auf dem Platz als auch auf den Rängen oder in den Austragungsorten. Hinterher würde die Erkenntnis stehen, dass es einfach zu viele Faktoren gibt, die ein sportliches Ereignis groß werden lassen. Vieles erschließt sich auch erst im Rückblick. England schwärmt immer noch von 1966, logisch: Sie haben ja auch gewonnen; Uruguay träumt noch vom Maracana 1950. Fest steht, es ist nicht einfach, festzulegen, welches Turnier nun das beste aller Zeiten war. Dazu ändern sich zu vielen Parameter über die Jahrzehnte, inklusive das Spiel selber. Vielmehr gilt: Jedes Turnier ist ein Abbild seiner Zeit. Gerade in Frankreich gibt es derzeit genug Nebenschauplätze, um den Fußball zu vergessen. Womit wir bei der Euro 2016 sind.

Nach den Anschlägen im letzten Jahr befindet sich Frankreich im Ausnahmezustand. Dieser wurde nach dem 13. November ausgerufen und inzwischen mehrfach verlängert; nach Nizza nun erneut. Irgendwann kräht kein Hahn mehr danach und der Ausnahme- wird zum Normalzustand. Die Cafés sind voll aber irgendwie war die Stimmung während dieser EM eine andere. Was an vielem gelegen haben könnte. Am Wetter zum Beispiel. Der Mai war verregnet und es gab Hochwasser in Paris. Einige umliegende Städte sind abgesoffen und die Leute haben sicher besseres zu tun, als Fußball zu schauen. In den ersten Turniertagen hat es in Paris regelmäßig geregnet. Dazu kommt die Arbeitsgesetzgebung, die weiter oben schon erwähnt wurde. Warum müssen immer sogenannte linke oder sozialdemokratische Regierungen solche neoliberalen Reformen umsetzen? Blair, Schröder, Hollande. Gibt es denn keine Möglichkeit, dass es in Europa einen Evo Moralez gibt? Dieses Gesetz stößt vielen sauer auf und die Konsequenz sind Streiks in Paris, aber auch anderswo. Der Gewerkschaftsführer der CGT wird als Tyrann bezeichnet, obschon er Gesprächsbereitschaft signalisiert. Er fordert die Regierung auf, diese Neuerungen zurückzunehmen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Alles in allem also eine durchaus bedrückte Stimmung. Dabei hätte es Europa dringend nötig gehabt, positive Ablenkung zu bekommen.

Finanzkrise, Bankenkrise, Flüchtlingskrise und mit dem Brexit auch noch eine Identitätskrise. Überhaupt ist Krise am ehesten, was man mit Europa assoziiert. Krise, der Umgang damit und die Folgen, die auf die einfachen Leute umgewälzt werden. Die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten haben Europa an den Rand des Scheiterns gebracht. Alle meckern über diese große Anzahl an Menschen, an deren Unglück wir nicht unschuldig sind. Polen, ein erzkatholisches Land, vergisst vor lauter Ablehnung ein christliches Leitmotiv: Nächstenliebe. Ungarn steht dem in nichts nach. Und so geht es weiter, bis irgendwann alle die Türen zuknallen ohne Rücksicht auf Verluste. Am Ostrand des Kontinents herrscht seit zwei Jahren Krieg. In der Ukraine blickt keiner aus dem sogenannten Westen noch so richtig durch. Nebenbei holt sich Russland die Krim zurück. Was wäre eigentlich geschehen, hätten Russland und die Ukraine gegeneinander spielen müssen? Orwells Motto vom Sport als Krieg ohne Schießen kommt in den Sinn. Nur ist davon auszugehen, dass es ganz ohne Gewalt nicht abgelaufen wäre. Stichwort Marseille. Was ist überhaupt mit Russland los? Der Ausrichter der WM 2018 unterstellt dem Westen, ein verweichlichtes Mannsbild zu haben. Ein ‘Weiter so!’ nach den Ausschreitungen in Marseille gibt es von offizieller Stelle zu hören. Die Aussage wird zwar dementiert, lässt aber dennoch tief blicken. Ein offen Rechtsradikaler ist Mitglied der russischen EM-Delegation und Chef der Fanorganisation in Russland. Die Leute, die in Marseille kämpfen, sind durchtrainiert und feiern sich, weil sie eine Überzahl englischer Gegner in Schach gehalten haben. Es ist etwas faul in Europa und der Fisch stinkt nicht allein vom Kopfe her. Diese EM hätte ein Lichtblick sein können für Europa, welches sich auf seine Werte besinnen und den Karren aus dem Dreck ziehen sollte. Stattdessen: Brexit. England fliegt innerhalb von 4 Tagen zweimal aus Europa raus. Das erste Mal folgen sie den medialen Rattenfängern und beim zweiten Mal ist die Naturgewalt Island einfach zu stark. Einmal mehr hat Europa eine Krise zu bewältigen und es ist nicht klar, wie viele solcher Krisen noch kommen werden und wie Europa darauf reagieren wird.

Einhundert Jahre nach der großen Katastrophe sind wir also fast wieder dort angekommen, wo Europa nach 1918 und 1945 nie wieder hin wollte: Ein Kontinent sonnt sich im eigenen Nationalismus und versinkt immer tiefer im Sumpf desselben.

Weiterlesen – Teil 1 unseres EM-Rückblicks

Die EM und ich

oder: Über die Sucht Autor: Alexander Schnarr, nurderfcm.de In Teil 2 unseres EM-Rückblicks beschreibt Christoph, der in Paris lebt, seine Eindrücke von der Euro vor der Haustür – seine Euro-Notizen… Weiterlesen

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