Il Fenômeno auf Dreck

Eiseskälte, Aussätzige im Wald und ein Comeback nach Verletzung. Selbst ein Kellerduell in der Kreisklasse hält eine ganze Reihe von Geschichten bereit, die es wert sind, erzählt zu werden.

Autor: Endreas Müller, endreasmueller.blogspot.de

Es ist kalt. Arschkalt. Die Hände sind starr, sie schmerzen. Die Temperatur knapp über dem Nullpunkt. Das Flutlicht taucht den Platz in gleißendes Licht, schaut man hinein, wird man geblendet, steuert man entlegene Flecken des Platzes an, ist es zu funzelig. Der Kunstrasen erinnert eher an die Nadeln eines Tannenbaums als an Naturrasen. Stumpf und ein bisschen nass, der knüppelhart aufgepumpte Spielball gleitet nahezu reibungslos darüber. Eishockeyfeeling.

Von unserem Atem steigt der Dampf auf. Die Köpfe qualmen. Die Füße sind warm. Der Ball läuft ordentlich durch die Reihen auf dem kleinen Spielfeld, das wir für das Abschlussspielchen abgesteckt haben. Es ist eng, die fußballerischen Fähigkeiten der Protagonisten sind begrenzt. Und doch fühlt es sich rund an. Für mich. Ich lasse den Ball laufen – ein, zwei Berührungen, dann der kurze Pass und gleich wieder freilaufen. Den Ball wieder aufnehmen, quergelegt, der Mitspieler schiebt locker ein. Das fühlt sich gut, das fühlt sich richtig an. Ich glaube, ich kann wieder Fußball spielen! Auch wenn das hier im ganz kleinen Rahmen abläuft. Trainingsspielchen mit der Reserve der Reserve. Da sollte es nicht schwer sein, sich zurechtzufinden. Ich freue mich dennoch.

Das Training war nicht umsonst. Die Kälte ist mir egal, ich bin konzentriert, ich will den Ball, ich will zu viel. Der Ball trudelt Richtung Seitenaus, ich will ihn im Spiel halten, ich sprinte: das schaffe ich. Ich mache einen Ausfallschritt, ich bekomme den Ball, halte ihn im Spiel. Aber es kommt auch der Schmerz, das Ziehen. Es ist nicht das Knie, aber der Oberschenkel. Einfach weiterlaufen. Doch das Ziehen lässt sich nicht rauslaufen, es bleibt. In meinem “schlechteren” rechten Bein. Ich möchte das nicht!

Das Training ist vorbei. Ich habe mir die letzten zwei Minuten vom Spielfeldrand aus angesehen. Jetzt spüre ich die Kälte. Meine Hände sind steif, ein bisschen Dampf steigt noch auf von meinem Körper, aber die Spannung ist raus. Meine Gedanken sind nicht mehr beim Training, nicht mehr beim Trainingsspiel. Sie sind wieder da, wo sie noch bis kurz vor dem Training und schon die ganze Woche waren: beim kommenden Samstag. Da sollte mein Comeback sein. Nach langer Verletzung, nach mühsamen Wochen des Auskurierens und Trainierens. Das letzte Spiel vor der Winterpause sollte mein Comeback markieren. Ein voraussichtlich dankbares Spiel gegen eine Gurkentruppe. Ein guter Zeitpunkt, um zurückzukommen. Nach dem Verletzungsaus im Frühherbst vor der langen Winterpause nochmal spielen. Würde ich diese Gelegenheit auslassen, wäre fast drei Monate Schicht im Schacht. Die vielen, disziplinierten Trainingseinheiten würden verpuffen, absorbiert von der Weihnachtsgans und den ganzen anderen Leckereien, die man sich zwischen Weihnachten und Neujahr einverleibt.

Schon auf dem Weg zur Kabine kreisen meine Gedanken darum, ob sich das Ziehen bis zum Wochenende wohl verflüchtigen würde. Ebenfalls auf dem Weg zur Kabine reift in mir auch der Entschluss zu spielen, egal ob es am Samstag noch ziehen würde oder nicht. Vom Oberschenkel meines Standbeins würde ich mir mein sorgfältig vorbereitetes Comeback nicht vermiesen lassen.

Die Zeit tat dann ihr Übriges. Nicht, dass meine kleine Verletzung abgeheilt wäre, aber mit jeder Stunde, die der Spieltag näher rückte, wurde es unumgänglicher, das noch vor Wochenfrist vollmundig gemachte Versprechen, spielen zu wollen, einzulösen. Ich ließ den Dingen ihren Lauf.

Hätten wir gegen ein Topteam gespielt, ich hätte wohl einen Rückzieher gemacht. Doch die Gelegenheit war zu verführerisch. Nach der mauen Vorrunde versprach dieses letzte Spiel vor dem Winter eine Art Happy End für Arme bevor die kalte Jahreszeit den Mantel des Schweigens über das lasche Gekicke legen würde. Auch wenn die Winterpause schon Anfang Dezember begann: mir und vielen meiner Mitspieler war der Spielplan ein Rätsel. Wozu musste bei einer so übersichtlichen Liga bis in den Dezember hinein und im Februar schon wieder gespielt werden? In der Sommerpause verstrichen wertvolle Woche warmen aber doch eigentlich guten Fußballwetters ungenutzt. Verbandsstatuten, Transferregularien, Länderspielabstellungen – man wusste es nicht, was die Staffelleitung trieb. In der Praxis fragte man sich an den letzten Spieltagen vor und den ersten Spieltagen nach dem Winter, wer das wohl alles so erdacht hatte. Knüppelhart gefrorene Plätze, Absagen wegen fallendem Schnee, Absagen wegen tauendem Schnee, dies alles hätte man problemlos umgehen können, würde man zwischen Mitte März und Mitte November spielen. Die da oben mal wieder!

Aussätzige im Wald

Für das kommende Spiel sah es nach einer ordentlichen Kälte, aber ansonsten guten Bedingungen aus: knapp über Null und Sonnenschein. Der Samstag konnte kommen mit oder ohne Ziehen im Oberschenkel. Daran änderte für mich auch die ausnahmsweise komfortable Personalsituation nichts. Verwunderlich, dass bei Spielen gegen Teams aus dem Tabellenkeller der Kader immer prall gefüllt war und in Erwartung des Tabellenersten öfter mal die Arbeit vorging oder alte Verletzungen aufbrachen. Ich brauchte mich nicht zu beschweren über den Opportunismus meiner Mitspieler – ich machte es schließlich genauso und wollte spielen.

In meinem Fall griff das (ungeschriebene) Gesetz der Anfahrt und des Älteren: Wer den weiteren Weg zum Spiel und mehr Jahre im Team auf dem Buckel hatte, durfte spielen. Nachwuchsspieler mussten sich hinten anstellen und sich das Geschehen mindestens eine Halbzeit von der Bank aus ansehen. Rein aus fußballerischer Sicht konnte das natürlich eine Schwächung darstellen. Wenn ein 40-jähriger Mittelstürmer 45 Minuten mit heraushängender Zunge über den Platz kroch und der auf Einsatzzeit brennende Youngster sich das Schauspiel von außen mit ansehen musste, stellte man den Sinn dieser unausgesprochenen Regel in Frage. Für das hierarchische Gebilde “Kreisklassenfußballmannschaft” war diese Vorgehensweise jedoch Gold wert: ein menschliches Signal der echten Wertschätzung, basierend auf langjähriger Zusammenarbeit und Vertrauen, abgekoppelt vom allgegenwärtigen Leistungsdenken unserer Gesellschaft. Nicht zu vergessen, dass ich, durch meinen wie auch immer erworbenen Status als Alteingesessener, von der Regel profitierte. Der dadurch hervorgerufene fußballerische Output war natürlich in manchem Spiel suboptimal, aber jeder verstand die Aufstellung des Trainers, gemeckert wurde wenn, dann hinter vorgehaltener Hand und nach dem Spiel war alles vergessen. Meistens.

Hatte ich schon erwähnt, dass uns ein schlagbarer Gegner erwartete? Dementsprechend gut gelaunt traf man sich bei der Abfahrt zum Auswärtsspiel und machte sich beschwingt auf den Weg. Die Sportstätte des Gastgebers wiederzufinden, gestaltete sich schwierig. Wie immer. Bestimmt schon ein Dutzend Mal war ich selbst dort gewesen und dennoch hatte ich keinen Schimmer welcher der von der Hauptstraße abzweigenden Wege zum Sportplatz führte. Mancherorts hilft einem ja die Beschilderung, “An der Karl-Ranseier-Kampfbahn” oder wie der Sportplatz auch immer hieß, führte einen todsicher ans Ziel. Mancherorts ist bzw. war der Sportplatz der Mittelpunkt des Dorfes und des kulturellen Lebens und deshalb gar nicht zu verfehlen, wenn man einmal vom einen zum anderen Ende des Kaffs fuhr.

Beides war bei diesem Sportplatz nicht der Fall. Wenn man als Kreisklassenfußballer glaubt, einen siebten Sinn für das Auffinden von Sportanlagen entwickelt zu haben – hier war ein Prüfstein. Von der Hauptstraße zweigte eine löchrige Seitenstraße ab, die wiederum auf einen unasphaltierten Waldweg abbog, der sich noch einige hundert Meter durchs dichte Grün schlängelte. Ein kleiner Parkplatz markierte das Ende der Fahnenstange. Mitten im Wald befand sich die Sportstätte unseres Gegners. Zwei Fußballfelder mit ein paar Banden und Geländer drum, ein spartanisches Funktionsgebäude, das war alles.

Das Schöne an dem Waldsportplatz – egal zu welcher Jahreszeit, es gab immer frisch Gegrilltes. Die üblicherweise gereichten Bockwürste verschmähte ich. Allzu oft hatte ich mit ihnen meinen Hunger stillen müssen. Mit Grausen denke ich an die Hallenfußballturniere meiner Jugend zurück. Woche für Woche hatte man sich 8 bis 10 Stunden in miefigen Sporthallen die Zeit vertreiben müssen, immer auf das nächste Spiel wartend. Zu essen gab es ausschließlich Bockwurst, Bockwurst und noch mehr Bockwurst mit Senf oder Ketchup, dazu eine lapprige Scheibe Toast oder ein pappiges Brötchen, gereicht auf der omnipräsenten durchgesifften und womöglich wiederverwendeten Systemgastropappe.

In mancher Nacht wache ich schweißgebadet auf, aufgeschreckt von Albträumen, in denen ich unendlich viele aufgeplatzte Bockwürste mit lauwarmem Senf konsumieren muss. Die riesige, staubtrockene Toastscheibe, die ich ebenfalls herunterwürgen muss, wird im Mund immer mehr mit jeder Kaubewegung. Die Wurstpappe ist durchgeweicht vom fauligen Wurstwasser, das von meinen Händen hinab über meinen ganzen Körper rinnt bis hinunter zu meinen vom Hallenfußball aufgeschürften Knien und dort beißenden Schmerz hervorruft. Kurz gesagt: ich kann keine Bockwurst mehr essen. Deshalb freute ich mich jedes Mal auf dieses Auswärtsspiel und die Bratwurst danach.

Nie hatte ich hinterfragt, warum das Grillritual hier selbst im Winter aufrecht erhalten wurde. Diesmal steckte mir ein Wissender aus unserem Team die Antwort: es gab keinen Stromanschluss auf dem Sportgelände. Handelte es sich bei den Mitgliedern des gastgebenden Vereins um Aussätzige der Dorfgemeinschaft? Waldmenschen, die von den Segnungen der Zivilisation ferngehalten wurden, versteckt im dichten Kiefernwald, auf das niemand sie finde und das unwirkliche Schauspiel des Kreisklassenfußballs anschauen müsse. Nicht, dass sich ein zufällig Vorbeikommender an dem fahrigen Gekicke die Augen verbrennen würde.

Vielleicht hatte der Fußball einfach keine Lobby bei unseren Gastgebern. Dieser Gedanke konnte einem auch beim Betrachten der beiden Fußballplätze kommen, der unschönen Seite des Waldsportplatzes. Der Nebenplatz, der sich etwas abseits befand, war von okayem Rasen bewachsen, dafür jedoch krumm und irgendwie zu schmal. Der Hauptplatz dagegen war eben und wohlgeformt, konnte allerdings nicht mit einer Rasendecke aufwarten. Es handelte sich auch um keinen Hartplatz im engeren Sinne. Das Spielgeläuf bestand vielmehr aus einer Schicht hellen Drecks mit lehmigem Untergrund, der einen oder anderen Pfütze und…Steinen. Vielen großen und kleinen Steinen. Vom Kiesel bis zum augapfelgroßen Miniklumpen war alles zu finden. Beachsoccer auf dem Großfeld in der Sparvariante. Bei jedem Spiel war man aufs Neue darauf gespannt, mit welchem der beiden Gurkenplätze man wohl dieses Mal Vorlieb nehmen müsste – Not oder Elend. Als wir am Platz ankamen, sahen wir sofort den Schlamassel. Missmutig baute ein freiwilliger Helfer die Eckfahnen auf dem Dreckplatz auf.

Die innere Vorfreude auf einen versöhnlichen Ausklang der Hinrunde schien uns beflügelt zu haben. Wir waren vollzählig da und die Gastgeber hatten noch nicht einmal ein Kleinfeldteam beisammen, geschweige denn einen Schlüssel für die Umkleiden parat. Man ließ uns warten. Wenn es schon auf dem Platz nichts zu gewinnen gab, dann konnte man den Gegner wenigstens zermürben, indem man ihn in der Kälte ausharren ließ. Schikane. Für mich gut nachvollziehbare Schikane. Wenn ich wüsste, dass ich gleich mit einer Rumpftruppe ein Heimspiel verliere, würde ich den Moment der schmerzhaften Niederlage wohl auch so lange hinauszögern wie möglich und Elemente der psychologischen Kriegsführung in meinen inneren Matchplan einarbeiten. Der Mann mit dem Kabinenschlüssel kam. Wir quetschten uns in das 10qm-Kabuff und sahen zu, dass wir uns umzogen, dabei fortwährend den Nebenmann unabsichtlich mit den Ellenbogen und sonstigen Körperteilen puffend und postwendend unabsichtlich zurückgepufft werdend. Schocktherapie für klaustrophobisch veranlagte Misanthropen. Nur raus auf den Dreckplatz.

Wir starteten unser halbwegs koordiniertes Aufwärmprogramm – soviel Struktur gab es. Einer macht den Vorturner, die anderen trotten hinterher oder imitieren bestmöglich die Bewegungen des Nebenmannes. Da bei Dehnübungen und Ähnlichem Bewegungsabläufe oft denen des nächstgelegenen Mitspielers nachgeahmt oder aus der Erinnerung heraus nachmodelliert werden und die allgemeine Beweglichkeit unter den Spielern stark variiert, sah das Gesamtbild dementsprechend inhomogen aus. Auf der anderen Seite kullerten sich eine handvoll Spieler den Ball zu, einer bolzte lustlos aufs Tor. Das waren Outlaws, für die keine Regeln galten. Wenn sie schon jedes Spiel verlieren würden – ihre Freiheit konnte ihnen niemand nehmen und irgendwelche affigen Aufwärmübungen ließen sich mit ihrem Freiheitsverständnis einfach nicht vereinbaren.

Bei uns dann das übliche Ballgeschiebe im kleinen Viereck. “Lockeres Spielchen”? Pah! Wenn zwölf technisch limitierte Fußballer sich auf engem Raum begegnen, wird öfter das Schienbein als das Spielgerät getroffen. Niemand verfolgt eine böse Absicht, aber man kann es einfach nicht besser. Alle 2 Minuten sinkt einer zu Boden, humpelt kurz an den Rand, um nach kurzer Pause weiterzustümpern. Schreckliche Minuten, die nie zu Ende gehen wollen. Man hebt den Blick um herauszufinden, ob sich beim Gegner endlich genug Spieler eingefunden haben oder sich der Schiri endlich aus der Kabine trollt.

Il Fenômeno

Er war schnell, konnte dribbeln, hatte einen strammen und platzierten Schuss – kurzum: er war recht talentiert – schon immer gewesen.

Warum ich mich hier an solchen Details aufhalte? Das eigentliche Fußballspiel war schon nach wenigen Minuten entschieden. Nicht einmal 15 Minuten waren gespielt und es stand 3:0 für uns. Ich könnte jetzt hier mit Vergleichen, wie dem heißen Messer (wir) und der Butter (des Gegners Team) anfangen, doch metaphorische Überhöhung der eigenen Leistung wäre fehl am Platz. Das Einzige, was kaum mit Worten zu beschreiben ist, ist die Einstellung des Gegners. Hätte es sich um Profifußballer gehandelt, man hätte meinen können, sie wären in den Streik getreten. Selbstaufgabe vom Anpfiff weg. Langsam trotteten die Gegenspieler neben uns her, überließen uns den Ball und schauten zu, wie er ein ums andere Mal im Tor landete.

Solche Situationen gibt es in der Kreisklasse öfter und jedes Mal irritieren sie mich aufs Neue. Wie kann der Unterschied von einer Gurkentruppe zur nächsten so gravierend sein, dass die eine der anderen innerhalb von 10 Minuten gleich mehrere Tore einschenkt. Mit zum Spielende hin einbrechender Kondition konnte das wohl kaum begründet werden. Der Gegner, so schien es, fügte sich direkt vom Anpfiff an in sein Schicksal, die Niederlage. Es muss doch irgendetwas Mentales dahinterstecken! Sonst würde man gegen eine Mannschaft wie die unsrige nicht so schnell so schlecht aussehen. Auf dem Platz waren mir solche Gedanken ziemlich fremd. Ich war froh, dass es so gut lief und ein ruhiger Nachmittag auf mich zukam. Gnadenlos hatten wir unsere ersten Chancen verwertet und wäre es nicht so gewesen, es hätte vielleicht doch eine Hängepartie werden können. Denn im Anschluss an unsere Führungstreffer dümpelte das Spiel auf niedrigem Niveau vor sich hin.

Zwei Tore und eine Vorlage hatten wir einer unverhofften Verstärkung zu verdanken. Wir hatten bei dieser Partie einen richtigen Stürmer im Team. So einen, der 30 m vorm Tor den Ball annimmt, zielgerichtet in den Strafraum dribbelt und dann platziert schießt. Ein Wunderstürmer (für unsere Verhältnisse). Zug zum Tor, Torinstinkt, Tormaschine, Knipser. Warum spielt so jemand mit mir in der 2. Mannschaft zusammen, wo er doch eigentlich für die 1. Mannschaft oder gar höhere Aufgaben prädestiniert wäre? Faulheit! Unser bester Mann an diesem Tag war ein Jahr jünger als ich, also im besten Fußballeralter. Er war schnell, konnte dribbeln, hatte einen strammen und platzierten Schuss – kurzum: er war recht talentiert – schon immer gewesen. Und mit seiner Zahnlücke erinnerte er auch äußerlich etwas an Il Fenômeno.

Nur an der Motivation haperte es. Schon im Jugendbereich war er immer derjenige gewesen, der nur so viel trainierte wie nötig. Den Ball lieber aufs Tor kloppte, als die Passübungen mitzumachen. Mithalten konnte er bei uns Älteren dennoch. Seine Spiellaune unterlag ebenfalls starken stimmungsabhängigen Schwankungen. Er konnte auch einfach mal ein ganzes Spiel lang gar nichts tun, außer herumstehen und gestikulierend und rufend den Ball fordern. Er war in diesem Fall nicht die Art von Stürmer, die man 89 Minuten nicht sieht, um im entscheidenden Moment das entscheidende Tor zu machen. Er war die Art von Stürmer, der im entscheidenden Moment einfach mal nicht in Position lief, wenn er keine Lust hatte. Manchmal war er schlichtweg ein Totalausfall. Und dennoch ein Kandidat für die 1. Mannschaft. Aber auf die hatte er so gar keine Lust. Unser Fenômeno zog es vor, sich um die meisten Spiele zu drücken und die Samstage schon am frühen Nachmittag mit einem Bier zu begießen.

Die 2. Mannschaft war ihm sympathischer. Allerdings ist es schwer, einerseits für das Spiel bei der 1. Mannschaft eine Ausrede parat zu haben und andererseits für die 2. Mannschaft spielen zu können. War er mal für die 1. Mannschaft aktiv gewesen, griffen allerhand wundersame Regeln, die das Spielen für die 2. Mannschaft verhinderten. So kam es recht selten, dass er uns a) überhaupt zur Verfügung stand und b) Lust hatte zu spielen. Einem durchschnittlichen Fußballer hätte man dieses Hin und Her, die ganzen Unzuverlässigkeiten, wohl nicht durchgehen lassen. Aber er konnte es mit uns machen. Das wusste Il Fenômeno. Und wenn ihn die 1. Mannschaft mal wieder verstoßen hatte – umso besser, dann konnte er für die 2. spielen, wo es eh viel gemütlicher zuging.

Il Fenômeno stand also auf dem Platz und hatte Lust, Tore zu schießen und Fußball zu spielen. Und das tat er dann prompt für 15 Minuten und entschied das Spiel. Danach wandte er sich der dunklen Seite seiner Fußballerseele zu, kickte lustlos seinen Stiefel runter und verarschte nach Belieben die Verteidiger des Gegners. Den Ball am Fuß, zuckelte er dann und wann noch einmal los, aber die echte Lust am Gewinnen, am Toreschießen, hatte er verloren. Ein Supertyp.

So belauerten sich nach der schnellen Führung zwei Mannschaften, die nicht konnten, was sie wollten. Ein erbarmungswürdiges Schauspiel nahm auf dem Dreckplatz seinen Lauf. Ich hatte mich damit abgefunden und machte keine Anstalten, daran irgendetwas zu ändern. Schließlich hatte ich immer noch mit meinem Bein zu kämpfen. Den Ball mit dem angeschlagenen rechten Fuß zu spielen, war nicht drin. Läuferisch war ich auch ein bisschen limitiert. So konzentrierte ich mich aufs Verteidigen, was mir bei meinem Gegenspieler nicht sonderlich schwer fiel. Es lief alles nach Plan.

Halbzeit. Und man fragt sich, wozu die nächsten 45 Minuten noch gut sein sollen. Das würde doch jetzt ewig so weiter gehen, ich würde anfangen zu frieren und mir vielleicht mein Bein noch ganz kaputt machen. Tatsächlich begann die zweite Hälfte wie die erste – mit schnellen Toren. Diesmal rappelte es, um diesen etwas angemotteten Begriff zu bemühen, nur zweimal – 5:0, das Spiel war durch. Zumindest für meine Mannschaft. Im gegnerischen Team erwachte jedoch der Siegeswille. Etwas spät für meinen Geschmack. Jetzt, wo alles verloren war und das Spiel langsam, aber sicher zu einer Demütigung wurde, fing der Gastgeber an zu treten und zu ziehen.

Ich verstehe die mit Ingrimm ausgeführte Grätsche im Niemandsland bei uneinholbarem Rückstand. Was sie nicht richtiger macht.

Frust. Und ganz schlechter Stil. Was sollte dieses Getrete jetzt noch, außer sich als schlechter Verlierer zu profilieren und unnötig Aggression ins Spiel zu bringen? So denkt sich das der am Geländer lehnende Betrachter. Aber ich, und vermutlich jeder andere Fußballer, kennt diese Hilflosigkeit auf dem Platz. Ein Gegner, der dir locker ein halbes Dutzend einschenkt und sich dafür noch nicht mal anstrengen muss, vielleicht sogar noch mit unnötigen Kabinettstückchen die Demütigung erhöht. Wer kann das ertragen? Ich für meinen Teil manchmal nicht. Ich verstehe die mit Ingrimm ausgeführte Grätsche im Niemandsland bei uneinholbarem Rückstand. Was sie nicht richtiger macht.

Fakt war, dass diese Spielweise nichts am Spielstand änderte und eher noch dazu führte, dass einige Spieler des Gastgebers vom Platzverweis gefährdet waren, was wiederum die Handvoll Unterstützer des Heimteams gegen den Schiedsrichter aufbrachte. Ein Teufelskreis. Eigentlich. Denn die mangelnde Fitness erlaubte unserem Gegner nur für wenige Minuten, dem körperbetontem Spiel zu frönen. Nach 10 Minuten brach alles schon wieder in sich zusammen.

Nach der Brutalität war nun wieder die spielerische Harmlosigkeit angesagt. Diese Zahnlosigkeit war es wohl, die in unserer Mannschaft ein Phänomen, nicht Il Fenômeno, in Gang brachte, welches sich wohl mit “laissez faire” am besten umschreiben lässt. Jeder wollte nochmal vom süßen Nektar des Sieges kosten und versuchte, Akzente im Angriffsspiel zu setzen. Soll heißen: der Vorstopper setzt ohne Not noch vor der Mittellinie zu einem Maradona-Gedächtnis-Dribbling an und verheddert sich kurz vorm gegnerischen Sechzehnmeterraum. Oder das Mittelfeld hält es nicht mehr für nötig, mit zu verteidigen und zurückzukommen.

“Das Mittelfeld kommt nicht zurück” ist übrigens, glaubt man den Aussagen der beteiligten Abwehrspieler, dezidierter Grund für mehr als 96 % der Gegentore in den unteren Spielklassen. Auch in meinem Fall hatte sich das Blatt jetzt dahingehend gewendet, dass wir wegen unseres am gegnerischen Sechzehner pumpenden Vorstoppers und dem nicht zurückkommendem Mittelfeld um den Ehrentreffer bettelten. Ich blieb mit meinem Bein zurück und sah Angriffswelle um Angriffswelle auf mich zurollen. Bemüht war das, aber harmlos. Und dennoch mussten die verbliebenen Abwehrspieler sich nun um je mehr als einen Gegner kümmern. Die Null stand dennoch, kläglicher Chancenverwertung sei Dank.

Noch 10 Minuten zu spielen. Ich ließ mich bei meinem Comeback stilecht kurz vor Schluss auswechseln. Unser Trainer weiß eben, wie er uns glücklich machen kann. Ich war eben noch nicht wieder bei 100 %. Ich war vermutlich seit 8 Jahren nicht mehr bei 100 % gewesen. Die letzten Minuten eines entschiedenen Spiels nach der Auswechslung von draußen beobachten. Eine der Sachen, die ich beim Fußball besonders genieße. Schon mal runterkommen und das Spiel einordnen, während auf dem Platz noch der Ball hin- und hergerollt wird. Die ersten Einschätzungen von den draußen Sitzenden einholen, die ersten Witze für die Kabine zurechtlegen und nochmal kurz einen Blick als Außenstehender auf das erhaschen, woran man bis gerade eben noch mitgewurschtelt hatte.

Ein schönes Comeback. Auch wenn mein Einsatz vollkommen wertlos war – es hätte genauso gut ein Sack Mehl auf der Außenverteidigerposition spielen können. Auch wenn das Spiel vollkommen wertlos war – zwei Mannschaften aus dem Tabellenkeller kämpften um nutzlose Punkte, da sie weder zum Aufstieg führen noch den Abstieg vermeiden würden.

Ich war beseelt und die Bratwurst schmeckte nicht mehr ganz so gut wie in den Vorjahren, jetzt, da ich wusste, dass dahinter kein passionierter Griller, sondern ein fehlender Stromanschluss steckte. Es war früher Nachmittag und die Sonne begann schon wieder, sich zu verkriechen. Auf dem Nebenplatz würde gleich die 1. Mannschaft des Gastgebers spielen. “Wollen wir noch eine Halbzeit zuschauen?” Sicher! Es ist kalt. Das ist mir egal. Es hat sich alles gelohnt. Die Rückrunde kann kommen.

Dieser Text ist der 10. in der Reihe “ein Jahr im Kreis”, die eine ganze Saison in den Niederungen der Kreisklasse Revue passieren lässt. Die Texte 1-9 sind in Endreas Blog zu finden. Fortsetzung folgt.

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Kategorie q 120minuten

Endreas Müller heißt in Wirklichkeit ganz anders und beschäftigt sich schon länger mit Fußball im Allgemeinen und dem Bloggen im Besonderen. Vor einiger Zeit stellte er sich gemeinsam mit Christoph Wagner die Frage, warum es eigentlich in der deutschen Blogosphäre noch keine Plattform für lange Fußballtexte gibt – die Idee von ‚120minuten’ war geboren.

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  1. Pingback: Neunnachneun | Ansichten aus dem Millionendorf

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