Meine Tour-de-France

Die WM in Frankreich kann die Fifa als Erfolg verkaufen – gute Einschaltquoten sorgten für viel Aufmerksamkeit. Doch wie hat sich das Turnier vor Ort angefühlt und wie sah es hinter der Fassade der TV-Übertragungen aus. Tom hat Frankreich während der WM bereist und war bei vielen Spielen vor Ort. Uns hat er seine persönlichen Eindrücke geschildert.

Von Tom Seiss

„Le match, est termine? Qui a gagné?“ (Ist das Spiel aus? Wer hat gewonnen?) Es ist kurz vor Mitternacht, ich stehe müde und total verschwitzt nach einer halbstündigen Fahrt in einer überfüllten Straßenbahn, die einer fahrenden Sauna glich, in einem Späti in Lyon und kaufe ein Bier. Ich denke mir gerade, dass ich mich nach gut drei Wochen in einem Land, das unter einer Hitzewelle genauso stöhnt wie ich, eigentlich freue, nach Hause zu fahren. Der Verkäufer hat mein Niederlande-Trikot erkannt. Es ist das erste Mal, dass mich ein Franzose auf die Fußball-WM anspricht. Nach gut drei Wochen.

Und das beschreibt ganz gut das Problem, das ich mit dieser WM habe: Sie reißt mich als Fan des Frauenfußballs nicht vom Hocker. Weder das Programm um die Spiele, noch die Spiele an sich. Zu vorhersehbar ist der (verdiente) Sieg der Amerikanerinnen, die mit Abstand das auf allen Positionen am besten besetzte und durchschlagkräftigste Team der WM stellten. Zu bekannt ist das Rahmenprogramm mit seinem Fokus auf Familien und Kinder rund um die Spiele. Die WM wird als Erfolg verkauft – und trotzdem bin ich nicht zufrieden. Warum?

Das Turnier 2019 in Frankreich ist meine fünfte Großveranstaltung in ebenso vielen Ländern in sieben Jahren. Reingekippt bin ich in die familiäre Frauenfußballgemeinde Anfang der 2010er Jahre. Gekoppelt mit meiner Reiselust hat mich der Frauenfußball in Länder und Städte geführt, die ich so eher nicht bereist hätte. Die Olympischen Spiele 2012 in London wurden zu einer Rundreise durch Großbritannien, die Europameisterschaften 2013 und 2017 führten mich in diverse (Klein-)Städte Schwedens und der Niederlande. Die WM 2015 wurde zu einer Reise quer durch Kanada. Altersmäßig spricht mich der Fokus der Veranstalter („Wir müssen die nächste Generation junger Mädchen erreichen und inspirieren“) aber nicht an. Ich will als erwachsener Fußballfan angesprochen und ernst genommen werden, mit einem entsprechenden Rahmenprogramm. Frankreich war hier nicht innovativ.

Ja, es war alles gut organisiert im Stadion. Ja, die Einschaltquoten im Fernsehen waren die besten in der bisherigen Geschichte des Frauenfußballs, oft mit fantastischen Reichweiten.

Ja, das Medieninteresse war groß, vor allem der Journalistentross aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien beeindruckend. Das sind Fingerzeige, dass die Professionalisierung und Akzeptanz des Frauenfußballs voranschreiten. Aber es gibt Luft nach oben.

Gab es bei der EM in Schweden noch Podiumsdiskussionen, „Meet & Greets“ mit aktuellen und ehemaligen Spielerinnen und ähnlichem, so war davon 2019 nichts zu sehen. Alle Frauenfußball-Großveranstaltungen hatten Fanzonen, wie man sie von Weltmeisterschaften und Europameisterschaften der Männer auch kennt: eigene Eventzonen in der Stadt für die reisenden Fans, typischerweise ausgestattet mit Infoständen, Geschicklichkeitsstationen, oft mit Getränken und Imbissstationen. Zentral platziert, sind die Fanzonen ein wichtiger Aspekt, um die WM/EM als Event optisch für Einheimische wie auswärtige Fans greifbar zu machen. Sie sind auch erste Anlaufstationen für mitreisende Fans, wenn es um Informationen rund ums Turnier geht. Bei den Olympischen Spielen 2012 und der EM 2017 in Holland wurden in den Fanzonen alle Partien auf Großleinwänden übertragen. Nicht so in Frankreich. Alleine Copa90 hatte in seinen temporären Club Houses in Paris und Lyon ein tolles Programm mit Diskussionsveranstaltungen und Live-Übertragungen. Dort traf man gleichgesinnte Fans und auch einige Spielerinnen, konnte sich austauschen, feiern, bunt gemischt, unabhängig von den Teampräferenzen. Das ist ein Aspekt, der den Frauenfußball so besonders macht. Doch die Veranstalter haben diesen Aspekt diesmal zu wenig bedient. So war zum Beispiel die Fanzone in Reims gut versteckt, in anderen Städten musste man durch Sicherheitsschleusen. In Paris konnte es passieren, dass man im Stadtbild überhaupt nichts davon mitbekam, dass gerade eine Fußball-WM stattfand. Zum längeren Verweilen luden die Fanzonen nicht ein. Oft waren es die Spielübertragungen bei denen man Fans aus anderen Ländern traf und mit ihnen ins Gespräch kam.

Es gibt mit Megan Rapinoe einen Star, die es mit ihrer politischen Aussage „I’m not going to the fucking White House“ weltweit in die Schlagzeilen schaffte und den amerikanischen Präsidenten zu einer seiner Twitter-Tiraden veranlasste. Es ist auch die offen lesbische Megan Rapinoe die – gemeinsam mit einigen ihrer US-Teamkolleginnen – aufzeigt, was im Männerfußball immer noch als undenkbar gilt: Homosexualität ist kein Thema, sondern akzeptierter Bestandteil des Fußballs. Ihre erfrischende Antwort auf die Frage nach ihren zwei Toren im Viertelfinale, ob es etwas Besonderes sei, Tore im so genannten Pride Month Juni zu schießen: „Go gays! You can’t win a championship without gays on your team, it’s pretty much never been done before ever. Science, right there.”

Es sind diese Ecken und Kanten, die gelebte Diversität, die den Frauenfußball und das Fantum oftmals anders und offener machen als seinen Counterpart. Das dem aber noch nicht überall so ist, darauf weisen die Les Dégommeuses in ihrer Heimat Frankreich hin. Eine offen lesbische Spielerin im französischen Team scheint undenkbar, da vom Verband eine weich gebürstete Weiblichkeit (mit implizierter Heterosexualität) gewünscht ist.

Was positiv auffiel, war die durchweg gute Stimmung in den Stadien. Die WM mobilisierte Fanmassen, jedenfalls aus bestimmten Ländern. Mit der Ausnahme der beiden Städte im Süden (Montpellier und Nizza), war die Auslastung gut bis sehr gut. Jedes Spiel mit Beteiligung Frankreichs oder der USA war offiziell ausverkauft; trotzdem gab es immer wieder leere Sitze, da einige Ticketbesitzer nicht erschienen. Der günstige Preis und der hohe Prozentsatz an sogenannten complimentary tickets (Tickets an Sponsoren, VIPs, medizinische und technische Beobachter, etc.) mögen mit ein Grund dafür gewesen sein. Am auffälligsten waren zwei Fangruppen: die gutgelaunten niederländischen Fans mit ihren Partys und Fanmärschen, sowie die fünfstellige Fankolonie aus den Vereinigten Staaten, die das Land bereisten. Vor allem weiße, gutverdienende Mittelschichtfamilien nutzten das Turnier für eine Frankreichrundreise mit ihren Kindern im High-School- und College-Alter. Hotels waren, wo immer die US-Frauen spielten, monatelang vorher ausgebucht, Restaurants und Sehenswürdigkeiten um die Spieltage bestens besucht.

Vor Turnierbeginn wurden 130.905 Tickets an US-Amerikaner*innen verkauft, die damit die zweitgrößte Fangruppe nach den französischen stellten. Das überraschte die Veranstalter, die ihre Aufmerksamkeit auf die lokale Bevölkerung ausgelegt hatten und insofern relativ unvorbereitet waren, was Informationen und Infomaterial betraf: Die entsprechenden Stellen waren nur zu Spieltagen besetzt, Hinweisschilder Richtung Stadien musste man oft suchen, lokale Transportmöglichkeiten zum und vom Stadion waren rund um die Spiele mit zu geringen Kapazitäten ausgestattet. Entsprechend verlies ich die Begegnungen nach den ersten Erfahrungen meist kurz vor Schlusspfiff, um nicht zwei Stunden für die Shuttle-Transporte anstehen zu müssen. Und ich war mit dieser Strategie nicht allein.

Mit Frauenfußball sei kein Geld zu verdienen, hört man immer noch. Nun, das liegt auch an der mangelnden Bedienung und mangelnden Kenntnis der Fandemographie. Beispiel Merchandising und Teamtrikots: Nike und Adidas hatten beide spezifische Designs für ihre Teams, Nike sogar mit einem großen Launch-Event in Paris im März. Anfang Juli vermeldete Nike stolz, dass das Trikot der US-Frauen in den USA das meist verkaufte Fußballtrikot über den Onlineshop sei. Toll, klar. Nur ging das mit Lieferengpässen einher, die Auslieferung der Trikots erfolgte oft erst nach Turnierende. Der DFB und Adidas haben sich ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert: Lieferung rechtzeitig zum Turnierbeginn? Fehlanzeige. Dass diese Fehleinschätzung nicht nur die Ausrüster betrifft, zeigt auch das offizielle FIFA-Merchandising, wo sich lange Schlangen vor den wenigen Verkaufsstellen am Stadion bildeten. Außerhalb des Stadions oder in den Fanzonen gab es – mit Ausnahme von Lyon – keine Möglichkeit, offizielles Merchandising zu kaufen. Tolle Verkaufszahlen? Ja, aber es hätte noch besser sein können, wenn man entsprechend darauf vorbereitet gewesen wäre.

All das geht mir durch den Kopf, im Späti in Lyon. „Oui, Les Pays-Bas ont gagné. 1:0“, entgegne ich grinsend in meinem eingerosteten Schul-Französisch und beschließe noch in diesem Moment, trotz all der Kritikpunkte auch zum nächsten Frauenfußballturnier zu fahren. Tokio 2020? Japan? Tolles Land und Kultur, perfekt in der Organisation und mit einem spannenden Team. Außerdem: Asien fehlt mir noch in meiner Fußballreisekarte. Warum also nicht?

 

Beitragsbilder: Die Fotos wurden von Tom zur Verfügung gestellt.

Kategorie Ahlenfelder, Blog

Endreas Müller heißt in Wirklichkeit ganz anders und beschäftigt sich schon länger mit Fußball im Allgemeinen und dem Bloggen im Besonderen. Vor einiger Zeit stellte er sich gemeinsam mit Christoph Wagner die Frage, warum es eigentlich in der deutschen Blogosphäre noch keine Plattform für lange Fußballtexte gibt – die Idee von ‚120minuten’ war geboren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.