Rassismus in Italiens Stadien: Rückschritt in düstere Zeiten

Rassismus: Etwas, das in der Vergangenheit zuhauf mit den meisten italienischen Ultraszenen in Verbindung gebracht wurde. Den Anfang macht in diesem Zusammenhang eine Nachricht zu „Diabolik“ – dem langjährigen Capo der „Irriducibili“ vom Hauptstadt-Klub Lazio Rom: Fabrizio Piscitelli. Am helllichten Tag wurde der 53-Jährige im Parco degli Acquedetti im Südosten Roms erschossen, aus nächster Nähe in den Kopf. Zu Beginn der neuen Spielzeit brannte es in der italienischen Fankultur an mehreren Orten. Denn gleich mehrere Ereignisse überschatteten den Fußball im Stiefelland. Seit einigen Wochen ist das Thema Rassismus so aktuell wie seit gefühlt einigen Jahren nicht mehr. Eine Analyse von Joachim Schultheis.


Piscitelli war in Italien nahezu jedem Fußballfan ein Begriff. Sein Spitzname stammt von einer italienischen Comicfigur, die als Antiheld und Vertreter des Bösen in der Unterwelt unterwegs war. Nicht nur, dass Piscitelli die rechtsextreme und zu großen Teilen faschistische Szene der Laziali anführte, nein, er hatte mutmaßlich auch gute Kontakte in die italienische Unterwelt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er Drogengeschäfte mit der neapolitanischen Mafia machte. So schmuggelte er Kokain von Spanien nach Italien und landete nicht nur deshalb für einige Zeit im Gefängnis. Die Ermittler waren sich recht schnell sicher, dass sein Mord mit diesen Drogenmachenschaften zu tun haben musste.

Piscitelli: „Wir haben bereits einen schwarzen Spieler“

Sein offen rechtsextremes Gedankengut stellte Piscitelli immer wieder zur Schau. So erlangte er schon Anfang der 2000er traurige internationale Berühmtheit, als er es sich bei einem TV-Beitrag nicht nehmen ließ, die Affenlaute der Lazio-Kurve gegenüber Lilian Thuram nicht zu verurteilen. Er sagte damals: „Der Gedanke, Italien könnte zu einer gemischtrassigen Nation, wie zum Beispiel England, werden, stört mich.“

Thuram, ein schwarzer Fußballstar, in Guadalupe aufgewachsen, stand sogar kurz vor einem Wechsel zu den Laziali. Piscitelli dazu: „Natürlich habe ich nichts gegen Thuram. Er ist ein guter Fußballer. Wir haben ja bereits einen Schwarzen bei uns – im Jugendteam.“

Piscitelli war trotz alledem für viele Jugendliche ein Vorbild, ein Idol. Kai Tippmann bloggt seit vielen Jahren bei „altravita.com“ über die Zustände in italienischen Stadien – auf und neben dem Platz. „Piscitelli war eine unglaublich respektierte, gefeierte Person“, sagt Tippmann. Er habe vielen den Weg vorgegeben, weil er sich auch immer vernünftig artikulieren konnte. Deshalb, so Tippmann, hätten seine „Irriducibili“ auch außerhalb des Stadions ihre rechtsextreme Politik betrieben. Sei es auf Aufmärschen in der Stadt oder der Kommunalpolitik in kleinen Vororten: „Irriducibili“ mischten überall mit und verbreiteten rechtes Gedankengut.

Kai Tippmann vom "Altravita"-Blog

Kai Tippmann vom “Altravita”-Blog

Lukaku wird von Cagliari-Fans mit Affenlauten bedacht

Während in Rom die Lazio-Szene wegen ihres gefallenen Anführers trauerte, ploppte das Thema Rassismus unmittelbar später nicht nur neben, sondern direkt auf dem Platz auf. In Cagliari nämlich. Dort, wo Inter Mailand am ersten Spieltag zu Gast war. Die Ultras von Inter sind ebenfalls in größten Teilen rechtsextrem. Es wundert fast nicht, dass Inter und Lazio seit Jahren gute Kontakte pflegen. Auch wegen Piscitelli – dem sie mit dem Spruchband „Fabrizio mit uns“ übrigens gedachten. Doch das war nicht der Vorfall, der Aufsehen erregte.

Vielmehr erschütterte das Verhalten vieler Sarden, also Cagliari-Fans. Romelu Lukaku erfuhr, weshalb schwarze Spieler im so fußballverrückten Land noch immer nicht das gleiche Ansehen erfahren, wie ihre weißen Mit- und Gegenspieler. Cagliari-“Anhänger“ bedachten ihn beim Heimspiel gegen die Nerazzurri mit lautem Affengebrüll. Der italienische Fußball hatte damit seinen ersten von vielen Rassismus-Eklats binnen weniger Wochen.

Lukaku wehrte sich – wie schon einige Fußballer zuvor – verbal und auch in den sozialen Medien. Sein Verein solidarisierte sich mit ihm, andere Klubs taten dasselbe. Die meisten italienischen Medien nahmen sich selbstverständlich des Themas an.

Noch fassungsloser als die Tatsache, dass der italienische Fußballverband zum wiederholten Male über offensichtlich rassistische Rufe hinwegsah und keine signifikante Bestrafung aussprach, macht ein Statement einer Ultragruppierung der Curva Nord von Inter Mailand, also Lukakus eigenem Verein. Der Belgier habe die Rufe völlig missverstanden. Vielmehr waren die Affenlaute Rufe, damit er schlechter spiele. Mit „echtem Rassismus“ habe das nichts zu tun.

Wie kann es sein, dass sich ein paar Norditaliener dazu berufen fühlen, offensichtlichen Rassismus seitens der sardischen Fans von Cagliari zu relativieren? Und ihrem eigenen Spieler dabei auch noch die Meinung zu geigen, er solle doch bei Affenlauten nicht sofort an Rassismus denken? Für den Blogger Kai Tippmann ist offensichtlich, was diesen Leuten am meisten fehlt: Bildung. „Das Problem ist nicht in Stadien zu lösen, auch wenn hier Verband, Vereine und Spieler natürlich dazu beitragen können und müssen. Um den Alltagsrassismus zu bekämpfen, führt aber kein Weg um Bildung und gesamtgesellschaftliche Debatte herum“, sagt er.

Immer wieder Hellas Verona

Dritter Spieltag: Der nächste rassistische Vorfall im italienischen Fußball ereignete sich dann einige Wochen später. Ultras von Hellas Verona, einem Klub gespickt mit Rassisten und Faschisten auf den Rängen, ließen Affenlaute gegenüber Franck Kessie vom AC Mailand vom Stapel. Unüberhörbar. Schon kurze Zeit später meldete sich Mailand zu Wort und verurteilte diese Rufe auf der Social-Media-Plattform „Twitter“ aufs Schärfste.
 
Es folgte die schier unglaubliche Reaktion seitens Hellas Verona: Der Verein kommentierte die Szene auf seinem Twitter-Kanal damit, dass jemand wohl mit der lauten Stimmung der „Gialloblu“ im Stadion nicht zurechtgekommen sei. Vielmehr forderten sie Respekt für ihre Tifosi ein. Binnen kürzester Zeit griffen andere Vereine diesen Auszug auf ihren Social-Media-Kanälen ihre Meinung kund. Hellas ruderte zurück, nachdem auch die italienische Presse das Thema aufgriff, beließ es aber dabei, dass es doch keine rassistischen Gesänge gegen Kessie gegeben haben soll. Strafen wurden nicht ausgesprochen.

Diese Entwicklungen, dass sich zum Beispiel Leute „gezwungen“ sehen, auf offensichtlich rassistische Gesänge zu reagieren, lassen die Annahme zu, dass sich der Fußball in Italien immer mehr in Richtung noch dunklerer Zeiten bewegt. Tippmann merkt an: „Offensichtlich ist diese Hinbewegung für uns und viele andere. Die Wortmeldungen von Kurven, Vereinen und Verband in Italien zeigen aber, dass es nicht so offensichtlich für sie ist.“ Die gesellschaftliche Diskussion über Rassismus finde auf viel niedrigerer Ebene statt als beispielsweise in Deutschland, „wo sich in den letzten 20 Jahren ja viel zum Guten verschoben hat, was zumindest Wahrnehmung und Benennung von Rassismus und Sexismus angeht“, beschreibt Tippmann die Situation. In Italien sei das nicht so.

Experte: In Italien wird Rassismus anders wahrgenommen

In Deutschland würden Vorfälle wie das Rufen von Affenlauten gegenüber schwarzen Spielern ganz eindeutig als Rassismus benannt. In Italien hingegen „wird auch ganz eindeutiger Rassismus in vielen Zusammenhängen gar nicht als solcher wahrgenommen und wenn, dann heruntergespielt“. Solange sich der gesellschaftliche Kontext nicht ändere, werden Tippmann zufolge die Stadien da keine Ausnahme sein.

Vierter Spieltag: In der Partie zwischen Atalanta Bergamo und der AC Florenz wurde mit einem Spielabbruch gedroht, sollten rassistische Gesänge gegenüber Dalbert, einem Brasilianer in den Reihen der Gäste, nicht sofort aufhören. Schiri Daniele Orsato setzte die Begegnung erst nach einigen Minuten Unterbrechung wieder fort.
 
Drei ganz aktuelle Beispiele für rassistische Vorfälle im italienischen Spitzenfußball. Die Reaktion seitens des Fußballverbandes in Italien? Eine wirkliche gab es vorerst nicht. Die Vorfälle von Cagliari und Verona wurden vom FIGC gar als „nicht diskriminierend“ bewertet. Wundern tut es die meisten nicht. „Warum sollte sich ausgerechnet der italienische Verband bewegen?“, fragt Kai Tippmann und liefert die Antwort gleich mit. „Es ist immer noch derselbe Verband, dessen Ex-Präsident Tavecchio von Bananen fressenden ‘Opti Pobàs’ sprach, die gestern noch auf dem Baum saßen und heute einen Stammplatz einfordern? Derselbe Verband, dessen Offizielle den Frauenfußball gerne mal als “Vier Lesben” bezeichnen.

„Das Problem Rassismus erst einmal als solches anerkennen“

Zwar wurden in der Vergangenheit immer mal wieder Kurven bzw. Stadien gesperrt. Doch solche Maßnahmen würden Tippmann zufolge das wahre Problem nicht lösen. „Um da ganz ernsthafte Bemühungen zu veranstalten, müsste man das Problem Rassismus tatsächlich als solches erst einmal anerkennen.“ Und genau deshalb ist auch die Gesellschaft außerhalb des Stadions gefragt.
 
Tippmann beobachtet, dass sich im italienischen Fußball erst dann etwas bewegt, wenn die Nachricht andere Länder erreicht und es seitens UEFA- oder FIFA-Offiziellen Äußerungen zu Vorfällen gibt. So in etwa nach dem Vorfall in der Partie zwischen Atalanta und Florenz (2:2). Kurze Zeit später nämlich meldete sich FIFA-Präsident Gianni Infantino zu Wort. Dem öffentlich-rechtlichen Sender Rai2 sagte er: „In Italien hat sich die Situation nicht verbessert, sie ist ernst.“ Ein vernichtendes Urteil – könnte man meinen. Dieses Zitat stammt vom 22. September.

Curva Sud des AC Milan
 
Dabei ging leider unter, dass beim Derby della Madonnina einen Tag zuvor die beiden Mailänder Klubs AC und Inter eine gemeinsame Aktion aufgrund der Ereignisse aus den Vorwochen starteten. Die Spieler beider Klubs versammelten sich hinter dem Banner „Derby against Racism“. Für ein so wichtiges Duell eine Geste, die zumindest Hoffnung darauf macht, dass den meisten Vereinen bewusst ist, worum es geht.

Kritik wurde mit jedem Vorfall in Italien lauter

Verband und Liga äußerten sich zum Vorfall bei Atalanta gegen Florenz zunächst nicht. Es hatte den Anschein, man wolle versuchen, die rassistischen Vorfälle auszusitzen oder totzuschweigen. Nur: Die Kritik wurde immer lauter. Viele Fans und Verantwortliche von Vereinen warfen der Liga zum Beispiel vor, viel mehr gegen illegale Streams vorzugehen, als sich um das Thema Rassismus zu kümmern.
 
Als Miralem Pjanic von Juventus Turin beim Auswärtsspiel in Brescia als „Zigeuner“ verunglimpft wurde, erhielt der Aufsteiger als erster Klub in der aktuellen Spielzeit eine Strafe. Ein Geisterspiel, das allerdings für ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt wurde. Eine kaum ernstzunehmende Bestrafung also.
 
Es dauerte dann bis zum 7. Oktober, bis sich Luigi De Siervo, seines Zeichens Vorstandsvorsitzender der Serie A, zum Problem mit einem konkreten Lösungsvorschlag äußerte. „Da sind Rassisten in unseren Stadien und wir, die null Toleranz zu diesem Thema zeigen, wollen sie [die Rassisten] einer nach dem nächsten finden.“ Mit der modernen Video-Technologie könnten Personen „dank Gesichtserkennung“ ausfindig gemacht werden.

Mit dem Videobeweis Tätern auf der Spur

Der FIGC veranlasste rund eine Woche später, dass genau diese Methode ab sofort eingesetzt werden möge. „Es interessiert mich nicht, wie viele Fans sich den Gesängen anschließen. Auch im Einzelfall muss man eingreifen. Dank der heutigen Technologie können Klubs rassistische Fans verfolgen“, erklärte Verbandspräsident Gabriele Gravina am 18. Oktober.

Am 3. November schoss Mario Balotelli beim Gastspiel gegen Hellas Verona aus dem Spiel heraus einen Ball in die Zuschauerränge. Der Stürmer von Brescia Calcio wurde immer wieder mit unüberhörbaren Affenlauten bedacht und wollte nicht mehr weiterspielen. Der schwarze Italiener, der aufgrund seiner Hautfarbe in der Vergangenheit immer wieder ekelhafte Anfeindungen über sich ergehen lassen musste, wurde von seinen Mitspielern bedrängt, weiterzuspielen.

Affenlaute im Stadion? „Wir haben nichts gehört“

Der Hellas-Vorstandsvorsitzende Maurizio Setti sagte anschließend Reportern: „Wir haben nichts gehört. Wenn es Fälle von Rassismus gibt, verurteilen wir sie als Erster, aber man sollte nicht verallgemeinern und von rassistischen Gesängen und Fans sprechen, wenn von 20.000 Zuschauern vielleicht zwei oder drei etwas sagen.“ Trainer Ivan Juric ergänzte: „Heute ist nichts passiert. Keine rassistischen Gesänge, überhaupt nichts.“

Die Sätze der Verantwortlichen und Offiziellen der Liga und des Verbandes sind einmal mehr offensichtlich nur leere Worthülsen. Wenn es sich Trainer, Funktionäre und selbst gesamte Vereine herausnehmen können, unüberhörbare rassistische Entgleisungen von Fans auf den Rängen zu entkräften, dann bewegt sich die italienische Liga immer stärker in eine völlig falsche Richtung. Es bleibt sich am Ende nur noch zu fragen: Was muss erst noch geschehen, damit endlich eingegriffen wird? Man mag es sich gar nicht vorstellen.

Bildrechte: © Joachim Schultheis, AUSSER das Bild von Kai Tippmann: © PZ-Media

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