Seitenwechsel – Wie auf dem thüringischen Basar

Wendezeit – Schicksalszeit. Die Monate um 1989 haben in Deutschland viel durcheinander gewirbelt. Der Umbruch hat auch im Fußball entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze tiefe Spuren hinterlassen. Dies ist die Geschichte von zwei Männern, die von der Wende profitierten, einem Verein, für den der Umbruch den bodenlosen Absturz bedeutete und Verbänden, die die Veränderungen verschlafen haben.


Von Jonas Schulte, groundblogging.de, dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 13 des Zeitspiel-Magazins, das Heft mit dem Schwerpunkt “Wendejahre” kann hier bezogen werden.

Tiefenort, Thüringen, Tauwetter. Ein smarter Herr mit Mustang-Jeans steht im Waldstadion Kaffeetälchen am Spielfeldrand und lauert auf seine Chance. Er ist einer von knapp tausend Zuschauern, die ein Spiel des DDR-Profivereins Kali Werra Tiefenort verfolgen. Aber er ist derjenige, der das Spiel ganz besonders genau beobachtet. Was hat er vor?

Es ist Anfang 1990, Blue-Jeans und West-Autos sind in der DDR damals noch wenig verbreitete Konsumgüter. Der Mann fällt auf, wird von den einheimischen Fans argwöhnisch beäugt. Er ist im Auftrag des SV Asbach – einem hessischen Bezirksligisten – über die Grenze ins thüringische Tiefenort gekommen. Er heißt Dirk Bodes, ist zu der Zeit Vorsitzender des Asbacher Fußballvereins. Der selbst gegebene Auftrag: Profispieler von der anderen Seite der löchrigen Grenze rüber in den Westen holen, den eigenen Feierabend-Fußballverein mit gestandenen Vollblut-Fußballern verstärken. „Ich wusste, dass dort kurz hinter dem Eisernen Vorhang hervorragend ausgebildete Fußballer spielten“, erinnert sich der Bau-Ingenieur heute. Was Reiner Calmund mit den Ost-West-Transfers von Andreas Thom und Ulf Kirsten im Großen gemacht hat, das versuchte Dirk Bodes im Kleinen. Er erkannte die Zeichen der Zeit.

Warum fuhr Bodes ausgerechnet nach Tiefenort, diese verschlafene Gemeinde in der westthüringischen Provinz? Weil dort, zwanzig Trabi-Minuten entfernt vom früheren Todesstreifen, der Profi-Fußball zu Hause war. Die Fördertürme ratterten, die Schlote rauchten. Das Kalibergbau-Unternehmen „VEB Kali Merkers” war die wirtschaftliche Triebfeder der Region und unterhielt eine traditionsreiche Fußballmannschaft, die auf das DDR-typische Namens-Ungeheuer BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort hörte. Die Fußball-Kumpel gehörten damals zum Establishment der DDR-Liga, der damals zweithöchsten Spielklasse im Osten. Das Stadion im Kaffeetälchen, mitten im Wald gelegen, war eine DDR-weit gefürchtete Fußballfestung.

Die Kali-Spieler waren, wie das zu der Zeit so üblich war, im Bergbau angestellt, wurden aber meist Vollzeit für die Betriebssportgemeinschaft abgestellt, konnten also getrost als Profis durchgehen. Ihr Problem: Die Wende und die Abwicklung ihres völlig maroden Betriebes über die Treuhandgesellschaft kosteten sie ihre Arbeitsplätze. Der Kalibergbau in Merkers wurde nur kurz nach dem Zusammenbruch der DDR eingestellt. Die Zeit der völligen Unsicherheit brach über die Region an der Werra hinein.

Dunkle Zeiten im Osten, Goldgräber-Stimmung hingegen bei den Fußballvereinen im westlich angrenzenden Hessen. Die innerdeutsche Grenze wurde mehr und mehr durchlässig. Amateur-Vereinsbosse wie Dirk Bodes nutzten das für sich. „Ich hatte beruflich an der Grenze zu tun, hatte selbst zwei Grenzübergänge als Bauleiter errichtet und mich dabei umgehört, was der Fußball drüben zu bieten hatte.“ Und bei der BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort wurde Bodes fündig. „Ich habe mir damals zwei, drei Spiele dort angeguckt. Und dann wusste ich: Diesen Heiko Adler und diesen Udo Ratz, das sind die Besten. Die wollen wir.“ Erstgenannter hatte die berühmte Fußballschule von Carl Zeiss Jena durchlaufen, war also technisch und taktisch bestens ausgebildet.

SV Asbach – Darmstadt 98, 2:1 (August 1998) – Heiko Adler, Libero rechts, war Turm in der Schlacht. Foto: Hartmut Wenzel / Hersfelder Zeitung

Nach den Spielen wanzte sich Bodes an die Spieler seiner Wahl heran. „Wir haben nach Abpfiff konspirative Gespräche geführt. Das war wie in einem Agententhriller.“ Das Kribbeln kam bei Bodes vor allem daher, dass man es auf den ostdeutschen Plätzen natürlich nicht gerne sah, wenn sich die „Besser-Wessis“ an die eigenen Spieler ran machten. „Bei einem Spiel wurden uns sogar Schläge angedroht. Da mussten wir dann galant ins Auto steigen und abfahren.“

Heiko Adler im Trikot von Kali Werra Tiefenort im Spiel gegen Sachsenring Zwickau, Quelle: bereitgestellt von Zeitspiel

Doch nur mit Anklopfen und Nachfragen kann man keinen Fußballprofis für einen Amateurverein begeistern. Dirk Bodes hatte aber ein Ass im Ärmel. Arbeitsverträge bei einem örtlichen Lebensmittel-Unternehmen. „Wir haben den beiden Spielern gesagt. Hört mal, die paar Mark im Fußball werden euch nicht mehr weiterhelfen. Ihr braucht einen Job.“ Doch Heiko Adler und Udo Ratz, die beiden gestandenen DDR-Fußballprofis, blieben zunächst standhaft und sagten nicht zu. Zwei Spiele und einen Kneipenbesuch später war es dann so weit. Neben der beruflichen Perspektive konnte Bodes mit Naturalien überzeugen. „Die hatten alle so halb fertige Häuser. Das kannte ich von zu Hause so gar nicht. Da habe ich als Bau-Ingenieur dem Udo Ratz gesagt: ‚Ich pflaster dir den Hof.‘“ Das habe dann die letzten Prozentpunkte gebracht. „Da war es um den Einen geschehen. Und weil Ratz und Adler Freunde waren, haben wir sie dann im Verbund bekommen.“

Während im kleinen Asbach Freude über die Transfer-Coups herrschte, hatte bei der BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort längst die Ernüchterung eingesetzt. Schon unmittelbar nach dem Mauerfall verließen quasi über Nacht etwa 30 Spieler die Region und damit den Verein. Die Zweitligakicker mussten sich zwar zunächst noch für eine Spielzeit über Amateurverträge an Kali Werra binden. Das galt aber nicht für die Jugend und die zweite Mannschaft, ihres Zeichens Mitglied der drittklassigen Bezirksliga, deren Spieler im Nu auf dem Transfermarkt standen. Die BSG begann auszubluten, der Glanz glorreicher Fußball-Tage bröckelte den Tiefenortern unter der Hand weg. Heiko Adler, einst Wechsel-Profiteur, heute im Vorstand von Kali Werra Tiefenort rückblickend: „Der DFB reagierte damals nicht schnell genug. Das war eine Unverschämtheit. Es hätte Ablöse-Regelungen und Ausbildungs-Entschädigungen gebraucht.“ Die Spieler seien in der DDR ja bestens geschult worden, angrenzende West-Vereine wie Borussia Fulda, der Hünfelder SV aber eben auch der SV Asbach bekamen fertige Fußballer zum Nulltarif. „Das Geld hätte Kali Werra dringend gebraucht.“

Die Kumpel konnten zwar in der letzten Saison des DDR-Fußballs nochmal den Aufstieg von der Bezirks- in die zweitklassige DDR-Liga schaffen. Danach begann ein fast beispielloser Abwärtstrend. Der als FSV Kali Werra Tiefenort nun bürgerlich neu gegründete Verein spielte zwischenzeitlich noch einmal in der Thüringenliga. Danach begann der freie Fall bis aktuell in die Kreisliga A. Dort spielen sie heute immer noch im legendären Kaffeetälchen mit seinem Fassungsvermögen von 8.000 Zuschauern. Wenn sich heute 100 Zuschauer in die hoch aufgeschossene, verwitterte Anlage mitten im Wald verirren, ist das schon viel.

„Natürlich mussten die Vereine drüben einen bitteren Niedergang erleben. Das war schon traurig mit anzusehen“, muss Dirk Bodes zugeben, obwohl er und der SV Asbach seinen Profit aus dem Niedergang des DDR-Fußballs geschlagen haben. „Da waren tolle Vereine mit viel Tradition dabei.“ Weil die Betriebssportgemeinschaften direkt an die Betriebe angedockt waren, hätten sie nach der Wende ohnehin keine Überlebenschance gehabt. „Diesen Umstand haben wir halt für uns genutzt.“ Immerhin: Als kleine Entschädigung ist Bodes in Tiefenort heute mit seiner Firma als Werbebanden-Sponsor vertreten.

In Asbach hingegen standen die Dinge zum Besten. Die beiden Ost-Importe Adler und Ratz, denen später noch weitere folgen sollten, kamen zum ersten Training, waren da allerdings etwas verwundert. „Wir hatten ja von Asbach keine Ahnung“, erinnert sich Heiko Adler. Beim ersten Training auf dem damals noch ebenerdigen Sportplatz in Asbach waren die vormaligen Profis doch leicht verwundert. „Wir haben gedacht, das sei nur das Trainingsgelände. Und dann haben wir die einheimischen Spieler gefragt: ‚Wo ist denn hier euer Stadion?‘“ Lautes Gelächter folgte. Man war halt größeres gewohnt in Tiefenort. Dennoch entwickelte sich schnell ein harmonisches Miteinander. „Unsere beiden Ost-Importe waren absolute Musterprofis. Exzellente Fußballer und Top-Menschen“, schwärmt der damalige Vorsitzende Bodes noch heute von den Qualitäten der beiden Neuzugänge. „Sie haben sich professionell verhalten, waren bei jedem Training voll da und daran haben sich unsere bisherigen Spieler orientiert.“ Spannend sei vor allem der Austausch zwischen Wessis und Ossis gewesen, findet Adler: „Wir wussten vorher ja nicht viel von der Lebenswelt der Anderen. Wir hatten zum Beispiel völlig andere Ausrüstung. Die guten, alten Germina-Fußballschuhe aus der DDR.“

Quelle: Zeitspiel Ausgabe 13

Die Spielermischung in Asbach entpuppte sich als eine Symbiose, die einen optimalen Verlauf nahm. „Wir konnten vor allem mit unserer taktischen Ausbildung unseren neuen Mitspielern einiges beibringen“, weiß Heiko Adler zu berichten. „Ich bin dann irgendwann auf die Libero-Position gegangen und habe trotzdem immer auf der Höhe der anderen Verteidiger gespielt. So haben wir das in der DDR gelernt. Aber die Asbacher kannten das noch gar nicht.“ Dirk Bodes gerät noch heute ins Schwärmen. „So lange ich den Verein erlebt habe, war der Adler mit Abstand der beste Spieler. Ein überragender Mann. Der stand wie eine deutsche Eiche hinten drin, da war kein Vorbeikommen.“ Aber auch Udo Ratz hat bei seinem früheren Vorsitzenden einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Da klebte der Ball am Fuß. Ein technisch beschlagener Mittelfeldmann.“

Mit der schlagkräftigen Truppe fegte der SV Asbach über die Fußball-Region hinweg. „Wenn wir mit unseren Jungs gekommen sind, dann hatten alle Muffe.“ erinnert sich Bodes mit einem Grinsen im Gesicht. Mit Mike Lindemann kam noch der ehemalige Torjäger von Kali Werra hinzu. Enrico Keil komplettierte das Tiefenort-Quartett beim SVA. Der kleine Dorfverein eilte von Sieg zu Sieg und von Aufstieg zu Aufstieg. 1998 dann der Höhepunkt. Der Verein aus dem 1.500-Seelen-Dorf stieg in die Oberliga Hessen auf. Fortan kamen namhafte Gegner in den Vorort von Bad Hersfeld. „Jedes Spiel wurde ein Fest. Der ganze Ort stand hinter uns. Der SVA war wie eine große Familie“, schwelgt Heiko Adler in Erinnerungen. Am Sportplatz wurden dann auch endlich die Tribünen gebaut, die Heiko Adler anfangs noch vermisste.

16. August 1998: Der SVA Bad Hersfeld bezwingt vor großer Kulisse den SV Darmstadt 98 mit 2:1, Foto: Wenzel / Hersfelder Zeitung

Höhepunkte sollten die beiden Meisterschaftsspiele gegen den SV Darmstadt 98 werden. Vor heimischer Rekordkulisse von rund 4.000 Zuschauern haben die Asbacher die Lilien mit 2:1 nach Hause geschickt. Alles überragender Turm in der Schlacht damals: Libero Heiko Adler. „An dem haben sich die Darmstädter die Zähne ausgebissen“, so Bodes. Auch im Rückspiel am Böllenfalltor konnten die Fußballer vom Dorf bestehen und ein 1:1 mit nach Hause nehmen. Auch wenn es nach nur einer Saison wieder runter in die Landesliga ging. „Das sind Festtage, die in Asbach sicher niemand mehr vergisst“, ist sich Bodes sicher.

Zurück in der Gegenwart. Vielleicht ist es die Ironie des Schicksals, dass heute auch der SV Asbach am Boden ist, genauso wie der FSV Kali Werra Tiefenort. Die Osthessen mussten im diesjährigen Saison-Endspurt der Gruppenliga ihre erste Mannschaft zurückziehen. Auf dem Land schlägt der demographische Wandel zu. Es gibt nicht mehr genug gute Fußballer, um Vereine wie den SVA überregional am Leben zu halten. Eine Fusion mit den anderen Vereinen aus Bad Hersfeld steht an. Aus dem SVA, der SG Hessen und dem FSV Hohe Luft soll künftig die SG Festspielstadt werden. In Anlehnung an die jährlichen Festspiele in der Hersfelder Stiftsruine.

Was wohl passiert wäre, wenn es die Wende nicht gegeben hätte? Wäre dann Kali Werra Tiefenort immer noch ein Profiverein? Wo stünde der SV Asbach? Würden beide Mannschaften trotzdem heute am Abgrund stehen? Fragen über Fragen, an denen sich alternative Geschichtsforscher abarbeiten könnten. Eines ist für Dirk Bodes jedoch klar: „Hätte es die Wende nicht gegeben, hätten wir Spieler wie Heiko Adler nicht verpflichten können, dann hätten wir es damals niemals in die Oberliga geschafft. Nie! Das kann man so deutlich sagen.“ So wurde die Wendezeit für den Fußball auf beiden Seiten der Grenze zur Schicksalszeit.

Mannschaftsfoto der BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort (li) und des SV Asbach, Quelle: bereitgestellt von Zeitspiel

Information
Dieser Text ist aus Ausgabe 13 des Zeitspiel-Magazins, welcher uns im Rahmen unserer Kooperation mit dem Magazin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.

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