Spielwiese Menschenrechte

Vertreibung, Diskriminierung, unmenschliche Arbeitsbedingungen: Sportereignisse wie die WM in Russland gehen mit der Aushöhlung von Menschenrechten einher – und die Gleichgültigkeit der Profis lässt autoritäre Regime alltäglich erscheinen. Wie kann man ein Bewusstsein dafür schaffen, dass unser Stadionvergnügen mit der Ausbeutung asiatischer Trikotnäherinnen zu tun hat? Wie könnte ein Megaevent aussehen, das niemandem schadet? Die Einführung in eine zwölfteilige Themenreihe.

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Der König von Siam, dem heutigen Thailand, schenkte seinen Feinden gern weiße Elefanten. Diese Tiere waren selten und galten als heilig. Ihre Pflege kostete viel, doch sie durften nicht zur Arbeit eingesetzt werden, erbrachten also keinen Profit. Wer einen weißen Elefanten besaß, starb oft in bitterer Armut.

Man begegnet weißen Elefanten heute auf andere Art. Als Sinnbild für wuchtige Sportstätten, die niemand mehr braucht. Im südafrikanischen Durban, wo ein teures Stadion für die WM 2010 neben eine Rugbyarena gesetzt wurde, die man auch hätte umrüsten können. Oder in Manaus: Für vier Vorrundenspiele der WM 2014 wurde eine Spielstätte mit 44.000 Plätzen in den Amazonas gerammt. Ob das Stadion je wieder ausverkauft sein wird?

Sportereignisse und Menschenrechte. Man denkt an geldgierige Autokraten, an Zwangsarbeiter auf Baustellen, an brutale Polizisten gegen Demonstranten. Doch auch in Demokratien können Megaevents eine Aushöhlung der Menschenrechte in Gang setzen. Wenn sie für eine Turnierlänge Millionen Menschen aus aller Welt zueinander führen. Aber ihre Kosten danach dem Gemeinwohl zur Last liegen, über Jahre, manchmal Jahrzehnte. Steuergeld fließt in Schuldentilgung und Instandhaltung, weniger in Gesundheitsvorsorge und Bildung, weniger in Sicherheit und Infrastruktur.

In Gesellschaften driften soziale Gruppen weiter auseinander, nicht nur in Südafrika und Brasilien. Doch auch jenseits der Gastgeberländer hängt in der Milliardenindustrie Spitzensport alles mit allem zusammen. Unser wohltemperierter Stadionbesuch in Westeuropa ist auch mit der Ausbeutung asiatischer Trikotnäherinnen verknüpft.  Unser TV-Vergnügen während WM und Olympia ist Teil einer Maschinerie. Mit Spektakel, Superzeitlupen, Gemeinschaftsgefühl. Aber eben auch mit Umweltsünden und der Einschränkung der Versammlungsfreiheit, mit Vertreibung von Einheimischen und der Missachtung der Arbeitsrechte.

In der 44.000 Zuschauer fassenden Arena Amazônia trägt der Viertligist Nacional Futebol Clube seine Heimspiele aus.

Höhepunkt in der „Dekade des Sports“

Es ist höchste Zeit, die Debatte über die Rituale eines Events hinaus anzugehen, ohne Verdrängung historischer Ursachen. Wie prägen die Sportindustrie und speziell der Fußball das soziale Gefüge? Wie können Zivilgesellschaften in autokratisch regierten Ländern gestärkt werden, ohne sich mit Überlegenheitsdenken in den Vordergrund zu stellen? Wie könnte eine WM aussehen, die tatsächlich niemandem schadet? Eine zwölfteilige Themenreihe soll nach Antworten suchen, in Essays, Reportagen, Interviews, ergänzt mit Recherchetipps. Siebzig Jahre nach der Verabschiedung der UN-Menschenrechtscharta.

Zunächst der Blick nach Russland, wo die von der Regierung ausgerufene „Dekade des Sports“ mit der Fußball-WM 2018 ihren Höhepunkt findet. Zuvor fanden dutzende internationale Ereignisse statt, die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, auch die Weltmeisterschaften im Biathlon 2011 in Chanty-Mansijsk, in der Leichtathletik 2013 in Moskau, im Schwimmen 2015 in Kasan oder im Eishockey 2016 in Moskau und St. Petersburg. Die Formel 1 ist seit 2014 jährlich in Sotschi zu Gast.

Im Sport konnte sich Wladimir Putin als weltoffener Staatsmann in Szene setzen. Während zur gleichen Zeit russische Kräfte die Krim annektieren und in die Ostukraine vordrangen. Während Russland an der Seite des syrischen Kriegsverbrechers Assad kämpfte oder sich in die US-Präsidentenwahl einmischte. Der Sport hilft den Russen bei der Identitätssuche, in einem riesigen Land, das mit seinen 100 ethnischen Gruppen noch immer keine gemeinsame Erzählung kennt.

Der Fußball könnte eine solche Erzählung schreiben, zumindest vorübergehend, wenn die Sbornaja gegen alle Erwartungen eine erfolgreiche WM spielen sollte. Schon öfter haben Gastgeberteams einen großen Teil ihrer Bevölkerung in Wallung versetzt, die Engländer 1966, die Franzosen 1998, die Südkoreaner 2002, die Deutschen 2006. Allerdings wurden für Sportereignisse selten so viele Freiheiten geopfert wie nun in Russland.

Seit der Wiederwahl Putins zum Präsidenten 2012 zählten Menschenrechtler mehr als dreißig Gesetze und Gesetzesänderungen, die Bürgerrechte einschränken. Mehr als 100 Nichtregierungsorganisationen werden als „ausländische Agenten“ dämonisiert, weil sie internationale Hilfe erhielten. Vor der Einführung des entsprechenden Gesetzes 2012 gab es im Land 400.000 nichtkommerzielle Organisationen, mittlerweile sind es 220.000. Viele von ihnen gaben auf, wanderten aus oder halten sich mit Kritik zurück.

Prävention bedeutet: mehr Kontrolle und Härte

In Europa oder Nordamerika gilt die Zivilgesellschaft als Partnerin des Rechtstaates, in Russland wird sie als Gegenbewegung betrachtet. Im Kreml besteht seit Jahren die Sorge vor dem Machtverlust, bestärkt durch Revolutionen in Georgien, in der Ukraine oder in der Arabischen Welt. Die Konsequenz: mehr Repression, mehr Kontrolle, mehr Härte. In den Jahren 2014, 2015 und 2016 wurden jeweils um die 1.000 Menschen wegen „staatsfeindlicher Aktionen“ festgesetzt – 2017 waren es rund 4.000 Menschen. Immer wieder mit der Begründung, man müsse das Land vor der „wachsenden Bedrohung des Terrorismus schützen“.

Vor dem Confederations Cup 2017 verschärfte die Regierung die Versammlungsfreiheit noch weiter: Proteste waren verboten, Oppositionelle wie Alexei Nawalny wurden festgenommen. Auch Netzsperren und Vorratsdatenspeicherung nahmen zu. Journalisten sollten nur über Spiele und Sehenswürdigkeiten berichten. Ob es während der WM große Public Viewings und Massenzusammenkünfte gibt, ist nicht klar. Jede Zusammenkunft von größeren Gruppen zieht Aufmerksamkeit auf sich. Dennoch werben Aktivisten mit dem Medium Fußball für eine offene Gesellschaft. Aktionen wie die LGBT Russian Sport Federation verkörpern Vielfalt, allerdings ist es schwerer, diese Vielfalt sichtbar zu machen. Über ihren Mut und ihre Kreativität wird der zweite Teil dieser Themenreihe im April Auskunft geben.

Die WM in Russland folgt einer gewissen Logik: Jahrzehntelang fanden die wichtigsten Sportereignisse in Europa und Amerika statt, mit der Kommerzialisierung Ende des 20. Jahrhunderts kamen Schwellenländer und autokratisch geführte Nationen hinzu. Sponsoren und TV-Rechteinhaber freuten sich über Wachstumsmärkte. Sportfunktionäre legten nahe, dass die globale Aufmerksamkeit Gesellschaften öffnen könne. Mehrere Studien halten dagegen. So wurden in den vergangenen dreißig Jahren mehr als zwei Millionen Menschen für Olympische Spiele vertrieben.

Beispiel Südkorea: Nach der Militärdiktatur gewann die Demokratiebewegung in den 1980er Jahren an Kraft. Vor den Sommerspielen 1988 in Seoul wurden mehr als 700.000 Menschen aus ihren Wohnungen gedrängt, auch von Schlägertrupps. Zwischen 1986 und 1992 stiegen die Immobilienpreise in Seoul um 240 Prozent. Der soziale Wohnraum schrumpfte um 76 Prozent. Heute sind die Spiele als Glücksfall eines Tigerstaates in Erinnerung, aber zehntausende Menschen blieben auf der Strecke.

Oder Atlanta. Im Jahr vor den Sommerspielen 1996 setzte die Polizei dort vorübergehend 9.000 Menschen fest. Auf den Arrestformularen gab es einen Vordruck: „Afro-Amerikaner. Männlich. Obdachlos“. Laut einer Studie haben sich die ethnischen Gruppen langfristig noch weiter voneinander entfernt. Die mediale Öffentlichkeit war damals noch nicht so kritisch wie heute, die Menschenrechtler noch nicht so gut vernetzt. So kamen Verbände und Sponsoren in ihrem Expansionsdrang auf den Geschmack.

Geld für die Elite, aber der Breitensport schrumpft

Vor den Sommerspielen 2008 mussten in Peking mehr als eine Million Menschen aus ihren Quartieren weichen. Trotzdem pries das IOC Olympia als Frieden stiftende Maßnahme. Und in der Tat lockerte die chinesische Regierung 2008 ein Gesetz, das Auslandkorrespondenten einen Aufpasser vorschrieb. Die Kontrolle des Internets wurde während der Spiele gelockert – und danach verschärft. Die Sportkarawane zog weiter und lotete neue Grenzen aus. In Aserbaidschan beobachteten Experten vor den Europaspielen 2015 in Baku die schwersten Menschenrechtseinschränkungen seit langem, hundert Kritiker wurden inhaftiert.

In fast allen Austragungsorten von Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen sind Strukturen entstanden: Flughäfen und Straßen, Wohnviertel und Nahverkehr. Doch in den meisten Regionen profitiert eine Minderheit: Politiker, Funktionäre, Baukonzerne. Das Land, das unter dem Profilierungsdrang am meisten leidet, ist Brasilien: Vor der WM 2014 wurde der Sicherheitsapparat hochgefahren, vor allem in den Favelas. So stieg die Polizeigewalt. 2014 wurden im Bundesstaat Rio de Janeiro 580 Menschen von Polizisten getötet, 2015 waren es 645 Personen. Mehr als neunzig Prozent der Opfer waren männlich, etwa achtzig Prozent schwarz. Zur Rechenschaft wurden die Polizisten selten gezogen.

Statt in urbane Entwicklung, Bildung und Drogenprävention zu investieren, wurde das Geld woanders verbraucht. Zwölf der 27 Olympia-Arenen von 2016 wurden nicht wieder genutzt. Die neue U-Bahn kommt nur der Mittelschicht zugute. Krankenhäuser und Polizeidienststellen müssen sparen und teilweise schließen. Es mangelt an Mitteln für den Breiten- und Gesundheitssport.

Mit Blick auf drei Jahrzehnte ist es keine Sensation, dass der Sportzirkus nun in Katar Wurzeln schlägt – und massive Ausbeutung duldet. 94 Prozent der Arbeiter im Golfstaat haben eine Einwandererbiographie. Oft wurden sie mit falschen Versprechen gelockt, aus Bangladesch, Indien oder Nepal. Sie mussten ihre Pässe abgeben, konnten sich nicht frei bewegen, durften ohne Zustimmung des Arbeitgebers nicht den Job wechseln.

Katar schimpfte auf Subunternehmer, kündigte einen Mindestlohn an, versprach einen besseren Rechtsschutz und die Möglichkeit, Gewerkschaften zu gründen. Ob diese Ankündigungen dauerhaft umgesetzt werden, ist schwer zu belegen. Die Schlagzeilen verschwanden, und Katar bemühte sich um Deutungshoheit. Rügte Botschafter aus Ländern mit kritischen Medien, lud hunderte Journalisten ein und übernahm deren Kosten, bei Messen, Festivals oder anlässlich der Handball-WM 2015 im Emirat.

Wenn Fußballer der Propaganda dienen

Während Katar wegen angeblicher Terrorismusverflechtungen von seinen Nachbarstaaten isoliert wurde, wuchs der Einfluss des Emirats in Europa: auch durch Fußball. Über Stiftungen und Fonds stieg Katar als Trikotsponsor beim FC Barcelona und als Eigentümer bei Paris Saint-Germain ein. Der FC Bayern war bisher acht Mal für ein Trainingslager zu Gast, darüber dürften sich auch die Anteilseigner Adidas und Audi freuen. Der Klub unterhält eine Partnerschaft mit dem Flughafen in Doha. Und Qatar Airways ersetzt die Lufthansa als „Platinsponsor“.

In einer globalen Wirtschaft werden solche Verbindungen zunehmen, zumal die Bundesliga zur Premier League aufschließen möchte, und es in der arabischen Welt dutzende gut organisierte Fanklubs des FC Bayern gibt. Trotzdem – oder gerade deshalb – könnte sich der Verein konkreter zu Menschenrechtsfragen verhalten. In Katar gebe es „kulturelle Unterschiede“, sagte Bayern-Chef Karl-Heinz Rummenigge einmal, ein Trainingslager sei „keine politische Äußerung“. Das klang harmlos, ließ sogar Gleichgültigkeit vermuten.

Auch im Rahmen eines Trainingslagers könnte der FC Bayern Begegnungen von Menschenrechtsgruppen oder Gewerkschaften ermöglichen. Oder ihnen Interesse entgegenbringen, denn das kann ihre Motivation stärken. Der Klub könnte sich von Experten beraten lassen und das in vereinseigenen Medien dokumentieren, ohne moralische Besserwisserei, aber mit sichtbarer Diversität.

Viele der 400 Klubmitarbeiter in München sind mit Außendarstellung beschäftigt, auch für die Märkte in Asien und Nordamerika. Man möge sich vorstellen, der FC Bayern würde seine Gesellschaftspolitik mit der gleichen Energie nach innen ausrichten. Vielleicht mit 15 oder 20 Sozialarbeitern, Entwicklungshelfern oder Historikern. Dann würde der Verein vielleicht merken, dass ein kommentarloses Spiel in Saudi-Arabien oder ein Trainingslager in Katar ein etabliertes Projekt gegen Antisemitismus untergraben kann. In diesen Ländern müsste der frühere Bayern-Präsident Kurt Landauer als Jude wohl mit Anfeindungen rechnen.

Wenn Sportler keine Regimekritiker sein wollen oder es aufgrund von Verträgen nicht sein dürfen – müssen sie dann der Propaganda dienen?

Sie könnten schweigen und auf Anbiederei verzichten. Aber manche lassen eine Autokratie auch alltäglich erscheinen: Julian Draxler schrieb nach dem gewonnenen Confed Cup 2017 einen offenen Dankesbrief an die russische Bevölkerung, er ließ deren Sorgen nicht mal zwischen den Zeilen durchscheinen. Lukas Podolski, für zwei Jahre bei Galatasaray Istanbul unter Vertrag, trat in einem Tourismusvideo für die Türkei auf.

Der Brasilianer Ronaldinho, Weltmeister von 2002, posierte mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. In Tschetschenien wurden Homosexuelle gefoltert und ermordet. Sebastian Vettel wollte bei der Formel 1 in Bahrain lieber nicht über Folter von Oppositionellen sprechen. Und Dennis Rodman war mehrfach zu Besuch bei Kim Jong Un in Nordkorea. Es gibt aber auch die andere Seite: Fußballer und Trainer, die unter großen Gefahren für Freiheit eintreten. Ihnen wird diese Themenreihe im späteren Verlauf eine Hommage widmen.

Auch Rundfunk-Gebührenzahler stützen die Fifa

In der Wirtschaft hat es sich herumgesprochen, dass Gesellschaftspolitik tiefer gehen muss. Es geht nicht darum, wie Unternehmen einen Teil ihrer Gewinne an wohltätige Projekte weiterreichen. Es geht darum, wie sie diese Gewinne überhaupt erwirtschaften. Der Fußball hinkt ein Jahrzehnt hinterher, auch weil mediale Erregungswellen eine sachliche Diskussion erschweren.

Was fehlt in der Menschenrechtsdiskussion, ist ein Blick in den eigenen Vorgarten. Noch immer laden Profiklubs geflüchtete Menschen zu Heimspielen oder Stadionführungen ein. Andererseits machen sich dieselben Klubs von Sponsoren abhängig, die in Niedriglohnländern produzieren lassen – und damit zu Fluchtursachen beitragen. In der Wirtschaft hat es sich herumgesprochen, dass Gesellschaftspolitik tiefer gehen muss. Es geht nicht darum, wie Unternehmen einen Teil ihrer Gewinne an wohltätige Projekte weiterreichen. Es geht darum, wie sie diese Gewinne überhaupt erwirtschaften.

Der Fußball hinkt ein Jahrzehnt hinterher, auch weil mediale Erregungswellen eine sachliche Diskussion erschweren. Fans empören sich, wenn der DFB eine Serie von Freundschaftsspielen mit einer chinesischen Jugendauswahl verabredet. Aber es fällt ihnen weniger auf, dass Sponsoren und Vermarkter ihrer Lieblingsklubs längst mit chinesischen, russischen oder arabischen Konzernen verflochten sind. Fans regen einen Boykott der WM in Russland an, aber sie werden vor den Fernsehern wieder Teil eines Millionenpublikums sein. Laut Schätzungen sollen ARD und ZDF 150 Millionen Euro für die Übertragungsrechte gezahlt haben. Auch die Beitragszahler des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stützen indirekt die Fifa.

Wie kritisch man als Fußballkonsument auch sein mag – man ist Teil eines Systems, in dem Menschen Schaden nehmen. Zum Beispiel in Asien, wo neunzig Prozent der Kleidung hergestellt wird, die wir in Europa kaufen und tragen. So sollen dort 500 chemische Substanzen zum Einsatz kommen: für das Färben, Bleichen, Bedrucken und Imprägnieren der Stoffe. Viele sind gesundheitsschädigend. Die Löhne der Bekleidungskonzerne gehen in Kambodscha, Bangladesch oder Myanmar minimal über den Mindestlohn hinaus. Die Belegschaft ist gezwungen, viele Überstunden zu leisten. Am Kaufpreis der hierzulande beliebten Trikots und Bälle liegt der Lohnkostenanteil für die meist jungen Näherinnen selten über einem Prozent.

Die Marktführer Nike, Adidas und Puma lassen meist in denselben Fabriken produzieren, sie könnten die Löhne der Näherinnen ohne große Einbußen verdoppeln. Aber sie investieren das Geld lieber in Marketing: Laut Schätzungen überweist Adidas an Real Madrid jährlich 140 Millionen Euro, an Manchester United 95 und an den FC Bayern 60 Millionen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen, aber man kann auch innerhalb dieser wirtschaftlichen Zwänge ein Zeichen setzen.

Ein Beispiel lieferte der 1. FSV Mainz 05, der während der Finanzkrise 2009 einen Hauptsponsor suchte und Entega fand. Schätzungsweise fünf Millionen Euro überwies das Energieunternehmen pro Saison an den Klub. Entega forderte Maßnahmen ab: Mit dem Öko-Institut untersuchten sie Stromverbrauch, Heizbedarf, Konsum, Essgewohnheiten oder Transportverhalten bei Mainz 05. Bald organisierten Verein und Entega Züge zu Auswärtsspielen, warben für Fahrgemeinschaften, boten während der Partien kostenlose Fahrrad-Wartungen an. Sechzig Prozent der Mainzer Zuschauer besuchen die Spiele inzwischen mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Und die Marktforschung ergab, dass Entega und die wenig geliebte Energiebranche von den Sympathiewerten des Klubs profitierten.

In einem Netzwerk wollen NGOs schlagkräftiger wirken

Es muss nicht unanständig sein, wenn Vereine, Verbände und Sponsoren sozialpolitische Konzepte entwickeln. Die Kommerzlogik des Fußballs lässt sich so schnell nicht überwinden, also sollte die kritische Minderheit sich innerhalb des Systems um einen Wandel bemühen. 2014 haben sich Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaftsverbände und Fanbündnisse zur „Sports and Rights Alliance“ zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie schlagkräftiger wirken im Dialog mit Fifa, Uefa und IOC. Ihre Forderungen: Die Sportverbände sollten den Schutz von Menschenrechten und Umwelt deutlicher in Verträgen festschreiben. Es müsse eine regelmäßige, unabhängige Dokumentation bei den Gastgebern geben, begleitet von Fortbildungen auf Augenhöhe. Auch globale Konzerne wie Adidas, McDonalds oder Coca-Cola sollten ihre Milliarden-Investitionen an Bedingungen knüpfen.

Die Vermittlung spielt eine zentrale Rolle. In Russland und Katar haben Entscheidungsträger eine Abneigung gegen den fordernden Ton der Menschenrechtler und der „westlichen Presse“ entwickelt. Und in der Tat ist die Methodik der „Soft Power“ im Sport noch nicht ausgereift. Mit diesem Begriff hatte der amerikanische Politologe Joseph Nye eine Außenpolitik beschrieben, die auf Kultur und Wissenschaft setzt, nicht auf wirtschaftliche Argumente oder militärische Drohungen. Lange hatten Fifa, IOC und auch DFB ihre internationalen Projekte als gönnerhafte Geschenktouren inszeniert. Dass man auch in Europa etwas von Südafrikanern, Brasilianern oder Russen lernen kann, ging unter. Eine intensivere Zusammenarbeit des Sports mit dem Auswärtigen Amt und den Goethe-Instituten könnte den Methodenkoffer vergrößern.

Langsam gibt der große Apparat Fußball ein kleines Stück seiner Autonomie auf. Auch weil der Handlungsdruck aus der kreativen und beweglicheren Umlaufbahn größer wird, durch weltweit vernetzte Fußball-NGOs wie die Frauenrechtsgruppe „Discover Football“, das Sozialunternehmen „Streetfootballworld“ oder das Fannetzwerk „Football Supporters Europe“. Allerdings befinden sich auch diese Organisationen im selben Wettbewerb um begrenzte Fördermittel und ein unberechenbares Interesse der Medien. Langfristig planen können sie selten.

Graubünden, Oslo, Boston oder Rom. Toronto, Stockholm, Krakau oder Budapest. In diesen Städten haben sich Einwohner oder Regierende gegen Olympia entschieden. Die Münchner lehnten in einem Bürgerbegehren eine Bewerbung für 2022 ab, die Hamburger eine Bewerbung für 2024. Trotz beachtlicher Konzepte: Hamburg hätte einen komplett barrierefreien Stadtteil gebaut, mit einem großen Anteil an sozialem Wohnraum. Immer mehr Menschen, mit oder ohne Behinderung, werden künftig länger leben – der Sport hätte einen Beitrag zur Solidargemeinschaft leisten können.

Doch Funktionäre, Politiker und Unternehmen kamen gegen die vorherrschende Wahrnehmung von Korruption, Umweltfrevel und Doping nicht an. Ihre Reden und Werbevideos sollen Emotionalität wecken, sind aber meist weltfremd, von selbstkritischer Risikoabwägung keine Spur. Und so dürfte weiter der Frust dominieren: Dutzende Geschäfte, Hotels und Skiverleihe mussten in Pyeongchang schließen, weil die koreanische Region für die Winterspiele 2018 fit gemacht werden musste. Touristen blieben weg, gewachsene Geschäftsstrukturen zerbrachen.

Der DFB will bei seiner Bewerbung für die EM 2024 einen anderen Weg gehen. Sieben Jahre vor einem möglichen Turnier lud er dutzende Interessengruppen aus Politik und Zivilgesellschaft ein, darunter wichtige Menschenrechtsorganisationen. Die Zeit bis zur EM könnte von Kampagnen begleitet werden. Zum Europäischen Gedanken, zu Vielfalt oder Gesundheitsförderung. Der DFB erfüllt die Anforderungen der Uefa zum Thema Nachhaltigkeit locker, trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass der einzige Mitbewerber im September den EM-Zuschlag erhält: die Türkei und Präsident Erdoğan.

 


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs. Blaschke stellt die Recherchen für diese Themenreihe in einer Vortragsreihe zur Diskussion.

Die kommenden Termine sind hier zu finden.


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Die Veröffentlichung dieses Beitrags wurde auch durch die Unterstützung des 120minuten-Lesekreises möglich. Stellvertretend für alle bedanken wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Max, unserem neuesten Lesekreis-Mitglied. Du möchtest 120minuten ebenfalls aktiv unterstützen? Dann bitte hier entlang!

Bildnachweis: Illustrationen: Christoph Löffler; Arena_Amazônia von Portal da Copa/Governo do Brasil (Portal da Copa) [CC BY 3.0 br (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/br/deed.en)], via Wikimedia Commons

Kategorie q 120minuten

Endreas Müller heißt in Wirklichkeit ganz anders und beschäftigt sich schon länger mit Fußball im Allgemeinen und dem Bloggen im Besonderen. Vor einiger Zeit stellte er sich gemeinsam mit Christoph Wagner die Frage, warum es eigentlich in der deutschen Blogosphäre noch keine Plattform für lange Fußballtexte gibt – die Idee von ‚120minuten’ war geboren.

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