Amateurfußball – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 08 Jan 2020 20:10:22 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Small Worlds – Amateurfußball als Forschungsprojekt https://120minuten.github.io/small-worlds-amateurfussball-als-forschungsprojekt/ https://120minuten.github.io/small-worlds-amateurfussball-als-forschungsprojekt/#respond Fri, 15 Nov 2019 11:10:41 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6650 Weiterlesen]]> Schätzungen aus dem Jahr 2006 zufolge sind etwa 265 Millionen Menschen aktive Fußballspieler. Die wenigsten davon sind Profis. Während diese kleine Gruppe professioneller Spieler die meiste Aufmerksamkeit (und das meiste Geld) bekommt, wird die große Masse ignoriert. Das Forschungsnetzwerk “Small Worlds” möchte dem Amateurfußball die Aufmerksamkeit widmen, die er verdient.

Sonntagskick im Victoria Park, Leicester 2005

Von Kristian Naglo

Amateurfußball: Ein wenig untersuchtes Phänomen

Zieht man die offiziellen Zahlen des Fußballweltverbandes FIFA heran, haben sich ungefähr 1,12 Milliarden Menschen das Finale der Weltmeisterschaft 2018 in Russland zwischen Frankreich und Kroatien angeschaut, davon circa 884,37 Millionen im Fernsehen und etwa 231,82 Millionen auf öffentlichen Events und auf digitalen Plattformen. Diese Statistiken deuten auf die Popularität des organisierten Fußballs weltweit hin. Doch wie viele Menschen spielen eigentlich Fußball unter dem allumfassenden Schirm des Weltverbands?

Die jüngsten Schätzungen aus dem Jahr 2006 sprechen von circa 265 Millionen organisierten Fußballer*innen weltweit. Doch offensichtlich ist nur ein sehr geringer Prozentsatz dieser Spieler*innen als professionell zu bezeichnen. Für die überwiegende Mehrheit spielt sich die Teilnahme am Fußball im nicht-professionellen (oder Amateur-)Bereich ab. Die Feststellung, dass dem nicht-professionellen Fußball in der akademischen Forschung nur wenig Beachtung geschenkt wird, ist dabei schlichtweg eine Untertreibung: Die Amateurspieler*innen auf lokaler Ebene, insbesondere wenn sie oder er nicht in die formale Organisationsstruktur von Vereinen und Verbänden eingebunden ist, sind weitgehend ein marginales und wenig untersuchtes/verstandenes Phänomen.

Das internationale Forschungsnetzwerk “Small Worlds: Football at the Grassroots in a Comparative European and Global Perspective” wurde im Jahr 2015 von Forschern aus Deutschland, Großbritannien und Irland ins Leben gerufen, um neue, innovative Perspektiven zum nicht-professionellen Fußball aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln der Sozialwissenschaften einen Raum beziehungsweise diskursiven Rahmen zu geben. Unsere Gruppe beschäftigt sich daher vornehmlich mit dieser nur selten untersuchten Dimension der Fußballkultur.

Kultureller und medialer Wandel

Das Fußballspiel hat sich zu einem bedeutsamen Alltagsphänomen mit globaler Reichweite und beachtlichem Potential für soziale Mobilisierung entwickelt. Als populäre Kultur des Globalen und Nationalen ist Fußball stark medial inszeniert und ohne die modernen Massenmedien schlechthin nicht mehr vorstellbar. Historisch kann man seit den späten 1980ern und dem Aufkommen des Privatfernsehens von einem tiefgreifenden Wandel im Sinne einer Beschleunigung von Kommerzialisierungsprozessen sprechen – vor allem aber mit Beginn der 1990er Jahre und der schrittweisen Übernahme der Übertragungsrechte des Profifußballs durch Pay TV-Sender etwa in Deutschland und Großbritannien. Fraglos hat die Form der Darstellung des professionellen Fußballs im Fernsehen und Internet wesentliche Auswirkungen darauf, wie die Beteiligten das globale Spiel wahrnehmen, was sie darüber wissen, und auch, wie sie sich dem Spiel gegenüber verhalten.

Solche Entwicklungsschübe des Fußballs haben eine große Anzahl an akademischen Studien hervorgebracht, die sich mit den Funktionen und Konsequenzen des Spiels auf der höchsten Ebene auseinandergesetzt haben. Im Anschluss an diese Arbeiten lässt sich formulieren, dass der professionelle Fußball Menschen zusammenbringt und Kommunikation stimuliert. Er beeinflusst Identitätsbildungsprozesse sowie Prozesse sozialer Integration und Exklusion, weil er das Potential besitzt, soziale Konflikte gleichzeitig zu entschärfen und zu befeuern. Außerdem kann er für Fans Aspekte einer Zivilreligion annehmen. Er ist dann oft nicht nur (bedeutsame) Trivialität in ihrem Alltag und eine Quelle kultureller Bereicherung, sondern häufig auch ein zentraler Referenzpunkt, gleichsam der wichtigste Teil ihres Lebens.

Der Ausgangspunkt der Small Worlds-Gruppe ist nun folgende Beobachtung: Die globale Fußballforschung setzt sich vor allem mit dem elitären, professionellen Spiel auseinander. Diejenigen, die auf den unteren Ebenen am Spiel partizipieren, angefangen bei semi-professionellen und hochklassigen Amateur*innen bis hin zu denjenigen, für die das Spiel im Wesentlichen eine Freizeitbeschäftigung oder eine Form der Teilhabe an der lokalen Gemeinschaft ist, werden bislang kaum berücksichtigt. Unsere Gruppe möchte dieses Ungleichgewicht angehen, indem wir Forscher_innen zusammenbringen, die ein gemeinsames Interesse an unterschiedlichen Interpretationen des nicht-professionellen Fußballs haben. Die Mitglieder*innen unseres Netzwerks untersuchen verschiedene Aspekte in verschiedenen nationalen Konstellationen mit dem Anspruch, Forschungsansätze zu etablieren, die international vergleichende Perspektiven ermöglichen sollen.

Forschungsfragen, Konzepte und Beispiele

Wie entwickelte sich der nicht-professionelle Fußball in unterschiedlichen nationalen Kontexten? Welche Ziele verfolgen Amateurvereine und wie versuchen sie, diese zu erreichen? Wie versuchen sie ihr Potential auf und jenseits des Spielfeldes in den jeweiligen regionalen und nationalen Kontexten umzusetzen? Welche Werte sind den teilnehmenden Akteur*innen dabei wichtig? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich in den verschiedenen nationalen Zusammenhängen verdeutlichen? Das sind einige der Fragen, denen sich die Gruppe unter Einbindung diverser Forschungsansätze und Perspektiven (Kulturgeschichte, Sozialwissenschaften) widmet.

Small Worlds of Football können in diesem Zusammenhang allgemein den Bereich des organisierten und nicht-organisierten Fußballs bezeichnen und somit die kleine Welt der Verbände und Vereine, der Spieler*innen, Trainer*innen, Funktionär*innen, Zuschauer*innen und Spielorte umreißen. Mit einem soziologischen Ansatz kann man kleine Welten des Fußballs auch als soziale Welten konzeptualisieren. Soziale Welten sind in diesem Sinne unterteilt in verschiedene Handlungs- und Wahrnehmungssphären, die jeweils ihren eigenen Wissens- und Bedeutungsvorrat haben und Muster sozialer Praktiken und Beziehungen aufweisen. In der Regel sind diese Welten und Subwelten um formale Organisationen herum angeordnet und kreisen um spezifische Kernaktivitäten (‚Fußball spielen‘). Beide Versionen kleiner Welten sind relevant für unsere Gruppe.

Beispielhaft lässt sich die Produktion von Bedeutung und Wissen auf unterschiedlichen Ebenen des Fußballs anhand des „katholischen“ schottischen Fußballvereins Celtic Glasgow verdeutlichen, dessen Gründung gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem irischen Priester initiiert wurde: Narrative betonen nun einerseits die Herkunft des Clubs durch die Hervorhebung der vermeintlichen Bedeutung des irischen Katholizismus. Die Fans von Celtic beziehen sich während der Spiele – insbesondere während des „Old Firm Derby“ in der konflikthaften Auseinandersetzung mit dem „protestantischen“ Stadtrivalen Glasgow Rangers – symbolisch auf die irische Geschichte durch Lieder oder popkulturelle Versatzstücke: Songs wie „Fields of Athenry“ behandeln Themen wie die große irische Hungersnot (1845–1852) und die britische Besatzungszeit im 19. und 20. Jahrhundert, sie beziehen sich auf paramilitärische Gruppierungen (wie die Irisch Republikanische Armee, IRA) oder positiv auf die katholische Kirche (zum Beispiel durch Vergleiche zwischen dem gegenwärtigen Trainer Neil Lennon und dem Papst). Andererseits agiert der Verein als Global Player und verfolgt Investmentstrategien, die auf die Rekrutierung von Spielern und Zuschauern auch außerhalb des lokalen, spezifisch historisch-kulturell geprägten Raums abzielen. Auf der Ebene internationaler Wettkämpfe zwischen Nationalmannschaften, wie etwa bei Fußballweltmeisterschaften, lässt sich wiederum auf die symbolhafte Konstruktion nationaler Stile und Praktiken verweisen, etwa beim Singen der Nationalhymne oder der medialen Betonung historischer Rivalitäten (Deutschland – England), die letztlich die imaginierte Gemeinschaft „Nation“ als homogen erscheinen lassen, obwohl soziale Heterogenität offensichtlich Normalität ist.

Besonders spannend werden diese Zusammenhänge von Wissen und Bedeutung aber im Bereich des Amateurfußballs. In der Folge werde ich das am Beispiel der Symbolik von Kunstrasenplätzen skizzieren. Kunstrasenplätze als Spielflächen, die in den 1960er Jahren zunächst in den USA im American Football eingesetzt wurden und die seit den 1970er Jahren auch in Deutschland für Hockey und im Fußball angeboten werden, sind insbesondere im Profifußball als reguläre Wettkampfstätten umstritten. Der Plan des Weltfußballverbands FIFA beispielsweise, die Weltmeisterschaft der Frauen in Kanada im Jahr 2015 auf Kunstrasenplätzen auszutragen, hat bei den Beteiligten Proteste hervorgerufen und dazu geführt, dass eine Gruppe von Spielerinnen eine Klage gegen den Weltverband, unter anderem wegen vermeintlich erhöhter Verletzungsgefahr, anstrengte. Dennoch fand die Veranstaltung auf Kunstrasenplätzen statt, gedacht wohl auch als Testlauf für zukünftige Wettbewerbe der Männer. Während der frühere FIFA-Präsident Sepp Blatter Kunstrasenplätze für die „Zukunft des Fußballs“ hielt – und übrigens auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) seit den frühen 2000er Jahren offensiv für den Bau von Kunstrasenplätzen wirbt –, bezeichneten die protestierenden Spielerinnen den Belag als „Untergrund zweiter Klasse“ und fühlten sich diskriminiert.

Im Amateurfußball nimmt die Diskussion nun eine andere Stoßrichtung. Hier werden Kunstrasenplätze in der Regel als Ausdruck eines Modernisierungsprozesses der Vereine im Sinne einer existenzsichernden Maßnahme gedeutet. Die Krise, die es zu überwinden gilt, wird in der Wahrnehmung der Akteure meist durch die nicht mehr zeitgemäßen Tennenflächen („Aschenplätze“) ausgelöst, die durch die neuen Astro Turfs ersetzt werden. Der Bau von Kunstrasenplätzen im Amateurbereich gilt dann als Prestigeobjekt. Seine Einweihung – z.B. durch einen Priester oder die Traditionsmannschaft eines Bundesligisten – wird in der Regel als großes Event gefeiert. Dies schließt in zweifacher Hinsicht an Entwicklungen im Bereich des professionellen Fußballs an: Zum einen haben sich Stadien in Deutschland seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 zu Vorzeigeobjekten des öffentlichen Raums entwickelt. Zum anderen symbolisieren diese Plätze häufig eine „hochgradig funktionale Differenzierung “, da sie einen Bereich repräsentieren, der vornehmlich für den Fußball und die lokale Gemeinschaft konstruiert wurde. Ihr Bau wird im Rahmen spezifischer Diskurse („Existenzsicherung durch Konkurrenzvorteil“ beziehungsweise „Gleichziehen mit der lokalen Konkurrenz“, „Grundlage für künftigen sportlichen Erfolg“, „Möglichkeit der Anwerbung besserer Spieler durch attraktiven Bodenbelag“) als alternativlos und Errungenschaft des Vereins dargestellt.

Die optische Gleichartigkeit der Kunstrasenplätze drückt dabei eine zunehmende Standardisierung und damit Homogenisierung des Raums aus, die dem Stadionprinzip im professionellen Fußball nahe kommt. Kunstrasenfelder bieten in dieser Hinsicht ein ideales Umfeld für die zunehmend kommunikative und praktische Modernisierung des Spiels, auch in den untersten Amateurbereichen und im Jugendfußball. Ihre Eigenschaften lassen daher vermehrt an Versatzstücke anschließen, die aus der kulturellen, medialen Zirkulationssphäre des Profifußballs stammen. Gleichzeitig wird im Rahmen von Legitimitätsdiskursen die Integration der lokalen Gemeinschaft betont. Paradoxerweise lösen also ausgerechnet „Plastikplätze“ – die ja ebenso gut lila eingefärbt sein könnten – ein Authentizitätsversprechen ein, indem sie einerseits die Teilnahme am großen Fußball suggerieren und andererseits das Lokale integrieren.

Eine besonders interessante Wendung nimmt die Diskussion um Kunstrasenplätze gegenwärtig, da Teile des zum Bau verwendeten Materials (‚Granulat‘) als umweltschädlich angesehen und von einer EU-Behörde auf seine Umweltverträglichkeit (Stichwort: Mikroplastik) geprüft werden. Während (eigentlich offensichtliche) umweltpolitische Belange oder gar Bedenken bislang überhaupt keine Rolle bei entsprechenden, in der Regel lokalpolitischen Genehmigungsprozessen und beim Bau der Astro Turfs spielten, könnte nun europaweit ein Verfahren eingeleitet werden, indem Vereine verpflichtet werden, das Granulat durch alternatives Material (z.B. Kork) zu ersetzen. Dies dürfte mit erheblichen Kosten verbunden sein. Es wird daher interessant sein, zu sehen, wie die unterschiedlichen Interessen (z.B. Modernisierungsbestrebungen vs. Umweltschutz) in den jeweiligen Kontexten (europaweit, national, lokal) moderiert werden.

Welten des nicht-professionellen Fußballs sind also ambivalente und hochinteressante Bedeutungsräume, da sie Repräsentanten einer gesellschaftlichen Tendenz sind, die durch die Dialektik zwischen Effizienzgedanken, Optimierungsprozessen und gesellschaftlich erzeugtem Druck (‚Fortschritt‘; ‚mithalten können‘; ‚Imitation‘) einerseits, sowie der Forderung, unter kontrollierten Bedingungen Spaß zu haben andererseits, charakterisiert werden kann. In der komplexen, aber regulierten Welt des Fußballs ist es nahezu unmöglich, klar zu differenzieren zwischen guter Leistung, (taktischer) Disziplin, Konzentration, Selbstbeherrschung und der alles überlagernden Forderung nach Spaß. Hier findet sich ein Bezug zur klassischen soziologischen Annahme, dass soziale Standards zunehmend internalisiert und in verschiedenen Bereichen kreativ umgesetzt werden (Norbert Elias). Entsprechend ist der nicht-professionelle Fußball charakterisiert durch seine spezifische Form der Institutionalisierung und Bürokratisierung (Verbände und Vereine), gleichzeitig aber auch durch die soziale Welt des Vereinsfußballs und die rahmensetzende Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft wird immer wieder neu definiert und neu geschaffen durch die Praktiken der involvierten Akteur*innen.

Demzufolge stellen der nicht-professionelle Fußball und seine Einbettung in die Vorstellung einer lokalen Identität die dominante Idee von Globalisierung als eindimensionalem Prozess, der vor allem durch Standardisierung gekennzeichnet wird, in Frage. Gleichzeitig sind lokale Praktiken und Wahrnehmungen im Amateurfußball durchaus stabil (z.B. Werte, Traditionen, Mythen) und beeinflussen Modernisierungsprozesse der Vereine unterhalb der professionellen Ebene. Aus diesem Zusammenhang lässt sich schließen, dass das Globale einen Bereich von Wahrnehmungen darstellt, der letztlich auf der lokalen Ebene interpretiert und analysiert werden muss. Unsere Annahme ist folglich, dass auf der Ebene des nicht-professionellen Fußballs ähnliche, gleichsam transnationale Wahrnehmungen existieren, die häufig von der globalen Welt des professionellen Fußballs beeinflusst werden. Von zentraler Bedeutung sind daher, aus unserer Sicht, unterschiedliche Annäherungen an den Gegenstand, die sich etwa mit der Geschichte, mit Spielern, mit Praktiken, Politiken oder der Wahrnehmung von Legitimität und Loyalität beschäftigen.

Unsere Analyse, wie auch unser Netzwerk, beruht damit auf der Idee des internationalen Vergleichs, auch wenn dieser nicht immer explizit geäußert wird: Das Ziel der Small Worlds besteht nicht in der Beschreibung einzelner Phänomene, sondern in der Ausweitung unserer inhaltlichen Basis, um zukünftig systematische und vergleichende Analysen zu ermöglichen. Dies beinhaltet vor allem die Suche nach Ähnlichkeiten und Differenzen, nach Mustern, Parallelen, Analogien und Ambivalenzen.

Special Issue: Small Worlds: Football at the Grassroots in Europe

In einem kürzlich erschienenen Sonderheft der Zeitschrift Moving the Social haben wir unter dem Titel ‚Small Worlds: Football at the Grassroots in Europe‘ erste in der Diskussion entwickelte Gedanken zum organisierten, nicht-professionellen Fußball in Deutschland, England und Irland ausgearbeitet. Diese drei Länder boten sich zunächst zur vergleichenden Analyse an. Fußball hat hier wenigstens seit 150 Jahren eine zentrale Position innerhalb der jeweiligen nationalen Gesellschaft eingenommen, mit jedoch teilweise stark unterschiedlichen Ausprägungen. Die einzelnen Beiträge des Bandes beschäftigen sich etwa mit der Quellenlage der historischen Forschung zum grassroots football in England und den sich aus der entsprechenden Forschung ergebenden Möglichkeiten (Dilwyn Porter, Leicester) oder mit der Entwicklung und Einordnung des nicht-professionellen Spiels in der Donegal League zwischen 1971-1996 im irischen Kontext (Conor Curran, Dublin). Ein Beitrag aus soziologischer Perspektive thematisiert die Bedeutung von Krisen (Symbolik von Kunstrasenplätzen), Events (Hallenfußballturnier) und Kernaktivitäten (Spielzug) in einem ethnografisch-soziologischen Rahmen anhand von Fallbeispielen im deutschen Kontext (Dariuš Zifonun/Kristian Naglo, Marburg). Ein weiterer Artikel aus wissenssoziologischer Perspektive fokussiert Eltern im deutschen Kinderfußball (Jochem Kotthaus, Karsten Krampe, Nina Leicht, Sina-Marie Levenig, Sebastian Weste, Dortmund). Ebenfalls soziologisch ist die Perspektive von Nina Degele (Freiburg) in ihrem Beitrag, der sich mit deutschen nicht-professionellen Spielern und Sportjournalisten und deren Positionen gegenüber Homophobie im Fußball auseinandersetzt. In einem review article bietet Jürgen Mittag (Köln) schließlich eine Übersicht der neuesten Entwicklungen im Bereich der Fußballforschung im Hinblick auf Protestbewegungen im lokalen und globalen Kontext.

Workshops

Der mittlerweile dritte Workshop im Rahmen unseres Netzwerks (nach Köln 2015 und Belfast 2018) fand am 12. Oktober 2019 in der Universität Bayreuth statt, und zwar unter dem Titel Non-Elite Football in a Comparative Context. Wesentliches Ziel der Diskussionen war die Etablierung international vergleichender Perspektiven in diesem Forschungskontext. Folgende Wissenschaftler_innen stellten ihre aktuellen Forschungsprojekte zur Diskussion: Den ersten Vortrag des Tages hielt Kristian Naglo aus Marburg, und zwar zur Frage integrativer Potentiale im Bereich des nicht-professionellen Fußballs (‚Sport as a Universal Language? Perspectives on Lower League Football and Integration‘). Benjamin Perasovic, Marko Mustapic und Dino Vukusic aus Zagreb sprachen im Anschluss über Entwicklungen im kroatischen Fußball, insbesondere über Neugründungen von Teams durch Fans (“Youth, Stigma and Non-elite Football: Notes from the Field”; “Futsal Dinamo – Example of a Fan-Ran Club”). Tarminder Kaur aus Johannesburg gab in ihrem Vortrag “Black Swallows FC: Ethnographic notes on how to get adopted by a football club in a remote South African village” ethnographisch orientierte Einblicke in die Fußballwelt einer südafrikanischen Dorfmannschaft, während Nina Leicht und Sina-Marie Levenig aus Dortmund Annahmen zu Perspektiven von Eltern und Kinder im Jugendfußball formulierten (“The Discovery of Talent – A mundane phenomenology of hopeful parents in non-professional soccer”). Dem folgend beschäftigte sich Michael Wetzels aus Berlin vor allem auch theoretisch mit Fragen nach Affekten, Gefühlen und Emotionen im Fußball (“Affect, Feeling, and Emotion as Processes of Belonging in the Cultural Field of Football”), und Christian Brandt aus Bayreuth referierte über Gründe und Hintergründe des Vereinssterbens im nicht-professionellen Fußball (“How does a club die? – First findings from the world of amateur football”). Jürgen Mittag aus Köln vermittelte Eindrücke hinsichtlich eines Projekts zu Ruhrgebiets-Bolzplätzen, die in Kürze zum Weltkulturerbe ernannt werden sollen. Dilwyn Porter und Kristian Naglo aus Leicester und Marburg stellten dann abschließend einen vergleichenden Forschungsansatz zur Untersuchung des deutschen und englischen Amateurfußballs vor (“Small soccer clubs as social entrepreneurs: some Anglo-German perspectives”).

Für den nächsten Workshop im kommenden Jahr sind bereits Veranstaltungsorte in Kroatien und England im Gespräch. Für weitere Informationen zu unserem Netzwerk richtet Euch bitte direkt an Dr. Kristian Naglo (k.naglo@dshs-koeln.de).

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Autor*innen-Information: Dr. Kristian Naglo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Kultur- und Sprachsoziologie mit besonderem Fokus auf dem Gebiet des Sports mit den Schwerpunkten Ethnografien von Fußballwelten und Konzepte von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität. Seit 2015 ist er gemeinsam mit Professor Dilwyn Porter Leiter der internationalen Forschungsgruppe Small Worlds: Football at the Grass Roots in a Comparative European and Global perspective.

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eSport – eine Möglichkeit, den Nachwuchsmangel im Amateurfußball zu bekämpfen? https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/ https://120minuten.github.io/esport-eine-moeglichkeit-den-nachwuchsmangel-im-amateurfussball-zu-bekaempfen/#respond Fri, 18 Oct 2019 07:00:26 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6593 Weiterlesen]]> eSport sorgt in Deutschland aktuell für Diskussionsstoff: Soll das Zocken von Spielen wie FIFA 2019, League of Legends oder Counter Strike an der Konsole als Sport anerkannt werden? Während Wissenschaft, Politik und Verbände um eine Antwort auf diese Frage ringen, fangen an der Basis viele Fußballvereine an, eigene Erfahrungen mit dem Trend eSport zu machen. Sie hoffen, sich durch Gaming-Angebote für junge Menschen wieder attraktiver zu machen – denn in den letzten Jahren ging es mit dem Fußballnachwuchs stetig zurück.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Von Tim Frohwein

Der Amateurfußball hat Nachwuchssorgen. Nahmen laut DFB-Statistik im Jahr 2015 von der G- bis hoch zur A-Jugend noch 91.961 Juniorenmannschaften am verbandsmäßig organisierten Spielbetrieb teil, waren es 2019 nur noch 84.076. Das entspricht einem Rückgang von knapp neun Prozent binnen vier Jahren. Im Mädchenfußball ist die Situation noch dramatischer: Zwischen 2015 und 2019 sank die Zahl der gemeldeten Mannschaften mit Spielerinnen bis zu einer Altersgrenze von 16 Jahren von 6.702 um rund 28 Prozent auf 4.842.

Die populäre These, dass die Nachwuchsprobleme mit dem demografischen Wandel zu erklären sind – also damit, dass aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge schlichtweg immer weniger Jugendliche nachkommen – ist allerdings nicht haltbar: Wie Andreas Groll von der TU Dortmund in einer Analyse am Beispiel des Bundeslandes Bayern zeigen konnte, nahm dort die Zahl der männlichen Jugendfußballer zwischen 2014 und 2018 in allen Altersklassen kontinuierlich ab – bei zumeist im Vergleich deutlich weniger stark sinkenden, manchmal sogar steigenden Bevölkerungszahlen in den jeweiligen Alterskategorien.¹ Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Im bayerischen Fußballkreis Erlangen/Pegnitzgrund waren in der Saison 2014/15 im F-Jugendbereich noch 1.724 Spieler aktiv, vier Jahre später waren es nur noch 1.254. Das entspricht einem Rückgang von rund 27 Prozent. Parallel zu dieser Entwicklung veränderte sich im Fußballkreis die Anzahl der Jungen, die für die F-Jugend spielberechtigt wären: sie stieg um rund drei Prozent.

Der demografische Wandel kann also nicht immer als Ursache für den Nachwuchsmangel in Betracht gezogen werden. Bei der Suche nach alternativen Erklärungen sind Vereine und Verbände bislang noch nicht weit gekommen. Sind es veränderte Wertevorstellungen der jüngeren Generation, auf die eine feste Bindung an einen Verein einfach zu freiheitsbeschränkend wirkt? Laufen dem Fußball andere Sportarten angesichts einer nie dagewesenen Vielfalt an Sportangeboten den Rang ab? Oder treiben die Teenager von heute einfach weniger realen und stattdessen mehr virtuellen Sport – sprich: spielen sie Fußball lieber an der Playstation als auf dem Rasen?

Der Bayerische Fußball-Verband (BFV) ist überzeugt, dass mit Hilfe von Gaming eine Trendwende geschafft werden kann – und fordert deshalb als einer der ersten Fußball-Regionalverbände in Deutschland seine Mitgliedsvereine dazu auf, entsprechende Angebote bereitzustellen: „Gaming ist fester Bestandteil der heutigen Jugendkultur – ein breit aufgestelltes Vereinsprogramm, das neben dem traditionellen Fußballtraining auch eFootball beinhaltet, ist dabei besonders attraktiv“, schreibt der Verband in einer kürzlich veröffentlichten Broschüre.

eFootball, also das Spielen der FIFA- oder der Pro Evolution Soccer-Reihe an der Playstation oder XBOX, sei jener Bereich des Gamings, für den sich Amateurfußballvereine öffnen sollten, findet der BFV. Von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends ist in der Broschüre nicht die Rede. Anscheinend orientiert sich der Verband hier an der Haltung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Dieser gab nach einer Mitgliederversammlung Ende 2018 bekannt, dass er als sportliche Dachorganisation darauf hinwirken werde, „dass keine eGaming-Aktivitäten in Vereinen angeboten werden, die dem anerkannten Wertekanon des DOSB-Sportsystems nicht entsprechen“ – was sich zum Beispiel auf Spiele wie Counterstrike oder League of Legends bezieht.

„Gaming“, „eGaming“ und „eSport“

„Gaming“ oder „eGaming“ und „eSport“ werden in der öffentlichen Diskussion oft synonym verwendet. Unter allen drei Begriffen werden dabei häufig sowohl das Spielen von Sportsimulationen (z.B. FIFA 2019, NBA 2K19) als auch von Ego-Shootern wie Counterstrike oder Strategiespielen wie League of Legends zusammengefasst. Der DOSB, der sich prinzipiell gegen eine Anerkennung des „eSport“ als Sport ausspricht, sieht in Sportsimulationen – also z.B. auch im „eFootball“ – für „Vereine und Verbände Potenzial für eine Weiterentwicklung“. Ego-Shooter wie Counterstrike oder Strategiespiele wie League of Legends dagegen gehören für Deutschlands Sportdachorganisation zum Bereich des „eGaming“. Diese Spiele passten aufgrund ihrer oft gewaltsamen Inhalte nicht zu dem, „was den gemeinwohlorientierten organisierten Sport prägt“. Dieser Haltung folgen bis jetzt auch der DFB und seine Landesverbände und empfehlen Vereinen aktuell nur, Sportsimulationen, am besten Fußballsimulationen, anzubieten.

In den Fußball-Oberhäusern ist eFootball ohnehin längst angekommen: 22 Vereine aus der 1. und 2. Bundesliga schicken mittlerweile Mannschaften bei der „Virtual Bundesliga“ (VBL) an den Start. Dort duellieren sich ihre Teams, die sich aus mehreren Einzelspielern zusammensetzen, zunächst in einem geschlossenen Ligensystem. Die besten Spieler aus den jeweiligen Kadern sowie einige Nachrücker aus einer Playoff-Runde qualifizieren sich schließlich für die Endrunde, in der der Deutsche Meister ermittelt wird. 2019 setzte sich Michael „Megabit“ Bittner vom SV Werder Bremen im Endspiel gegen seinen Teamkollegen Mohammed „MoAuba“ Harkous durch.

Auch Schalke 04 ist Teil der VBL. Die Gelsenkirchener unterhalten allerdings zudem ein eigenes League of Legends-Team. Hinter dem Phänomen eSport steckt ein riesiges Geschäft, das wissen die Profivereine. Da eFootball nur einen Teil dieses Geschäfts abdeckt, bleibt abzuwarten, ob sie weiterhin der Linie des DOSB folgen – oder sich wie der FC Schalke 04 auch anderen eSport-Bereichen öffnen.

An der Basis machen Amateurfußballvereine in der Zwischenzeit ihre eigenen Erfahrungen mit dem Phänomen eSport. In Bayern sind bereits zahlreiche Vereine dem Appell des BFV gefolgt: Sie nehmen an einem vom Verband organisierten eFootball-Wettbewerb teil. Im angrenzenden Baden-Württemberg ist man da noch nicht so weit. Aber auch hier probieren Vereine sich aus. Bei der SG Lobbach im Odenwald hat die B-Jugend beispielsweise vor einigen Monaten in der eigenen Sporthalle ein eFootball-Turnier auf die Beine gestellt: Auf acht in der Halle verteilten Großbildschirmen trugen 32 Zweier-Teams zeitgleich FIFA 2019-Duelle gegeneinander aus. Den Turniergewinnern winkten als Prämien Einkaufsgutscheine für Elektronik im Wert von bis zu 100 Euro.

Trainer Patrick Münkel hat die Initiative seiner Spieler unterstützt, schließlich kam über Startgelder und den Einnahmen aus dem Verkauf von Speisen und Getränken auch was für die Mannschaftskasse dabei heraus. Trotz dieses Erfolgs, eine eigene eSport-Abteilung wolle man bei der SG Lobbach auf keinen Fall aufmachen, sagt Münkel. „Damit würden wir uns doch ein Eigentor schießen: Statt die Jungs raus auf den grünen Rasen zu schicken, würden wir sie dazu animieren, sich in geschlossenen Räumen vor Bildschirme zu setzen.“ Ein Problem, dass der BFV so nicht sieht, er argumentiert, mit eSport würden bereits vorhandene Mitglieder an den Verein gebunden und neue für alle Sparten gewonnen.

eSport Center-Cup 2018 des VfL Herrenberg, Foto: Jürgen Metz

Ähnlich sieht das Sebastian Pleier vom württembergischen VfL Herrenberg, wo man ein mittlerweile „ländleweit“ bekanntes eSport-Projekt aufgesetzt hat: „Wir wollen die Jugendlichen durch Gaming nicht vom Sporttreiben abhalten – ganz im Gegenteil: Für unsere eSportler haben wir einen eigenen Trainingsplan entwickelt. Auch eSportler müssen körperlich wie geistig fit sein, um gut spielen zu können.“ Ähnlich wie bei der Formel 1, wo die Protagonisten ihren Sport auch im Sitzen ausüben, dabei aber topfit sind.

Tatsächlich gibt es Studien, die die körperliche Belastung von Profi-eSportlern untersucht und interessante Ergebnisse zu Tage gefördert haben: Die Pulsfrequenz während der wettkampfmäßigen Auseinandersetzung an der Konsole entspricht mit 160 bis 180 Schlägen pro Minute etwa der eines sehr schnellen Laufs. Außerdem verfügen eSportler über eine sehr gute Hand-Auge-Koordination und ein extrem gutes Reaktionsvermögen.

„eSport an sich hat mit Sport nichts zu tun“, sagt trotz dieser Befunde der Sportsoziologe Andreas Hoffmann von der Universität Stuttgart, wo man sich seit einiger Zeit kritisch mit dem Phänomen eSport auseinandersetzt. In einem Vortrag auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball“ hat er Mitte des Jahres seine Perspektive klargemacht. „Beim eSport gibt es zwar mit der Bedienung des Controllers eine körperbezogene Handlung. Aber diese motorische Aktivität reicht nicht aus, um eSport als Sport zu definieren. Denn Sinn bekommt diese Handlung erst durch das virtuelle Geschehen auf dem Bildschirm. Wenn man hier also von einer Sportart spricht, müsste man sie Mausklicken nennen“, erklärte Hoffmann. Mit dieser Sichtweise ist er auf einer Linie mit 80 renommierten deutschen Sportwissenschaftler*innen, die Ende September eine Stellungnahme zum eSport veröffentlicht haben. Darin machen sie sich dafür stark, „dass wettkampfmäßige Video- und Computerspiele nicht als Sport(art) zu bezeichnen und anzuerkennen sind.“

Von einer Integration des eSports in das eigene Angebot rät Hoffmann Vereinen folglich ab – auch weil man sich damit Konkurrenz ins Haus hole: „Es besteht durchaus die Gefahr, dass Kinder, die schon im Verein Fußball spielen, zum eSport wechseln, wenn sie merken, dass sie dort schneller Erfolge erzielen können.“ Genauso ist es übrigens bei der SG Lobbach gekommen: Dort hat ein Spieler mit dem Fußballspielen aufgehört und sich stattdessen der professionellen eSport-Abteilung des SV Sandhausen angeschlossen.

Sebastian Pleier glaubt trotzdem an den Erfolg des Projekts „eSport“, das er beim VfL Herrenberg verantwortet: „Ein Nebeneinander von realem und virtuellem Sport ist möglich – und bisher klappt das bei uns auch sehr gut.“ Man werde das Projekt deswegen weiter vorantreiben, Turniere und Boot Camps organisieren. „Wir wollen da Vorreiter sein und anderen Vereinen zeigen, dass man sich durch ein eSport-Angebot als Verein für junge Leute attraktiv machen kann.“ Immerhin: Drei der aktuell vier eSportler des VfL waren zuvor bei einem anderen Verein gemeldet oder vereinslos.

Während Wissenschaft, Politik und Verbände noch darüber streiten, wie mit dem Thema eSport umgegangen werden soll, werden an der Basis also bereits Fakten geschaffen: Fußballvereine im ganzen Land experimentieren mit dem Phänomen – teilweise auf Anregung durch Verbände, teilweise ganz unabhängig davon. Bei rund 29 Millionen Menschen, die laut Jahresreport der deutschen Games-Branche 2018 regelmäßig – also mindestens mehrmals im Monat – digitale Spiele spielen, ist klar, dass Vereine den eSport nicht ignorieren können. Er besitzt zweifellos das Potenzial, junge Mitglieder an den Verein zu binden oder neue zu gewinnen. Genauso zweifellos ist aber, dass eine massenhafte Integration von eSport ins Vereinsleben unser Verständnis von Sporttreiben verändern wird – mit ungewisser Zukunft.


1 – Erste Ergebnisse der Analyse wurden am 10. Mai 2019 auf der Veranstaltung „Mikrokosmos Amateurfußball – (Sozio-)Demografischer Wandel im Amateurfußball“ in Fürth vorgestellt. Die finale Analyse, die auch alternative Erklärungsansätze für den Nachwuchsrückgang im Amateurfußball ausführlich diskutiert, wird demnächst in einem Sammelband erscheinen. Für nähere Infos gerne eine Mail an tim@frohwein.de.

Autoreninfo: Tim Frohwein setzt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich und journalistisch mit dem Amateurfußball auseinander. Seit 2018 organisiert er die Veranstaltungsreihe „Mikrokosmos Amateurfußball“, die die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs stärker in den Mittelpunkt rücken will.

Disclaimer: Eine Kurzfassung dieses Artikels ist bei unserem Partner „Zeitspiel – Magazin für Fußballzeitgeschichte“ erschienen.

Wir bedanken uns beim VfL Herrenberg für die Bereitstellung des Bildmaterials.

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Episode 29: “Überleben im Turbokapitalismus II” https://120minuten.github.io/episode-29-ueberleben-im-turbokapitalismus-ii/ https://120minuten.github.io/episode-29-ueberleben-im-turbokapitalismus-ii/#respond Thu, 15 Aug 2019 20:48:36 +0000  

In Ausgabe 29 des 120minuten-Podcasts spricht Alex Schnarr aus der Redaktion mit den “Zeitspiel”-Herausgebern Hardy Grüne und Frank Willig sowie mit Marcel Delfs vom SC Fortuna Wellsee über das Titelthema von Zeitspiel-Ausgabe 15, “Überleben im Turbokapitalismus II”.

Zunächst berichten Hardy und Frank darüber, welche Idee hinter dem Schwerpunkt von Heft Nr. 15 steckt und wie die Macher an das Thema herangegangen sind. Im weiteren Verlauf geht es dann erst einmal ganz grundsätzlich um die Frage, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir von “dem Fußball” reden und ob der Profi- und der Amateurbereich nicht inzwischen zwei voneinander getrennte Welten mit eigenen Logiken sind. Marcel und Frank geben dann Einblicke in die Arbeit beim SC Fortuna Wellsee bzw. bei Arminia Hannover, bevor die Diskussionsrunde im weiteren Verlauf darüber nachdenkt, welche Macht die Vereine im Turbokapitalismus haben und welche gesellschaftlichen Erwartungen man an den Amateurfußball eigentlich herantragen kann. Die Folge endet mit einem Blick in die Zukunft und je einem Wunsch der Gesprächspartner an die/den künftige/n DFB-Präsident*in.

Leider gab es während der Aufnahme kleinere technische Probleme, die sich an einigen Stellen auch auf die Tonqualität niedergeschlagen haben. Wir hoffen sehr, dass sie den Hörgenuss nicht übermäßig schmälern.

Wie immer freuen wir uns auf Euer Feedback zur aktuellen Folge und natürlich auch über eine angeregte Diskussion zum Thema auf Facebook oder Twitter.

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Angekommen an der Basis: Wie Geld den unteren Amateurfußball verändert https://120minuten.github.io/angekommen-an-der-basis-wie-geld-den-unteren-amateurfussball-veraendert/ https://120minuten.github.io/angekommen-an-der-basis-wie-geld-den-unteren-amateurfussball-veraendert/#respond Thu, 11 Apr 2019 10:00:15 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5842 Weiterlesen]]> Geld floss im Amateurfußball schon immer – vor allem deshalb, weil es lange Zeit nur das gab: Bis weit in das 20. Jahrhundert hielt der DFB am Amateurideal fest und ließ ein Berufsspielertum nicht wirklich zu. Doch natürlich kamen die Spieler der höchsten Ligen schon in der Weimarer Republik, während der ersten großen Boomphase des Fußballs in Deutschland, an ihr Geld – auf verschlungenen Wegen. Heute sind es nicht mehr die besten Spieler des Landes, die zum Schein angestellt werden, damit Zahlungen möglich sind. Es sind die besten Spieler des Landkreises, wenn überhaupt. Die Bezahlkultur hat sich bis in die untersten Ligen des Amateurfußballs ausgebreitet – und sie bringt dort einiges durcheinander.

Von Tim Frohwein

Ein mir bekannter Journalist wollte sich kürzlich in einem Artikel dem Thema Bezahlung im Amateurfußball widmen. Als er beim zuständigen Fußball-Regionalverband um Informationen bat, wurde seine Anfrage dort, so berichtete er mir später, mit dem Argument abmoderiert, dass sich in den vergangenen 30 Jahren diesbezüglich eigentlich nichts verändert habe – warum also über das Thema schreiben?

Ich möchte hier die Gegenthese aufstellen: Es hat sich etwas verändert, insbesondere in der jüngeren Vergangenheit. Die Bezahlkultur hat sich weiter denn je in die unteren Ligen ausgebreitet – und wirkt sich dort nicht gerade positiv aus. Doch bevor ich das näher ausführe, lohnt zunächst ein Blick in die Vergangenheit – auch, wenn die Entwicklungsgeschichte der Monetarisierung des Amateurfußballs in Ermangelung wissenschaftlicher Befunde nur ungenau nachzuzeichnen ist.

Das Thema Bezahlung im Amateurfußball ist so alt wie der deutsche Fußball selbst. Schon in der Weimarer Republik, als der Fußball in Deutschland an der Schwelle zum Massensport stand, wurde im Amateurfußball Geld an Spieler gezahlt – nur, dass damals gemäß den offiziellen Bestimmungen eben auch Spieler der höchsten Klasse den Status des Amateurfußballers besaßen. Ein Profifußball-Segment gab es schlichtweg nicht, da der DFB am Amateurideal festhalten und ein Berufsspielertum verhindern wollte. Im Jahrbuch des DFB von 1925 formulierte der ranghohe Funktionär Georg P. Blaschke die Haltung des DFB so: „Wir bekämpfen das Berufsspielertum aus ethischen Gründen, denn wir sehen in unseren Fußballveranstaltungen etwas anderes als bloße Schaustellungen, die der Unterhaltung dienen. Es wäre ein Frevel an unserer deutschen Jugend, wollten wir das Berufsspielertum in Deutschland auch nur im geringsten begünstigen.“

Und auch, wenn der DFB damals Verstöße gegen dieses Statut teilweise rigoros ahndete: Geld an die Spieler floss natürlich trotzdem. Allerdings geschah das selten – und hier lässt sich eine Linie zur Gegenwart ziehen – offiziell: Mit Scheinanstellungen, Schwarzgeldzahlungen oder der Überlassung von Kiosken und Tabakläden an Spieler – in dieser Zeit wurde auch der Ausdruck „Tabakladen-Amateurismus“ geprägt – versuchten die Spitzenvereine, das DFB-Verbot zu unterlaufen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das Amateurideal zu erodieren, bevor dann mit der Einführung der Bundesliga und dem Lizenzspielertum im Jahr 1963 eine halbwegs sichtbare Trennlinie zwischen Amateur- und Profifußballlager gezogen wurde. Freilich wurde der Amateurfußball dadurch nicht zur geldfreien Zone. Weiterhin wurde Geld als Mittel genutzt, um auch im unteren und gehobenen Amateurfußballbereich fähige Spieler anzulocken und sportlichen Erfolg zu ermöglichen. Wissenschaftliche Studien, die genaue Aussagen darüber zulassen, wie weit die Bezahlkultur in den 1960er und 70er Jahren verbreitet war und welche Summen flossen, gibt es leider nicht. Einzelberichte in Zeitungen lassen aber zumindest oberflächliche Einblicke zu. In einem in Ausgabe 13 des Zeitspiel-Magazins abgedruckten Kicker-Artikel aus dem Jahr 1973 beschwert sich beispielsweise der Vorstand eines rheinischen Verbandsligisten über gestiegene finanzielle Ansprüche im Amateurfußball: „Die Amateure der Verbandsliga-Klubs verdienen und verlangen zum Teil mehr als Regionalligaspieler.“ Die Regionalliga war damals die zweithöchste Spielklasse in Deutschland.

Machen wir einen Sprung ins 21. Jahrhundert. Als ich im Jahr 2010 beschloss, das Thema Bezahlung im Amateurfußball als einen Nebenaspekt in meiner Diplomarbeit zu untersuchen, waren noch immer keine aussagekräftigen empirischen Befunde dazu verfügbar. In meinen Recherchen stieß ich stattdessen auf einen kurz zuvor veröffentlichten Text von Christoph Metzelder, der in seiner Kolumne für 11FREUNDE schrieb: „Wenn ich höre, dass in Bezirksligen (achte Spielklasse) Spieler bis zu 600 Euro dafür bekommen, dass sie (Hobby-)Fußball spielen, dann ist das schon ein starkes Stück. Nur mal zum Vergleich: In meinem ersten Seniorenjahr bei Preußen Münster, 1999/2000 in der dritten Liga, bekam ich als 18-jähriger Vertragsspieler 630 Mark steuerfrei. Das war als Abiturient sehr viel Geld. Aber wir reden hier von der dritten Liga und der Arbeit unter Profibedingungen.“

Den Spieler, der im Amateurfußball mehr verdient als in den höchsten Leistungsklassen des Landes – ihn fand man im Jahr 2010 also nicht mehr nur im gehobenen Amateurfußball, sondern bereits in der achten Liga. Meine 2011 veröffentlichte Untersuchung, für die ich rund 200 Münchner Amateurfußballer per Fragebogen um anonyme Auskunft zum Thema Bezahlung gebeten hatte, bestätigte diesen Trend: Alle damals befragten Bezirksligaspieler, 55,2 Prozent der Kreisligaspieler und immerhin noch 30,8 Prozent der Spieler in der darunterliegenden zehnten Liga, der Kreisklasse, wurden von ihren Vereinen entlohnt. Informationen zur Höhe der Bezahlungen hatte ich damals – auch, weil ich mit Auskunftsverweigerungen rechnete – nicht abgefragt.

Nun sind seit der Veröffentlichung der Ergebnisse schon wieder ein paar Jahre ins Land gezogen. Meine Untersuchung ist immer noch die einzige, die Zahlen zum Thema liefert – weshalb ich erfreulicherweise immer noch Interviews geben darf. Die Reaktionen auf diese Interviews liefern Hinweise darauf, dass seit 2010 die Monetarisierung des Amateurfußballs weiter vorangeschritten ist. In einem Leserbrief, erschienen im Straubinger Tagblatt im August 2018, schreibt beispielsweise Oliver Brzycki, Teamchef des niederbayerischen Kreisklassisten DJK Straubing: „Ich führte die letzten zwei Jahre mit einigen guten Spielern aus der Region Gespräche zwecks Vereinswechsel und immer wieder scheiterte eine Verpflichtung am Schluss am lieben Geld, da bei der DJK Straubing kein einziger Spieler Zahlungen erhält.“ Wohlgemerkt: Die Kreisklasse entspricht im Fußballkreis Niederbayern Ost, in dem der DJK gemeldet ist, der zweiten Liga – von unten.

Die Bezahlkultur sorgt also dafür, dass ein ganz bestimmter Spielertypus, dem der Soziologe Heinrich Väth 1994 einen passenden Namen gegeben hat, in immer tiefere Gefilde des Amateurfußballs vorstößt: Der Spielertypus des „Wechslers“. Es gibt heute in den unteren Ligen immer mehr Amateurfußballer, die ständig Augen und Ohren für lukrative Angebote auf dem Markt offenhalten, die sich mit selbstproduzierten YouTube-Videos bei anderen Vereinen anbiedern – und entsprechend bei sich bietender Gelegenheit schnell wieder weg sind. Spieler, die jedes halbe Jahr die Mannschaft wechseln, sind keine Seltenheit mehr. Ich habe im Laufe meiner 17-jährigen Laufbahn im unteren Münchner Amateurfußball so einige von ihnen kennengelernt. Um den Zusammenhang mit der Bezahlkultur deutlich zu machen: Meine Untersuchung zeigte, dass bezahlte Spieler im Schnitt nur 2,8 Jahre bei einem Verein bleiben, während Spieler, die nicht bezahlt werden, alle 5,6 Jahre den Verein wechseln.

Wenn Amateurfußballer auf den Markt reagieren und dieses Kalkül an den Tag legen, ist es nur logisch, dass sie keine starke Verbindung zu dem Verein aufbauen, dessen Trikot sie gerade überstreifen. Auch dafür fanden sich in meiner Untersuchung Belege: Spieler, die fürs Kicken bezahlt werden, schätzen die Geselligkeit in ihrem Verein viel weniger. Verglichen mit den unbezahlten Spielern gaben sie beispielsweise an, seltener nach dem Training im Vereinsheim sitzen zu bleiben; auch private Sorgen und Probleme wurden im Vergleich nicht so häufig mit Vereinskollegen besprochen.

„Es hat sich da vor einigen Jahren eine Spirale in Gang gesetzt, aus der wir nicht mehr rauskommen“, erzählte mir der sportliche Leiter eines Kreisligavereins aus dem Raum München, den ich anlässlich dieses Artikels interviewt habe. Als vor einigen Jahren zunehmend auch niederklassige Amateurfußballvereine angefangen hätten, Spieler mit Geld zu ködern, seien – um konkurrenzfähig zu bleiben – immer mehr Vereine auf diesen Zug aufgesprungen. „Es hat sich hier in der Gegend über die Jahre hochgeschaukelt – und heute zahlen Vereine bereits in der Kreisliga 400 Euro Fixgehalt zuzüglich Prämien und Fahrtkosten. Wer da als Verein nicht mitspielt, bekommt eben keine oder weniger gute Spieler.“ Natürlich könne sich das aber nicht jeder Verein leisten. Und da sprechen wir noch nicht einmal von den Möglichkeiten, die manch mäzengeführter Verein besitzt: Hier kommt es schon mal vor, dass Spieler – ganz wie zu Zeiten der Weimarer Republik – im Betrieb des Mäzens zum Schein angestellt werden, damit auch höhere Summen fließen können.

Beim letzten Treffen der sportlichen Leiter aus dem Fußballkreis München sei diese Entwicklung, so berichtete mir der befreundete weiter, sogar vom anwesenden Verbandsvertreter deutlich kritisiert worden. „Die Mehrheit der sportlichen Leiter hat sich dann auch dafür ausgesprochen, hier entgegenzuwirken. Aber keiner weiß so richtig, wo man ansetzen soll.“ Eine Idee: Eine Art Kodex, zu dem sich die Vereine im unteren Amateurfußballbereich bekennen und sich damit verpflichten, auf Zahlungen an Spieler zu verzichten. „Aber was macht man dann mit den Vereinen, die aus dem gehobenen und erfolgsorientierteren Bereich absteigen? Die wollen ja wieder hoch – und dafür nehmen sie Geld in die Hand“, entgegnete mein Interviewpartner.

Die Bezahlkultur hat sich – Stand 2019 – bis in die unteren Segmente des deutschen Ligasystems ausgebreitet. Zwar kann man bei den Summen, die in Kreis- oder Bezirksliga gezahlt werden, nicht von Berufsspielertum sprechen. Ob man dort aber dem oben formulierten Amateurideal noch gerecht wird und sich entsprechend benennen darf, sei dahingestellt.

Autoreninfo: Tim Frohwein setzt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich und journalistisch mit dem Amateurfußball auseinander. Seit 2018 organisiert er die Veranstaltungsreihe „Mikrokosmos Amateurfußball“, die die gesellschaftliche Bedeutung des Amateurfußballs stärker in den Mittelpunkt rücken will. Die nächste Ausgabe der Veranstaltung findet am 10. Mai im Stadion von Greuther Fürth statt, Thema: „(Sozio-)Demografischer Wandel im Amateurfußball“. Frohwein ist außerdem Mitglied in der Münchner Interessengemeinschaft „Sport ist wichtig“ und schnürt seit über zwanzig Jahren für seinen Heimatverein, den FC Dreistern in München, die Fußballschuhe.

Disclaimer: Eine Kurzfassung dieses Artikels ist bei unserem Partner „Zeitspiel – Magazin für Fußballzeitgeschichte“ erschienen.
Das Titelfoto zu diesem Beitrag stammt vom Autor selbst.

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Vom Kaiserreich zur Kommerzialisierung: Deutschland und der moderne Fußball https://120minuten.github.io/vom-kaiserreich-zur-kommerzialisierung-deutschland-und-der-moderne-fussball/ Thu, 23 Aug 2018 06:58:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5228 Weiterlesen]]> „Moderner Fußball“ ist ein Schlagwort. Ein Schlagwort, das in Zeiten von wankendem 50+1, zunehmender Kommerzialisierung, zerstückelter Spieltage etc. vorwiegend negativ konnotiert ist. Aber war der Fußball vorher alt? Antik? Natürlich mitnichten. Etymologisch betrachtet, bedeutet modern nichts anderes als „modisch/nach heutiger Mode“. So gesehen geht es bei der Frage nach modernem Fußball um die Phase, in der Fußball bei der Masse der Bevölkerung und nicht nur ein paar Nerds beliebt und in der die ursprüngliche Form weiterentwickelt wurde.
Es soll hier nur um den Beginn des modernen Fußballs in England und Deutschland (genauer gesagt: im deutschen Kaiserreich) gehen und um die Frage, was oder wer verursachte, dass er modernisiert wurde. Der Beitrag ist ein in Fließtext gebrachtes Brainstorming, das ausdrücklich zum Kommentieren anregen soll. Hauptsächlich werden die Anfänge des Fußballs – 1820-1900 in England und 1870-1930 in Deutschland – untersucht

Der erste von zwei Teilen befasste sich mit dem Beginn des modernen Fußballs in England. Im nun folgenden zweiten Teil geht es um die Entwicklung des modernen Fußballs in Deutschland.

Von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de)

Fußball wird in Deutschland bekannt

Ein Spiel des Dresdner Fußball Clubs aus den Anfangstagen des Sports in Deutschland.

Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gab es in England football, in Frankreich soule, in Italien calcio. In Deutschland, genauer gesagt dem damaligen deutschen Kaiserreich, gab es vor dem 19. Jahrhundert kein Fußballspiel. Es konnte also nicht auf schon bekannte Formen zurückgreifen, die in der Folgezeit reguliert wurden. Fußball war unbekannt. Und daher musste er erstmal Fuß fassen, um modernisiert werden zu können. Denn das Wort modern setzt ja voraus, dass es schon eine Vorform, eine antike Form zuvor gab.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kamen die in England beliebten Sportarten wie Cricket, Baseball und beide Fußballvarianten, Rugby und (Assoziations-)Fußball, nach Deutschland. Denn die in Deutschland lebenden Engländer und englische Langzeittouristen wollten nicht auf die liebgewonnenen Sportarten verzichten, die auch die Kontaktaufnahme zu anderen Engländern der Umgebung sehr erleichterte. In diesen Jahrzehnten entwickelte sich das reglementierte Fußballspiel vom Schüler- und Studentensport zu einem in der englischen Gesellschaft verankerten Freizeit- und Bewegungsvergnügen.

Deutsche, die in Kontakt zu Engländern standen – beispielsweise Ärzte, Sprachlehrer, Uniprofessoren oder Journalisten – beobachteten den Sport der Engländer, fanden mitunter Gefallen an Fußball und imitierten ihn. Das passiert vor allem in den so genannten Engländerkolonien in Deutschland. Diese befanden sich vor allem in Residenzstädten wie Hannover, Braunschweig, oder Dresden, oder in Universitätsstädten wie Heidelberg oder Göttingen. Auch in im 19. Jahrhundert beliebten Kurorten – Wiesbaden, Baden-Baden oder Cannstatt sind hier Beispiele – und in Handelsstädten wie Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Leipzig waren häufig Engländer anzutreffen.

Soziale Herkunft der Fußball-Liebhaber
In der Forschung wird noch über die soziale Basis der Fußball-Liebhaber diskutiert – waren es Angestellte oder doch Arbeiter, die in Deutschland das Fußballfieber entfachten? Oder waren es Arbeiter, die als verdeckte Bezahlung einen Bürojob erhielten und sind diese dann als Arbeiter oder Angestellte zu zählen? Eggers merkt an, dass die Quellenlage über die Mitgliederstruktur des DFB vor dem ersten Weltkrieg sehr dürftig ist und viele Fußballspieler noch in den 1920er Jahren als Pseudobezahlung eine scheinbare Angestelltenstellung erhielten, aber aus dem Arbeitermilieu stammten. Als Belege nennt er Clubs im Ruhrgebiet und die Mannschaft von Bayern München 1925, deren Spieler vor allem aus dem Arbeitermilieu stammten und die mit Schein-Arbeitsplätzen und der dazu entsprechenden Bezahlung geködert wurden.

Engländer in Deutschland und Konrad Koch

Es waren aber nicht nur die in Deutschland lebenden Engländer, die den Fußball in Deutschland bekannt machten, sondern auch Konrad Koch, der Thomas Arnolds Ideologie und Leben profund während seines Studiums erforscht hatte. Koch muss von Arnold begeistert gewesen sein, denn er kopierte ihn und führte als Lehrer das Fußballspiel 1874 am Martino-Katharineum in Braunschweig ein, um die Jugendlichen fit zu machen und um die Basis für eine athletische Elite zu legen. Wie in England wurde Fußball als Winterspiel in den kalten Monaten des Jahres gespielt, während im Sommer Leichtathletik im Vordergrund stand. Übrigens hat Konrad Koch nicht Assoziationsfußball spielen lassen, sondern Rugby – wie Thomas Arnold als Schulleiter der Privatschule in Rugby. Da jedoch Assoziationsfußball in Deutschland wesentlich mehr und schneller Verbreitung fand als Rugby, unterstützte er diesen ab den 1890er Jahren. Koch versuchte, in Deutschland eine Fußballbegeisterung zu entfachen, wie es in England damals gerade passierte. Aber der Funke sprang in Deutschland nicht über. Als die erste Assoziationsfußballmannschaft in Deutschland gilt der Lüneburg College Football Club, bei dem den Namen der Spieler nach auch aus Deutschland stammende Schüler spielten. 

Vgl. Hock, Hans-Peter: Der Dresden Football Club und die Anfänge des Fußballs in Europa. Hildesheim 2016. S. 18-20. Wer mehr zu Konrad Koch wissen möchte, sei Malte Oberschelps 2015 erschienene Biografie über Koch sehr empfohlen.

Denn in Deutschland war das Turnen die Körperertüchtigung Nummer Eins. Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt geworden, war das Turnen eng mit studentischen Verbindungen und dem Einheits- und Nationalgedanken verbunden. Die aus England kommenden Sportarten wie Rugby oder Assoziationsfußball, Tennis oder Cricket wurden argwöhnisch beobachtet, weil sie eben aus England stammten und nicht deutschen Ursprungs, also nicht Teil der deutschen Kultur waren. Dazu kamen die Übersetzungsschwierigkeiten des englischen Begriffs sports, der letztendlich einfach in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wurde. Auch Fachbegriffe wie offside, hand, to center oder goal wurden zunächst übernommen.

Die Spielbewegung und der Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen

Im November 1882 erließ der preußische Kultusminister, Gustav von Goßler, den nach ihm benannten Spielerlass. Er ermunterte darin die preußischen Kommunen, Spielplätze zu bauen und Turnen (später auch Bewegungsspiele/Sport) als regelmäßigen Teil des Unterrichts zu integrieren. Gleichzeitig sollten schulfreie Spielenachmittage etabliert werden.

Gustav von Gossler

Neun Jahre später, am 21. Mai 1891, gründeten von Goßler und der preußische Abgeordnete Emil Freiherr von Schenckendorff den Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen (ab 1897 Zentralausschuss zur Förderung von Volks- und Jugendspielen), kurz ZA. Der ZA war dabei kein Zusammenschluss von Fußball-Liebhabern verschiedener sozialer Herkunft, sondern bestand vor allem aus Mitgliedern der Nationalliberalen Partei und dessen Alldeutschen Verbandes (gemeinsame Ziele: Stärkung des deutschen Nationalbewusstsein, Pro-Imperialismus), somit vor allem Politikern, Beamten und Armee-Angehörigen. Ihr vorrangiges Ziel war aber nicht, den Sport politisch zu vereinnahmen, sondern vielmehr eine philanthropische, erzieherische, militärische und sozialdarwinistische Mischung, eine „gesunde“ Elite an sportlichen Deutschen und damit potentiellen Soldaten heranzuziehen. Daher versuchten die engagierten Persönlichkeiten, die Gräben zwischen Turnern und Sportlern aufzufüllen und zwischen ihnen zu vermitteln. Turnen und Sport (zeitgenössisch auch Bewegungsspiele genannt) sollten parallel existieren und sich ergänzen. Um diese Absicht zu erreichen, versuchte der ZA, die einzeln wirkenden Kräfte in Deutschland zu bündeln, um so das gemeinsame Ziel schnell zu erreichen. Dazu gehörte der Zentralverein für Körperpflege in Volk und Schule, der Deutsche Bund für Sport, Spiel und Turnen, das Komitee für die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen zu Athen 1896 und später der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, in dessen Bundesleitung auch viele Mitglieder des ZA vertreten waren und der sich wie der ZA in der vormilitärische Ausbildung engagierte.

Wie versuchte man, die Ziele zu erreichen? Nun, durch einen intensiven Lobbyismus in Militärbehörden und Schul- und Stadtverwaltungen, Englandreisen, regelmäßige und verschiedene Zielgruppen ansprechende Veröffentlichungen und eine enorm große Werbetätigkeit. Die Geldmittel kamen aus dem preußischen Kultusministerium und anderen deutschen Landesregierungen.

Der ZA erreichte letztendlich seine Ziele der Verbreitung der Sportarten und die nationale Ausrichtung dieser.

Der Deutsche Fußballbund

Logo des Deutschen Fußballbundes von 1900

In den 1890er Jahren entstanden eine Reihe von neuen Vereinen und auch erste regionale Fußballverbände, zum Beispiel in Berlin (Bund Deutscher Fußballspieler 1890, Deutscher Fußball- und Cricketbund 1891). Doch während Vereine in England gewachsene Gemeinschaften waren, gab es in Deutschland eine hohe Fluktuation in den Vereinen und daher auch einen geringen Zusammenhalt der Spieler. Die Identifikation mit einem Club war also nicht gewachsen – das kam dem ZA ungelegen. Seine Versuche, einen gesamtdeutschen Verband zu gründen, scheiterten zunächst an Unstimmigkeiten zwischen den Verbänden. Nach einigen Jahren der Vermittlung gab es Ende Januar 1900 in Leipzig einen neuen Versuch, einen deutschen Verband zu gründen. Nun stimmten 60 der 86 Vereine für die Gründung des Deutschen Fußballbundes. Die Gründungsmitglieder waren sowohl regionale Verbände (Verband südwestdeutscher Fußballvereine, beide Berliner Verbände und der Hamburg-Altonaer Fußball-Bund) als auch einzelne Vereine aus Prag, Magdeburg, Dresden, Hannover, Leipzig, Braunschweig, München, Naumburg, Breslau, Chemnitz und Mittweida – also aus dem ganzen damaligen Deutschland. Der Spielausschuss des DFB erstellte in den kommenden Jahren einheitliche Statuten und Spielregeln nach englischem Vorbild (1906 herausgegeben) und es gab einen regelmäßigen Spielbetrieb um die Deutsche Meisterschaft (ab der Saison 1902/1903) und den Kronprinzenpokal (ab der Saison 1908/1909).

Im DFB entschied man sich für die nationale und gegen die kosmopolitische Ausrichtung. Denn so erhielten sie vor den Turnern den Vorzug, um die Exerzierplätze als Spielfeld benutzen zu dürfen. Als Wehrsport wurde der Stereotyp eines Fußballers mit soldatischen Idealen aufgeladen: Kampf und Opfermut bis zur letzten Minute, Pflichttreue und Treue zur eigenen Mannschaft sowie Charakterstärke und Idealismus. An diesem Ideal hat sich bis heute wenig geändert und es ist auch der Grund, weshalb in Deutschland die Legalisierung von entlohntem Fußball noch vehementer abgelehnt und stigmatisiert wurde als in England. Vieles ist in Deutschland wie in England verlaufen, nur etwa 50 Jahre später, aber nicht in diesem Punkt: Während Fußball in England modern wurde, als er legaler Profifußball wurde und viele Menschen direkt oder indirekt durch das Fußballspiel Erwerbsmöglichkeiten fanden, wurde Fußball in Deutschland durch das Militär und das soldatische Ideal, also durch das deutsche Amateurideal, modern. Das änderte sich auch nicht, als der Profifußball etwa 50 Jahre nach der Legalisierung in England auch in Deutschland legalisiert wurde. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb in Deutschland das Begriffspaar moderner Fußball mittlerweile stark negativ konnotiert ist und die 50+1-Regelung nicht schon längst über den Haufen geworfen wurde. Es ist aber vielleicht auch der Grund dafür, dass häufig und des Geldes wegen wechselnde Spieler als Söldner(!) beschimpft werden, weil sie nicht bis zu ihrem letzten Atemzug ihrer Mannschaft treu blieben – bewusst sehr pathetisch formuliert.

Währenddessen stieg die Mitgliederzahl des DFB rapide an und versiebzehnfachte sich zwischen 1904 und 1913.

Wie schon gesagt, Goßlers Idee ging also auf, Fußball wurde Wehrsport. Schon vor 1910 spielte die Marine ihre eigene Fußballmeisterschaft aus, ab 1911 auch das Landesheer. Der DFB wurde wie der ZA Mitglied in staatlichen, militärisch geprägten Jugendorganisationen wie dem 1911 gegründeten Jungdeutschland.

Als Wehrsport musste sich Fußball nun aber endgültig von dem Vorwurf des undeutschen Sportes lösen und Sprachbarrieren  beseitigen. Daher gab es ab den 1890er Jahren immer wieder Artikel in Zeitungen, Pamphlete und auch Bücher, die die englischen Begriffe eindeutschten.

Moderner Fußball: Die Fußballbegeisterung wird Teil der deutschen Gesellschaft

Viele deutsche Soldaten lernten das Fußballspiel erst als Wehrsport während des ersten Weltkrieges kennen; liebten und lebten ihn. Die Spiele dienten hier, in dem reinen Stellungskrieg, vor allem zur psychischen Stabilisierung von Truppeneinheiten und zur Hebung deren Stimmung, fand aber auch durch seinen klassennivellierenden Charakter allgemeine Beliebtheit bei den nichtadeligen Milieus. Diese Begeisterung endete nicht mit dem Kriegsende – im Gegenteil. Manche spielten Fußball fortan in Vereinen und viele weitere wurden begeisterte Zuschauer. 1920 hatte der DFB die 500.000er Marke seiner Mitglieder geknackt. Jetzt begann der Fußball, auch in Deutschland ein Massenphänomen zu werden.

In dieser Zeit, in der Weimarer Republik, nahm Fußball eine Mittlerrolle zwischen der deutschen Bevölkerung und der Reichswehr ein. Dabei war die Grenze zwischen zivilem und Militärsport fließend. Das Wort Kampf wurde in den 1920er Jahren zu einem Schlüsselbegriff: Kampfspiele, Kampfbahn, Kampfgemeinschaft, usw. Der Fußball diente als vormilitärisches Feld, um trotz dem Verbot einer Armee, die kommende Generation an die Tugenden der Soldaten heranzuführen. Außerdem tarnten sich viele paramilitärische Vereinigungen als Sportclubs wie die Box- und Sportabteilung der NSDAP. Diese wurde aber schon verhältnismäßig früh, nämlich im November 1921, von Hitler in Sturmabteilung, SA, umbenannt.

Waren Sportarten wie Fußball nach Ende des ersten Weltkrieges ein gutes Ventil, um die psychische Belastung der Kriegsjahre zu kompensieren, bargen sie damit aber in der Zwischenkriegszeit ein deutliches Gewaltpotenzial. Viele, die das Fußballspiel während des Krieges kennengelernt hatten, spielten einen derart unfairen Fußball oder benahmen sich als Zuschauer mit Platzstürmen und Gewaltandrohungen gegen Schiedsrichter und Gegner so rüde, dass Fußball zu Beginn der 1920er Jahre nicht nur breite Beliebtheit erfuhr, sondern gleichzeitig einen sehr schlechten Ruf erlangte. Der sehr angesehene Schiedsrichter Peter Joseph „Peco“ Bauwens legte 1925 wegen des Verhaltens der Spieler und Zuschauer in der Halbzeit des Spieles 1. FC Nürnberg gegen MTK Budapest schlicht sein Amt nieder.

Zu der Problematik von Fußball in der Weimarer Republik und Bauwens vgl. Eisenberg, Christiane: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999. S. 306-339.

 

Dabei entwickelte sich der Fußball durch die zahlreichen Zuschauer zu einem veritablen Wirtschaftsgut. Diesen verlorenen Respekt versuchte der DFB abermals durch die Verknüpfung mit dem soldatischen Ehrbegriff wiederherzustellen – erfolgreich.

Die ersten Radioübertragungen

Unterstützung erfuhr der Fußball in Deutschland wie in England durch Journalismus, Getränke- und Bauindustrie, Wettbüros, Fotografie und Sportartikelhersteller. Auch Zigarren- und Zigarettenfabriken sowie Schnapsbrennereien profitierten von dem Sport, denn es war auf den Zuschauerrängen üblich, sich zwischendurch mit einem Schluck aus dem Flachmann oder einer Zigarre zu stärken. Neu und in diesem Fall ganz elementar war für Sportinteressierte das moderne Medium Radio, dessen Verkaufszahlen sich zwischen 1923 und 1926 rapide anstiegen. Es war für Sport und Medium eine Win-Win-Situation: Das Radio beflügelte das Interesse, Sport zu verfolgen und die an Sport Interessierten kauften sich Radios. Wann das erste Spiel in Deutschland übertragen wurde, ist umstritten: War es das Spiel Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld am 1. November 1925 oder das vom Rundfunkpionier Bernhard Ernst kommentierte DFB-Endspiel zwischen der SpVgg Fürth und Hertha BSC (Ende 1925)? Wie dem auch sei, der DFB unterstützte zunächst die Rundfunkübertragungen von Fußballspielen, um 1928 stark zurückzurudern: Um nicht die Zuschauerzahlen und damit Einnahmen der Vereine zu gefährden, wurden die Übertragungsrechte nur für das DFB-Endspiel sowie drei Länderspiele vergeben. Diese deutlichen Einschränkungen führten zu heftigem Protest der Zuschauer und tatsächlich wurden ab 1932 wieder mehr Fußballspiele via Radio übertragen; vor allem solche Spiele, bei denen eine Reduzierung der Zuschauerzahl nicht zu befürchten war.

Der DFB war kein Einzelfall. U.a. auch England und Schweden ließen die Übertragungen teils verbieten (Schweden) oder diskutierten über ein generelles Verbot (England).

Moderner Fußball: Profifußball wird (zum ersten Mal) legal

Mitte der 1920er Jahre kam es in Deutschland zu den ersten ernsten Anläufen, dass Fußballspieler ein bezahlter Beruf wird. Denn durch den Dawes-Plan (1925) und seine Unterstützungen begannen viele Städte, neue Stadien zu errichten, um mit Hilfe der Fußballbegeisterung die städtischen Kassen zu füllen. Um die Hypotheken schneller zurückzuzahlen und das Stadion auszulasten, musste man attraktive Spiele bieten und daher Fußballergrößen in die Vereine der Stadt locken. Außerdem war ab 1925 die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen wieder möglich. Der Ehrgeiz , eine besonders schlagkräftige Mannschaft nominieren zu können, war deshalb groß. Unter der Hand gezahlte Zuwendungen waren längst die Regel.

Der DFB blieb bei seinem soldatischen Ideal des Fußballers, den der ehrenvolle Verdienst leitete, nicht der finanzielle . Bei Zuwiderhandlung drohte die Disqualifikation aus Meisterschaft und Pokalwettbewerb. Dabei war der Wunsch vieler Vereine, wettbewerbsfähig zu anderen Ländern zu sein. Bereits 1925 hatte der DFB eine Satzungsänderung verabschiedet, die es deutschen Vereinen stark erschwerte, gegen ausländische Profimannschaften zu spielen. (Der Boykott wurde erst 1930 auf Druck der FIFA aufgehoben.)

Durch die finanziellen Verluste der Weltwirtschaftskrise, die insbesondere die untere Mittelschicht (Angestellte, Facharbeiter) traf, gab es ab 1929 erneut deutliche Bemühungen, den Berufsfußball einzuführen. Bezahlungen der Fußballer unter der Hand waren mittlerweile die Regel, aber der DFB blieb weiterhin bei seinen Prinzipien. Mehr noch, im August 1930 sperrte er 14 Schalker Spieler und zudem mehrere Schalker Funktionäre und verhängte eine empfindlich hohe Geldstrafe von 1000 Reichsmark gegen den Verein. Der Grund: Schalker Spitzenspieler waren Arbeiter in der Schachtanlage Consolidation, wurden aber nur mit leichteren Aufgaben betraut und mussten also nicht unter Tage arbeiten, erhielten dafür aber deutlich mehr Lohn als ihre Kollegen. Die Bestrafung als abschreckendes Exempel für alle anderen Vereine ging für den DFB komplett nach hinten los: Viele weitere erfolgreiche Vereine bedrängten den Verband, die Strafen zurückzuziehen und drohten andernfalls mit dem Austritt. Der Westdeutsche Fußballverband forderte die Trennung in Amateurfußball und Berufsfußball. Noch lehnte der DFB ab, aber als es noch 1930 zur Gründung des Deutschen Professionalverbandes innerhalb des Westdeutschen Fußballverbandes und zu einer Reichsliga (gegründet von Sportjournalisten) kam, lenkte er ein. Schalke wurden die drakonischen Strafen erlassen. Aber der Profifußball wurde noch nicht legalisiert. Das Drängen der Vereine blieb und zwei Jahre später fürchtete der DFB die Spaltung des Fußballs wohl so sehr, dass er wie ca. 50 Jahre zuvor Alcock in England den Fußballsport legalisiert, um ihn dann besser kontrollieren zu können. Doch zu der für 1933 geplanten Reichsliga kam es nicht. Daran hatten nicht direkt die Nationalsozialisten Schuld; ihnen wären professionelle Sportler vielleicht sogar entgegengekommen. Nein, Felix Linnemann, seit 1925 Vorsitzender des DFB wurde 1933 mit der Leitung des Fachamts Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen betraut und machte direkt die in seinen Augen erzwungene Legalisierung des Profifußballs rückgängig.

Moderner Fußball: Profifußball wird (wieder) legal

1950, noch vor der Neugründung des DFB, beschloss die Delegiertenversammlung der Landesverbände, ein Vertragsspielerstatut zur Legalisierung des bezahlten Fußballs. Ein Spieler, der noch einem weiteren Beruf nachging, durfte dennoch nicht mehr als 320 DM monatlich erhalten, d.h. nicht mehr als den Lohn eines Facharbeiters. Aus dem Jahresgehalt errechnete sich die Ablösesumme. Zur der gehörte auch immer ein Gastspiel des neuen Vereines.

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Am Ziel der Träume? Fußball und der Nationalsozialismus

Der Fußball in Deutschland hat es in seinen Anfangsjahren nicht leicht. Gesellschaftliche Vorbehalte, Konkurrenz durch die traditionsreiche Turnerschaft, das unsägliche Geschacher um das Amateurgebot. Unter der Regie des machtbewussten DFB hat sich der Fußball dennoch zum Spiel der Massen entwickelt, wie ich in meinem ersten geschichtlichen Überblick für 120minuten aufgezeigt habe. Ideale Voraussetzungen für die Nationalsozialisten, das Spiel für seine Zwecke zu ge- und missbrauchen? Welche Rolle spielte der DFB dabei? Wie hat der deutsche Fußball auf die verordnete „Gleichschaltung“ reagiert? Und wie ging es in Sachen Profitum weiter?

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1954 wurde Deutschland überraschend Weltmeister. In den Folgejahren nahm die Bedeutung der Nationalmannschaft wegen fehlender Erfolge jedoch spürbar ab. Viele Spieler wechselten zu Vereinen ins Ausland, wo der Profifußball längst etabliert war und sie höhere Gehälter erhielten. Beispielsweise nach Italien, wo Helmut Haller (1962-1968 FC Bologna, 1968-1973 Juventus Turin), Karl-Heinz Schnellinger (1963-1964 AC Mantua, 1964-1965 AS Rom, 1965-1976 AC Mailand) oder auch Horst Szymaniak (1961-1963 CC Catania, 1963-1964 Inter Mailand, 1964-1965 FC Varese) spielten. Um dem Trend entgegenzuwirken, beschloss der DFB auf seinem Bundestag 1962 die Einführung einer Berufsspielerliga, der Bundesliga. Neben Amateurspielern und Vertragsspielern gab es nun auch Lizenzspieler, die ein dreimal so hohes Gehalt wie Vertragsspieler erhalten und einen Teil der Transfersumme kassieren konnte. Aber die Bestimmungen waren in den 1960er Jahren noch recht restriktiv, weshalb in der ersten Bundesligasaison nur 34 Spieler Fußball als Vollzeitberuf ausgeübt haben sollen. Sie brauchten einen guten Leumund, durften aber ihren Namen nicht für Werbezwecke zur Verfügung stellen und so weiteren Lohn erhalten und die Gesamtbezüge aus Lohn, Handgeld, Prämien und Ablösesummen durften nicht 1200 DM monatlich übersteigen.

Für den DFB lohnte sich die Einführung der Bundesliga: Die Nationalmannschaft hatte wieder Erfolg und da in den 1960er Jahren schon viele Haushalte über einen Fernseher verfügten, konnte sich der DFB durch Fernsehübertragungsgebühren, Werbeeinnahmen und Sponsorengelder finanzieren.

Für die Vertrags- und auch Lizenzspieler war das Fußballspiel innerhalb der vom DFB gesetzten Grenzen nicht rentabel und so verwundert es nicht, dass es in der Saison 1970/71 zu einem so großen Bestechungsskandal kam und der DFB abermals zum Umdenken gezwungen wurde. 1972 wurde der Markt geöffnet – seitdem steigen die Einkommen der Fußballprofis kontinuierlich. Die Liberalisierung der elektronischen Medien und das Bosmanurteil vom Dezember 1995 haben diesen Effekt noch einmal deutlich verstärkt.

Fazit: Moderner Fußball durch Eventisierung und Taktik

Doch wann hielt der moderne Fußball nun tatsächlich Einzug in Deutschland? Je nach Betrachtungsweise gibt es dafür drei Möglichkeiten:

  1. Macht man den modernen Fußball an der allgemeinen, nationalen Begeisterung fest, so war es der erste Weltkrieg.
  2. Verbindet man den modernen Fußball mit Profifußball und seinen Folgen, so waren es die 1960er und 1970er Jahren, da die erste Legalisierung 1932 nur wenige Monate Bestand hatte.
  3. Nimmt man den Begriff “moderner Fußball” dagegen als Ausgangspunkt, liegt der Beginn in den 1980er Jahren. Bis 1976 existierte dieser Begriff in der deutschsprachigen Literatur noch gar nicht. Seitdem gab es ein kurzes kleineres Maximum von 1987 bis 1988, das ab 2002 wieder erreicht wurde und mindestens bis 2008 übertroffen wurde.

Lag die erste Häufung des Begriffs Ende der 1980er Jahre an dem Wechsel von Trainer Arrigo Sacchi zum AC Milan und seiner dort etablierten Spielidee? Wurde dieses Ereignis in der deutschsprachigen Literatur tatsächlich so gewürdigt? Oder hat es eine andere Ursache? Darauf habe ich leider keine Antwort.

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Hans-Günter Bruns: “Ich habe schon Spieler von der Polizei abgeholt” https://120minuten.github.io/hans-guenter-bruns-ich-habe-schon-spieler-von-der-polizei-abgeholt/ Tue, 16 May 2017 18:01:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3432 Weiterlesen]]> Hans-Günter Bruns ist Ex-Profi und Trainer. Als Übungsleiter würde er sich selbst wohl eher nicht in die Kategorie Laptop-Trainer einordnen. Dementsprechend geht es im Interview bei FuPa eher weniger um taktische Kniffe und Spielanalyse. Stattdessen erwartet den Leser eine Reihe an unterhaltsamen Anekdoten aus der langen Karriere des Ex-Gladbachers und Bruns ganz eigene Einschätzung zum Status Quo des Fußballs.

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3432 Laufdorf – Buller gegen Bü https://120minuten.github.io/laufdorf-buller-gegen-bue/ Wed, 15 Mar 2017 18:01:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3292 Weiterlesen]]> Amateurfußball ist weit mehr als sportlicher Wettkampf. Er kann ein gemeinsamer Nenner in einer Dorfgemeinschaft sein oder eben ihr Entzweien und Konflikte zum Ausdruck bringen. So geschehen in Laufdorf, dem Heimatort von Oliver Fritsch. Eine Gruppe von Spielern fühlt sich im Vereinsleben und gesellschaftlich ausgegrenzt und gründet kurzerhand einen eigenen zweiten Fußballverein.   

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Das unwahrscheinliche Profi-Comeback des Fußballers Steven Jahn https://120minuten.github.io/das-unwahrscheinliche-profi-comeback-des-fussballers-steven-jahn/ Thu, 16 Feb 2017 19:01:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3264 Weiterlesen]]> Steven Jahn war raus aus dem Profifußball. Bei Union Berlin verlor er den Anschluss. Er schloss innerlich ab mit dem Profifußball. Jahre vergingen, Jahn pflegte einen anderen Lebenswandel, ging aus dem Leim. Bis er sich vornahm, es nochmal zu versuchen. Er wollte wieder fit werden und professionell Fußball spielen, am liebsten in den USA. Der Tagesspiegel erzählt eine Geschichte, die noch nicht zu Ende ist.

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RB Leipzig – Die Geburtshelfer aus der Oberliga https://120minuten.github.io/rb-leipzig-die-geburtshelfer-aus-der-oberliga/ Wed, 21 Dec 2016 09:01:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2813 Weiterlesen]]> RB Leipzig war möglich, weil der SSV Markranstädt sein Startrecht abgab. Dafür erhielt der Verein aus dem Umland von Leipzig eine finanzielle Abfindung. Mit dem Geld wollten die Markranstädter selbst den sportlichen Aufstieg schaffen. Der Erfolg blieb aus. Lukas Rilke begab sich auf Spurensuche und sprach mit den Beteiligten, die den Deal mit RB einfädelten.  

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Die Angst pfeift immer mit? https://120minuten.github.io/die-angst-pfeift-immer-mit-2/ https://120minuten.github.io/die-angst-pfeift-immer-mit-2/#respond Thu, 29 Sep 2016 07:10:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2476 Weiterlesen]]> Aggressionen gegen Schiedsrichter

Autor: Adrian Sigel, Endreas Müller

Immer wieder liest man über Angriffe auf Schiedsrichter im Amateurbereich. Selten stehen dabei die Unparteiischen und ihr Umgang mit Drohungen und Gewalt im Mittelpunkt. In seiner Masterarbeit hat sich Adrian Sigel genau dieser Frage gewidmet, eine Reihe aufschlussreicher Interviews geführt und eine großangelegte Umfrage unter Schiedsrichtern durchgeführt.

„Eeyyy!!!“ ein langgezogener Schrei vom Platz und von den Rängen. Kurz darauf legen die Zuschauer nach: „meine Fresse, du pfeifst sonst jeden Scheiß!“ Die Schreie gelten unmissverständlich dem Schiedsrichter, ein junger Mann in seinen Zwanzigern, der gerade entschieden hat, dass ein Rempler im Strafraum nicht eines Elfmeters würdig ist. Es ist ein x-beliebiges Spiel der Kreisoberliga Ende Mai. Der Tabellenerste ist zu Gast und die Saison so gut wie gelaufen. Nur etwa 50 Zuschauer haben sich bei bestem Wetter auf der großen Tribüne eingefunden. Die Ultras scheinen sich heute eine Auszeit zu nehmen. 

Trotzdem dauert es keine fünf Minuten, bis sich der Schiri die ersten Unmutsbekundungen gefallen lassen muss. Schiedsrichter sind eine Zielscheibe. Wie sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit angegangen werden, kann jeder von uns nahezu täglich im Fernsehen beobachten. Profifußballer lamentieren, reklamieren, fluchen am laufenden Band. Die überwiegende Mehrheit der mehr als 70.000 Schiedsrichter in Deutschland pfeift jedoch außerhalb unseres Blickfelds im Amateurbereich, ehrenamtlich, für eine kleine Aufwandsentschädigung, aus Spaß an der Schiedsrichterei oder zum Wohle des eigenen Vereins. Denn je nach Größe müssen Fußballvereine eine bestimmte Anzahl an Schiedsrichtern stellen.

Verließe man sich lediglich auf die Berichterstattung der Medien über Schiedsrichter im Amateurbereich, so müsste man meinen, dass es in einem fort zu Drohungen und offener Gewalt gegen sie kommt. Immer wieder liest man von abgebrochenen Spielen, Ausschreitungen auf und neben dem Platz, Gewalt gegen Schiris durch Zuschauer, Spieler, Vereinsvertreter. Die hiesige Berichterstattung konzentriert sich auf Extremfälle, die eine ausreichende Relevanz aufweisen, um sie aus dem Kontext des Fußballs auf lokaler Ebene herauszuheben.

Was bei dieser Berichterstattung auf der Strecke bleibt, ist zweierlei: einerseits erfährt die breite Öffentlichkeit so in der Regel nur von negativen Beispielen, die eventuell nicht die tatsächliche Situation widerspiegeln. Schließlich finden jedes Jahr mehr als 1,5 Mio. Spiele in den deutschen Amateurligen statt. Andererseits wird die Rolle und das Selbstverständnis der Schiedsrichter, ihr Handeln auf dem Platz und der Umgang mit Gewalt und Aggression selten thematisiert. In der Berichterstattung bleibt meist keine Zeit, genaue Ursachen und Motive der handelnden Personen aufzudröseln.

Diese Lücke soll die Studie „Aggressionserfahrungen von Schiedsrichtern im Fußballamateurbereich“ von Adrian Sigel schließen. In seiner umfassenden Arbeit stellt Sigel die Schiedsrichter als handelnde Personen in den Mittelpunkt. Ziel der Studie ist ein Überblick über das tatsächliche Ausmaß von Beleidigungen, Drohungen und Gewalt gegen Schiedsrichter sowie Umgang, Meinungen und Handlungsstrategien der Schiris. Dafür hat Sigel eine ganze Reihe von Schiedsrichtern ausführlich interviewt und eine großangelegte Umfrage durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie möchten wir hier zusammenfassen.

Studie: „Aggressionserfahrungen von Schiedsrichtern im Fußballamateurbereich“
Im Rahmen der Studie wurden 915 Schiedsrichter befragt. 97% der Befragten sind aktive Schiedsrichter, 3% sind ehemalige Schiedsrichter. Das mittlere Alter beträgt 32,6 Jahre; der jüngste befragte Schiedsrichter war zum Zeitpunkt der Befragung 13 Jahre alt, der älteste 79. Der Fragenkatalog wurde auf Basis mehrerer Interviews mit Schiedsrichtern zusammengestellt. Die Namen der persönlich befragten Schiris wurden anonymisiert.

Der Autor: Adrian Sigel schloss sein Masterstudium Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt im Dezember 2015 ab. Die hier vorgestellte Studie ist seine Masterarbeit. Sigel schloss vor Kurzem darüber hinaus die Ausbildung zum Sportpsychologen ab und ist im sportpsychologischen Bereich tätig. 

Fußball – ein Aggressionssport?

„Das muss ja auch nicht Ziel sein, diese komplette Aggressivität wegzukriegen. Weil es im Endeffekt ja auch irgendwo den Fußball ausmacht.”

Schiedsrichter Knippe

Das Spiel in der Kreisoberliga plätschert vor sich hin. Die Sonne brennt. Ein Wassereimerspiel. Zum wiederholten Mal pfeift der Schiri einen Stürmer der Gastgeber zurück – Stürmerfoul am Torhüter. Der Mann zwischen den Pfosten sieht sich dennoch genötigt, den Schiedsrichter anzuschreien und seinen Unmut zu äußern.

Ist das schon Aggression oder kann das weg? Wenn man es genau nimmt, ist vieles, was auf dem Fußballplatz passiert – das Herumgeschreie, das Echauffieren, das Reklamieren, Beleidigungen – aggressive Verhaltensweise. Mit verbalen Beleidigungen geht es los. Man wird wohl kaum ein Fußballspiel finden, bei dem es nicht zu verbalen Entgleisungen auch und vor allem gegen den Schiedsrichter kommt. Dabei würde wohl kaum ein Sportler, Zuschauer, Funktionär auf die Idee kommen, im Alltag mit seinen Kollegen, der Familie oder Freunden ähnlich zu kommunizieren.

Nicht wenige der in der Studie befragten Schiedsrichter sehen den Fußball als einen Sport, der von Emotionalität geprägt ist.

„[…]wir reden ja von einer Kontaktsportart, bei dem es um Aggressionsbearbeitung geht und vor allem dann natürlich auch mit einer physischen Thematik.“

Schiedsrichter Rapp

Die persönlich befragten Schiedsrichter gehen teilweise soweit, dass sie die Aggressionen auf dem Platz mit dem Wesen des Fußballs erklären. Emotionen und die damit verbundenen Aggressionen sind für sie integraler Bestandteil des Fußballs. Die Auswertung der Umfrage vermittelt jedoch einen anderen Eindruck. Mehr als 83 % stimmen der Aussage in der anonymen Befragung überhaupt nicht oder eher nicht zu:

„dass man ein bisschen blöd angegangen wird, das passiert auf jeden Fall jedem in jedem Spiel fast, sage ich mal“

SCHIEDSRICHTER RAPP

Was die Beleidigungen angeht, so gibt es einen Tenor unter allen Befragten – sie sind an der Tagesordnung. 95 % der mehr als 900 befragten Schiedsrichter gaben an, in ihrer Laufbahn bereits beleidigt worden zu sein. Mehr als 20 % wurden „häufig“ oder „sehr häufig“ beleidigt. Etwa ein Drittel der Befragten sieht sich nur selten Beleidigungen ausgesetzt. Die Auffassung der befragten Schiris, dass Aggressionen in Form von Beleidigungen Teil des Geschehens auf dem Platz sind, verwundert also nicht.

Beleidigungen am laufenden Band

Auf dem Platz in der Kreisoberliga tut sich fußballerisch wenig. Ergebnistechnisch ist die Partie Mitte der ersten Halbzeit bereits entschieden. Von den Zuschauern kommen dennoch immer wieder laute Zwischenrufe: „Auf der anderen Seite pfeifst du alles!“ „Der soll sich nicht so wichtig machen.“

Beleidigungen und Anfeindungen schlagen den Schiedsrichtern fortwährend entgegen. Im Amateurbereich haben daran auch die Zuschauer einen nicht zu vernachlässigenden Anteil. Ein Teil des Publikums bleibt nicht passiv, sondern versucht, aktiv einzugreifen. In Bundesligastadien ist es für den einzelnen Zuschauer schwierig, sich Gehör zu verschaffen, im Amateursport ein Leichtes. Der Schiedsrichter kann auf die Rufe und Beleidigungen kaum reagieren und hat wenig Handhabe dagegen. Es ist nicht unüblich, dass Zuschauer nach dem Spiel die direkte Konfrontation mit den Schiris suchen. Aus den Interviews mit den Schiedsrichtern geht auch hervor, dass Aggressionen von Seiten des Publikums ganz besonders im Rahmen von Jugendspielen von den Eltern ausgehen.

Aber auch auf dem Platz müssen sich die Unparteiischen jede Menge anhören – auch wenn die Beleidigungen auf dem Rasen subtiler ausfallen. Allzu plumpe verbale Attacken können schließlich Konsequenzen für die Spieler nach sich ziehen:

„Tatsächlich wird man auch von Spielern beleidigt (.), wobei die Spieler so clever sind, in höheren Spielklassen wissen (..) du einen Beobachter draußen und wenn der an dir vorbeigeht und sagt ‘Schiri, du bist heute grottenschlecht’ oder ‘du bist der Schlechteste den wir dieses Jahr hatten’, dann wirst du dem niemals die rote Karte zeigen, weil das (.) weil das keine Außenwirkung hat[…]“

Schiedsrichter Brunning

Für Beleidigungen seitens der Spieler gilt also ebenfalls, dass Schiris sie oft hinnehmen müssen und nicht direkt sanktionieren können. Die Unparteiischen sind sich dennoch bewusst, dass ihnen auch Mittel und Wege abseits des Regelwerks zur Verfügung stehen, um Spieler zur Räson zu bringen:

„[…] kannst als Schiri dann schon irgendwo / das darf man ja gar nicht laut sagen, aber beim (..) / von Rache will ich gar nicht sprechen“

Schiedsrichter Brunning

Und nach dem Spiel ist noch nicht Schluss. Jeder, der schon mal auf einem Amateurfußballplatz war, wird solche Szenen nach Abpfiff kennen: in den Interviews schildern die Befragten, wie Zuschauer, Spieler, Funktionäre sich genötigt sehen, den Schiedsrichter auf dem Weg in die Kabine mit Sprüchen zu überziehen und mitunter die Kabine zu belagern. Und es geht noch weiter, nach dem Spiel, in den sozialen Netzwerken, wird weiter beleidigt:

„[…]zwei, drei Stunden später, wo ich dann zu Hause war, auch über Facebook. Haben dann mich auf das Übelste beschimpft.“

Schiedsrichter Hofer

Aus Beleidigungen werden Drohungen

Nach den Beleidigungen sind die Gewaltandrohungen, die nächste Eskalationsstufe, der sich die Studie zuwendet.

Beinahe zwei Drittel aller befragten Schiris sahen sich schon mindestens einmal Gewaltandrohungen ausgesetzt. Allerdings werden lediglich knapp 4 % häufig oder sehr häufig damit konfrontiert. Fast 40 % haben noch nie eine Erfahrung dieser Art gemacht. Auf unseren Fußballplätzen wird in einem fort beleidigt, aber bei Weitem nicht so oft offen gedroht. Es ist dennoch kein gutes Zeichen, wenn mehr als die Hälfte der befragten Schiris sich schon einmal Drohungen ausgesetzt sah. In den Interviews wurde jedoch auch deutlich, dass die Unparteiischen die Drohungen einzuordnen wissen:

„[…] also sagen wir mal von Spielerseite (.) waren das eigentlich immer so leere Phrasen. Also, klar, wenn ich bedroht werde, dann dementsprechend fliegt der Spieler auch runter. Aber (..) trauen tut sich dann keiner, irgendwie mal irgendwas zu machen. […]”

Schiedsrichter Zackel

Die Drohung wird wahrgenommen, aber gleichzeitig eingeordnet und nicht immer als reale Bedrohung aufgefasst. Es gibt Drohungen, die Tätlichkeiten ankündigen, jedoch eher ein harmloses Ritual darstellen, man denke an Sprechchöre wie “Schiri, wir wissen wo dein Auto steht!” Auch wenn so etwas in der Regel nicht in die Tat umgesetzt wird, prägen solche Äußerungen die Stimmung gegenüber dem Unparteiischen.

Ein interviewter Schiedsrichter macht deutlich, dass er Drohungen von Spielern und Trainern sanktioniert und diese danach für ihn erledigt sind. Eine Umsetzung der Drohungen in Taten erwartet er nicht. Androhungen von Zuschauern bewertet er als „so eine Fußballfloskel“. Das hört sich nach einem lockeren Umgang der Schiris mit möglichen Konfliktsituationen an. Die Ergebnisse der Umfrage legen jedoch nahe, dass Drohungen bei Schiedsrichtern generell mehr Spuren hinterlassen als Beleidigungen.

Mehr als ein Viertel der Befragten gibt an, sich nach Beleidigungen überhaupt nicht damit zu beschäftigen. 37 % stimmen der Aussage, dass sie sich nach Beleidigungen noch an den Tagen danach mit dem Vorfall befassen „völlig zu“ oder „eher zu“. Unter denjenigen, die schon einmal mit Drohungen konfrontiert wurden, sind es fast zwei Drittel.

Die Androhung von Gewalt ist für viele Schiedsrichter gleichzusetzen mit der Überschreitung einer imaginären roten Linie, wie die Auswertung der folgenden Fragen zeigt. Mehr als die Hälfte der Befragten hat sich mit der Zeit an Beleidigungen gewöhnt, bei Gewaltandrohungen liegt die Zustimmung lediglich bei 13,5 %:

Gewalt gegen Schiedsrichter

„Mir ist es zweimal passiert, dass ich von hinten eine mitgekriegt habe. Wenn zwei Spieler gleichzeitig an mir vorbeigerannt sind, aber es nicht klar war, wer es gewesen ist.“

Schiedsrichter Leitner

Gewalt gegen Schiedsrichter gibt es nicht nur in den immer wieder zirkulierenden Schreckensmeldungen über Gewaltexzesse auf Fußballplätzen. Zwar ist nur ein geringer Teil der im Rahmen der Studie befragten Schiedsrichter selbst Opfer von Gewalt geworden, aber das Wissen um tätliche Angriffe ist bei allen Interviewten vorhanden.

In den persönlichen Gesprächen zeigt sich, dass Gewalt, auch wenn sie durch Schutzmaßnahmen verhindert werden konnte, eine prägende Erfahrung ist.

Mehr als die Hälfte der Schiedsrichter (52%) benötigte bereits Hilfe, beispielsweise von Ordnern. Andererseits war das bei 40 % der Befragten nur selten notwendig. Die Schiedsrichter sind sich bewusst, dass Vorkehrungen der Verbände und der Schutz durch Ordner notwendig sind, um tätliche Angriffe zu verhindern. Einer der Befragten gab zum Beispiel an, sein Auto immer in Fahrtrichtung zu parken, um im Notfall den Sportplatz schneller verlassen zu können.

Die Befragung verdeutlicht es: Gewalt gegen Schiedsrichter ist nicht alltäglich. Mehr als 70 % der Befragten waren noch nie Opfer eines tätlichen Angriffs. Nur ein einziger unter den mehr als 900 Teilnehmern der Studie gibt an, “häufig” angegriffen zu werden. Andererseits wurden bereits mehr als ein Viertel der Befragten schon mindestens einmal Opfer von Gewalt. Es wäre also fahrlässig, den Schluss zu ziehen, dass auf Fußballplätzen in Deutschland Gewalt keine Rolle spielt. Die Zahlen zeigen jedoch auch, dass die angesprochene verharmlosende Einordnung von Drohungen seitens der Schiedsrichter ihre Berechtigung hat: die Anzahl an Drohungen ist um ein Vielfaches höher als die tatsächlichen Angriffe.

Spieler mit Migrationshintergrund – vermeintliches oder echtes Problem?

Wo liegt die Ursache für die vielen Beleidigungen, die regelmäßigen Drohungen und die relativ seltenen tätlichen Angriffe? Dieser Frage hat sich Adrian Sigel in seiner Studie ebenfalls gewidmet und einige Faktoren herausgearbeitet.

Immer wieder wird von den Schiedsrichtern in den persönlichen Gesprächen die Mentalität von Spielern, Funktionären und Zuschauern mit Migrationshintergrund als eine Ursache für Aggressionen genannt.

Jeweils mehr als 60 % der Befragten Schiris nehmen Spieler mit Migrationshintergrund als emotionaler wahr und geben an, dass es bei Spielen mit Vereinen mit großem Ausländeranteil öfter zu Aggressionen auf dem Platz kommt.

Mögliche Ursache für diese Wahrnehmung der Schiedsrichter, so die Einschätzung von Adrian Sigel, könnte auch eine dadurch leichtere Abgrenzung sein. Indem aggressive Verhaltensweisen mit einem Migrationshintergrund assoziiert werden, fällt es leicht, eine Grenze zu ziehen: auf der einen Seite die emotionalen und eher zu aggressivem Verhalten neigende Gruppe. Auf der anderen Seite der Schiedsrichter als ordnendes, erziehendes Element, der mit seinem Tun und objektivem Auftreten für Ordnung sorgen möchte. Einige der befragten Schiris begreifen sich als Korrektiv. Auf die Frage, ob er in Spielen ausländischer Vereine mehr Probleme habe, antwortet ein Befragter z.B.:

„Nee. Nee. Wenn Sie sich darauf einlassen, nicht. Ja. Wenn Sie einfach mit dem, mit dem nötigen Hintergrund da rein gehen und sagen, okay, das ist jetzt vielleicht nicht das erste Spiel, was ich habe mit gewissen Nationalitäten und / eigentlich nicht. Im Gegenteil, Sie können die dann auch / bei denen können Sie mehr mit verbaler Ansprache / wenn Sie sich da einen rausholen und den so ansprechen, dass Sie das Gefühl haben, Sie erreichen den, dann klappt das irgendwie.”

Schiedsrichter Heckbrenner

Die erzieherische Komponente klingt besonders bei dieser Aussage durch:

„Und man muss das dementsprechend auch anders, anders anpacken. Also, sage ich mal, es sind halt bisschen andere Spielertypen. In jeder Mannschaft gibt es gewisse Spielertypen. (.) Und (.) ja, dann muss man eben versuchen, auch ein bisschen psychologisch dementsprechend sie für sich zu gewinnen. Wenn man eigentlich so den Rädelsführer der Mannschaft dann auf seiner Seite hat, dann hat man normalerweise auch (..) Ruhe auf dem Platz.“

Schiedsrichter Zackel

Die Aussagen in den Interviews legen auch nahe, dass Schiedsrichter das Gefühl haben, dass sie selbst durch richtiges Verhalten, das Geschehen auf dem Platz unter Kontrolle halten können. Die Beleidigungen werten viele der befragten Schiedsrichter nicht als Angriff auf die eigene Person, sondern als einen festen Bestandteil des Spiels. Dahinter verbirgt sich natürlich auch eine Art Schutzmechanismus: wenn Beleidigungen einfach immer und überall vorkommen, kann sie der Unparteiische als nicht direkt gegen sich gerichtet, also nicht als Kritik, einordnen.

Wie damit umgehen?

“Ach komm!” “Andersrum!” Weiterhin prasseln auf dem Spielfeld bei der Kreisoberligapartie Rufe auf den jungen Schiri ein. Auf den Beobachter wirkt er gelassen und besonnen. Inwieweit ihn das auf dem Platz Erlebte beschäftigt, ob und wie er es verarbeitet, ist natürlich nicht erkennbar.

Um Erfahrungen auf dem Platz zu verarbeiten, suchen Schiedsrichter vor allem das Gespräch mit anderen Schiris. Der Austausch untereinander ist das meist genutzte Werkzeug.

Mehr als 95 %, derjenigen, die sich mit anderen Schiris austauschen, empfinden dies als fachlich hilfreich, auf emotionaler Ebene sind es fast 80 %. Aussagen aus den Interviews verdeutlichen, welchen Stellenwert informelle Gespräche mit anderen Unparteiischen haben und dass die psychische Verarbeitung des Erlebten dabei eine wichtige Rolle spielt:

„Es bringt was, ja. (..) Es ist sowas, man merkt eines: Situativ ist man ja häufig oder sind auch sehr viele Kollegen auch in den gleichen Situationen mal gefangen gewesen. Und der eine sagt halt ‘du, ich habe es halt so gemacht’, und du sagst ‘ich habe es so gemacht’, und dann tauscht sich schon mal aus. ‚Was hat es bei dir gebracht, was hat es bei mir gebracht?‘ So dass man mal miteinander spricht.“

Schiedsrichter Stockmann

„Also das hat mir auch geholfen damals. Also ich habe auch mit dem einen oder anderen, also eher vertrauteren Personen dann auch in dem Bereich, gesprochen. Und die haben mir dann auch ähnliche Fälle mal geschildert gehabt, in deren (.) jüngeren Zeit. Und ja, das hilft dann einem schon.“

Schiedsrichter Zackel

Der Austausch untereinander stellt für viele Schiedsrichter eine adäquate Handlungsstrategie dar. Schon das “Drüberreden” hilft, das Erlebte zu verarbeiten. Denn auf dem Platz ist man meist auf sich allein gestellt. Psychologische Betreuung seitens der Verbände ist im Amateurbereich nur bedingt möglich. Andererseits suggerieren die Aussagen der Interviews auch, das gezielte psychologische Betreuung, also Hilfe von außen, ein Zeichen der Schwäche ist:

„unterbewusst würde das bei mir auslösen (.) du bist / du schaffst es nicht.“

„Und man sucht ja irgendwo starke […] Persönlichkeiten, die mit dem Druck umgehen können. […] Vielleicht entspricht das nicht so dem Bild dessen, was man für höhere Aufgaben sucht. (..) Jemanden, […] der Schwächen zeigt.”

Schiedsrichter Brunning

Die Studie zeigt auch, dass die Schiris weit davon entfernt sind, sich für unfehlbar zu halten. Bei Umgang und Verarbeitung von Aggressionserfahrung spielt auch die Reflexion eine Rolle. Viele der Unparteiischen stellten in den Interviews klar, dass sie nach Aggressionserfahrungen nicht in einfache Schuldzuweisungen verfallen, sondern auch ihre eigene Leistung hinterfragen.

Wie konnte es zu jenem Vorfall kommen und inwieweit habe ich zur Entstehung der Situation beigetragen? Die Suche nach eigenen Fehlern unterstreicht das Bestreben, ähnliche Situationen in Zukunft durch frühzeitiges Handeln vermeiden zu können.

„Ja, also (..) man sucht natürlich in erster Linie die Fehler bei sich. Einfach vielleicht (.) / also, bei uns ist es so, ich überlege immer, was kann ich machen, damit es nicht so weit kommt. Einfach richtig antizipieren.“

Schiedsrichter Finkert

Immerhin 30 % der Befragten sehen bei Aggressionen auf dem Platz eine Mitschuld bei sich selbst und mehr als 70 % reflektieren nach Aggressionserfahrungen ihre eigene Leistung.

Zum Abschluss soll eine banale, aber naheliegende Handlungsstrategie der Schiedsrichter nicht unerwähnt bleiben: Gewöhnung. Wie oben beschrieben, sind vor allem Beleidigungen an der Tagesordnung. In den Interviews klingt immer wieder an, dass nach einer Phase der Gewöhnung bestimmte Aggressionen einfach ignoriert werden:

„ […] ja, also ich muss sagen, ich kriege das (..) eigentlich gar nicht mehr mit, weil man schottet sich dagegen sowieso ab und hat eh irgendwann ein dickes Fell.“

Schiedsrichter Zackel

Die ständigen Beleidigungen sind also eine Art Hintergrundrauschen, das manch einer schon gar nicht mehr wahrnimmt. Das verbessert an der Situation auf den Sportplätzen landauf, landab zwar wenig, aber wer will den Schiris verdenken, wenn sie ob der ständigen Beschimpfungen desensibilisiert sind?

Die Schiedsrichter, die an den Interviews teilnahmen, gehen davon aus, dass ihr Handeln Einfluss auf (potentielle) Aggressionen auf dem Platz hat. Dementsprechend reagieren viele von ihnen, in dem sie die Art und Weise ihrer Spielleitung anpassen, um Aggressionen zu vermeiden. Wie das von den Unparteiischen umgesetzt wird, ist sehr unterschiedlich. Es läuft aber immer darauf hinaus, das Spielgeschehen besser unter Kontrolle zu haben und so Gewalt und Aggression im Keim zu ersticken. Besonders oft wurde in den Interviews genannt, dass dies in erster Linie die uneingeschränkte Konzentration des Schiris erfordert und die Spielkontrolle sichergestellt wird, indem man die Regeln eher streng auslegt. Zum Beispiel in Sachen Körperkontakt, wo das Regelwerk den Schiris unterschiedliche Auslegungen erlaubt:

„Ich bin dann selbst zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht besser, wenn ich das Spiel an der sehr kurzen Leine halte.“

Schiedsrichter Witter

Konkret dazu befragt, gab etwa ein Viertel der Schiris an, wegen negativer Erfahrungen strenger und kleinlicher zu pfeifen.

Darüber hinaus trafen einige Schiris die Aussage, dass sie bereits Entscheidungen getroffen haben, die dem Regelwerk zuwiderliefen, um auf aggressives Verhalten zu reagieren oder um Konsequenzen, die eine Entscheidung im Sinne der Regeln mit sich gebracht hätte, aus dem Weg zu gehen.

„Also es gab echt ein Spiel, da ging es mir so sehr auf die Nerven, da (.) haben die nur rumgeschrien von der einen Mannschaft und dann da habe ich auch mal echt (..) ein Foul nicht gegen die gepfiffen, obwohl es Foul war. Aber die haben mir zu sehr rumgeschrien. Da habe ich in der Situation gedacht ‘nee, das pfeifst jetzt nicht, die können mich mal‘.“

Schiedsrichter Feitger

Die Folgen der Aggression

„Ja, das gab es schon auch mal, dass ich mit Magenschmerzen zum Spiel gefahren bin oder so. […] Doch, gab es auch, ab und zu mal. War eher die Ausnahme, aber wenn mal echt absolut keinen Bock, gab es das schon. Ja, Magengrummeln oder so […].“

Schiedsrichter Feitger

Aggressionserfahrungen auf dem Platz hinterlassen Spuren bei den Befragten, das zeigen die Antworten in den Interviews. Andererseits werden gemachte Aussagen zur psychischen Belastung oft auch relativiert bzw. erklärt, dass diese nicht von großer Dauer sind. Niemand scheint den Eindruck erwecken zu wollen, nicht belastbar genug zu sein.

Als Konsequenz der Aggressionserfahrungen stellen viele Schiedsrichter fest, an den Erfahrungen auf dem Rasen persönlich gewachsen zu sein. Das Reflektieren der eigenen Leistung und der Umgang mit Aggression führen zu einer anderen Einstellung und Herangehensweise an Situationen und Probleme – sowohl auf als auch abseits des Platzes.

„Ja, ich denke, dass man da gerade auch so eine gewisse Selbstsicherheit oder so ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt, dadurch dass man vielleicht eine gewisse Zeitlang (..) an den Sachen zweifelt oder, ja, auch darüber nachdenkt. Aber dass man letztendlich aus diesen Situationen eigentlich auch dabei lernt und das man daraus eben auch einen Vorteil zieht, selbst wenn man so eine Entscheidung nicht richtig getroffen hat, und man im Nachhinein, am nächsten Tag oder Abends halt, ja, merkt, dass das irgendwie besser hätte machen können. Dass man einen Vorteil daraus zieht. […] Aber ich würde sagen, dass gerade so Entscheidungen, die auf ein großes Unverständnis treffen, einen persönlich eigentlich stärker machen.“

Schiedsrichter Knippe

 

In fast allen persönlichen Gesprächen gab es solche oder ähnliche Aussagen:

“Also ich bin hundert Prozent der Meinung, ich wäre nicht der, der ich jetzt bin, wenn ich das nicht gemacht hätte.“

Schiedsrichter Brunning

Die Ausübung des Schiedsrichteramts hat laut Aussage der Befragten prägenden Einfluss auf die eigene Persönlichkeit. Immer wieder kommt dabei auch zur Sprache, dass die Schiedsrichterei den eigenen Sinn für Objektivität und Fairness schärft.

Und mehr als 85 % der Befragten sind der Meinung, an den negativen Erfahrungen auf dem Platz persönlich gewachsen zu sein.

Die Ultima ratio für einen Schiedsrichter im Umgang mit Aggressionserfahrungen ist der Rücktritt. Man sollte meinen, dass dieser Schritt naheliegend ist, schließlich handelt es sich um ein Ehrenamt, für das man eine kleine Aufwandsentschädigung erhält. Dennoch kommt ein Rücktritt wegen erlebter Aggressionen nur für wenige Schiedsrichter in Frage.

„Also das war eigentlich für mich immer klar, dass ich mich (..) von (.) keiner Beleidigung oder keinem Gewaltakt mich dazu zwingen lassen würde, jetzt aufzuhören.“

Schiedsrichter Zackel

 

„Ich hatte da eigentlich (..) wenn überhaupt nur sehr, sehr kurz den Gedanken mit dem Rücktritt. Und habe mich eigentlich dann eher (..) ja, auf die Fehleranalyse konzentriert und wie ich das nächste Spiel zu bewältigen habe.“

Schiedsrichter Witter

In den Befragungen zeigte sich andererseits aber auch, dass es sehr wohl eine Grenze gibt, bei deren Überschreitung Schiris jedoch unterschiedlich handeln würden. Ganz konkret ist diese Grenze die eigene körperliche Unversehrtheit:

„Was mich nachdenklich werden lassen würde, ist tatsächlich, wenn ich körperlich angegriffen würde und mich in meiner Gesundheit bedroht sehe. Dann würde ich das weitere Handeln mir durchaus mal überlegen.“

Schiedsrichter Finkert

Für fast die Hälfte der befragten Schiedsrichter gibt es eine definierte Grenze, deren Übertretung einen Rücktritt nach sich ziehen würde. Jedoch haben nur knapp 8 % aufgrund negativer Erfahrungen bereits ernsthaft erwogen, die Schiedsrichterei aufzugeben. Nahezu 60 % haben sich noch nie mit konkreten Rücktrittsgedanken befasst.

Beleidigungen und Anfeindungen gegen Schiris sind auf unseren Fußballplätzen die Norm, zu tätlichen Angriffen kommt es relativ selten. Von einem Klima der Angst auf deutschen Fußballplätzen zu sprechen, wäre zu hoch gegriffen. Wobei die Wahrnehmung der Schiedsrichter ist, dass Aggressionen zunehmen.

Trotz der Erfahrungen üben viele Betroffene ihr Schiedsrichteramt weiter aus. Die Schiris fühlen sich dem Fußballsport und ihrem Amt verpflichtet und finden Wege, mit erlebten Aggressionen umzugehen. Überraschend an den Ergebnissen ist, dass die Unparteiischen kaum Kritik an den Verbänden üben – man wünscht sich aber härtere Strafen und eine bessere Begleitung und Betreuung von Schiedsrichteranfängern.

Wegdiskutieren kann man Aggressionen nicht. Was zählt, ist der richtige Umgang auf und abseits des Platzes mit ihnen. Und am Wichtigsten dafür sind eigene Erfahrungen und der Austausch mit anderen Schiris, das wird immer wieder deutlich.

Der Abpfiff in der Kreisoberliga. Der Favorit hat haushoch gewonnen. Der junge Schiedsrichter ist kaum aufgefallen, hat sich keine groben Schnitzer erlaubt. Von den Rängen, den Trainerbänken und von den Spielern gab es trotzdem den einen oder anderen Spruch. Im Spielbericht des Unparteiischen wird davon vermutlich Nichts zu lesen sein – keine besonderen Vorkommnisse.

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