Brasilien – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Fri, 19 Apr 2019 15:22:30 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 “Allmächtige Corinthians-Girls”: Wie brasilianische Fußballfans gegen Sexismus kämpfen https://120minuten.github.io/corinthias-girls-brasilien-kampf-gegen-sexismus/ https://120minuten.github.io/corinthias-girls-brasilien-kampf-gegen-sexismus/#respond Sat, 20 Apr 2019 08:00:20 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5871 Weiterlesen]]> Als leidenschaftliche Fußballfans gründen brasilianische Frauen feministische Gruppen, um Sexismus im Sport zu bekämpfen. Dabei scheuen sie auch nicht die Auseinandersetzung mit Giganten, zeigt das Beispiel Corinthians.

Von Rosiane Siqueira
Übersetzung: Alexander Schnarr

Movimento Toda Poderosa Corinthiana: Eine feministische, brasilianische Gruppe weiblicher Corinthians-Fans, die gegen Sexismus im Fußball kämpfen.

Frauen auf der ganzen Welt wünschen sich die Freiheit, tun zu können, was sie möchten – und das beinhaltet, ihre Stimme für diese eine Liebe zu erheben: den Fußball. Brasilien sieht sich im Rahmen der letzten politischen Ereignisse einer radikalkonservativen Welle gegenüber, allerdings sind das reaktionäre Verhalten und diffuser Seximus nichts Neues für das Land: Zwischen 1941 und 1983 war es Frauen gesetzlich verboten, Sport zu treiben, mit der Begründung, dass sportliche Aktivitäten „mit ihrer Natur nicht kompatibel“ seien.

Es sind erst 36 Jahre vergangen, seitdem dieses Gesetz abgeschafft wurde. Viele der weiblichen Anhänger sind älter als 36 und haben ihre Passion über eine lange Zeit unterdrücken müssen. Heutzutage fühlen sie sich durch feministische Bewegungen in verschiedenen Bereichen bestärkt und verändern die Fußball-Szene in Brasilien.

Die furchtlosen Corinthians-Anhängerinnen

Die Bewegung namens „Movimento Toda Poderosa Corinthiana“ („Die allmächtige Corinthians-Mädchen-Bewegung, als Referenz auf den Spitznamen des brasilianischen Teams Sport Club Corinthians Paulista, „Die allmächtigen Corinthians“) ist eine der größten Gruppen weiblicher Fans im Land und verantwortlich für verschiedene Initiativen, die Respekt einfordern und Sexismus innerhalb des Fußballs bekämpfen.

Die Gruppe erlangte erstmals 2016 große Aufmerksamkeit, nachdem sie einen Offenen Brief gegen die Titelseite einer der berühmtesten brasilianischen Sportzeitungen, Lance!, veröffentlichten. Bei der Zeitung hatte man sich dazu entschieden, die Schönheit eines kurvigen Team-Models hervorzuheben, anstatt auf den beeindruckenden Sieg der Mannschaft am Abend vorher einzugehen. Der Brief wies auf die „Objektivierung“ von Frauen und den Sexismus im Leitartikel hin, der sich stets nur an eine männliche Leserschaft richtet. Die Zeitung hat auf die Kritik nie geantwortet.

Keine Angst vor Nike

2017 entschloss sich die Gruppe dazu, den Kampf gegen einen Giganten aufzunehmen: Nike. Nach der Vorstellung der Corinthians-Trikots für die neue Saison informierte der Ausstatter darüber, dass das Auswärtstrikot nicht in einer Frauenversion produziert werden wird. Das Unternehmen gab an, dass es dafür nicht genügend Nachfrage geben würde. Das Thema erhielt dank des Protests der Gruppe gewaltige Resonanz via Facebook, Instagram und Twitter: „Nicht genügend Nachfrage, Nike? Hold my beer….“ 1:0 für die Damen. Nach einem Monat intensiver Online-Angriffe überlegte Nike es sich anders und begann damit, Frauen-Versionen der Auswärtstrikots über die Webseite und in allen Corinthians-Läden zu verkaufen.

Die Aktionen, die durch die Bewegung initiiert wurden, dauern an und adressieren allgemeine Probleme innerhalb des Sports. So gab es eine Kampagne gegen Sexismus während der letzten Weltmeisterschaft in Russland oder es werden interne Entscheidungen der Vereinsführung hinterfragt, wie z.B., als Corinthians beschloss, einen Spieler zu verpflichten, dessen körperliche Aggressionen gegenüber seiner Freundin öffentlich bekannt waren.

Weibliche Fans zwischen Männern auf der Tribüne im Corinthians-Stadion in Sao Paolo, Brasilien. Auf der Fahne steht: Corintians-Mädchen gegen Sexismus.

Der Verein selbst achtet auf die Forderungen der Mädchen. Corinthians sind Pioniere im Engagement gegen Sexismus und Gewalt gegenüber Frauen in Brasilien, auf und neben dem Platz. Anfang 2019 unterzeichnete Corinthians gemeinsam mit zwei anderen großen Clubs des Landes, Palmeiras und São Paulo, eine Kooperationsvereinbarung mit der Stadtverwaltung von São Paulo. Sie verpflichteten sich dazu, sich dem Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen anzuschließen und weibliche Opfer von Aggressionen innerhalb der Familie und des häuslichen Umfeldes zu schützen.

Die wachsende, feministische Revolution im brasilianischen Fußball

Es sind nicht nur die weiblichen Fans von Corinthians, die gegen Sexismus in Brasilien kämpfen. Zahlreiche Gruppen und Kollektive von Frauen sind in letzter Zeit im Land entstanden, jede mit Verbindungen zu ihrem jeweiligen Herzensteam. Bei einigen Clubs findet man sogar mehr als eine Gruppe, die sich entwickelt und sich für verschiedene Themen engagiert. Trotz der Rivalität zwischen den Vereinen interagieren die Mädchen und ihre Gruppen in der Regel miteinander. Letzten Endes haben sie alle das gleiche Ziel: Respekt von Männern und das Recht, ihr Team zu lieben und frei zu unterstützen.

Gemeinsam glauben alle an ein simples und wichtiges Prinzip des Feminismus: Empathie. Kein Mädchen verdient es, belästigt zu werden, sich schämen zu müssen oder Angst davor zu haben, das zu tun, was es liebt: sein Team anzufeuern. Brasilien erlebt mehr und mehr, wie Frauen an den Fußball-Ritualen teilhaben, zu den Spielen gehen, in Sportlerinnen-Karrieren investieren, das Thema als Fan oder Journalistin diskutieren, den Sport selbst ausüben und Akteurinnen sind in etwas, das traditionell männlich ist.

Beitragsbilder: Die Fotos wurden von der Autorin zur Verfügung gestellt.

The Almighty Corinthians Girls Movement: How Brazilian football fans fight sexism

Der Text in der englischen Originalfassung/ English original version

Passionate for football, brazilian women are creating feminist groups to fight against sexism in the sport.

Women from all around the world desire the freedom to do whatever they like – and it includes speaking up their voices about one true love: football. Brazil faces a radical conservative wave in its recent political events but the reactionary behavior and diffused sexism are not something new to the country: from 1941 until 1983, a law forbade women from practicing sports under the argument that the sports practices were “incompatible with their nature”.

It has been only 36 years since this law was repealed. Many of the female supporters are older than that and have repressed their passion for a long period of their lives. Nowadays, feeling more and more empowered by feminist movements in different spheres, those women are changing the scenario of the football in Brazil.

The fearless Corinthians female supporters

The Movement named “Movimento Toda Poderosa Corinthiana” (The Almighty Corinthians Girls Movement, in a reference to how the Brazilian Team, Sport Club Corinthians Paulista, is called: The Almighty Corinthians) is one of the biggest collective of female supporters in the country and has created different initiative to demand respect and fight the sexism within football.

The Group got the attention widely for the first time in 2016 after releasing a public letter against one cover page from the most famous Brazilian sports newspaper, Lance!. The edition opted to highlight the beauty of the curvy muse model of the team instead of the impressive victory the team had done the night before. The letter pointed the “objectification” of the women and sexism of its editorial, always considering only its male audience. The newspaper never answered about the critics.

In 2017, the Collective decided to fight a battle against a giant: Nike. After launching the Corinthians uniforms for that season, the brand informed that the second uniform would not be produced in female versions. The company claimed that there was insufficient sales demand for that. The topic got massive repercussion through Facebook, Instagram and Twitter thanks to the protest created by the group. “Not enough female demand, Nike? Hold my beer…” 1×0 for the ladies. After one month of intense online attacks, Nike changed his mind and started to sell the female versions at the website and at all Corinthians stores.

And the campaigns created by the Movement go on, addressing general issues within the sport, such as the campaign against sexism during the World Cup in Russia, or questioning internal decisions and the management of the team, such as when Corinthians decided to hire a player who has a public record of physical aggression against his girlfriend.

The Club itself has paid attention to the demand of the girls. Corinthians has been one of the pioneering teams to engage into campaigns against sexism and violence against women in Brazil, inside and outside the field. At the beginning of this year, Corinthians together to other two of the biggest clubs in Brazil, Palmeiras and São Paulo, signed a cooperation agreement with the city hall of São Paulo. They committed to join in the fight against violence against women and to protect women victims of aggression in the family and residential environment.

The growing feminist revolution in Brazilian football

Not only Corinthians female supporters are fighting the sexism in Brazil. Numerous groups and collectives of women has emerged recently in the country, each one related to their heart team. For some of them, it is possible to find even more than one group emerging and being engaged into various topics. Despite the rivalry among them, the girls and their groups normally interact with the others. After all, they all aim the same: respect from the men and the right to love and support their team freely.

Commonly, they all believe in a simple and important principle from feminism: empathy. No girl deserves to be harassed, shamed or afraid to do something they love to: cheer for their team. More and more, Brazil sees women taking part of the football ritual, going to games, investing in a sports career, debating the topic as a fan or a journalist, practicing the sport and being the protagonist of something traditionally manly.

Although this feminist wave seems to be a breakthrough in Brazilian football, there is still a lot to be explored and debated within a society that shows signs of flirtation with regression when it comes to social rights and prejudice. Sexism, racism, homophobia and violence are still ghosts in every stadium of the country.

Every small initiative helps to create a safer environment for every human being with its own differences and particularities. And the girls know that very well! Holding each other’s hand, they do not intent to rewrite the world football history but to help writing new chapters.

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Jogo Politico https://120minuten.github.io/jogo-politico/ https://120minuten.github.io/jogo-politico/#respond Sun, 04 Dec 2016 07:15:42 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2761 Weiterlesen]]> Fußball und Politik in Brasilien

Die Fußball-WM 2014 in Brasilien bot einen Einblick in das Land, welches für das schöne Spiel – jogo bonito – bekannt ist. Dass dabei nicht Alles glänzt, was Gold ist, versucht Rouven Ahl anhand zweier grundsätzlich verschiedener Fußballikonen Brasiliens darzustellen. Zum Einen Pelé, der Strahlemann und dreifacher Weltmeister 1958, 1962 und 1970, der das Gesicht des Turniers war. Zum Anderen Sócrates, der mit Corinthians versuchte, einen Gegenentwurf zur Militärdiktatur vorzuleben.

Autor: Rouven Ahl

Eigentlich sollte die Weltmeisterschaft 2014 ein Fest für alle Brasilianer werden. Arme und Reiche, Schwarze und Weiße: dem Fußball wurde dabei schon im Vorfeld eine Rolle zugeschrieben und mit Erwartungshaltungen überfrachtet, die er wohl unmöglich erfüllen konnte; nämlich das Überdecken der sozioökonomischen Spaltung des Schwellenlandes. Letztendlich vertiefte die WM im eigenen Land jedoch nur die bereits vorhandenen Gräben zwischen den verschiedenen Schichten und Kulturen. Und wäre es für die Ärmsten der Armen nicht schon schlimm genug gewesen, dass die Tickets für sie praktisch unbezahlbar waren oder ganze Siedlungen vom Militär zwangsgeräumt wurden, erlitt die Seleção obendrein noch diese epochale 1:7-Niederlage im Halbfinale gegen Deutschland. Wenn schon nicht die Rahmenbedingungen, hätten zumindest die sportlichen Ziele erfüllt werden müssen, um in Brasilien so etwas wie Aufbruch und Euphorie zu erzeugen, nimmt der Fußball innerhalb der Gesellschaft des Landes doch eine gewichtige Stellung ein. Dieser Beitrag betrachtet daher die Rolle des Fußballs, u.a. anhand des Verhaltens zweier brasilianischer Legenden dieses Sports, während eines besonders düsteren Kapitels der brasilianischen Geschichte: der Militärdiktatur von 1964 bis 1985.

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Sócrates 1984 als Redner bei einer Veranstaltung für mehr Demokratie, By Jorge Henrique Singh (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Die Niederlage gegen Deutschland, diese Demütigung, traf die brasilianische Seele schwer, steht doch wohl kein Land auf dieser Welt so für das „jogo bonito“, das schöne Spiel, wie der südamerikanische Riese. Frei nach dem Motto: Denk ich an Brasilien, denk ich an schönen Fußball. Aus einer stereotypischen Sichtweise betrachtet, hat man Bilder von am Strand kickenden Menschen im Kopf oder kleinen Kindern, die auf den Straßen barfuß spielen und dabei ihren Träumen von einer großen Karriere nachhängen. Dass diese Kinder einfach kein Geld für Schuhe haben, auf den Straßen der bettelarmen Favelas spielen, der Beruf des Profifußballers meist der einzige Ausweg aus dem Elend ist, darüber möchte man lieber nicht nachdenken.

Fußball und Diktatur

Natürlich steht trotz alledem außer Frage, wie sehr dieses Land den Fußball liebt, ihn atmet, ihn schmeckt. Wie sehr er auch Teil des Selbstverständnisses der brasilianischen Kultur ist, wie er in diesem zerrissenen Land eine Kraft entfalten kann, die Menschen der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Hintergründe, sei es Hautfarbe, Einkommen oder politische Gesinnung, zu verbinden vermag. Diese Kraft wurde in der Geschichte Brasiliens jedoch nicht nur für gute Zwecke eingesetzt, sondern auch für dunkle Machenschaften missbraucht. Gerade in Zeiten der Militärdiktatur musste das Spiel zur Einigung der Bevölkerung hinter einem korrupten und brutalen Regime herhalten, zur Identitätsstiftung in einem Land, dem die Identität jenseits von Gewalt, Folter und Verfolgung längst abhandengekommen war.

Bei der Betrachtung dieser Zeit muss man sich von einigen Brasilien-Stereotypen verabschieden. Auch im Hinblick auf das Aushängeschild in Sachen brasilianischer Fußball: dem ewigen Strahlemann Pelé, dessen Rolle während dieser Periode euphemistisch als zweifelhaft bezeichnet werden kann.

Nachdem das Militär 1964 den als zu linksgerichtet empfundenen Staatspräsidenten Joao Goulart mit Hilfe der USA unter Lyndon B. Johnson entmachtete, wurden viele Oppositionelle (Journalisten, katholische Geistliche etc.) verhaftet und verschleppt. Die Unterstützung der USA konnten sich die Putschisten vor allem durch die Behauptung sichern, unter Goulart würde das Land dem Kommunismus anheimfallen. In Zeiten des Kalten Krieges ein absolutes Totschlagargument.[1]

Zu Beginn sollte das Militär nur als Übergangsregierung auf dem Weg zu demokratischen Strukturen fungieren. Lange hielt diese Zielsetzung jedoch nicht vor: bereits 1969 wurde aufgrund der Massenproteste gegen das Regime im vorherigen Jahr die Verfassung verschärft und eine Verantwortung jedes Bürgers für die nationale Sicherheit festgeschrieben. „Dieses Gesetz zeichnete sich vornehmlich durch die Unbestimmtheit der Tatbestände aus und öffnete der willkürlichen Verhaftung Andersdenkender und Oppositioneller Tür und Tor“ so Jürg Ackermann in „Fußball und nationale Identität in Diktaturen“. Verdächtige konnten ohne jegliche Rechtsgrundlage festgenommen, gefoltert oder ermordet werden. Es begannen die sogenannten „anos de chumbo“, die bleiernen Jahre der Diktatur.[2]

Besonderes Augenmerk richtete das neue Regime natürlich auf den Fußball. „Diktaturen benützen den Fußball, weil er ein Wir-Gefühl erzeugt und als Kulturform gilt, in der Widerstand schwer darstellbar ist“, schreiben Ursula Putsch und Enrique Rodrigues-Moura in ihrem Buch „Brasilien. Eine Kulturgeschichte“. Die Militärs wussten um die kulturelle Kraft des Fußballs, die dafür sorgte, dass sogar Regimegegner Siege der Seleção und somit auch Siege für das Regime, frenetisch bejubelten.[3]

Das schlechte Abschneiden Brasiliens während der Weltmeisterschaft 1966 in England war diesem Zweck daher natürlich nicht förderlich. Ganz im Gegenteil: nach dem Superstar Pelé das Turnier verletzungsbedingt beenden musste, hatte die überalterte Mannschaft keine Chance mehr und schied bereits in der Gruppenphase sang- und klanglos aus. Diese heftige Enttäuschung schlug schwer auf das nationale Gemüt. Besonders betroffen zeigten sich die Menschen, die bereits eh unter dem Regime zu leiden hatten. Selbstmorde, Nervenzusammenbrüche, Fahnen auf Halbmast, Trauerflors an Türen waren die stärksten Ausdrucksformen des Leidens der Nation.[4]

Die Reaktion auf die sportliche Enttäuschung beinhaltet einen wichtigen Aspekt, wenn es um die Rolle des Fußballs innerhalb einer Gesellschaft geht. Der Sport Fußball transzendiert praktisch zu etwas Höherem, wird mit mehr Bedeutung aufgeladen, als eigentlich vorhanden sein dürfte. Dabei nicht vergessen werden darf die Tatsache, dass der Fußball an sich nichts weiter ist als ein Spiel. Es sind die Menschen, die ihm diese Bedeutung verleihen. Das Spiel Fußball steht Recht, wie Unrecht neutral oder besser gesagt gleichgültig gegenüber. Somit kann man sich praktisch von allen Seiten aus, den Sport zu nutzen machen. Menschen benutzen ihn als Mittel zum Trost in schwierigen Zeiten, der aber, wie beschrieben, auch als Trigger wirken kann, um die schweren Zeiten als noch hoffnungsloser zu empfinden, vor allem dann, wenn der gewünschte sportliche Erfolg ausbleibt. Menschen können ihn als „Opium für das Volk“ missbrauchen, um ihre Interessen durchzusetzen. Der Fußball als Spiel lässt alles mit sich machen. Es sind die Menschen, die diesem Fakt gleichgültig oder kritisch gegenüber stehen können. Womit wir bei einem wunden Punkt wären: wie gehen Fußballer mit ihrer spezifischen Rolle in der Gesellschaft um? Wie beurteilen sie es, wenn der Sport den sie betreiben, innerhalb eines Unrechtsstaates missbraucht wird?

Ein Spiel der Gegensätze: Pelé und Sócrates

Werfen wir daher einen Blick auf das Verhalten zweier brasilianischer Legenden während der Militärdiktatur, welches unterschiedlicher nicht hätte sein können: Pelé und Sócrates. Der letzte von Pelés drei WM-Titeln fiel mit der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko in die Zeit der Militärregierung. Diese überließ im Vorfeld des Turniers nichts dem Zufall. Sie wollten den WM-Titel unbedingt, denn sie erkannten rasch die stabilisierende Funktion des Fußballs innerhalb der Gesellschaft. Im Gegensatz zu vergleichbaren Diktaturen, nahmen die Militärs in Brasilien sehr direkten Einfluss auf das sportliche Geschehen. So verlangte Staatschef General Medici von Nationaltrainer Joao Saldanha die Nominierung seines Lieblingsspielers Dario (Dada). Der politisch eher linksgerichtete Saldanha weigerte sich aber, diesem Befehl nachzukommen. Im Kreis seiner Mannschaft fand er dafür viele Unterstützer. Nur einer schlug sich auf die Seite des Regimes und schwächte damit drastisch die Position seines Trainers in der Öffentlichkeit: Volksheld Pelé. Daraufhin konnte sich Saldanha nicht mehr lange im Amt halten und wurde kurz vor dem Turnier durch Mario Zagallo ersetzt.[5]

Zum Dilemma der Linken und anderer Regimegegner während der WM 1970 schreibt Thomas Fatheuer in „Fußball und Brasilien: Widerstand und Utopie“ folgendes:

„Den Gegner_innen des Regimes fiel es offensichtlich nicht leicht, eine eindeutige Haltung zur Nationalmannschaft zu entwickeln. Viele linke Gruppen hatten die Devise ausgegeben, gegen Brasilien zu halten. Nach übereinstimmenden Aussagen aller Beteiligten hielt dies nur bis zum ersten Tor Rivelinos im Spiel gegen die Tschechoslowakei. Einen gespenstischen Moment lang jubelten Folterer und Gefolterte gleichzeitig für die Nationalmannschaft. Der Fußball – und in der tief gespaltenen Gesellschaft von 1970 wohl nur er – konnte zwar einen solchen Augenblick erzeugen, aber er produzierte keine Einheit oder Versöhnung. Die Folter ging ebenso weiter wie der Widerstand gegen das Regime. Es zeigte sich damit auch, dass die Nationalmannschaft etwas anderes und Größeres repräsentierte als die politische Macht. Der Fußball ist eben nicht die Nation, auch wenn ein Regime sich des Fußballs für seine Ideologie bediente. Und so konnte auch ein Gegennarrativ zur Vereinnahmung der WM 1970 durch die Militärs Bestand haben: dass es ein Kommunist war, der diese Mannschaft aufgebaut und zum Erfolg geführt hatte. In Mexiko konnten die Militärdiktatur und der Kommunismus gleichzeitig siegen.“[6]

Die Weltmeisterschaft wurde aber eben auch zum Triumph des Regimes, das sich dank des Fußballs kurzzeitig sogar an einer der seltenen Momente der Popularität erfreuen konnte. Brasiliens Offensivfußball begeisterte nicht nur das eigene Volk, das durch das rechtzeitig neueingeführte Farbfernsehen hautnah dabei war, sondern die ganze Welt. Nach einem rauschenden 4:1 – Sieg im Finale gegen ein chancenloses Italien, empfing General Medici die Mannschaft in der Hauptstadt Brasilia. Mediengerecht köpfte der Despot einen Ball vor laufender Kamera, erklärte obendrein die Hymne der Seleção zur neuen brasilianischen Nationalhymne. Und Pelé warb damit, dass niemand mehr Brasilien aufhalten könne. Der Superstar musste nun auch keine Steuern mehr zahlen. 1972 wurde Pelé von einem Journalisten der uruguayischen Tageszeitung „La Opinion“ über die Politik seines Landes befragt. Es gebe keine Diktatur, war die Replik von dem vermeintlichen Volkshelden. Brasilien sei ein liberales Land mit einem freien Volk, dessen Politiker wüssten, was für das Volk das Beste sei:

„Unsere Führer wissen, was das Beste für uns ist. Sie regieren uns im Geiste der Toleranz und des Patriotismus.“

Pelé apologetisierte mit diesen Aussagen ein System, das nach der Machtergreifung ca. 50.000 Menschen internierte, wobei ca. 300 Menschen den Tod fanden, viele gefoltert wurden oder ins Exil flohen.[7]

Den Hang, sich auf die Seite der Machthaber und gegen das Volk zu stellen, hat sich Pelé bis heute beibehalten. Im Zuge der Proteste gegen die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien, die gesellschaftliche Missstände und gravierende Ungerechtigkeiten anprangerten, kritisierte Pelé die Demonstranten und meinte, es sei nun genug protestiert: „Vergessen wir das ganze Chaos, das in Brasilien geschieht, und denken wir daran, dass das brasilianische Team unser Land, unser Blut ist.“ Man sollte also lieber die Mannschaft unterstützen, anstatt sich für Belanglosigkeiten, wie soziale Gerechtigkeit etc. einzusetzen. Ob dieses Verhalten nur von krasser Naivität, die regelrecht an Dummheit grenzt, zeugt oder vielmehr eine zutiefst opportunistische Haltung offenbart, muss wohl jeder für sich entscheiden.[8]

Vielleicht abschließend noch eine Anekdote zu Pelé: 2014 agierte die brasilianische Ikone in seinem Land als Werbebotschafter des Autokonzerns VW. Der Geschäftsführer des Dachverbandes der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, Markus Dufner, äußerte sich sehr kritisch über diese Zusammenarbeit: „Der Volkswagen–Konzern sollte sich genau überlegen, wen er als Werbepartner anheuert. Markenbotschafter, die sich mit demokratischen Rechten nicht identifizieren, schädigen das Image von VW.“ Dufner weiter:

„Pelé war ein begnadeter Fußballer, aber was Menschenrechte anbelangt, ist er so sensibel wie Franz Beckenbauer.“[9]

Zum Glück gab und gibt es auch Fußballer, die um ihre Position in der Gesellschaft wissen und diese nutzen, um Dinge zum Positiven zu verändern. Bestes Beispiel hierfür ist einer der brasilianischen Stars der 80er Jahre, Sócrates. Der ehemalige Regisseur der Seleção und von Corinthians São Paulo stellt in Sachen Engagement für den gesellschaftlichen Wandel so etwas wie die Antithese zu Pelés Duckmäusertum da. Gleichzeitig ist Sócrates, aufgrund seiner Alkoholsucht und seines frühen Todes, eine der tragischen Figuren des Fußballs; nicht nur des brasilianischen, sondern des Fußballs allgemein.

Im Jahre 1982 befand sich Brasilien nach Jahren der Unterdrückung endlich im Aufschwung. Die blutige Militärjunta lag in den letzten Zügen. Dies wirkte sich auch auf den Fußball aus. Der damalige Präsident von Corinthians São Paulo Vicente Matheus, ein Anhänger des Regimes, wurde durch den linken Soziologen Adilson Alves ersetzt. Unter ihm und dem Superstar des Teams, Sócrates, begann ein einmaliges Experiment im brasilianischen Fußball: die komplett basisdemokratische Organisation – die „Democracia Corinthiana“. Der Begriff bzw. Slogan wurde dabei von dem jungen Werbefachmann Washington Olivetto entworfen.[10]

„Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Vereinsführung beteiligt“, so beschrieb es Sócrates.

„Der einfachste Angestellte hatte das gleiche Gewicht wie der Repräsentant des Vereins, seine Stimme hatte den gleichen Wert. Es war alles sehr demokratisch.“

Corinthians etablierte sich schnell als ein Sprachrohr der Opposition. Auf den Trikots der Spieler prangten immer wieder Anti-Regime Botschaften, die dadurch in der Öffentlichkeit maximale Aufmerksamkeit erhielten. Der Leitspruch lautete: „Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie.“ Neben dem jungen Stürmer Walter Casagrande, sowie Linksverteidiger und Kommunist Wladimir war es Sócrates, der dieses einmalige Kapitel der brasilianischen Fußballgeschichte prägte. Der Kinderarzt, wegen seines Berufs bekam er den Spitznamen „Doktor“, unterstützte als bekennender Linker zusätzlich ab 1983/84 die „Direitas ja“ – Kampagne für die Direktwahl des Präsidenten, die das Land mobilisierte und Demokratie forderte.[11]

Die „Democracia Corinthiana“ und das Engagement für mehr Demokratie blieb im brasilianischen Fußball leider einzigartig. Sie war weder Teil, noch Anstoß einer größeren Bewegung. So endete sie 1984 vor allem durch den Wechsel ihres Sprachrohrs Sócrates, der enttäuscht vom Scheitern der Direktwahlkampagne (für die entsprechende Gesetzesänderung kam im Parlament keine Mehrheit zustande), nach Italien, zum AC Florenz wechselte.[12]

1985 wurde die Direktwahl des Präsidenten jedoch durchgesetzt. Aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs durch das Ende des sogenannten brasilianischen Wirtschaftswunders, verloren die Militärs immer mehr an Ansehen und Legitimationsgrundlage innerhalb der Bevölkerung. Dementsprechend konnte sich ihr Kandidat bei der Direktwahl nicht mehr durchsetzen. Nach 21 Jahren kam es in Brasilien zum Systemwechsel. Drei Jahre später erhielt das Land eine neue, demokratische Verfassung.[13]

Sócrates kehrte nach nur einem Jahr in Italien 1985 nach Brasilien zurück und spielte fortan für Flamengo. Nach dem Ende seiner Karriere 1989, verdingte er sich als Arzt, Maler, Sänger und blieb vor allem ein politischer, sowie kultureller Quergeist. Seinen Ansichten verlieh er auch weiterhin als Kolumnist und Autor der linken Wochenzeitung „Carta Capital“ Ansehen.[14]

Am 4. Dezember 2011 verstarb Sócrates an den Folgen eines septischen Schocks. Er litt aufgrund seiner Alkoholsucht seit längerer Zeit an Leberzirrhose. Sein Einsatz für mehr Demokratie und gegen Unterdrückung wird, genau wie sein fußballerisches Können, in Brasilien nie vergessen werden.

Pelé ließ sich während seiner aktiven Zeit vom Militärregime und 2014 von der Politik für die Unterstützung einer, aus sozialer Richtung betrachtet, höchst fragwürdigen Weltmeisterschaft instrumentalisieren. Während er die Demonstranten für ihr politisches Engagement kritisierte, hätte Sócrates sie wohl unterstützt. Er setzte sich nicht nur während, sondern auch nach seiner Karriere für soziale Belange und Gerechtigkeit ein. Pelé verkörpert den politisch unkritischen Prototyp eines Fußballers, dessen zahlreiche Epigonen aktuell das Geschäft bevölkern. Sócrates hingegen für den eher seltenen Typ Sportler, der sich seiner Umwelt und deren Missstände gewahr ist und vor allem aktiv versucht gegen diese anzugehen. Pelé ist so gut wie jedem Menschen auf diesem Planeten ein Begriff. Sócrates kennen außerhalb Brasiliens wohl nur die Wenigsten. Was sagt das über den Fußball und vor allem unsere Gesellschaft aus?

socrates_-_democracia_corintiana

By Sergio Goncalves Chicago [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons

Fußnoten

[1]Prutsch, U., Brasilien 1889 – 1985: Die Militärdiktatur 1964 -1985: http://www.lateinamerika-studien.at/content/geschichtepolitik/brasilien/brasilien-81.html; Letzter Zugriff am 29. November 2016
[2]Ackermann, J., Fußball und nationale Identitäten in Diktaturen (Berlin: Lit-Verlag, 2011) S. 220-269.
[3]Prutsch, U.; Rodrigues – Moura, E., Fußball, TV und Telenovela: Kultur in der Diktatur, Prutsch, U.; Rodrigues – Moura, E.,(Hrsg.), Brasilien: eine Kulturgeschichte (Bielefeld: Transcript-Verlag, 2013) S. 186 – 191.
[4]Ibid.
[5]Ackermann, S. 220-269; Fatheuer, T., Jogo Bonito – Das Schöne Spiel: Brasilien vom Fußball aus denken. In: Dilger, G.; Fatheuer, T.; Russau, C.; Thimmel, S., (Hrsg.) Fußball und Brasilien: Widerstand und Utopie. Von Mythen und Helden, von Massenkultur und Protest. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hamburg: VSA-Verlag, 2014) S. 48-81; Fatheuer, T., Fußball und nationale Identität. In: Widerständigkeiten im Land der Zukunft: Andere Blicke auf und aus Brasilien (Münster: Unrast-Verlag, 2013)
[6]Fatheuer, Fußball und nationale Identität.
[7]Ackermann, Fußball und nationale Identitäten in Diktaturen, 220-269; Fatheuer, Brasilien vom Fußball aus denken, S. 48-81; Prutsch; Rodrigues – Moura, Fußball, TV und Telenovela: Kultur in der Diktatur, 186 – 191.
[8]Ibid.
[9]Forschungs – und Dokumentationszentrum Chile – Lateinamerika e.V.: Kritische Aktionäre, KoBra und FCDL verlangen von VW fairplay in Brasilien: https://www.fdcl.org/pressrelease/2014-05-12-kritische-aktionaere-kobra-und-fdcl-verlangen-von-vw-fairplay-in-brasilien/; Letzter Zugriff am 29. November 2016
[10]Fatheuer, Thomas: Fußball und nationale Identität, in: Widerständigkeiten im Land der Zukunft: Andere Blicke auf und aus Brasilien. 2013; Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html; Letzter Zugriff am 29. November 2016
[11]Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html
[12]Fatheuer, Brasilien vom Fußball aus denken, S. 48-81; Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html; Letzter Zugriff am 30. November 2016
[13]Klein, N. M., Die brasilianische Wirtschaft (Hamburg: Diplomica-Verlag,2014) S. 6-11.
[14]Franzen, Niklas: http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50020.html; Der Spiegel: http://www.spiegel.de/sport/fussball/zum-tode-socrates-doktor-demokratie-geht-vom-platz-a-801608.html, letzter Zugriff am 30. November

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