Schlagwort: Buchbesprechung

Buchbesprechung: Russkij Futbol

Der Untertitel – Ein Lesebuch – ist etwas irreführend, klar das Buch ist zu lesen, dennoch ist es ein Buch mit einem hohen Informationsgehalt, den es erstmal zu verdauen gilt. In 16 Kapiteln bringen uns verschiedene Autoren, die allesamt mit Russland zu tun haben, sei es als Journalisten, Akademiker oder Kulturschaffende, russischen Fußball sowie seine Geschichte näher. Alle kennen Russland durch ihre Arbeit und sind somit in der Lage, ein ungefähres Bild von diesem riesigen Land zu skizzieren.

Dazu ist dieser Sammelband dreigeteilt, wobei Teil 1 der interessanteste ist, gibt er doch die Geschichte des russischen Fußballs wider. Es geht los mit den Anfängen: Juri Lukosjak zeichnet die Einführung des Fußballs in Russland nach. Wie so oft waren es britische Handelsvertreter, die den Sport ins russische Reich brachten. Dies geschah in der Hafen- und Hauptstadt St. Petersburg. Moskau als Binnenstadt kam erst später mit dem Fußball in Berührung. Diese Entwicklung erklärt auch die Rivalität beider Städte. Dass Politik den Fußball beeinflusst, wollen viele nicht wahrhaben, ist aber nicht von der Hand zu weisen. So auch in Russland. Das Beispiel der Starostin-Brüder sei hier genannt. Die vier Brüder Nikolai, Alexander, Andrei und Pjotr entstammen einer armen Familie. Nach Moskau gezogen schlossen sich alle vier gemeinsam einem Club an, dem Moskauer Sportzirkel. Ab 1935 waren alle vier bei Spartak. Und bekamen die harte Hand Stalins und des Staatsapparates zu spüren. In den 1940ern wurden sie wegen angeblicher nazistischer Umtriebe in ein Gulag geschickt.

Die Kapitel sind kurz gehalten und geben Informationen und Anregungen zum Weiterlesen. Das Buch ist auch haptisch unterteilt. Kapitel 1-8 widmen sich der Geschichte des Fußballs in Russland und der Sowjetunion. In der Mitte des Buches finden sich acht Hochglanzseiten, die einzelne Persönlichkeiten näher beleuchten, unter anderem Gregori Duperron, Dmitri Schostakowitsch und Lew Jaschin. Dass zu Jaschin ein Kapitel fehlt, ist nur ein Makel dieses Buches.

Im dritten Teil folgen Aufsätze, die sich aktuellen Themen widmen, die in Westeuropa ebenfalls kontrovers diskutiert werden: Frauenfußball, die Nachwuchsarbeit, Fußballfans und Hooligans. So lobenswert es ist, dass diese Themen ins Buch aufgenommen wurden, so oberflächlich handeln sie diese Bereiche ab. Das Thema LGBTQ wird komplett außen vor gelassen, obwohl dies auch ein durchaus brennendes Thema ist, nicht nur zur WM, sondern immer. Mit welchen Problemen Fußballfans zu kämpfen haben wird bestenfalls angerissen, ebenso der Frauenfußball. Einzig die Problematik der Korruption wird zum Abschluss noch einmal ausführlich behandelt; auch hier gibt es sicher weitaus mehr zu berichten als diese Überblicksdarstellung.

Das ist wohl auch das Problem mit solchen Veröffentlichungen: sie können ein Thema nur grob umreißen, mehr aber auch nicht. Das mag für die Geschichte des Fußballs in Russland vielleicht ausreichen, nicht jedoch für aktuelle Themen, die auch in Deutschland durchaus kontrovers diskutiert werden.

Infos zum Buch
Stephan Felsberg, Tim Köhler, Martin Brand (Hrsg.), Russkij Futbol – Ein Lesebuch. 224 Seiten, Paperback, Farbteil
ISBN: 978-3-7307-0395-3, Preis: 16,90 Euro

Das Buch ist im Werkstatt-Verlag erschienen und über den Online-Versand zu beziehen.

Uns wurde freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Mittendrin – Fußballfans in Deutschland – Kurzrezension

Der Fußballfan, das unbekannte Wesen. Wer ein Fußballspiel im Stadion besucht, der hat mitunter mit Vorurteilen und Pauschalisierungen zu kämpfen. Dabei ist das Publikum in einem Stadion vor allem eines – divers. Die Fans eines Vereins sind keine homogene Gruppe. Verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Motiven und Individuen mit ganz eigenen Einstellungen sind die Puzzelteile aus denen sich das zusammensetzt, was man als Außenstehender und aus der Entfernung als die Fans eines Vereins identifiziert, weil sie die gleichen Farben tragen.

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Buchbesprechung: Marco Fenske (Hrsg.) – Diese eine Sekunde

Dieses Buch ist eine Sammlung von 50 Interviews, die allesamt den deutschen Fußball mehr oder weniger direkt betreffen. Der Begriff Sekunde wird dabei sehr weit gefasst. Vielmehr geht es um entscheidende Momente und Situationen: Triumphe, Tragögien und herbe Rückschläge. Große Spieler und Trainer werden zu ihren größten Momenten und schwersten Stunden befragt. Das ist natürlich ein leichtes Unterfangen, denn die deutsche Fußballgeschichte liefert reichlich Stoff für große Momente. So kommen beispielsweise Protagonisten aus den vier siegreichen WM-Finals zu Wort: Horst Eckel, Uwe Seeler, Andreas Brehme und Christoph Kramer. Letzterer fällt hierbei aus der Reihe als dass er sich nach seinem Knock-out beim Schiedsrichter erkundigen musste, ob er denn tatsächlich im Finale spiele. Oliver Bierhoff über sein Tor bei der EM 1996, Andreas Brehme und Paul Breitner über ihre Elfmeter in den Endspielen 1974 respektive 1990.
Bei den Trainern ist der Ansatz ein anderer, hier werden mehrere Punkte beleuchtet. Ottmar Hitzfeld spricht über die Kraftanstrengung als Trainer nach der Niederlage gegen Manchester United 1999. Ganz anders dagegen Christoph Daum, dem trotz reinen Gewissens Kokainkonsum nachgewiesen werden konnte und somit die Karriere abrupt endete.
Bei den Momenten aus Europa- und DFB-Pokal handelt es sich um Spiele, die in letzter Minute gewonnen oder verloren wurden. Die Bundesligamomente sind dann eher zusammenfassende Darstellungen einer Spielzeit, was dann wiederum gar nichts mit einer Sekunde oder einem Moment zu tun hat.
Das letzte Kapitel hat dann mit Fußball nichts mehr zu tun. Hier kommen Monika Lierhaus, Lutz Pfannenstiel, Ronald Reng und Rudi Assauer zu Wort. Das ist der interessanteste Abschnitt, denn es geht hier um sehr schwere Situationen, im Fall von Ronald Reng sogar um den Verlust seines Freundes, Robert Enke.
Ein durchaus interessantes Werk, welches unterhält und spannende Momente aus Sicht der Protagonisten festhält. Ob es dazu allerdings ein großformatiges Buch braucht, ist fraglich.

Infos zum Buch
Das Buch “Diese eine Sekunde” wurde von Marco Fenske in Zusammenarbeit mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland GmbH herausgegeben und kostet €18,90.

Buchbesprechung: Jens Berger – Der Kick des Geldes

Den meisten dürfte Jens Berger als Spiegelfechter, einem der wichtigsten Politblogs in Deutschland sowie als Redakteur der Nackdenkseiten bekannt sein. Was kann man von einem Politblogger zum Thema Fußball erwarten? Schwülstige Phrasendrescherei? Oder eine nüchterne Analyse? Sein Buch ‘Der Kick des Geldes’ ist eher ein sachlicher Blick von außen auf den Fußball von jemandem, der selber Fußballfan ist. Dass Jens Berger nicht zu den ‘traditionellen’ Fußballautoren gehört, wird deutlich. Zuallererst ist da mal die Sprache. Denn nur allzu oft bedienen sich Fußballautoren abgedroschenen Phrasen und Sprachbildern, was nicht unbedingt von Aufgeschlossenheit zeugt. Eben jener Blick von außen auf den Fußball äußert sich in der Herangehensweise, mit der ein Politblogger sich einem solchen Thema nähert. Man kann es so sagen: Jens Berger hat den Fußball im Blick, beschäftigt sich aber ausschließlich mit Dingen, die außerhalb den Fußball beeinflussen: TV-Gelder, Merchandising und die Degradierung des gemeinen Fans zum Kunden und Konsumenten. Alles bekannte Themen. Jedoch beim Thema Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf. Ob dem so ist, bleibt fraglich, zu groß ist schlicht und ergreifend die Anziehungskraft dieses schönen Spiels, um nicht einfach links liegengelassen zu werden. Der Fußball wird mit volkswirtschaftlichen Methoden betrachtet und Entwicklungen kommentiert. Dadurch wird deutlich, wie sehr Fußball, die Mega Money Machine, inzwischen zu Lasten der Allgemeinheit geht.

Im Zeichen der 11

Jedes der neun Kapitel steht im Zeichen der 11: Berger beginnt mit der Frage ‘11 Freunde sollt Ihr sein?’ und titelt Kapitel 9 mit eben jenem Satz gefolgt von einem Ausrufezeichen. Dazwischen wird die gesamte Bandbreite an Themen bearbeitet, die der Fußball im 20. und 21. Jahrhundert hergibt: Big Business Fußball, die explodierenden Gehälter, der Wahn um Ausrüsterverträge, TV-Gelder, es wird auch gefragt, wem die Bundesliga gehört, wie der Fußball vom Otto-Normalverbraucher profitiert und Korruption. In Kapitel neun leitet er uns an, wie ‘wir uns den Fußball zurückholen’. Auf knapp 250 Seiten wird somit alles abgedeckt, was den Fußball in unserem Zeitalter bestimmt, bewegt und bedrückt. Und das sind in erster Linie eine ganze Menge Geld und ein paar sehr einflussreiche Leute, wie wir alle wissen. Berger geht es weniger um das Spiel an sich, als um das Schindluder, welches um den und mit dem Fußball getrieben wird.

Vor einigen Jahren schrieb der zu früh verstorbene Frank Schirrmacher von der Lüge der Systemrelevanz der Banken. Berger argumentiert ähnlich. Fußballvolk ist auch Wahlvolk und Politiker brauchen Rückhalt und da fallen einige 10000 Stimmen aus dem Stadion schon mal ins Gewicht. Genau deshalb öffnen Stadtkämmerer schon mal schneller die Schatulle, um Stadien zu finanzieren oder Bürgschaften für eben jene Projekte auszugeben. Wäre das nicht der Fall, die Bundesliga würde größtenteils in maroden Stadien stattfinden. Fußballclubs sind zu groß und zu wichtig, um Pleite zu gehen. Denn würde sich der gemeine Fan nicht am Spiel berauschen, er hätte wenig Freude im Leben? Ein Präzedenzfall könnte der Streit um die Kosten des Polizeieinsatzes zwischen der Stadt Bremen und der DFL werden. Bremen hat die Rechnung an die DFL geschickt, da diese als Veranstalter der Bundesliga auch die Kosten für sogenannten Risikospiele tragen sollte. Die Replik der DFL war eine Einbehaltung der TV-Gelder für den SV Werder: ein Druckmittel, um die Stadtoberen an den Pranger der Fans stellen sollte. Beide Seiten weichen nicht zurück und sind bis vor das Bundesverfassungsgericht gegangen.

Beim Kauf des nächsten Paars Fußballschuhe mahnt uns Berger, der Näherinnen zu gedenken, die mit weniger als 1 Euro am wenigsten am Schuh verdienen, dafür aber am meisten arbeiten, oft unter fragwürdigen Bedingungen. Der Wutbürger ist schnell zu mobilisieren für mitunter lächerliche Anliegen. Ein Aufschrei oder Boykott sind hier nicht in Sicht.

Der Deutsche spielt gern Oberlehrer und weiß alles besser. Bestes Beispiel: die Fußballclubs. Gern wird sie Mär kolportiert, dass es nur in England und anderswo reiche Clubbesitzer gibt, für die ein Club ein Spielzeug ist. Dem ist in der Bundesliga nicht so. Hier ist alles fest in einer Hand. Der Autohersteller VW hat seine Finger bei einigen Clubs im Spiel: Bayern, Wolfsburg, Ingolstadt. Das stellt einen gehörigen Interessenskonflikt dar. Daneben ist die BL eine VW-Liga: 16 Erst- und Zweitligisten werden von VW oder Tochter- und/oder Zulieferunternehmen gesponsert. Somit haben wir eine VEB Bundesliga, denn wem gehört VW? Dem Land Niedersachsen. Nur, vor der eigenen Haustüre zu kehren, ist schwieriger als mit dem Finger auf andere zu zeigen. Das gilt genauso für die sogenannten spanischen Verhältnisse, vor denen immer wieder gewarnt wird. Dass die Bundesliga längst von den Bayern dominiert wird, wird dabei gern übersehen.

Im letzten Kapitel wagt Jens Berger einen Ausblick und beginnt ausgerechnet in England, wo doch alles schlecht ist, angeblich, im Fußball. Denn dort hat sich ungeachtet der großen Medienhäuser in den letzten Jahren eine sehr selbstbewusste Fankultur entwickelt, die sich in die Geschicke ihrer Clubs einmischt. Das sind eher kleinere Vereine, aber es geht um die Mitbestimmung, etwas, was hier in Deutschland mehr und mehr an den Rand gedrängt wird. Das beste Beispiel ist wohl der FC United of Manchester, der vor 10 Jahren von Fans von Manchester United gegründet und seitdem für Furore sorgt. Um die Gentrifizierung des Spiels aufzuhalten, sollten Vereine preiswerte Stehplatzkarten anbieten, die es jedem ermöglichen ins Stadion zu gehen. Nur so kann der Fußball seine einzigartige Kultur bewahren und bleibt als Kulturgut auch erhalten. Dazu gehören auch die Medien, die dafür sorgen, dass die Marketingmaschine Fußball reibungslos läuft, die aber dabei ihre journalistische Pflicht gern mal vergessen. Es bleibt also viel zu tun, damit der Fußball nicht vollends zu einer beliebig feil gebotenen Ware verkommt.

Bleibt Bergers Fazit: Bundesliga, Champions League ist ja alles schön und gut aber der “echte” Fußball wird ohnehin auf den Bolz- und Dorfplätzen der Republik gespielt und gelebt.

Kleinere Kritikpunkte gibt es auch: es heisst NICHT Chelsea London oder Arsenal London, sondern schlicht Chelsea und Arsenal. Chelsea spielt im Stadion Stamford Bridge, nicht an der Stamford Bridge, denn die gibt es nicht. Auch mit den Daten haut es nicht so hin, denn Berger meint doch glatt, dass der BVB 1994 den UEFA-Pokal gewonnen hat. Dem ist nicht so, denn die Schwarzgelben waren ein Jahr davor im Finale, hatten aber gegen Juventus keine Chance und gingen 6-1 geschlagen vom Platz. Auch war der FC Barcelona nicht im Finale der Champions League 2010, das waren der FC Bayern und Inter. Das sind sicher kleinere Punkte, die nur denjenigen ins Auge fallen, die Fußball wohl detaillierter kennen. Obschon die Themen, an denen sich Berger abarbeitet, jeden Einzelnen von uns Fußballfans aber auch alle anderen anspricht.

Autor: Christoph Wagner

Jens Berger: Der Kick des Geldes oder Wie unser Fussball verkauft wird. Frankfurt/Main: Westend Verlag, 2015

Jens Berger ist Herausgeber des Blogs Der Spiegelfechter und zudem Redakteur bei den Nachdenkseiten.

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Buchbesprechung: Dominic Bliss – Erbstein

The Triumph and Tragedy of Football’s Forgotten Pioneer

Die Fußballgeschichte der Zwischenkriegszeit hat ein neues Kapitel. Ernö Erbstein war seiner Zeit weit voraus und Dominic Bliss hat dieses neue Kapitel verfasst. Dabei konnte er auf viele Zeitzeugen zurückgreifen, so zum Beispiel hatte er Zugang zum Archiv der Familie sowie den Töchtern Erbsteins, Susanna und Marta. Hinzu kommen eine Reihe von Sportjournalisten, um das Bild abzurunden.

Ernö Erbstein war ein begabter, kein herausragender Verteidiger im Ungarn des frühen 20. Jahrhunderts. Seinen Namen machte er sich durch seine kompromisslose Spielweise. Das führte sogar so weit, dass nach einer Tätlichkeit Erbsteins einmal die Polizei anrücken musste. Er erreichte ebenso viele Spaltenmillimeter in den Sportteilen der Zeitungen wie die ungarischen Nationalspieler, schreibt Bliss. Erbsteins Geschichte ist ein Abbild der europäischen Geschichte. Als Jude war er ständigen Anfeindungen ausgesetzt, was ihn nach Italien führte. Dort erhielt er als ausländischer Spieler 1928 Berufsverbot, was ihn zwangsweise Trainer werden ließ. Eine glückliche Fügung, wie sich später herausstellen sollte. Weitere 10 Jahre später erhielt Erbstein aufgrund seines jüdischen Glaubens auch als Trainer Berufsverbot.

Ganz Italien wurde 1938 anti-semitisch? Nein! Eine große Stadt im Norden verweigerte den Faschisten Gehorsam und Ernö Erbstein fand Arbeit bei AC Torino. Ein Jahr später war er dann dennoch gezwungen, Italien zu verlassen. Ein Austausch der Trainer zwischen Roda Kerkrade und Torino, eingefädelt von Torinos Präsident Novo. Leider kam es nicht dazu, denn Erbsteins Zug wurde in Deutschland gestoppt und die ganze Familie in ein Lager in Kleve gebracht. Mit Glück und Bestechung konnte Erbstein seinen Clubpräsidenten per Telefon über seine Lage informieren. Ohne zu zögern beschwerte sich dieser in diplomatischen Kreisen. Ungarn und Italien waren Verbündete des Deutschen Reiches und somit standen die Aussichten auf Erfolg günstig. Die Erbsteinfamilie konnte zurückkehren nach Budapest, wo die Situation sich seit den 20er Jahren, als Erbstein seine Heimat verließ um in Italien als Profi zu spielen bzw. dem alltäglichen Antisemitismus zu entgehen, dramatisch verschlechtert hatte.

Zurück in Budapest war an Fußball nicht zudenken; das Überleben einer vierköpfigen Familie musste organisiert werden. Er arbeitete mit seinem Bruder bis 1944 in dessen Textilunternehmen, als die deutsche Besatzung die Familie in höchste Gefahr brachte. Bliss erzählt diese Periode sehr spannend und in der Tat entwickelt sich die Geschichte wie ein Krimi, bei dem viel vom Timing abhängt. Das ist einer der starken Punkte dieser Biografie. Bliss erwähnt viele Details, verliert sich aber nicht darin und hält den Leser bei der Stange. Es kommt keine Langeweile auf.

Nach dem Krieg geht Erbstein zurück nach Turin und beginnt erneut seine Arbeit bei Torino. Er fand vieles nach seinem Gutdünken vor, denn er und sein Präsident Novo schafften es bis auf wenige Ausnahmen, von 1939 bis 1945 in Kontakt zu bleiben. So arbeite Erbstein zunächst als technischer Direktor eher im Hintergrund, bevor er 1946 auf der Trainerbank Platz nahm. Zu dieser Zeit hatte Torino bereits zwei konsekutive Scudetti gewonnen, die letzte Meisterschaft während des Krieges und die erste Nachkriegsscudetto; bis 1949 sollten noch drei weitere folgen und aus Torino “Il Grande Torino” werden.

Allein diese Geschichte ist es wert aufzuschreiben. Nimmt man das Fußballerische hinzu, bleibt festzuhalten, dass Erbstein ein Pionier und seiner Zeit voraus war. Er legte Wert auf ein gepflegtes Kurzpassspiel mit dem Mittelfeld seiner Mannschaften als Herz und Motor auf dem Platz: tiki-taka wurde also schon im Italien der 30er und 40er Jahre gespielt! Wiederholt verpflichtete er Spieler, deren Karrieren einen Knackpunkt erlitten hatten oder die politisch in Ungnade gefallen waren.

Symptomatisch hierfür waren Aldo Olivieri und Bruno Scher. Ersterem wurde nach einer Kopfverletzung davon abgeraten, jemals wieder zwischen die Pfosten zurückzukehren. Erbstein ignorierte den medizinischen Rat und kontaktierte Olivieri. Dieser hatte nur auf ein solches Angebot gewartet! Um seine Agilität zurückzugewinnen wurde “die magische Katze” zum Tanzunterricht geschickt. Als Tanzpartnerin hatte er Erbsteins Tochter Susanna. Es zahlte sich aus. Olivieri wurde 1938 Weltmeister und wird mit  Dino Zoff und Gigi Buffon in einem Atemzug genannt. Ebenso wenig scherte Erbstein sich um politische Ansichten. Bruno Scher, ein Defensivspieler, den Erbstein sehr schätzte, wurde aufgrund seiner kommunistischen Einstellung zur persona non grata. Das hinderte den Trainer nicht daran, Scher zu verpflichten. Ein anderer Bruno, Neri, kämpfte auf Seiten der Partisanen und wurde im Juni 1944 von deutschen Soldaten getötet. Das Stadion seiner Heimatstadt Faenza trägt seit 1946 seinen Namen.

Im Mai 1949 flog Torino nach Lissabon, um dort gegen Benfica zu spielen. Anlass war das Abschiedsspiel von Benficas Francisco Ferreira. Das Spiel endete 4-3 für Benfica und es war das letzte Spiel für Torino. Auf dem Rückflug zerschellte das Flugzeug an den Stützmauern der Basilika von Superga in den Bergen über Turin.

Dominic Bliss hat mit Hilfe von Zeitzeugen, Zeitungsberichten sowie den Archiven der Töchter Erbsteins, Susanna und Marta ein wichtiges Kapitel der Fußballgeschichte geschrieben. Einzige Kritikpunkte sind die doch hohe Zahl an Tippfehlern sowie die Tatsache, dass die Seitenzahlen im Index mit denen im Buch nicht übereinstimmen. Aber das sollte den geneigten Leser nicht von der Lektüre abhalten.

Autor: Christoph Wagner

Dominic Bliss: Erbstein: The triumph and tragedy of football’s forgotten pioneer. Sunderland: Blizzard Media Ltd. Das Buch ist als eBook bei Amazon erhältlich und kann sowohl in Print als auch digital direkt über The Blizzard bezogen werden.

Dominic Bliss ist Journalist und Redakteur und schreibt u.a. für The Blizzard und The Inside Left.

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