DFB – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 22 Aug 2018 09:07:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Vom Kaiserreich zur Kommerzialisierung: Deutschland und der moderne Fußball https://120minuten.github.io/vom-kaiserreich-zur-kommerzialisierung-deutschland-und-der-moderne-fussball/ Thu, 23 Aug 2018 06:58:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5228 Weiterlesen]]> „Moderner Fußball“ ist ein Schlagwort. Ein Schlagwort, das in Zeiten von wankendem 50+1, zunehmender Kommerzialisierung, zerstückelter Spieltage etc. vorwiegend negativ konnotiert ist. Aber war der Fußball vorher alt? Antik? Natürlich mitnichten. Etymologisch betrachtet, bedeutet modern nichts anderes als „modisch/nach heutiger Mode“. So gesehen geht es bei der Frage nach modernem Fußball um die Phase, in der Fußball bei der Masse der Bevölkerung und nicht nur ein paar Nerds beliebt und in der die ursprüngliche Form weiterentwickelt wurde.
Es soll hier nur um den Beginn des modernen Fußballs in England und Deutschland (genauer gesagt: im deutschen Kaiserreich) gehen und um die Frage, was oder wer verursachte, dass er modernisiert wurde. Der Beitrag ist ein in Fließtext gebrachtes Brainstorming, das ausdrücklich zum Kommentieren anregen soll. Hauptsächlich werden die Anfänge des Fußballs – 1820-1900 in England und 1870-1930 in Deutschland – untersucht

Der erste von zwei Teilen befasste sich mit dem Beginn des modernen Fußballs in England. Im nun folgenden zweiten Teil geht es um die Entwicklung des modernen Fußballs in Deutschland.

Von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de)

Fußball wird in Deutschland bekannt

Ein Spiel des Dresdner Fußball Clubs aus den Anfangstagen des Sports in Deutschland.

Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gab es in England football, in Frankreich soule, in Italien calcio. In Deutschland, genauer gesagt dem damaligen deutschen Kaiserreich, gab es vor dem 19. Jahrhundert kein Fußballspiel. Es konnte also nicht auf schon bekannte Formen zurückgreifen, die in der Folgezeit reguliert wurden. Fußball war unbekannt. Und daher musste er erstmal Fuß fassen, um modernisiert werden zu können. Denn das Wort modern setzt ja voraus, dass es schon eine Vorform, eine antike Form zuvor gab.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kamen die in England beliebten Sportarten wie Cricket, Baseball und beide Fußballvarianten, Rugby und (Assoziations-)Fußball, nach Deutschland. Denn die in Deutschland lebenden Engländer und englische Langzeittouristen wollten nicht auf die liebgewonnenen Sportarten verzichten, die auch die Kontaktaufnahme zu anderen Engländern der Umgebung sehr erleichterte. In diesen Jahrzehnten entwickelte sich das reglementierte Fußballspiel vom Schüler- und Studentensport zu einem in der englischen Gesellschaft verankerten Freizeit- und Bewegungsvergnügen.

Deutsche, die in Kontakt zu Engländern standen – beispielsweise Ärzte, Sprachlehrer, Uniprofessoren oder Journalisten – beobachteten den Sport der Engländer, fanden mitunter Gefallen an Fußball und imitierten ihn. Das passiert vor allem in den so genannten Engländerkolonien in Deutschland. Diese befanden sich vor allem in Residenzstädten wie Hannover, Braunschweig, oder Dresden, oder in Universitätsstädten wie Heidelberg oder Göttingen. Auch in im 19. Jahrhundert beliebten Kurorten – Wiesbaden, Baden-Baden oder Cannstatt sind hier Beispiele – und in Handelsstädten wie Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Leipzig waren häufig Engländer anzutreffen.

Soziale Herkunft der Fußball-Liebhaber
In der Forschung wird noch über die soziale Basis der Fußball-Liebhaber diskutiert – waren es Angestellte oder doch Arbeiter, die in Deutschland das Fußballfieber entfachten? Oder waren es Arbeiter, die als verdeckte Bezahlung einen Bürojob erhielten und sind diese dann als Arbeiter oder Angestellte zu zählen? Eggers merkt an, dass die Quellenlage über die Mitgliederstruktur des DFB vor dem ersten Weltkrieg sehr dürftig ist und viele Fußballspieler noch in den 1920er Jahren als Pseudobezahlung eine scheinbare Angestelltenstellung erhielten, aber aus dem Arbeitermilieu stammten. Als Belege nennt er Clubs im Ruhrgebiet und die Mannschaft von Bayern München 1925, deren Spieler vor allem aus dem Arbeitermilieu stammten und die mit Schein-Arbeitsplätzen und der dazu entsprechenden Bezahlung geködert wurden.

Engländer in Deutschland und Konrad Koch

Es waren aber nicht nur die in Deutschland lebenden Engländer, die den Fußball in Deutschland bekannt machten, sondern auch Konrad Koch, der Thomas Arnolds Ideologie und Leben profund während seines Studiums erforscht hatte. Koch muss von Arnold begeistert gewesen sein, denn er kopierte ihn und führte als Lehrer das Fußballspiel 1874 am Martino-Katharineum in Braunschweig ein, um die Jugendlichen fit zu machen und um die Basis für eine athletische Elite zu legen. Wie in England wurde Fußball als Winterspiel in den kalten Monaten des Jahres gespielt, während im Sommer Leichtathletik im Vordergrund stand. Übrigens hat Konrad Koch nicht Assoziationsfußball spielen lassen, sondern Rugby – wie Thomas Arnold als Schulleiter der Privatschule in Rugby. Da jedoch Assoziationsfußball in Deutschland wesentlich mehr und schneller Verbreitung fand als Rugby, unterstützte er diesen ab den 1890er Jahren. Koch versuchte, in Deutschland eine Fußballbegeisterung zu entfachen, wie es in England damals gerade passierte. Aber der Funke sprang in Deutschland nicht über. Als die erste Assoziationsfußballmannschaft in Deutschland gilt der Lüneburg College Football Club, bei dem den Namen der Spieler nach auch aus Deutschland stammende Schüler spielten. 

Vgl. Hock, Hans-Peter: Der Dresden Football Club und die Anfänge des Fußballs in Europa. Hildesheim 2016. S. 18-20. Wer mehr zu Konrad Koch wissen möchte, sei Malte Oberschelps 2015 erschienene Biografie über Koch sehr empfohlen.

Denn in Deutschland war das Turnen die Körperertüchtigung Nummer Eins. Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt geworden, war das Turnen eng mit studentischen Verbindungen und dem Einheits- und Nationalgedanken verbunden. Die aus England kommenden Sportarten wie Rugby oder Assoziationsfußball, Tennis oder Cricket wurden argwöhnisch beobachtet, weil sie eben aus England stammten und nicht deutschen Ursprungs, also nicht Teil der deutschen Kultur waren. Dazu kamen die Übersetzungsschwierigkeiten des englischen Begriffs sports, der letztendlich einfach in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wurde. Auch Fachbegriffe wie offside, hand, to center oder goal wurden zunächst übernommen.

Die Spielbewegung und der Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen

Im November 1882 erließ der preußische Kultusminister, Gustav von Goßler, den nach ihm benannten Spielerlass. Er ermunterte darin die preußischen Kommunen, Spielplätze zu bauen und Turnen (später auch Bewegungsspiele/Sport) als regelmäßigen Teil des Unterrichts zu integrieren. Gleichzeitig sollten schulfreie Spielenachmittage etabliert werden.

Gustav von Gossler

Neun Jahre später, am 21. Mai 1891, gründeten von Goßler und der preußische Abgeordnete Emil Freiherr von Schenckendorff den Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen (ab 1897 Zentralausschuss zur Förderung von Volks- und Jugendspielen), kurz ZA. Der ZA war dabei kein Zusammenschluss von Fußball-Liebhabern verschiedener sozialer Herkunft, sondern bestand vor allem aus Mitgliedern der Nationalliberalen Partei und dessen Alldeutschen Verbandes (gemeinsame Ziele: Stärkung des deutschen Nationalbewusstsein, Pro-Imperialismus), somit vor allem Politikern, Beamten und Armee-Angehörigen. Ihr vorrangiges Ziel war aber nicht, den Sport politisch zu vereinnahmen, sondern vielmehr eine philanthropische, erzieherische, militärische und sozialdarwinistische Mischung, eine „gesunde“ Elite an sportlichen Deutschen und damit potentiellen Soldaten heranzuziehen. Daher versuchten die engagierten Persönlichkeiten, die Gräben zwischen Turnern und Sportlern aufzufüllen und zwischen ihnen zu vermitteln. Turnen und Sport (zeitgenössisch auch Bewegungsspiele genannt) sollten parallel existieren und sich ergänzen. Um diese Absicht zu erreichen, versuchte der ZA, die einzeln wirkenden Kräfte in Deutschland zu bündeln, um so das gemeinsame Ziel schnell zu erreichen. Dazu gehörte der Zentralverein für Körperpflege in Volk und Schule, der Deutsche Bund für Sport, Spiel und Turnen, das Komitee für die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen zu Athen 1896 und später der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, in dessen Bundesleitung auch viele Mitglieder des ZA vertreten waren und der sich wie der ZA in der vormilitärische Ausbildung engagierte.

Wie versuchte man, die Ziele zu erreichen? Nun, durch einen intensiven Lobbyismus in Militärbehörden und Schul- und Stadtverwaltungen, Englandreisen, regelmäßige und verschiedene Zielgruppen ansprechende Veröffentlichungen und eine enorm große Werbetätigkeit. Die Geldmittel kamen aus dem preußischen Kultusministerium und anderen deutschen Landesregierungen.

Der ZA erreichte letztendlich seine Ziele der Verbreitung der Sportarten und die nationale Ausrichtung dieser.

Der Deutsche Fußballbund

Logo des Deutschen Fußballbundes von 1900

In den 1890er Jahren entstanden eine Reihe von neuen Vereinen und auch erste regionale Fußballverbände, zum Beispiel in Berlin (Bund Deutscher Fußballspieler 1890, Deutscher Fußball- und Cricketbund 1891). Doch während Vereine in England gewachsene Gemeinschaften waren, gab es in Deutschland eine hohe Fluktuation in den Vereinen und daher auch einen geringen Zusammenhalt der Spieler. Die Identifikation mit einem Club war also nicht gewachsen – das kam dem ZA ungelegen. Seine Versuche, einen gesamtdeutschen Verband zu gründen, scheiterten zunächst an Unstimmigkeiten zwischen den Verbänden. Nach einigen Jahren der Vermittlung gab es Ende Januar 1900 in Leipzig einen neuen Versuch, einen deutschen Verband zu gründen. Nun stimmten 60 der 86 Vereine für die Gründung des Deutschen Fußballbundes. Die Gründungsmitglieder waren sowohl regionale Verbände (Verband südwestdeutscher Fußballvereine, beide Berliner Verbände und der Hamburg-Altonaer Fußball-Bund) als auch einzelne Vereine aus Prag, Magdeburg, Dresden, Hannover, Leipzig, Braunschweig, München, Naumburg, Breslau, Chemnitz und Mittweida – also aus dem ganzen damaligen Deutschland. Der Spielausschuss des DFB erstellte in den kommenden Jahren einheitliche Statuten und Spielregeln nach englischem Vorbild (1906 herausgegeben) und es gab einen regelmäßigen Spielbetrieb um die Deutsche Meisterschaft (ab der Saison 1902/1903) und den Kronprinzenpokal (ab der Saison 1908/1909).

Im DFB entschied man sich für die nationale und gegen die kosmopolitische Ausrichtung. Denn so erhielten sie vor den Turnern den Vorzug, um die Exerzierplätze als Spielfeld benutzen zu dürfen. Als Wehrsport wurde der Stereotyp eines Fußballers mit soldatischen Idealen aufgeladen: Kampf und Opfermut bis zur letzten Minute, Pflichttreue und Treue zur eigenen Mannschaft sowie Charakterstärke und Idealismus. An diesem Ideal hat sich bis heute wenig geändert und es ist auch der Grund, weshalb in Deutschland die Legalisierung von entlohntem Fußball noch vehementer abgelehnt und stigmatisiert wurde als in England. Vieles ist in Deutschland wie in England verlaufen, nur etwa 50 Jahre später, aber nicht in diesem Punkt: Während Fußball in England modern wurde, als er legaler Profifußball wurde und viele Menschen direkt oder indirekt durch das Fußballspiel Erwerbsmöglichkeiten fanden, wurde Fußball in Deutschland durch das Militär und das soldatische Ideal, also durch das deutsche Amateurideal, modern. Das änderte sich auch nicht, als der Profifußball etwa 50 Jahre nach der Legalisierung in England auch in Deutschland legalisiert wurde. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb in Deutschland das Begriffspaar moderner Fußball mittlerweile stark negativ konnotiert ist und die 50+1-Regelung nicht schon längst über den Haufen geworfen wurde. Es ist aber vielleicht auch der Grund dafür, dass häufig und des Geldes wegen wechselnde Spieler als Söldner(!) beschimpft werden, weil sie nicht bis zu ihrem letzten Atemzug ihrer Mannschaft treu blieben – bewusst sehr pathetisch formuliert.

Währenddessen stieg die Mitgliederzahl des DFB rapide an und versiebzehnfachte sich zwischen 1904 und 1913.

Wie schon gesagt, Goßlers Idee ging also auf, Fußball wurde Wehrsport. Schon vor 1910 spielte die Marine ihre eigene Fußballmeisterschaft aus, ab 1911 auch das Landesheer. Der DFB wurde wie der ZA Mitglied in staatlichen, militärisch geprägten Jugendorganisationen wie dem 1911 gegründeten Jungdeutschland.

Als Wehrsport musste sich Fußball nun aber endgültig von dem Vorwurf des undeutschen Sportes lösen und Sprachbarrieren  beseitigen. Daher gab es ab den 1890er Jahren immer wieder Artikel in Zeitungen, Pamphlete und auch Bücher, die die englischen Begriffe eindeutschten.

Moderner Fußball: Die Fußballbegeisterung wird Teil der deutschen Gesellschaft

Viele deutsche Soldaten lernten das Fußballspiel erst als Wehrsport während des ersten Weltkrieges kennen; liebten und lebten ihn. Die Spiele dienten hier, in dem reinen Stellungskrieg, vor allem zur psychischen Stabilisierung von Truppeneinheiten und zur Hebung deren Stimmung, fand aber auch durch seinen klassennivellierenden Charakter allgemeine Beliebtheit bei den nichtadeligen Milieus. Diese Begeisterung endete nicht mit dem Kriegsende – im Gegenteil. Manche spielten Fußball fortan in Vereinen und viele weitere wurden begeisterte Zuschauer. 1920 hatte der DFB die 500.000er Marke seiner Mitglieder geknackt. Jetzt begann der Fußball, auch in Deutschland ein Massenphänomen zu werden.

In dieser Zeit, in der Weimarer Republik, nahm Fußball eine Mittlerrolle zwischen der deutschen Bevölkerung und der Reichswehr ein. Dabei war die Grenze zwischen zivilem und Militärsport fließend. Das Wort Kampf wurde in den 1920er Jahren zu einem Schlüsselbegriff: Kampfspiele, Kampfbahn, Kampfgemeinschaft, usw. Der Fußball diente als vormilitärisches Feld, um trotz dem Verbot einer Armee, die kommende Generation an die Tugenden der Soldaten heranzuführen. Außerdem tarnten sich viele paramilitärische Vereinigungen als Sportclubs wie die Box- und Sportabteilung der NSDAP. Diese wurde aber schon verhältnismäßig früh, nämlich im November 1921, von Hitler in Sturmabteilung, SA, umbenannt.

Waren Sportarten wie Fußball nach Ende des ersten Weltkrieges ein gutes Ventil, um die psychische Belastung der Kriegsjahre zu kompensieren, bargen sie damit aber in der Zwischenkriegszeit ein deutliches Gewaltpotenzial. Viele, die das Fußballspiel während des Krieges kennengelernt hatten, spielten einen derart unfairen Fußball oder benahmen sich als Zuschauer mit Platzstürmen und Gewaltandrohungen gegen Schiedsrichter und Gegner so rüde, dass Fußball zu Beginn der 1920er Jahre nicht nur breite Beliebtheit erfuhr, sondern gleichzeitig einen sehr schlechten Ruf erlangte. Der sehr angesehene Schiedsrichter Peter Joseph „Peco“ Bauwens legte 1925 wegen des Verhaltens der Spieler und Zuschauer in der Halbzeit des Spieles 1. FC Nürnberg gegen MTK Budapest schlicht sein Amt nieder.

Zu der Problematik von Fußball in der Weimarer Republik und Bauwens vgl. Eisenberg, Christiane: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999. S. 306-339.

 

Dabei entwickelte sich der Fußball durch die zahlreichen Zuschauer zu einem veritablen Wirtschaftsgut. Diesen verlorenen Respekt versuchte der DFB abermals durch die Verknüpfung mit dem soldatischen Ehrbegriff wiederherzustellen – erfolgreich.

Die ersten Radioübertragungen

Unterstützung erfuhr der Fußball in Deutschland wie in England durch Journalismus, Getränke- und Bauindustrie, Wettbüros, Fotografie und Sportartikelhersteller. Auch Zigarren- und Zigarettenfabriken sowie Schnapsbrennereien profitierten von dem Sport, denn es war auf den Zuschauerrängen üblich, sich zwischendurch mit einem Schluck aus dem Flachmann oder einer Zigarre zu stärken. Neu und in diesem Fall ganz elementar war für Sportinteressierte das moderne Medium Radio, dessen Verkaufszahlen sich zwischen 1923 und 1926 rapide anstiegen. Es war für Sport und Medium eine Win-Win-Situation: Das Radio beflügelte das Interesse, Sport zu verfolgen und die an Sport Interessierten kauften sich Radios. Wann das erste Spiel in Deutschland übertragen wurde, ist umstritten: War es das Spiel Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld am 1. November 1925 oder das vom Rundfunkpionier Bernhard Ernst kommentierte DFB-Endspiel zwischen der SpVgg Fürth und Hertha BSC (Ende 1925)? Wie dem auch sei, der DFB unterstützte zunächst die Rundfunkübertragungen von Fußballspielen, um 1928 stark zurückzurudern: Um nicht die Zuschauerzahlen und damit Einnahmen der Vereine zu gefährden, wurden die Übertragungsrechte nur für das DFB-Endspiel sowie drei Länderspiele vergeben. Diese deutlichen Einschränkungen führten zu heftigem Protest der Zuschauer und tatsächlich wurden ab 1932 wieder mehr Fußballspiele via Radio übertragen; vor allem solche Spiele, bei denen eine Reduzierung der Zuschauerzahl nicht zu befürchten war.

Der DFB war kein Einzelfall. U.a. auch England und Schweden ließen die Übertragungen teils verbieten (Schweden) oder diskutierten über ein generelles Verbot (England).

Moderner Fußball: Profifußball wird (zum ersten Mal) legal

Mitte der 1920er Jahre kam es in Deutschland zu den ersten ernsten Anläufen, dass Fußballspieler ein bezahlter Beruf wird. Denn durch den Dawes-Plan (1925) und seine Unterstützungen begannen viele Städte, neue Stadien zu errichten, um mit Hilfe der Fußballbegeisterung die städtischen Kassen zu füllen. Um die Hypotheken schneller zurückzuzahlen und das Stadion auszulasten, musste man attraktive Spiele bieten und daher Fußballergrößen in die Vereine der Stadt locken. Außerdem war ab 1925 die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen wieder möglich. Der Ehrgeiz , eine besonders schlagkräftige Mannschaft nominieren zu können, war deshalb groß. Unter der Hand gezahlte Zuwendungen waren längst die Regel.

Der DFB blieb bei seinem soldatischen Ideal des Fußballers, den der ehrenvolle Verdienst leitete, nicht der finanzielle . Bei Zuwiderhandlung drohte die Disqualifikation aus Meisterschaft und Pokalwettbewerb. Dabei war der Wunsch vieler Vereine, wettbewerbsfähig zu anderen Ländern zu sein. Bereits 1925 hatte der DFB eine Satzungsänderung verabschiedet, die es deutschen Vereinen stark erschwerte, gegen ausländische Profimannschaften zu spielen. (Der Boykott wurde erst 1930 auf Druck der FIFA aufgehoben.)

Durch die finanziellen Verluste der Weltwirtschaftskrise, die insbesondere die untere Mittelschicht (Angestellte, Facharbeiter) traf, gab es ab 1929 erneut deutliche Bemühungen, den Berufsfußball einzuführen. Bezahlungen der Fußballer unter der Hand waren mittlerweile die Regel, aber der DFB blieb weiterhin bei seinen Prinzipien. Mehr noch, im August 1930 sperrte er 14 Schalker Spieler und zudem mehrere Schalker Funktionäre und verhängte eine empfindlich hohe Geldstrafe von 1000 Reichsmark gegen den Verein. Der Grund: Schalker Spitzenspieler waren Arbeiter in der Schachtanlage Consolidation, wurden aber nur mit leichteren Aufgaben betraut und mussten also nicht unter Tage arbeiten, erhielten dafür aber deutlich mehr Lohn als ihre Kollegen. Die Bestrafung als abschreckendes Exempel für alle anderen Vereine ging für den DFB komplett nach hinten los: Viele weitere erfolgreiche Vereine bedrängten den Verband, die Strafen zurückzuziehen und drohten andernfalls mit dem Austritt. Der Westdeutsche Fußballverband forderte die Trennung in Amateurfußball und Berufsfußball. Noch lehnte der DFB ab, aber als es noch 1930 zur Gründung des Deutschen Professionalverbandes innerhalb des Westdeutschen Fußballverbandes und zu einer Reichsliga (gegründet von Sportjournalisten) kam, lenkte er ein. Schalke wurden die drakonischen Strafen erlassen. Aber der Profifußball wurde noch nicht legalisiert. Das Drängen der Vereine blieb und zwei Jahre später fürchtete der DFB die Spaltung des Fußballs wohl so sehr, dass er wie ca. 50 Jahre zuvor Alcock in England den Fußballsport legalisiert, um ihn dann besser kontrollieren zu können. Doch zu der für 1933 geplanten Reichsliga kam es nicht. Daran hatten nicht direkt die Nationalsozialisten Schuld; ihnen wären professionelle Sportler vielleicht sogar entgegengekommen. Nein, Felix Linnemann, seit 1925 Vorsitzender des DFB wurde 1933 mit der Leitung des Fachamts Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen betraut und machte direkt die in seinen Augen erzwungene Legalisierung des Profifußballs rückgängig.

Moderner Fußball: Profifußball wird (wieder) legal

1950, noch vor der Neugründung des DFB, beschloss die Delegiertenversammlung der Landesverbände, ein Vertragsspielerstatut zur Legalisierung des bezahlten Fußballs. Ein Spieler, der noch einem weiteren Beruf nachging, durfte dennoch nicht mehr als 320 DM monatlich erhalten, d.h. nicht mehr als den Lohn eines Facharbeiters. Aus dem Jahresgehalt errechnete sich die Ablösesumme. Zur der gehörte auch immer ein Gastspiel des neuen Vereines.

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Am Ziel der Träume? Fußball und der Nationalsozialismus

Der Fußball in Deutschland hat es in seinen Anfangsjahren nicht leicht. Gesellschaftliche Vorbehalte, Konkurrenz durch die traditionsreiche Turnerschaft, das unsägliche Geschacher um das Amateurgebot. Unter der Regie des machtbewussten DFB hat sich der Fußball dennoch zum Spiel der Massen entwickelt, wie ich in meinem ersten geschichtlichen Überblick für 120minuten aufgezeigt habe. Ideale Voraussetzungen für die Nationalsozialisten, das Spiel für seine Zwecke zu ge- und missbrauchen? Welche Rolle spielte der DFB dabei? Wie hat der deutsche Fußball auf die verordnete „Gleichschaltung“ reagiert? Und wie ging es in Sachen Profitum weiter?

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1954 wurde Deutschland überraschend Weltmeister. In den Folgejahren nahm die Bedeutung der Nationalmannschaft wegen fehlender Erfolge jedoch spürbar ab. Viele Spieler wechselten zu Vereinen ins Ausland, wo der Profifußball längst etabliert war und sie höhere Gehälter erhielten. Beispielsweise nach Italien, wo Helmut Haller (1962-1968 FC Bologna, 1968-1973 Juventus Turin), Karl-Heinz Schnellinger (1963-1964 AC Mantua, 1964-1965 AS Rom, 1965-1976 AC Mailand) oder auch Horst Szymaniak (1961-1963 CC Catania, 1963-1964 Inter Mailand, 1964-1965 FC Varese) spielten. Um dem Trend entgegenzuwirken, beschloss der DFB auf seinem Bundestag 1962 die Einführung einer Berufsspielerliga, der Bundesliga. Neben Amateurspielern und Vertragsspielern gab es nun auch Lizenzspieler, die ein dreimal so hohes Gehalt wie Vertragsspieler erhalten und einen Teil der Transfersumme kassieren konnte. Aber die Bestimmungen waren in den 1960er Jahren noch recht restriktiv, weshalb in der ersten Bundesligasaison nur 34 Spieler Fußball als Vollzeitberuf ausgeübt haben sollen. Sie brauchten einen guten Leumund, durften aber ihren Namen nicht für Werbezwecke zur Verfügung stellen und so weiteren Lohn erhalten und die Gesamtbezüge aus Lohn, Handgeld, Prämien und Ablösesummen durften nicht 1200 DM monatlich übersteigen.

Für den DFB lohnte sich die Einführung der Bundesliga: Die Nationalmannschaft hatte wieder Erfolg und da in den 1960er Jahren schon viele Haushalte über einen Fernseher verfügten, konnte sich der DFB durch Fernsehübertragungsgebühren, Werbeeinnahmen und Sponsorengelder finanzieren.

Für die Vertrags- und auch Lizenzspieler war das Fußballspiel innerhalb der vom DFB gesetzten Grenzen nicht rentabel und so verwundert es nicht, dass es in der Saison 1970/71 zu einem so großen Bestechungsskandal kam und der DFB abermals zum Umdenken gezwungen wurde. 1972 wurde der Markt geöffnet – seitdem steigen die Einkommen der Fußballprofis kontinuierlich. Die Liberalisierung der elektronischen Medien und das Bosmanurteil vom Dezember 1995 haben diesen Effekt noch einmal deutlich verstärkt.

Fazit: Moderner Fußball durch Eventisierung und Taktik

Doch wann hielt der moderne Fußball nun tatsächlich Einzug in Deutschland? Je nach Betrachtungsweise gibt es dafür drei Möglichkeiten:

  1. Macht man den modernen Fußball an der allgemeinen, nationalen Begeisterung fest, so war es der erste Weltkrieg.
  2. Verbindet man den modernen Fußball mit Profifußball und seinen Folgen, so waren es die 1960er und 1970er Jahren, da die erste Legalisierung 1932 nur wenige Monate Bestand hatte.
  3. Nimmt man den Begriff “moderner Fußball” dagegen als Ausgangspunkt, liegt der Beginn in den 1980er Jahren. Bis 1976 existierte dieser Begriff in der deutschsprachigen Literatur noch gar nicht. Seitdem gab es ein kurzes kleineres Maximum von 1987 bis 1988, das ab 2002 wieder erreicht wurde und mindestens bis 2008 übertroffen wurde.

Lag die erste Häufung des Begriffs Ende der 1980er Jahre an dem Wechsel von Trainer Arrigo Sacchi zum AC Milan und seiner dort etablierten Spielidee? Wurde dieses Ereignis in der deutschsprachigen Literatur tatsächlich so gewürdigt? Oder hat es eine andere Ursache? Darauf habe ich leider keine Antwort.

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DFB-Chefscout Siegenthaler: “Partien werden vor dem Spiel entschieden” https://120minuten.github.io/dfb-chefscout-siegenthaler-partien-werden-vor-dem-spiel-entschieden/ Sun, 31 Dec 2017 19:01:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=4076 Weiterlesen]]> Was klingt wie Überheblichkeit legt der Chefscout der Nationalmannschaft, der Schweizer Urs Siegenthaler, in einem ausführlichen Interview mit der Berliner Morgenpost dar. Es ist klar: die DFB-Kicker werden die Gejagten sein im Sommer in Russland und Siegenthaler arbeitet daran, die Jäger zu überraschen und selbst zum Jäger zu werden. Ein interessanter Einblick in die Denkweise des Chefscouts.

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4076 Helmut Schöns Flucht nach vorn https://120minuten.github.io/helmut-schoens-flucht-nach-vorn/ https://120minuten.github.io/helmut-schoens-flucht-nach-vorn/#respond Tue, 29 Aug 2017 08:00:22 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3594 Weiterlesen]]> Das Skandalspiel von Dresden und von einem der auszog, das Saarland zu trainieren

Helmut Schön war ein begnadeter Fußballer und einer der erfolgreichsten Nationaltrainer Deutschlands. Zwischen dem Ende seiner Spielerkarriere und dem Engagement beim DFB, war er Spielertrainer, floh nach Westdeutschland und trainierte Ende der 40er- und Anfang der 50er-Jahre mehrere Auswahlmannschaften anstatt als Vereinstrainer Fuß zu fassen. Ein interessantes und prägendes Kapitel im Werdegang des Helmut Schön.

Autor: Sebastian Kahl, Mitarbeit: Endreas Müller (120minuten.github.io)

Es ist der 16. April 1950, ca. 16.20 Uhr: Die SG Dresden-Friedrichstadt liegt im letzten Ligaspiel zur Pause zurück. Horch Zwickau – vor dem Spieltag punktgleich mit Tabellenführer Dresden – ist zu Gast und hat das Glück; vermeintlich auch den Schiedsrichter auf seiner Seite. Es geht um nichts geringeres als den ersten DDR-Meistertitel. 60.000 Dresdner auf den Rängen, 40.000 außerhalb des Stadions. Auf dem Schwarzmarkt wechselten die Karten angeblich für je 100 Mark den Besitzer. Und nun das: Rückstand zur Pause, drei Tore des Gegners! Die Halbzeitansprache des Dresdner Trainers ist nicht überliefert. Vielleicht erinnerte Helmut Schön seine Mannschaft an ein früheres Spiel an gleicher Stätte…

Mit Ballgefühl und Spielwitz, aber zu weich für Herberger

Im September 1930 liegt die Deutsche Nationalmannschaft in einem Freundschaftsspiel gegen Ungarn zur Halbzeit mit 0:3 zurück. Mit dabei: der fünfzehnjährige Helmut Schön. Als Balljunge hinter dem Ungarischen Tor hat er in Minute 59 den besten Platz im Stadion. Lokalmatador Richard Hofmann leitet die Wende ein, Deutschland gewinnt 5:3. Neben Matthias Sindelar war Richard Hofmann eines der fußballerischen Idole des jungen Schön. In einer Reminiszenz zu Hofmanns 75. Geburtstag erinnert sich Schön an einen beidfüßigen, abschlusssicheren Stürmer.

„Er war ein legendärer Spieler. Er war nicht nur technisch gut, er war ein unermüdlicher Ballschlepper und schoss bei Dribblings so schnell mit dem linken oder mit dem rechten Fuß, dass der Torwart den Ball erst sah, wenn er schon im Tor war. Er schoss so genau, dass er selbst eine Tomate auf der Torlatte traf.“

Helmut Schön über Richard Hofmann

Schön, geboren am 15. September 1915, lernte das Fußballspielen auf den Straßen Dresdens, verdiente sich bei kleineren Vereinen die ersten Sporen, bis er beim großen Dresdner SC landete. Sein frühester Förderer – Jimmy Hogan – gilt als einer der Fußball-Pioniere auf dem Kontinent. Der Engländer trainierte Mannschaften in Deutschland, Österreich, Ungarn und der Schweiz. In Dresden stand er ab 1928 an der Seitenlinie. Helmut Schön rückte er an die erste Mannschaft heran, prägte mit einem modernen, auf Passspiel ausgelegten Stil seine Ausbildung. Hofmann und Hogan; frühe Einflüsse, die Schöns gesamte fußballerische Laufbahn prägen würden.

„Wo immer er sich gerade aufhielt, propagierte Hogan einen technisch versierten Fußball und trug so dazu bei, dass der englische Fußball vom europäischen Festland bald überholt wurde.“

Jonathan Wilson über Jimmy Hogan

Im Alter von 17 debütiert Schön für den DSC in der Liga. Ballgefühl und Spielwitz zeichnen den Stürmer Schön aus; galant, trotz seinen fast 1,90m. Von Hofmann schaut er sich die Beidfüßigkeit ab. Schnell spielt er sich in einem Dresdner Team fest, das über ein Jahrzehnt den Fußball in Sachsen dominieren sollte.

In 12 Spielzeiten der Gauliga Sachsen holte der DSC sechs regionale Meisterschaften. In Kriegszeiten gab Dresden auch länderübergreifend den Ton an: 39/40 und 40/41 gewann man den Tschammerpokal, 42/43 und 43/44 die Deutsche Meisterschaft. Im Finale 1944 gegen den Luftwaffen-Sportverein Hamburg steuerte Schön einen Treffer bei. Der DSC war eines der Aushängeschilder des deutschen Fußballs, vom Frontdienst wurden seine Spieler weitestgehend verschont.

„Der General Mehnert, der war hier im Oberkommando in Dresden der führende Mann, und der hat das so gemanagt, dass wir immer schön zurückgehalten wurden, wenn es abging an die Front.“

DSC-Spieler Herbert Pohl in ‚Stürmen für Deutschland‘

Eine Mitgliedschaft in der NSDAP wurde den Spielern mehrfach angetragen, von Seiten Schöns aber stets ausgeschlagen. Aus seinen Aussagen, trotz des Kriegs eine „herrliche Fußballzeit erlebt“ zu haben, wurde viel gemacht. Fischer und Lindner ordnen das in „Stürmen für Hitler“ objektiver ein, die Bedingungen seien für Fußballer eben durchaus besser gewesen. An der lapidaren Formulierung spiegelt sich eine gewisse unpolitische Art Schöns wider. In der Nachkriegszeit stieß das auch den Verantwortlichen des DDR-Sportausschusses mehrfach sauer auf.

Nichtsdestotrotz kam Schön für die Deutsche Nationalmannschaft insgesamt 16-mal zum Einsatz, erzielte dabei 17 Tore. Nach einem 2:4 in Stockholm gegen Schweden 1941 war für ihn im Schwarz-weißen Dress Schluss. Als Sündenbock der Formschwankungen ausgemacht, streicht ihn Trainer Herberger aus der Mannschaft. Ironie des Schicksals, dass sich ihre Wege im Fußballgeschäft noch auf Jahrzehnte kreuzen sollten.

„Die Stürmer sind zu weich! Keine Kämpfer!! Gegen Schweden gewinnt man nur durch Kraft und Kampf, Schnelligkeit und Härte!! Schön ist gegen Mannschaften aus Skandinavien hinfort nicht mehr tragbar.“

Sepp Herberger in seinem Tagebuch nach dem 2:4 in Schweden

Helmut Schön als Spieler der SG Dresden-Friedrichstadt, 1946

Mit Kriegsende werden in der sowjetischen Besatzungszone alle bürgerlichen Vereine zerschlagen. An ihre Stelle rücken auf die Region begrenzte Sportgemeinschaften. Mannschaft und Mitglieder des DSC versammeln sich von 1945 an unter dem Banner „SG Dresden-Friedrichstadt“. Nicht nur im Geist ist man Nachfolger des letzten Kriegsmeisters, auch Emblem Farben und Uniform bleiben die gleichen. Kommt der Fußball im Osten zunächst nur schwer auf die Beine, die „bürgerlichen“ Friedrichstädter sind Publikumsmagnet. Und den Oberen damit ein Dorn im Auge.

„Die Dresdner galten in der SED als Mannschaft der bürgerlichen Bonzen.“

Wolfgang Hempel, Sportreporter des DDR-Hörfunks

Helmut Schön avanciert derweil zum wichtigsten Mann im Ostfußball. Der neu formierte Sportausschuss macht ihn zum Trainer der ersten Ostzonenauswahl, dem Vorläufer der DDR-Nationalmannschaft. (Erst im Juli 1952 wird der DFV vollwertiges FIFA-Mitglied.) In einer ersten Amtshandlung streicht er den politischen Lehrgang für seine Spieler. Zu voll der Terminkalender. Schön ist nun zeitgleich Spielertrainer in Dresden, Trainer einer Sachsen- und der Zonen-Auswahl.

Mit Dresden knüpft er an die vorherigen Erfolge an. Der Titel Landesmeister Sachsen 48/49 berechtigt zur Teilnahme an der 2. Ostzonenmeisterschaft ’49. Gegen die ZSG Union Halle fliegt Friedrichstadt allerdings in der ersten Runde raus. Kurios: Während alle anderen Spiele auf neutralem Boden stattfinden, darf Halle im heimischen Stadion antreten. In der Folge setzten sich die Hallenser auch gegen Stendal und Erfurt durch, werden Ostzonenmeister.

Eklat beim Meisterschaftsfinale

Mit Gründung der DDR fällt 1949 auch der Startschuss in die erste Oberliga-Saison. Die SG Dresden-Friedrichstadt stellt sogleich Rekorde auf, die für Jahrzehnte Bestand haben sollten. Bereits am ersten Spieltag gewinnt man in Babelsberg mit 12:2, das torreichste Spiel der DDR-Oberliga-Geschichte. Anker Wismar bezwingt man am fünften Spieltag mit 11:0, der höchste Sieg aller Zeiten.

So steht Dresden-Friedrichstadt einen Spieltag vor Schluss auf Tabellenplatz eins. Allerdings kommt der punktgleiche Zweite Horch Zwickau zum Gastspiel ins Dresdner Ostragehege. 60.000 Zuschauer sehen ein wahres Endspiel um die Meisterschaft. Unter ihnen hatte sich auch die Politprominenz samt Walter Ulbricht versammelt. Was sich in den folgenden 90 Minuten abspielt, dürfte dann auch höchstens die Ehrenloge gefreut haben. Zwar geht Dresden nach drei Minuten in Führung. Zwickau hat zur Pause aber bereits auf 1:3 gestellt, gewinnt am Ende gar 1:5.

Berichten zufolge sei Zwickau Dresden sportlich wirklich überlegen gewesen. Und tatsächliche Spielmanipulation ließ sich in der Folge nie klar bestätigen. Dennoch sprechen alle Anzeichen dafür, dass Zwickau per Diktat von oben Meister wird. Zunächst gilt die Zentrale Sportgemeinschaft Horch Zwickau als Prototyp der kommenden Betriebssportgemeinschaften. Trägerbetrieb sind die Zwickauer Autowerke. Damit sind sie der Gegenentwurf zum „bürgerlichen“ SG Dresden-Friedrichstadt.

„Besonders aber begrüßen wir, dass die Sportler der großen Betriebssportgemeinschaft eines volkseigenen Betriebes diesen Sieg errungen haben.“

Manfred Ewald, Leiter Abteilung Sport im Deutschen Sportausschuss

Unzählige Fouls an Dresdner Spielern ließ Schiedsrichter Schmidt ungeahndet. Als gesichert darf ein Verletzter gelten: Hans Kreische muss vom Feld. Auswechslungen gibt es damals noch nicht, Dresden muss in Unterzahl weitermachen.

„Eine sehr schlechte Leistung des Schönebeckers Schiedsrichters Schmidt, der seinem Amt in keiner Weise gewachsen war.“

Spielbericht in ‚Neues Deutschland‘

Nach Abpfiff verlassen die Dresdner ohne den üblichen Sportlergruß den Platz, ein Affront gegenüber der Obrigkeit. Fans stürmen das Spielfeld, bedrängen die Zwickauer Spieler. Das Schiedsrichtergespann wird unter Polizeischutz aus dem Stadion eskortiert. Beim anschließenden Galadinner stehlen sich die Dresdner Spieler davon, um im Stadion mit den Fans zu feiern.

„Ulbricht hat uns Dresdnern damals überhaupt nicht gratuliert. Er sprach bei der Meisterfeier in Loschwitz nur zu den Zwickauern, als ob es uns überhaupt nicht geben würde. Wir saßen da wie die dummen Jungs, wurden überhaupt nicht beachtet. Da haben wir uns leise abgesprochen, sind aufgestanden und rausgegangen. Was sollten wir dort? Wir sind als Mannschaft ins Stadion gefahren und haben mit unseren Fans im Ostragehege gefeiert. Bis früh haben wir Bier getrunken. Es waren unglaubliche Stunden.“

Hans Kreische

Das Nachspiel ist vielfältig. Schön wird nach Berlin vor den Sportausschuss zitiert. Zwar will man noch über das Urteil beraten, die Abberufung und Sperre des Auswahl-Trainers ist nur noch Formsache.

„Ich stand wie vor einem Tribunal. Der Sportausschuss hatte mich wegen der Skandalszenen vorgeladen. ‚Sie haben die Ausschreitungen in Dresden provoziert! Wir brauchen in unserem sozialistischen Sport keine Spieler, die noch an den alten Traditionen hängen. Nach Pfingsten werden wir über Sie disponieren, Schön!“

Helmut Schön in seiner Biografie (1978)

Die SG Dresden-Friedrichstadt wird noch im Mai 1950 aufgelöst und formal an den unterklassigen VVB Tabak Dresden angegliedert. Den Startplatz in der Oberliga erhält die SG Volkspolizei Dresden, die im April ’53 in die neugegründete Sportvereinigung Dynamo eingegliedert wird.

Das Berliner Missverständnis

Für Helmut Schön steht fest – in der DDR kann er nicht bleiben. Auch wenn die Zeit knapp ist, seine Flucht in die Bundesrepublik geschieht nicht überhastet. Schön plant seine Flucht sorgfältig  und weiht Sepp Herberger ein. Bei einem Trainerlehrgang Anfang 1950 in Köln kamen beide erstmals in der Nachkriegszeit wieder in Kontakt und fortan tauschen sie sich regelmäßig aus. Schön bezieht Herberger auch in seine Karriereplanung ein und fragt den Bundestrainer um Rat.

In Berlin ist die Hertha seine Anlaufstelle. Zu Hertha BSC pflegt Schön bereits Kontakte. Die Spieler aus Dresden und Berlin kennen sich seit Jahren, u.a. von Freundschaftsspielen in der Provinz in der Nachkriegszeit – eine willkommene Gelegenheit, sich als Fußballspieler etwas dazu zu verdienen.

Als er am 26. Mai 1950 Dresden verlässt, steht bereits fest, dass er als Spielertrainer bei Hertha BSC anheuern wird. Die Flucht in den Westen gestaltet sich für Schön dann etwas komplizierter als erwartet. Das Weltjugendtreffen in Berlin verschafft ihm eine Durchfahrtgenehmigung über das Gebiet Westberlins, die er nutzen will, um sich abzusetzen. Doch auf der Transitstrecke gen Westen wird er angehalten und aufgefordert einen Umweg um Berlin herum über DDR-Gebiet zu nehmen.

In diesem Moment greift Schön zu einer List. Zum DDR-Grenzer, mit dem er es zu tun hat, scheint noch nicht durchgedrungen zu sein, dass Schön nicht mehr Auswahltrainer der DDR ist. Schön verweist darauf, dass er keine Zeit hätte und zu seiner Mannschaft müsse, die sich im nahen Babelsberg auf ein Länderspiel vorbereitet. Da könne er keinen Umweg in Kauf nehmen. Der Grenzer lenkt ein, Schön passiert und setzt sich ab.

Ein Großteil der Friedrichstädter folgt Schön nach Berlin: u.a. Birkner, Jungnickel, Max und Hans Kreische, Hövermann, Kunstmann, Drognitz, Küchenmeister und Seifert. Unter dem Schutz des Weltjugendtreffens treten auch sie über.

„Unsere Mannschaft ist geschlossen nach West-Berlin gekommen, weil wir es im Interesse unserer sportlichen Entwicklung für nötig erachteten. Wir wollen hier frei und ungehemmt unserem Lieblingssport huldigen und freuen uns, wenn wir recht bald wieder mit Erfolgen aufwarten können.“

Helmut Schön im West-TV kurz nach Übertritt (1950)

Hertha BSC bestreitet Anfang Juni ein Benefizspiel gegen die Friedrichstädter und kurz darauf gibt man bekannt, dass aus den beiden Mannschaften eine werden soll – mit Helmut Schön als Spieler-Trainer. Mit diesem Team will Hertha in der Berliner Stadtliga antreten. Auf dem Papier eine beachtliche Mannschaft: der Beinahe-Meister aus der DDR, die Spieler der Hertha, angeführt von Helmut Schön. Zusätzlich hält in Berlin das Vertragsspieler-Statut Einzug und die Spieler können dem Fußball ganz offiziell als Beruf nachgehen. Gute Voraussetzungen für Trainer Schön und seine Mannschaft.

„Hertha BSC und der Dresdner SC schrieben, jeder für sich und zu verschiedenen Zeiten, ein Stück deutscher Fußballgeschichte. Die besondere Konstellation im zerrissenen Nachkriegsdeutschland hat sie zusammengeführt, und so ist es als ein Akt der gegenseitigen Achtung zu bezeichnen, daß auch auf den Jerseys der Spieler jetzt beide Vereinswappen prangen.“

Fußballwoche

Doch die Zusammenarbeit ist wenig erfolgreich. In einem Testspiel führen die Dresdner ihre neuen Berliner Mitspieler vor und Trainer Schön stellt lieber seine alten Kumpane auf. Es wird schnell klar, dass die Sachsen die Mannschaft dominieren und die Chemie zwischen den Spielern nicht stimmt. Die Saison 1950/51 beendet Hertha in der Stadtliga mit 14 Teams auf dem dritten Platz. Tennis Borussia Berlin sichert sich mit großem Abstand die Stadtmeisterschaft. Der Trainer Schön hat Probleme aus einer Spielergruppe mit großem Potential eine funktionierende Mannschaft zu formen. Der Spieler schön plagt sich mit Verletzungen herum, bestreitet nur drei Spiele und hängt die Fußballschuhe endgültig an den Nagel. Das Engagement bei der Hertha ist eine Enttäuschung.

Über Wiesbaden ins Saarland

Das Angebot des SV Wiesbaden kommt ihm da gerade recht. Sportlich gesehen ist der Trainerposten, den er in Hessen übernimmt, ein Rückschritt. Hertha trat in der höchsten Spielklasse an, der SV Wiesbaden in der zweitklassigen 2. Oberliga Süd. Aus dieser Zeit ist wenig über das Wirken Schöns bekannt. Wiesbaden beendet die Saison 1951/52 im Mittelfeld der Tabelle. Persönlich entpuppt sich der Wechsel für Schön aber als Glücksgriff. In Wiesbaden wird er sesshaft und lebt dort bis zu seinem Lebensende.

1952 hat Schön zwei Angebote vorliegen zwischen denen er sich entscheiden muss. Der 1. FC Köln will ihn als Trainer verpflichten. Spielertrainer Hennes Weisweiler verließ die Kölner und man suchte Ersatz. Der FC hatte sich Anfang der 50er-Jahre in der Oberliga West etabliert, spielte oben mit und sollte sich 1954 die Westdeutsche Meisterschaft sichern. Das zweite Angebot war das des saarländischen Fußballverbands (SFB). Das Saarland war zu diesem Zeitpunkt nicht Bestandteil der Bundesrepublik und hatte sich um eine Aufnahme in die FIFA bemüht, die dem SFB noch vor dem DFB gelang. Der SFB war damit berechtigt, an der Qualifikation zur WM 1954 teilzunehmen – die wichtigste Aufgabe, die auf Helmut Schön zukommen würde.

Schön muss sich entscheiden – zwischen der WM-Quali mit einem Underdog und dem Trainerposten bei einem ambitionierten Oberligisten. Schön unterschreibt beim SFB, was wohl auch damit zusammenhängt, dass ihm die Rolle als Trainer einer Auswahlmannschaft deutlich lieber war als ein Trainerposten im Ligabetrieb. Das erste Länderspiel unter seiner Leitung findet im November 1952 statt. Bis zum Beginn der Qualifikationsspiele setzt Schön eine Reihe von Testspielen gegen B-Mannschaften an. Seine Spieler rekrutiert er zum überwiegenden Teil vom relativ erfolgreich spielenden 1. FC Saarbrücken. Die in der Oberliga Südwest mitspielenden Saarbrücker schafften 1952 gar den Sprung ins Finale um die deutsche Meisterschaft. Trotz einer eingespielten Truppe und umfassender Vorbereitung – das Saarland geht als krasser Außenseiter in die Quali-Spiele – dort muss sich Schöns Auswahl just mit der BRD und Norwegen messen.

Seiner Mannschaft gelingt ein Achtungserfolg: in Norwegen siegt das Saarland überraschend nach 0:2 Rückstand und die Spiele gegen die BRD können verhältnismäßig ausgeglichen gestaltet werden, was der Saar-Auswahl viele Respektsbekundungen in der deutschen Presse einbringt. Die Stimmung zwischen DFB- und SFB-Auswahl ist gut. Der DFB lädt die Saarländer zur WM 1954 ein und so gehören Spieler und Trainer des SFB zu den ersten Gratulanten nach dem errungenen WM-Titel.

„Lieber Herr Herberger, da das Saarland nun keine Möglichkeit mehr hat, in der Schweiz Weltmeister zu werden, schaffen sie es doch bitte mit der deutschen Nationalmannschaft!“

Helmut Schön auf dem Bankett nach dem Quali-Rückspiel zwischen DFB und SFB

Das enge Verhältnis zwischen Sepp Herberger und Helmut Schön sollte natürlich auch eine Rolle bei seinem nächsten Posten spielen – 1956 sucht Sepp Herberger einen Assistenztrainer – und lotst Helmut Schön zum DFB.

 


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Bildnachweis:

  • Helmut Schön 1946 Reichenberg Friedrichstadt, By Harry Gorbe, Radebeul (Fotografie) [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons
  • Muller, Beckenbauer en trainer Schon 1974, By Verhoeff, Bert / Anefo [CC BY-SA 3.0 nl (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)], via Wikimedia Commons

 

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https://120minuten.github.io/helmut-schoens-flucht-nach-vorn/feed/ 0 3594
Bekämpft der DFB die Meinungsfreiheit? https://120minuten.github.io/bekaempft-der-dfb-die-meinungsfreiheit/ https://120minuten.github.io/bekaempft-der-dfb-die-meinungsfreiheit/#comments Wed, 17 May 2017 07:00:32 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3361 Weiterlesen]]> Gesänge, Blockfahnen, Spruchbänder und Doppelhalter – seit jeher gehören diese und noch einige weitere Utensilien fest zur Fankultur in deutschen Stadien. Meist kreativ, manchmal daneben, häufig lustig, eigentlich immer auf den Punkt, mitunter aber auch recht deutlich unter der Gürtellinie, werden sie nicht nur als Stilmittel zur Unterstützung der eigenen Mannschaft, sondern auch als Ausdrucksform der aktiven Fanszene gegenüber sportlichen Gegnern, dem eigenen Verein oder dem Deutschen Fußball-Bund genutzt. Immer häufiger werden allerdings die Medienberichte davon bestimmt, dass der DFB eben diese Form der Meinungsäußerung mit Geldstrafen sanktioniert. Von “Schmähgesängen” ist dann die Rede, oder von Diffamierung und unsportlichem Verhalten, sodass sich dem geneigten Beobachter durchaus die Frage aufdrängen kann, wie es eigentlich so bestellt ist mit der Meinungsfreiheit im Stadion. Ein Debattenbeitrag.

(Hinweis: Ergänzend zum Text finden sich am Ende der Seite Auszüge aus der Rechts- und Verfahrensordnung des Deutschen Fußball-Bundes sowie ein Interview mit Dr. Andreas Hüttl, einem Anwalt für Strafrecht aus Hannover)

Autor: Lennart Birth, 120minuten

“Fans im Visier” / SurfGuard via Flickr | CC-BY-NC-SA 2.0

Der Besuch eines Fußballspiels gehört für tausende Deutsche zu einem normalen Wochenende dazu. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten pilgern regelmäßig in die Stadien; soziale Disparitäten, Sorgen und Nöte sind für die Dauer des Spiels vergessen, der Fußball als Volkssport Nummer eins verbindet uns nachhaltig. Der gemeine Fan fährt zu Heimspielen, lässt sich mit der Familie auf der Gegengerade nieder und verbindet den Besuch im Stadion vielleicht noch mit einem gemeinsamen Mittagessen an der Bratwurstbude. Der „Allesfahrer“ ist jedes Wochenende auf Achse, reist quer durch die Republik seiner Mannschaft und den eigenen Farben hinterher. Er scheut weder Strecke noch Wetter und versucht, so viele Spiele wie möglich live in einer glänzenden Arena oder einem kultigen und zugigen Stadion mitzuerleben. Der betagte Fan schwelgt derweil in Erinnerungen und nimmt kein Blatt vor den Mund, er hat viel erlebt und weiß viel zu erzählen. Und zuletzt der Ultra, er lebt und liebt seinen Verein und investiert Stunden an ehrenamtlicher Arbeit, um den Verein und die Fanszene voranzubringen. Auch er scheut es nicht, den Mund aufzumachen und teilt gegen Gegner, Vorstände, andere Fans oder die Verbände aus.

Auf den ersten Blick könnten die Charaktere, die hier grob gezeichnet wurden, unterschiedlicher nicht sein, wenn man mal von dem offensichtlichen Aspekt absieht, dass es sich bei jeder der stereotypisierten Persönlichkeiten um einen Fußballfan handelt. Eine bedeutende Sache sollte man in der Betrachtung dieser Menschen jedoch nicht außer Acht lassen, zwei große Gemeinsamkeiten weisen alle auf, auch wenn diese im ersten Moment nicht sofort ersichtlich scheinen:

  1. Eine Stimme, im Sinne der Möglichkeit und Fähigkeit, sich verbal im Stadion zu äußern und zu kritisieren, zu loben oder zu appellieren und sich somit lautstark oder leise in das Geschehen neben dem Fußballplatz einzumischen und mit anderen Stadionbesuchern zu interagieren und zu kommunizieren.
  2. Eine freie Meinung, die laut Artikel fünf unseres Grundgesetzes jedem zusteht und die man jederzeit kundtun kann, ohne Konsequenzen für Leib und Leben fürchten zu müssen.

Artikel 5 (1) GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“

Der Stadionbesucher oder auch die Stadionbesucherin, egal, welcher der oben angeführten Kategorien nun angehörig, hat das Recht, rund um das Geschehen auf dem Platz die eigene Meinung zu äußern und diese verbal oder schriftlich, zum Beispiel in Form eines Banners oder Spruchbandes, zu kommunizieren. In der Theorie hat er oder sie keine Konsequenzen zu befürchten; das Gesagte, Gerufene oder Geschimpfte bleibt nach Abpfiff im sich leerenden Rund zurück. Die üble Beleidigung, die vor wenigen Minuten noch Gegenspieler oder Schiedsrichter zugerufen wurde, ist schnell vergessen.

Und in der Praxis? Da ist das alles nicht ganz so einfach, denn das Recht eines jeden Fans auf freie Meinungsäußerung besteht zwar faktisch, nur leider nicht, ohne dass diese von einer Instanz kontrolliert und eingeschränkt wird. Die Rede ist vom Deutschen Fußball-Bund (DFB), der in den letzten Jahren zu wachsender Besorgnis von Fans, Fangruppen und Fanhilfen systematisch damit begonnen hat, ebenjenes eigentlich unveräußerliche Grundrecht im Stadion massiv einzuschränken. Der Trend geht hin zur absoluten Kontrolle, zur Abschaffung des Meinungspluralismus rund um den Ballsport und zu einem Fußballereignis, in dem aneckende Kritik immer mehr an Einfluss zu verlieren droht.

„Ein düsteres Bild“, mag sich der Leser dieser Zeilen jetzt denken und dabei den Verdacht äußern, der Autor nähere sich der Problematik auf einer einseitigen und sturen Ebene mit einer festgesetzten Haltung, die weder von Vernunft noch Verstand beeinflussbar ist. Doch so ist es nicht, ich versuche, mich dem Thema so differenziert wie möglich zu nähern und dabei eine kontroverse Debatte anzustoßen, die Fans und Funktionäre gleichermaßen anregen soll, das Geschehen in den deutschen Stadien kritisch zu hinterfragen und hinter die Kulissen zu schauen. Die Frage, die sich durch diesen Debattenbeitrag ziehen soll: Wie ist es um unsere Meinungsfreiheit im Stadion bestellt?

Beginnen sollte man etwas theoretisch, denn erst einmal sollte sich der Leser im Klaren darüber sein, was denn unter einer Meinungsäußerung rund um ein Spiel zu verstehen ist und welche Akteure dabei eine wichtige Rolle spielen. Es gibt eine Vielzahl an Wegen, seine Haltung zu einem bestimmten Thema, ob nun sportlich, gesellschaftlich oder politisch, im Stadion kundzutun.

Die wohl offensichtlichste dieser sich bietenden Möglichkeiten ist der Gesang.
In verschiedenen Liedern, Hymnen oder anderen fußballspezifischen Textmelodien können einzelne Fans oder ganze Fangruppen ein lautstarkes Sprachrohr nutzen, um ihre Meinung mit den anderen Besuchern im Stadion, Spielern, aber auch den Menschen an den Fernsehern zu teilen. Der wohl üblichste Fangesang ist dieser, in dem die eigene Mannschaft vorangetrieben und motiviert wird, um einen positiven Einfluss auf das Spielgeschehen zu nehmen. Er ist durch keinerlei Zensur gekennzeichnet und soll deswegen einmal außen vor gelassen werden. Problematischer wird es, wenn der verbale Ausdruck dazu genutzt wird, andere zu beleidigen oder zu attackieren. Gegenspieler oder gegnerische Fans, jeder bekommt im Stadion wohl mal sein Fett weg und manche dieser Schmähgesänge sind einfach nur trauriges Indiz dafür, wie ignorant und intolerant einige Fußballfans teilweise auftreten. Klar ist, dass insbesondere geschmacklose Schmähgesänge, in denen gezielt Minderheiten diffamiert werden („Jude“, „Zigeuner“), nichts auf den Traversen unserer Fußballstadien zu suchen haben, denn mit unserer Meinungsfreiheit sind diese Hassbotschaften garantiert nicht vereinbar. Regelmäßig werden jedoch auch Gesänge im Stadion durch den Deutschen Fußball-Bund bestraft, die fälschlich in diese Kategorie eingeordnet werden. Hierbei verbietet sich jedoch nicht, die Verbandsurteile kritisch zu hinterfragen: Begriffe wie „Arschloch“ oder „blinde Sau“ fallen keinesfalls in das Subgenre Schmähkritik und sind wohl in Anbetracht der oft erhitzten Gemüter auf Platz und Rang irgendwie verständlich und entschuldbar. Trotzdem werden sie immer wieder mit vorher genannten Schmähungen gleichgesetzt. Ist dies sinnvoll? Nein, denn es muss klar zwischen offenem Antisemitismus, offener Islamfeindlichkeit oder jeder anderen Form der rassistischen Äußerung und den anderen Gesängen unterschieden werden. Diese mögen teilweise sicherlich den einen oder anderen verbal provozieren, sind jedoch keinesfalls mit Hasstexten gleichzusetzen. Für solche Liedtext-Einordnungen ist Weitsicht notwendig, die leider nicht immer vom Deutschen Fußball-Bund an den Tag gelegt wird.

Der 1. FC Köln, bekannt für seine lautstarken und kreativen Fans, musste 2017 diese leidliche Erfahrung machen. Die kritische Auseinandersetzung mit Dietmar Hopp, Mäzen der TSG 1899 Hoffenheim, sorgte bei dem Verein aus Sinsheim für Entrüstung, eine DFB-Strafe droht. Die Kölner Fans haben schon eine Weile vorher die Konsequenzen „beleidigender Gesänge“ erfahren müssen und befürchten nun, dass sich die Sanktionierung dieser Fälle in Zukunft häufen wird. Damals ließ die Reaktion aus dem DFB-Hauptquartier nicht lange auf sich warten, ein Vorfall wurde zusammen mit anderen Vergehen satt bestraft, eine Rechnung in Höhe von 34.000€ flatterte in den Kölner Briefkasten. Auffällig dabei ist, wie fehlende Transparenz von Seiten des DFB dafür sorgt, dass man keine genauen Aussagen dazu treffen kann, mit welchem Anteil am gesamten Strafgeld „beleidigenden Gesänge“ zu Buche schlagen. Dass der DFB enormen Druck auf die Vereine auszuüben scheint, die sich lieber von den eigenen Fans distanzieren, um etwaige Strafen abzumildern, anstatt sich ebenfalls kritisch mit Problemen auseinanderzusetzen, ist auch ein erheblicher Faktor für das sorgenvolle Stirnrunzeln bei den Anhängern des Clubs vom Rhein. Mittlerweile fordert der Verein sogar, dass sich Verantwortliche für Choreografien melden müssen und bei DFB-Strafen die Haftung übernehmen.

„Wie solche Urteile zustande kommen, lässt sich dabei nur erahnen. Es gibt weder eine transparente Definition, welche konkreten Tatbestände zu einer Sanktionierung führen noch wonach sich die Höhe der Strafe bemisst. Dass die Akzeptanz eines solchen Urteils dazu dient, einer Verurteilung in anderen Sachverhalten zu entgehen, kann nur noch als Klüngelei bezeichnet werden. Wäre die Tatsache allein, dass beleidigende Gesänge oder Spruchbänder durch eine Instanz wie den DFB bestraft werden, nicht schon absurd genug, spätestens der Prozess der Sanktionierung ist inakzeptabel. Es werden in diesem Zusammenhang weder gefährliche oder sachbeschädigende Aktionen, sondern Inhalte sanktioniert. In anderen Fällen wurden Vereine bereits für Doppelhalter („Scheiss Red Bull“ [Chemnitzer FC, Anmerkung der Redaktion]) oder Spruchbänder („Alles aus Frankfurt ist scheiße“) ihrer Fans zu Strafen verurteilt. Der DFB versucht auf diese Weise, die Meinungsfreiheit der Zuschauer im Stadien massiv einzuschränken. […] Diesen Versuchen der Zensur muss entschieden entgegen getreten werden. Deutlich zeigt sich auch, dass es bei den Urteilen schon lange nicht mehr um die Sicherheit in den Stadien geht.“

Südkurve Köln e.V. in einer Stellungnahme

 

Auch andere Vereine wurden schon für das vage definierte Vergehen des „beleidigenden Gesanges“ zur Kasse gebeten. Oft werden die Gesänge im gleichen Zusammenhang mit anderen Vorfällen sanktioniert. Eine DFB-Strafe zum Thema Meinungsäußerung summiert sich somit meistens mit weiteren Vergehen, wie der Nutzung von Pyrotechnik – Fans und Medien ist es folglich kaum möglich, den Durchblick zu behalten, was genau mit wie viel Euro bestraft wurde.

Zudem stimmten Hannoveraner Zuschauer mehrmals beleidigende Gesänge an.“

DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 48.000€ Strafgeld für Hannover 96

Darüber hinaus skandierten Dortmunder Zuschauer während des Bundesligaspiels bei der TSG 1899 Hoffenheim am 16. Dezember 2016 mehrmals Schmähgesänge.“

DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 100.000€ Strafgeld und der Sperrung der Südtribüne für Borussia Dortmund

 

Eine weitere Kategorie des Gesanges ist besonders in der Ultrabewegung sehr beliebt und erfreut sich einer regelmäßigen Verwendung: gesungene Kritik gegenüber den meist verhassten Fußballverbänden und ihren Funktionären. „Schweine-DFB“ oder auch „Schieber“ hallt es regelmäßig durch die Kurven der Republik, kritisiert werden Strafen gegenüber dem Verein oder auch strittige Entscheidungen des vom Verband eingesetzten Schiedsrichtergespanns. Wie ist mit solcher verbalen Kritik umzugehen? Sie fällt eindeutig in den Bereich der Meinungsfreiheit, sofern auf eine konstruktive Art und Weise geäußert, und ist meist nicht gegen einzelne Personen, sondern eher das große Ganze, also den Verband und seinen Funktionärsapparat gerichtet und kann somit in der Regel nicht als Angriff auf einzelne Personen verstanden werden. Trotzdem lässt es sich hier in Deutschland insbesondere der DFB nicht nehmen, kritische Töne gegen die eigene Institution zu sanktionieren und dabei das Recht der freien Meinungsäußerung einzuschränken.

Anti-DFB-Aufkleber: Kritik oder Schmähung?

Würde man dieses fragwürdige Rechtssystem auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen, würden wohl bei vielen Journalisten hohe Abmahnungen wegen angeblicher Diffamierung der Staatsgewalten in die Postkästen flattern, denn Kritik wäre unerwünscht. In einer Demokratie unvorstellbar, im Fußball für Fans und Vereine jedoch traurige Realität. Womit wir schon beim nächsten Punkt angelangt wären, denn Kritik wird im Stadion nicht nur verbal geäußert, sondern häufig auch in schriftlicher Form geübt. Besonders Banner und Spruchbänder sind ein beliebtes Mittel, um sich gegenüber gegnerischen Vereinen, Fans oder den Verbänden zu positionieren. Darüber hinaus nutzen viele Fanszenen den schriftlichen Weg, um Kritik in einem konstruktiven und sachlichen Maß anzubringen und versuchen dabei, Debatten über bestimmte Probleme anzustoßen.

Ein gutes Beispiel liefert der 1. FC Magdeburg. Nach einer hohen Strafe von 40.000€ für verschiedene Vergehen reagierten Teile der Fanszene des Drittligisten und zeigten am 13.02.2016 eine Reihe von Spruchbändern, die das Strafmaß und den Umgang des DFB mit Fanszenen kritisierten.

Magdeburger Fans kritisieren den DFB: “Summe: 40 000 € – Verwendungszweck: Sommermärchen 2006 / DFB – wenn Korrupte über andere urteilen! / DFB-Sportgericht – ein Fall für die Justiz“
Bild: @olliMD

Die Fans legten dabei den Finger in eine Wunde. Der DFB stand zum damaligen Zeitpunkt selbst wegen der WM-Vergabe in der Kritik und hatte mit negativen Schlagzeilen zu kämpfen. Trotzdem nahm es sich der Verband nicht, über Fans zu urteilen und sich trotz des eigenen Fehlverhaltens zum gerechten Richter und Wahrer der Sportlichkeit zu stilisieren, Ergebnis bekannt. Doch anstatt es dabei zu belassen und die durchaus berechtigte Kritik zu akzeptieren, konnte es der Verband nicht lassen und musste unbedingt nachtreten, um es in einer gewissen Sportmetaphorik auszudrücken. In einem weiteren Urteil (4.000€) prangerte der DFB die Banner an und sanktionierte die geübte Kritik.

„Vor dem Meisterschaftsspiel gegen den SC Fortuna Köln am 13. Februar 2016 wurden im Magdeburger Zuschauerblock drei Banner mit verunglimpfenden Aufschriften gezeigt.“

DFB, Pressemitteilung zur Verhängung von 4.000€ Strafe für den 1. FC Magdeburg

 

Der Duden definiert den Begriff „verunglimpfen“ als „schmähen, beleidigen; mit Worten herabsetzen; diffamieren, verächtlich machen“, aber ist dies in obigem Beispiel tatsächlich gegeben? Nein, denn die Banner sind nicht beleidigend, sondern kritisieren lediglich die Verbandsgerichtsbarkeit des Deutschen Fußball-Bundes im Zusammenhang mit der WM-Vergabe 2006, die unter dubiosen Umständen erfolgt sein soll. Offensichtlich versucht der Verband, medienwirksame Kritik an der eigenen Institution zu bestrafen und einzuschränken. Ein Bruch mit der Meinungsfreiheit?

„[…] Mit welchem Recht will der DFB oder die DFL einem Klub untersagen, sich politisch zu äußern? Mit welchem Recht kann jemand sagen: Hier im Stadion dürfen bestimmte Plakate nicht aufgehängt werden? Es ist offensichtlich, dass dies nur aus Eigenschutz geschieht, um die wirtschaftliche Ausbeutung nicht zu gefährden. […]“

Ewald Lienen (Trainer des FC St. Pauli) gegenüber der FAZ

 

Im Frühjahr 2017 sorgte das Aufeinandertreffen von Borussia Dortmund und RasenBallsport Leipzig, einem Verein, der in wenigen Jahren dank Red Bull-Millionen in die Bundesliga katapultiert wurde, im Dortmunder „Signal Iduna Park“ für reichlich Gesprächs- und Zündstoff. Nachdem schon zahlreiche Fanszenen Kritik am Verein aus der Messestadt geübt hatten, trieben Dortmunder Anhänger auf der Südtribüne die Auseinandersetzung auf ein neues Niveau. Dutzende Spruchbänder dienten den Fans und Verfechtern des Traditionsfußballs dazu, ihre Kritik am Konstrukt aus Sachsen zu kanalisieren. Der Verband reagierte: neben einer hohen Geldstrafe von 100.000€ sperrte der Deutsche Fußball-Bund die Südtribüne für das folgende Ligaheimspiel und sprach somit eine Kollektivstrafe aus. Ein Urteil, das zeigt, wie sehr die Meinungsfreiheit im Stadion in Gefahr ist. In Anbetracht durchaus makabrer Statements (zum Beispiel „Burnout Ralle: Häng dich auf“) mag eine solche Konsequenz erst einmal plausibel und gerechtfertigt erscheinen und ja, einige der gezeigten Spruchbänder gingen eindeutig zu weit. Trotzdem möchte ich darauf verweisen, dass der DFB auch in diesem augenscheinlich klaren Fall die falschen Schlüsse gezogen hat. Statt es bei der Geldstrafe für Borussia Dortmund zu belassen, beschloss der Fußball-Bund, alle Fans, die auf der Südtribüne ihre Mannschaft unterstützten, unter Generalverdacht zu stellen. Ergebnis: die größte Stehplatztribüne Europas wurde in der Ligapartie gegen den VfL Wolfsburg geschlossen und somit eine Kollektivstrafe verhängt. Ein falsches Zeichen, das auch unbeteiligte Fans und harmlose Plakate zu Unrecht bestrafte (zum Beispiel „Geboren auf Vorstadtwiesen mit nem Traum, nicht aus Geldgier in nem Vorstandsraum“). Wieder also ein Schritt in die falsche Richtung und ein Akt der Verzweiflung ob der Machtlosigkeit gegenüber den kritischen Stimmen aus den Fanblöcken der Republik.

“Eine derartige Verunglimpfung und Diffamierung von einzelnen Personen und Vereinen durch Transparente und Schmähgesänge ist nicht hinnehmbar und muss konsequent sanktioniert werden. Dasselbe gilt auch für den Einsatz von Pyrotechnik. In beiden Punkten gab es gravierendes Fehlverhalten von Teilen der Dortmunder Zuschauer, das ein massiveres Eingreifen der DFB-Organe erfordert.”

Dr. Anton Nachreiner, Vorsitzender des DFB-Kontrollausschusses (Quelle: Focus Online)

 

Der Aussage von Seiten des DFB könnte man nun folgendes Zitat entgegen halten und dabei die freundliche Bitte anfügen, der Verband möchte doch erst einmal vor der eigenen Tür kehren, wie es so schön heißt, bevor derlei Pauschalverurteilungen getätigt werden.

„Ein Verband, der weder ein Interesse daran hat seine eigenen Verwicklungen in Schwarz- und Schmiergeldaffären aufzudecken, den Vorwürfen von Wettbetrug und Doping systematisch nachzugehen und ein mafiöses System wie das der FIFA mitträgt und unterstützt, schwingt sich zum Kläger und Richter über Fans und Vereine in Personalunion auf. Diesem Gebaren muss endlich Einhalt geboten sein. Das willkürliche Vorgehen der Verbandsfunktionäre schädigt diesen Sport nachhaltig.“

Südkurve Köln e.V. in einer Stellungnahme

 

Auch Braunschweiger Fans wurden für ein Transparent verurteilt, in dem sie RB Leipzig kritisierten. 3.000€ Strafe, die wohl auch bei der Polizei Braunschweig mit zufriedenem Nicken zur Kenntnis genommen wurden. „Scheiss Bullen“, so argumentierte man bei der Staatsgewalt zuvor, sei schließlich an die Beamten gerichtet; auch dass die Farbgebung des Banners eher an den Verein aus Leipzig erinnerte, wollte man nicht einsehen. Inwiefern diese verhältnismäßig harmlose Aussage nun Grenzen der Meinungsfreiheit überschritt, ist unklar und wird wohl auch immer unklar bleiben.

„Scheiss Bullen“ plakatierten BTSV-Fans gegen Aue
Bild: Braunschweig1895.de

Beispiele wie diese lassen sich schier endlos fortsetzen und zeigen: der DFB bemüht sich, aus dem Ereignis Fußballspiel ein bestmöglich zu vermarktendes Produkt zu schaffen. Alles, was dem sauberen Image des Volkssports schaden könnte, soll aus den Stadien verbannt werden. Schmähgesänge und Kritik am Verband oder seinen Entscheidungen gehören ebenso dazu, wie politische Statements von Fans. Weiterhin ist man in der Frankfurter Zentrale darum bemüht, die Kontrolle über die Stadionbesucher zu behalten, welche Missstände häufig in einem öffentlichkeitswirksamen Maß anzuprangern wissen. Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Reaktionen der Verbandsfunktionäre noch mit unserem Grundgesetz und dem darin verankerten Recht auf Meinungsfreiheit vereinbar sind. Ist es wirklich gerecht, den Vereinen Unsummen an Geld dafür abzuknöpfen, dass einige Fans den Mut besessen haben, den DFB anzuprangern? Ist es wirklich gerechtfertigt, für Beleidigungen Einzelner Kollektivstrafen auszusprechen? Oder steckt dahinter einfach der ökonomische Gedanke einer zuverlässigen und nie versiegenden Geldquelle? Die letzte Frage muss der Leser wohl für sich selbst beantworten.

Was bleibt, ist die Sorge, dass diese Kontrolle und Einschränkungen in den kommenden Jahren weiter wachsen und die freie Meinungsäußerung im Stadion stetig eingeengt werden wird. Ein Erfolgsrezept gegen diese Entwicklungen ist schwer zu liefern, doch eines sollten Fans aller Vereine tun: weitermachen. Weiter kritisieren, weiter anecken und weiter den Finger in die Wunde legen. Denn nur so bleibt uns der Meinungspluralismus im Stadion auf Dauer erhalten. Und das ist etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Rechtliche Grundlagen der Verbandsjustiz

„Verbandsgerichtsbarkeit ist die den Verbänden eingeräumte Möglichkeit, Verstöße ihrer Mitglieder oder Vertragspartner gegen Verbandsrecht zu ahnden und über verbandsinterne Streitigkeiten zu entscheiden. Sie beruht auf der Selbstverwaltungsautonomie der Vereine und Verbände.“ –DFB

Auszüge aus der Rechts- und Verfahrensordnung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB)

§ 9a Verantwortung der Vereine

  1.  Vereine und Tochtergesellschaften sind für das Verhalten ihrer Spieler, Offiziellen, Mitarbeiter, Erfüllungsgehilfen, Mitglieder, Anhänger, Zuschauer und weiterer Personen, die im Auftrag des Vereins eine Funktion während des Spiels ausüben, verantwortlich.
  2. Der gastgebende Verein und der Gastverein bzw. ihre Tochtergesellschaften haften im Stadionbereich vor, während und nach dem Spiel für Zwischenfälle jeglicher Art.

§ 34 Verwendung der Geldstrafen

Die verhängten Geldstrafen werden für gemeinnützige Zwecke des DFB oder seiner Mitgliedsverbände verwendet.

§ 37 Kosten

  1. Die Kosten eines Verfahrens trägt in der Regel die bestrafte oder unterliegende Partei.

Der DFB hat als Verband das Recht, über die Vereine (Mitglieder der Mitgliedsverbände) zu urteilen und Strafen zu verhängen. Zwei Rechtsinstanzen (Sportgericht und Bundesgericht) werden im Falle von Verstößen gegen das Verbandsrecht eingesetzt, der sogenannte DFB-Kontrollausschuss übernimmt eine staatsanwaltschaftliche Funktion. Ein neutrales Schiedsgericht kann die Rechtmäßigkeit von Verbandsentscheidungen überprüfen. Zwar können die Vereine gegen Urteile Berufung einlegen, jedoch ist dies immer mit juristischem Aufwand und finanziellen Aufwendungen verbunden. Kurzum: für die Vereine ist es manchmal billiger, Strafen zu akzeptieren, als sie vor dem Bundesgericht des DFB anzufechten.

Durch die sogenannte „verschuldensunabhängige Haftung“ (fixiert in § 9 der Rechts- und Verfahrensordnung) werden Vereine vom DFB zur Kasse gebeten und haften somit für das Verhalten der eigenen Anhänger und Stadionbesucher. Das heißt im Klartext, dass eine Meinungsäußerung von Fans im Stadion dazu führen kann, dass der DFB den betreffenden Verein mit einer Geldstrafe oder anderen Sanktion konfrontiert, auch wenn dieser wenig bis keinen Einfluss auf Äußerungen der Stadionbesucher hat. Diese Regelung wird umso problematischer, wenn Vereine entscheiden, die Strafen auf einzelne „Täter“ umzulegen und sich somit selbst zu entlasten. Ein Urteil des Bundesgerichtshof (BGH) eröffnet Vereinen seit 2016 diese Möglichkeit der Strafumwälzung. Mittlerweile wird diese immer häufiger genutzt, viele Clubs wollen durch Regressforderungen an überführte Täter die eigenen Verluste durch Strafen des Verbandes kompensieren oder sogar egalisieren. Immense Strafsummen des DFB werden dabei auf Einzeltäter abgerollt und leider die mangelnde Verhältnismäßigkeit völlig außer Acht gelassen.

„Der DFB hat keinen transparenten Sanktionskatalog. Wäre man gemein, könnte man sagen, er würfelt die [Strafen] aus. Das Strafmaß des DFB reicht von wenigen hundert Euro bis zu hohen fünfstelligen Beträgen.“ – Matthias Düllberg (Fachanwalt für Strafrecht) gegenüber ZEIT Online

Interview mit Dr. Andreas Hüttl, Anwalt für Fanrecht

Dr. Andreas Hüttl, Bild: @Dr_Huettl

Lennart Birth (LB): Herr Dr. Hüttl, als Strafverteidiger in Hannover befassen Sie sich unter anderem mit Fanrecht und unterstützen Fußballfans in rechtlichen Fragen. Hatten Sie je einen Fall, in dem ein Fan beziehungsweise eine Fanhilfe gegen den Deutschen Fußball-Bund vorgegangen ist, weil es unterschiedliche Auffassungen von Meinungsfreiheit im Stadion gab?

Dr. Andreas Hüttl (AH): Ein direktes Vorgehen eines Fans gegen den DFB im eigentlichen Sinne kann es gar nicht geben. Die Vereine, oder besser die Spielbetriebsveranstalter, unterwerfen sich im Lizensierungsverfahren der Sportgerichtsbarkeit des DFB. Die DFB-Urteile treffen daher zunächst alleine die Spielbetriebsveranstalter. Der DFB kann durch die Sportgerichtsbarkeit nur Sanktionen gegen diese verhängen. Die Spielbetriebsveranstalter können dann versuchen, die Strafen (evtl. wegen beleidigenden Tapeten oder nun neu, wegen beleidigenden Gesängen (sogenannten Schmähgesängen)) an die „Verursacher“, also die Fans, weiterzuleiten. Ich hatte aber bereits Verfahren zwischen Fans und Spielbetriebsveranstaltern, in denen es um die Genehmigung von Choreografien ging und man auch unterschiedlicher Meinung war, ob der Inhalt der Choreos noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, oder eben ehrverletzenden Charakter hat. Auch Stadionverbote wegen solcher Streitigkeiten habe ich bereits bearbeitet.

LB: Wie beurteilen Sie, dass der DFB verbandsrechtlich Schritte gegen Fußballvereine und deren Fans einleiten kann, die durch Ihre Meinungsäußerung im Stadion Kritik am Verband geäußert haben? Sind hohe Geldstrafen für vermeintliche Verunglimpfung des DFB oder beleidigende Gesänge wirklich gerechtfertigt?

AH: Dass der DFB im Zuge der Sportgerichtsbarkeit eine „eigene Justiz“ aufgebaut hat und nutzt, ist im Grundsatz nicht zu kritisieren. Man stelle sich vor, dass sämtliche Streitigkeiten (z.B. wie lang die Sperre für eine rote Karte sein soll) vor den ordentlichen Gerichten ausgetragen würden. Das wäre natürlich unsinnig. Die Sportgerichtsbarkeit ist Ausfluss der grundgesetzlich verankerten Vereinigungsfreiheit. Das heißt, jeder Verein kann sich seine Regeln selbst schaffen und nach eigenem Gutdünken richten. Wer sich dem nicht unterwerfen will, muss ja nicht mitmachen. Kritisch wird es jedoch, wenn die dort ausgesprochen Strafen an Dritte, die Fans/Verursacher weitergereicht werden dürfen. Wie gesagt, gegen die Fans selbst hat der DFB keine Möglichkeit, denn so weit reicht seine Strafgewalt nicht. Man kann zwar manchmal diesen Eindruck bekommen, zum Beispiel, wenn es heißt, die Sperrung der Südtribüne in Dortmund sei ausgesprochen worden, weil etwas vor dem Stadion passiert sei, das ist aber einfach eine falsche Darstellung in den Medien. Und natürlich sind solch hohe Strafen wegen „Verunglimpfung“ nicht gerechtfertigt. Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Bahnhof von Magdeburg und halten ein Transparent „Scheiß DFB“ oder „DFB – Mafia“ in die Höhe. Wenn es da überhaupt ein Verfahren wegen Beleidigung geben würde, wäre es eine Strafe von nicht mal 500,- €. Nun halten Sie dieses Transparent im Stadion und sollen auf einmal 10.000,- € dafür als Strafe zahlen. Absurd.

LB: Wie beurteilen Sie gegen Fans ausgesprochene Kollektivstrafen in Anbetracht der häufig geringen Täterzahl? Sehen Sie Tendenzen, dass in den letzten Jahren Kollektivstrafen (Zuschauerteilausschlüsse, Geisterspiele) vermehrt vom DFB ausgesprochen wurden?

AH: Die Tendenz, die Repressionsschraube immer fester und schneller zu drehen, ist offensichtlich. Natürlich kann man feststellen, dass die Strafen immer höher und umfassender werden. Auch, dass die Anlässe für Strafen immer niederschwelliger angesetzt werden. Was gestern noch toleriert wurde, wird heute bestraft. Was gestern noch 1.000,- € gekostet hat, bringt heute eine Blocksperre. Dass dann die weitaus erheblichere Anzahl von Fans, die keine Verfehlung begangen haben (wie die ca. 29.600 friedlichen Zuschauer auf der Südtribüne in Dortmund) für den Unsinn einiger mitbestraft werden, kann nur für Kopfschütteln sorgen.

LB: Wo sehen Sie eine Grenze der freien Meinungsäußerung im Stadion? Wie weit dürfen Kritik und Schmähungen Ihrer Ansicht nach gehen, um noch unter den Deckmantel der Meinungsfreiheit zu fallen?

AH: Wir müssen zunächst realisieren, dass es sich bei einem Fußballspiel um eine hoch emotionale Angelegenheit handelt. Das ist so und wird von den Verbänden und Spielbetriebsveranstaltern ja auch so initiiert und gewollt. Gleichwohl ist sicher nicht alles zu tolerieren, was man sich als Beleidigung vorstellen kann. Grundsätzlich ist die Meinungsfreiheit ein herausragendes Gut in unserer Rechtsordnung. Diese findet ihre Schranken alleine in den Rechten anderer. Der Schutz geht also sehr weit. Im Zusammenhang mit Fußball sei auf das kürzlich ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu „ACAB“ hingewiesen. Dies sei freie Meinungsäußerung, wurde geurteilt. Und dann gibt es immer noch das sogenannte „sozialadäquate Verhalten“. Was heißt das? Nun ja, wenn bei Altweiberfastnacht eine Dame meinen Schlips abschneidet, ist das eigentlich ein Raub mit Waffen, Mindeststrafe drei Jahre. Das wird natürlich nicht so verfolgt, weil es ein „sozialadäquates Verhalten“ ist, als etwas, was die Rechtsordnung toleriert. Oder das „Stehlen“ eines Maibaumes. Eindeutig ein Diebstahl, aber eben auch „sozialadäquates Verhalten“, also nicht zu bestrafen. Wie ist es nun, wenn im Stadion von Hannover 96 „Tod und Hass dem BTSV“ gesungen wird oder auf einem Banner steht? Ich meine, das muss man tolerieren. Das „sozialadäquate Verhalten“ ist aber eben auslegungsbedürftig. Es kommt darauf an, welches Handeln ein Richter darunter fasst.

LB: Fanvertreter kritisieren häufig, dass die Strafen willkürlich seien, Ihr Kollege Matthias Düllberg sprach gegenüber der ZEIT sogar von ausgewürfelten Strafen. Wie schätzen Sie die Transparenz des DFB im Zusammenhang mit der Höhe von Strafgeldern für Vereine ein, deren Fans durch ein Fehlverhalten aufgefallen sind?

AH: Es gibt keine Transparenz bei den Strafen. Auswürfeln trifft es ganz gut.

LB: Artikel 5 (1) GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“ Wieso darf der Deutsche Fußball-Bund trotz Artikel 5 unseres Grundgesetzes Strafen für kritische Äußerungen oder unsportliche Beleidigungen verhängen, sehen Sie einen Konflikt mit der deutschen Rechtsprechung?

AH: Der DFB kann nach seinem Strafsystem alles bestrafen, was er für sanktionswürdig hält. Problematisch wird es erst dann, wenn diese Strafen weitergegeben werden können. Dass dies grundsätzlich so möglich ist, hat der Bundesgerichtshof erst kürzlich in dem Kölner Fall bejaht. Ob dieses Urteil entsprechend ausgefallen wäre, wenn es nicht um einen Böllerwurf mit tatsächlich Verletzten, sondern um einen Schmähgesang gegangen wäre, kann man bezweifeln.

LB: Welche Möglichkeiten können Vereine nutzen, die aufgrund von Äußerungen ihrer Fans während des Spiels Strafen durch den DFB erhalten haben? Wäre es möglich, Prozesse aus der Verbandsgerichtsbarkeit auszulagern und vor einem ordentlichen Gericht auszutragen?

AH: Nach den Verfahren „Pechstein“ und „SV Wilhelmshaven“ muss man wohl anerkennen, dass auch nach Abschluss der Sportgerichtsverfahren in den dortigen Instanzen, der Weg zu den ordentlichen Gerichten gegeben ist. Ich bezweifele aber, dass es alsbald dazu kommen wird. Keiner will der Erste sein, der dies so durchführt. Die „Rache des DFB“ würde sicher zu einem Ausschluss führen.

LB: Was können Fans und Vereine in Zukunft tun, um Strafen des DFB für Kritik vorzubeugen?

AH: Ins Stadion gehen, hinsetzen, nichts sagen. Entschuldigen Sie meinen Sarkasmus.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

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Bildrechte

Sämtliche Rechte an den Fotografien liegen bei den angeführten Bildrechteinhabern.
Die Verwendung der im Text eingebauten Bilder geschah mit ausdrücklicher Genehmigung der betreffenden Personen bzw. Institutionen, wofür wir uns herzlich bedanken möchten!

Beitragsbild: “Fans im Visier” / SurfGuard via Flickr | CC-BY-NC-SA 2.0

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