England – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Mon, 04 Nov 2019 14:15:46 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Auf den Spuren der englischen Fußball-Memorialkultur – Impressionen aus London https://120minuten.github.io/auf-den-spuren-der-englischen-fussball-memorialkultur-impressionen-aus-london/ https://120minuten.github.io/auf-den-spuren-der-englischen-fussball-memorialkultur-impressionen-aus-london/#respond Wed, 02 Oct 2019 07:00:20 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6550 Weiterlesen]]> London 2019. Ich war unterwegs in die englische Hauptstadt, um erste Einblicke in die dortige Memorialkultur im Fußball zu sammeln. Meine Recherche im Vorfeld hatte ergeben, dass man bei Queens Park Rangers Asche von verstorbenen Fans im Stadion begraben kann. Eine besondere Möglichkeit für Anhänger*innen, auch über den Tod hinaus ihrem Herzensverein ganz nahe zu sein. Wie genau eine Begräbniszeremonie im Stadion von QPR aussieht, wollte mir der langjährige Clubpfarrer erzählen. Gespannt machte ich mich auf den Weg nach London, wo mir nicht nur an der Loftus Road interessante Elemente der englischen Erinnerungskultur begegneten.

Das Kiyan Prince Foundation Stadium der Queens Park Rangers ( (c) Carmen Mayer)

von Carmen Mayer (trauerundfussball.de) | Oktober 2019

Es war ein kühler, sonniger Tag im April, als ich am Flughafen London-Heathrow landete. Ich war gerade noch dem Brexit entkommen, der eigentlich am Tag meiner Reise hätte beginnen sollen und dann doch noch mal mindestens bis Oktober verschoben worden war. Meine erste Station führte mich in ein Pub in Notting Hill zum Spiel Liverpool gegen Chelsea. Es war der Tag, bevor sich die Hillsborough-Katastrophe zum 30. Mal jährte. Vor der Partie gab es eine beeindruckende Choreographie in Anfield in Erinnerung an die 96 Menschen, die im Stadion ihr Leben verloren hatten. Es war sehr bewegend, als die Bilder der Choreographie auf der Großbildleinwand im Pub übertragen wurden.

Die Kneipe war voll und fest in der Hand der LFC-Fans. Ganz vorne saß neben einem glühenden Anhänger der Reds dessen Hund und starrte wie sein Herrchen gebannt auf die Leinwand. Neben mir saß ein junger Mann mit seiner Freundin und wir kamen ins Gespräch. „Oh, you are from Germany? Jürgen Klopp, he is so great!“, und dann folgte eine Welle der Begeisterung für den Coach der Reds, während das Spiel in der ersten Halbzeit vor sich hinplätscherte. Nach der Halbzeitpause führte Liverpool innerhalb von drei Minuten mit 2:0. Der Pub bebte. Der LFC war zurück im Titelrennen und es wurde nach Abpfiff noch lange gefeiert.

Am nächsten Morgen schaute ich verschiedene Zeitungen durch, um zu sehen, wie viel über den 30. Jahrestag der Hillsborough-Katastrophe berichtet wurde. Es war überschaubar und weniger, als ich erwartet hatte; dagegen war das Gedenken in den sozialen Netzwerken vielfältig. Im Stadion selbst erinnern bis heute auf der Westtribüne 96 weiße anstatt der üblichen blauen Sitze an das Unglück.

West Ham United, ehemaliger Boleyn Ground (Upton Park) und der Memorial Garden

Da ich bis zu meiner Verabredung mit dem Clubpfarrer der Queens Park Rangers noch einige freie Tage zur Verfügung hatte, wollte ich jene Orte aufsuchen, an denen früher die Stadien zweier Londoner Fußballclubs waren und jetzt Wohnkomplexe entstanden waren. Spannend waren sie für mich vor allem deshalb, weil noch Zeugnisse der englischen Fußballmemorialkultur zu sehen waren. Zuerst führte mich der Weg in den Osten von London. Dort stand bis 2016 das Stadion von West Ham United, Boleyn Ground oder auch Upton Park genannt. Auf dem Weg zum ehemaligen Ground lief ich die legendäre Green Street entlang. Links und rechts sind kleine Läden, indische Restaurants, Kosmetiksalons, Kleidergeschäfte, die die neuesten Saris zeigen, Schmuck aus Pakistan oder Köstlichkeiten aus Bangladesch. Schon aus der Ferne sah ich einen noch im Bau befindlichen, großen Wohnkomplex. Hier sollen über 800 exklusive Wohnungen mit dem Namen „Upton Gardens“ entstehen. Übriggeblieben von der alten Heimat der „Hammers“ ist der Memorial Garden, der noch mit den Originalstücken des ehemaligen Stadiongeländes umzäunt ist. Es handelt sich dabei um einen Ort des Gedenkens, keinen Friedhof im klassischen Sinne mit Gräber und Urnen. Vielmehr bietet er den Hinterbliebenen die Möglichkeit, Erinnerungsstücke an ihre Verstorbenen zu hinterlassen. Wer möchte, kann einen kleinen Teil der Asche der verstorbenen Fans verstreuen.

Memorial Garden West Ham © Carmen Mayer

Die rechtliche Situation in Deutschland
In Deutschland ist dies nicht möglich, da aufgrund der Bestattungsgesetze die Asche als Gesamtheit nur auf einem Friedhof, im Bestattungswald oder auf See bestattet werden kann. Bremen hat als bisher einziges Bundesland das Gesetz gelockert und erlaubt mit Auflagen, die Asche von Verstorbenen auf einem privaten Grundstück oder in dafür ausgewiesenen öffentlichen Flächen auszustreuen.

Auf einem Hinweisschild neben dem Memorial Garden ist zu lesen, dass die Baufirma mit West Ham United daran arbeitet, das Gedenkareal würdevoll in die landschaftsplanerische Gestaltung des Wohnkomplexes zu intergieren. Um ins Innere des verschlossenen Memorial Gardens zu gelangen, musste ich eine Nummer anrufen, die auf dem Hinweisschild zu finden war. Kurz darauf kam ein Bauarbeiter, der mir aufschloss. Das Innere des Gardens ist nicht besonders groß. Bei meinem Besuch bestand er aus einem kleinen Feld mit zwei Bäumen, die vereinseigene Schals und Wimpel trugen sowie ein Trikot, auf dem gedruckt stand: „DAD. Always in my heart. R.I.P. Love Sean.“ Außerdem befanden sich dort persönliche Gegenstände und Erinnerungsschilder, auf denen teils Fotos, Namen, Geburts- und Todesdaten der verstorbenen Fans zu sehen waren, manchmal auch persönliche Widmungen.

Boleyn Ground Memorial Garden © Carmen Mayer

Als ich den Garden verließ, kam ich mit dem Bauarbeiter ins Gespräch. Richard arbeitet seit zwei Jahren auf dieser Baustelle und ist zuständig dafür, den Memorial Garden für Besucher*innen zu öffnen. Er selbst ist kein West-Ham-United-Fan, sein Herz schlägt für Arsenal. „Früher gab es zwei Sitzbänke hier im Memorial Garden. Diese wurden aber leider geklaut. Um den Garten besser zu schützen, ging man so auch dazu über, ihn abzuschließen.“ Auf meine Nachfrage, ob der Garden regelmäßig besucht würde, nickte er und berichtete, dass nicht nur Menschen aus London, sondern auch von außerhalb kämen, neulich sogar jemand aus Südafrika. Manche erzählten ein bisschen, andere weinten sehr. „Es wird hier auch an viele jüngere Menschen erinnert“, sagte er und machte eine Pause, bevor er lobend die West-Ham-United-Fans erwähnte, die zweimal im Monat in voller Fanmontur erscheinen und im Garden nach dem Rechten schauen. Wir redeten noch lange über Fußball, Trauer und Tod sowie den Umgang damit, bevor wir uns verabschiedeten. Richard winkte mir noch einmal zu und dann war er um die Ecke im Baucontainer verschwunden.

Arsenal, Emirates-Stadion und altes Highbury-Gelände mit Memorial Garden

Meine zweite Station war die Stätte des alten Stadions von Arsenal, das Highbury, wo heute ebenfalls ein Wohnkomplex steht. Nach anfänglichem Zögern entschloss ich mich, auch das neue Stadion von Arsenal, das „Emirates Stadium“, zu besuchen, das nicht weit weg vom ehemaligen Gelände des Highbury zu finden ist. Ich hatte bisher nur wenige moderne Fußballtempel besichtigt, die waren aber alle nichts gegen die aktuelle Spielstätte der Gunners. Nirgends wurde mir bisher so deutlich vor Augen geführt, wie Geld den Fußball regiert. „Kalt“, „glatt“, „edel“, „exklusiv“, „hochwertig“ sind Begriffe, die mir einfielen, als ich mit meinem Audioguide auf der Stadiontour unterwegs war. Eine persönliche Führung wurde nicht angeboten. Der Audioguide tönte mir zu Beginn ins Ohr: „Wenn Sie Fragen haben, stellen sie diese jederzeit unseren Mitarbeiter*innen. Es gibt keine Frage, die Ihnen nicht beantwortet werden kann“. Ob das wohl stimmte, wollte ich herausfinden. In der VIP-Lounge glitt mein Blick übers Stadion und ich fragte einen älteren Mitarbeiter: „Gibt es bei Arsenal die Möglichkeit, seine Asche auf oder am Spielfeld verstreuen oder begraben zu lassen?“ Er blickte mich nachdenklich an: „Das ist eine wirklich gute Frage, die hat mir in den 20 Jahren, die ich für Arsenal als Guide arbeite, noch nie jemand gestellt.“ Eine Antwort wusste er adhoc nicht, versprach aber, er würde versuchen, das herauszubekommen. Er war sehr bemüht, telefonierte mit verschiedenen Menschen, kam jedoch nicht weiter. Ich saß inzwischen in einem der Sessel vor der VIP-Lounge und blickte in das Stadion mit seinen über 60.000 Plätzen.

The Emirates Stadium © Carmen Mayer

Es war ein schöner Tag, die Sonne fiel in die Arena und doch fühlte ich mich fremd in dieser Welt des Hochglanz-Glitzerfußballs. Meine Gedanken reisten zu den alten Grounds, in denen alles etwas schrammeliger ist, die Gebrauchsspuren aufweisen, bei denen das Flutlicht in den Himmel ragt, der Rasen nicht aussieht, als wenn er gerade frisch aus dem Katalog verlegt worden wäre und wo es nach einer Mischung aus Schweiß, Bratwurst und Bier riecht. Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schulter. Eine Kollegin des Guides sagte mir, dass sie sich um meine Frage kümmern würde. Nach längerer Zeit und einigen weiteren Telefonaten kam sie zurück und meinte, dass es nicht erlaubt wäre, die Asche auf dem Pitch zu verstreuen. Das einzige, was sie anböten, wäre eine „Celebration Corner“ vor dem Stadion, eine Wand, für die man eine Zinkplatte kaufen und sich oder seine Verstorbenen darauf verewigen lassen könnte. Ich bedankte mich für die Mühe und verließ kurz darauf die Lounge, um meine Stadiontour fortzusetzen, die schließlich im Fanshop endete. Den verließ ich zügigen Schrittes und machte ich mich auf den Weg zum ehemaligen Highbury-Stadion.

Es war ruhig im Wohngebiet um Arsenal, ich begegnete kaum Menschen oder Autos, die typischen englischen Häuser reihen sich dort aneinander. Auf einem kleinen Weg gelangte ich ins Innere des ehemaligen Highbury. Dort steht jetzt eine große, noble Wohnanlage namens „Highbury Square“ mit rund 700 Wohnungen. Die Fassaden der ehemaligen Ost- und Westtribüne wurden in den Komplex integriert und beherbergen Apartments, von denen man auf das ehemalige Spielfeld blickt, das jetzt ein schön angelegter Garten ist. Dort befindet sich auch der Memorial Garden, in dem Asche von Arsenal-Fans liegt. Im Gegensatz zu heute war dies im Highbury Stadion möglich. Der Garten ist nicht öffentlich begehbar, sondern nur mit einem Code für die Hausbewohner*innen zugänglich, deshalb konnte ich leider nur durch den hohen Gartengitterzaun ins Innere blicken. Der Memorial Garden ist nur mit Gras und kleinen Büschen bepflanzt. Persönliches findet man dort nicht. Es gibt lediglich eine Bank mit dem Hinweis: “The Bench is dedicated to the memory of many loyal Arsenal Supporters. Arsenal Stadium 1913-2006”.

Arsenal Gardens © Carmen Mayer

Queens Park Rangers, Loftus Road – Asche der verstorbenen Fans, die Teil des Groundes werden

Endlich stand mein Termin im Stadion der Queens Park Rangers mit dem langjährigen Clubpfarrer an. Unterwegs wurde ich an Laternenmästen mit Aufklebern von Union Berlin begrüßt – der Verein hatte hier letzten Sommer ein Freundschaftsspiel. Ich lief die Africa Road entlang, die aufs Stadion zuführt und konnte schon das Hauptgebäude sehen. Es ist etwas in die Jahre gekommen, die Fassade ist grau, im oberen Stockwerk stehen hinter einem Fenster verschiedene Pokale und ein Flutlichtmast ragt in den Himmel. Nach dem Besuch des Glitzerstadions von Arsenal Balsam für mein Fußballherz.

Das blaue Wappen von QPR und ein Schriftzug mit „Loftus Road Stadium“ zieren den Haupteingang. Viele Jahre hieß die Heimspielstätte der Hoops nur „Loftus Road“, im Juni 2019 wurde das Stadion in „The Kiyan Prince Foundation Stadium“ umbenannt. Er war ein sehr talentierter Jugendspieler von QPR, der im Jahr 2006 im Alter von 15 Jahren erstochen wurde. Reverend Cameron empfing mich an der Rezeption des Stadions. „Oh, hello Carmen, I see, the Germans are always on time!“

Mit Wasser ausgestattet, führte er mich in eine Loge. Wir nahmen auf einem blauen Plüschsofa mit Blick auf das Spielfeld Platz. Die Loge war heimelig und wies die eine oder andere Gebrauchsspur auf, aber genau das schaffte ein sehr familiäres Gefühl. Im Februar war Cameron nach über zwölf Jahren zusammen mit einem weiteren Kollegen bei einem Heimspiel verabschiedet worden. „Das waren bewegende Momente. Ich habe viele schöne Erinnerungen mitgenommen und bin sehr dankbar, dass ich Teil dieser Gemeinschaft, dieser Fußballfamilie sein durfte.“ Da sein Nachfolger gerade erst eingearbeitet wurde, hatte Cameron mir angeboten, für unser Gespräch noch mal zur „Loftus Road“ zu kommen, worüber ich sehr dankbar war. Cameron hatte mir zu Ehren noch einmal sein blaues Dienstsakko mit einem Wappen von QPR angezogen, darunter stand „Chaplain“. So lautete die offizielle Bezeichnung für seine Tätigkeit. Normalerweise trug er noch einen weißen Kollar, auch bekannt als weißer, ringförmiger Stehkragen. Auf den hätte er heute verzichtet, lachte er. Mit der Dienstkleidung war seine Funktion unverkennbar.

Zu den Aufgaben eines Club-Chaplains gehört es, die Spieler beim Training zu besuchen, hin und wieder gemeinsam mit ihnen zu essen und an Spieltagen im Stadion für die Fans präsent zu sein. Für vertrauliche Gespräche vor oder nach dem Spiel nutzte Cameron die Loge, in der wir saßen. Aber seine wesentliche Aufgabe war eine ganz besondere: Bei QPR gibt es die Möglichkeit, einen Teil der Asche von verstorbenen Fans hinter der Torlinie zu begraben. Mir ist kein weiterer Proficlub in London bekannt, der das anbietet. Etwa acht bis neun kleine Begräbniszeremonien führte Cameron pro Jahr durch. Die Fans kamen meist aus England, aber auch aus anderen Ländern. „Das ist keine offizielle Beerdigung“, stellte er klar. Nur ein kleiner Teil der Asche, etwa ein kleines Marmeladenglas, findet hier seine letzte Ruhe. Die Beerdigung des verstorbenen Menschen hat schon woanders stattgefunden und die informelle Zeremonie hier passiert einige Zeit später. Es ist vor allem für Hinterbliebene eine sehr wertvolle Erinnerung, dass ihre Liebsten auch über den Tod hinaus nah am Geschehen ihres Herzensvereins teilhaben können.

Tor © Carmen Mayer

Cameron bot mir an, die kleine Zeremonie, die er mit den Hinterbliebenen durchführte, mit mir im Stadion durchzugehen. Nach der Kontaktaufnahme erklärte Cameron den Hinterbliebenen den Ablauf der kostenfreien Zeremonie, so dass diese wussten, was auf sie zukommen würde. Auf Wunsch können bis zu 40 Personen teilnehmen. Der erste gemeinsame Weg führte dann in die Umkleidekabine. „Es war ganz unterschiedlich, wie lange die Familien sich hier aufhielten“, erzählte er. „Manche machten Fotos, andere wiederum verließen die Kabine nach einem kurzen Blick.“ Anschließend ging es durch den Spielertunnel auf den Rasen. Dort wurde fast eine ganze Runde um das Spielfeld gedreht bis zu dem Tor, das auf der Seite der Loftus Road steht. Diese Zeit nutzte der Pfarrer, um ins Gespräch zu kommen über die Verstorbenen. “Manche brachten Fotos mit, andere beklebten das kleine Glas mit der Asche mit persönlichen Motiven, andere waren eher still und wieder andere genossen die Aussicht und machten viele Fotos“, berichtete er. Die eigentliche Zeremonie aus kleinem Gebet und einer Schweigeminute fand anschließend an der Torlinie statt. Auf halber Höhe zwischen Eckfahne und Tor gibt es eine Grube, in die die Asche dann geschüttet wurde. So wird der Fan Teil des Grounds. Platten oder Namen der Toten sucht man allerdings vergeblich, es soll ja etwas Informelles bleiben. Bedauerlicherweise konnten wir am Tag meines Besuches die Grube auch nicht sehen, da sie schon für den nächsten Spieltag mit einer großen Fahne abgedeckt war. Cameron und ich standen noch einen Augenblick an der Linie, vor uns das große, leere Stadion, ein alter Ground mit knapp 18.500 Sitzplätzen. Die Flutlichtmasten grüßten den Himmel. „Ein schöner Platz, um seine letzte Ruhe zu finden“, dachte ich.

Als ich Loftus Road verließ, war es sehr warm geworden. Ich entschloss mich, zum FC Chelsea zu fahren, eine Runde um die Stamford Bridge zu drehen und auf dem dahinterliegenden Friedhof meine London-Reise ausklingen zu lassen.

FC Chelsea, Stamford Bridge und Brompton Cementary

An der Stamford Bridge waren schon einige Auswärtsfans vorm Stadion. Am Abend spielte Chelsea im Europapokal gegen Slavia Prag. Ich drehte eine Runde um die Spielstätte. Auf der Rückseite begrenzt die Friedhofsmauer das Gelände. Es war ruhig. Die Eingänge an der Nord- und Osttribüne waren noch verwaist, auch die der Auswärtsgäste. Hin und wieder traf ich auf ein paar beschäftigte Mitarbeiter*innen des Clubs, die mir zunickten. Plötzlich ging ein Tor auf und zwei Jungs fuhren mit ihren Rasenmaschinen und weiteren Geräten heraus. Es waren die Greenkeeper, die den Rasen für das Spiel am Abend chic gemacht hatten. Ich erhaschte einen längeren Blick ins Innere, wo seit 2006 die Asche des früheren Chelsea-Stürmers Peter Osgood unterm Elfmeterpunkt vor „The Shed“ liegt, und setzte nach einigen Minuten meine Runde fort. Die endete schließlich am Shed Wall, dem südlichen Ende der Stamford Bridge.

Ich verließ die Heimat der Blues und stand wenige Minuten später vorm Eingang des Brompton Cemetery. Der Friedhof besteht seit 1840 und ist einer der ältesten sogenannten Parkfriedhöfe in London. Er ist über 16 Hektar groß (im Vergleich dazu: ein Fußballfeld in Standardgröße ist etwa 0,7 Hektar groß) und eine Mischung aus Park, historischen Denkmälern, Wildtieren und den Gräbern der über 200.000 Menschen, die hier beerdigt sind. Darunter auch der Gründer des Chelsea Football Clubs, Gus Mears. Es war ein schöner Nachmittag und der Friedhof war rege besucht. Jogger*innen, Eltern mit Kinderwagen, Menschen in Businesskleidung, die ihr Lunch aßen, Gärtner*innen, die sich um die Wegbepflanzung kümmerten, eine ältere Dame, die ein Grab goss. Eichhörnchen liefen mir vor die Füße und weiter hinten fanden sich alte, historische Denkmäler. Ich lief in Richtung jener Friedhofsmauer, die das Chelsea-Gelände vom Friedhof trennt. Vor mir die Gräber, im Hintergrund das Stadion. Ich setzte mich auf eine Bank. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume des Friedhofs und über der Stamford Bridge zogen weiße Wolken vorüber. Trauer und Fußball treffen aufeinander, das gilt auch hier für diesen ganz besonderen Ort.

Brompton Cemetery © Carmen Mayer

Es war später Nachmittag als ich den Friedhof verließ und in einen roten Doppeldeckerbus stieg. Ganz vorne oben war ein Platz frei. Es war dichter Verkehr, der Bus schaukelte durch Fulham, links und rechts am Straßenrand waren viele Fans unterwegs zum heutigen Viertelfinalspiel der Europa-League. Meine Reise durch die englische Fußballmemorialkultur war zu Ende, ich blickte aus dem Fenster des Busses und aus meinen Kopfhörern ertönte „Football is coming home“.

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Autor*innen-Information: Carmen Mayer ist Trauerbegleiterin in Berlin in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Krankheit, Trauer, Tod und Verlust und forscht zum Thema Trauer und Fußball, worüber sie auch eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben hat. Daraus ist dann das Projekt Trauer und Fußball entstanden. Sie ist Dauerkartenbesitzerin bei Turbine Potsdam und ihr Herz schlägt auch noch grün-weiß für den SV Werder Bremen.

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Dienstschluss im Victoria Ground https://120minuten.github.io/dienstschluss-im-victoria-ground/ https://120minuten.github.io/dienstschluss-im-victoria-ground/#respond Thu, 16 May 2019 07:00:37 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5950 Weiterlesen]]> 119 Jahre lang war der Victoria Ground die Spielstätte von Stoke City. Premier League wurde hier zwar nie gespielt, dennoch war das Stadion Heimat für einen der größten englischen Fußballer.

von Christian Bruckner

Als Stanley Matthews im Februar 2000 starb, wurde seine Urne unter dem Mittelkreis des Britannia Stadiums in Stoke bestattet. Der Stürmer hatte den Großteil seiner Karriere bei Stoke City verbracht: Er spielte von 1934 bis 1947 und dann noch einmal von 1961 bis 1965 für den Verein aus den englischen Midlands, ehe er im Alter von 50 Jahren seine Profikarriere beendete. Heute wird Europas Fußballer des Jahres 1956 durch ein großes Denkmal vor den Toren des Stadions geehrt. Doch seine Tore schoss Matthews nicht hier, sondern am Victoria Ground.

© Brian Deegan, CC BY-SA 2.0

Über 50.000 gegen Arsenal

Als Stoke City FC 1997 das letzte Spiel im Victoria Ground austrug, war die Spielstätte das dienstälteste Stadion Englands. Zur Eröffnung am 28. März 1878 waren 2.500 Zuschauer gekommen, um den 1:0- Sieg von Stoke gegen die Talke Rangers zu sehen. Das neue Stadion allerdings war zu diesem Zeitpunkt eher ein besserer Fußballplatz: Das Feld war von einer Laufbahn umgeben, die Zuschauerränge bestanden, abgesehen von einer kleinen Holztribüne, aus grasbewachsenen Böschungen ringsum. Benannt worden war Stadion nach dem nahen Victoria Hotel, im Volksmund sollte es in der Abkürzung „The Vic“ Bekanntheit erlangen.

Am 8. September 1888 feierte Stoke im Victoria Ground vor 4.524 Zuschauern Premiere in der neu gegründeten Football League. Die Partie gegen West Bromwich Albion ging zwar 0:2 verloren, Stoke sollte dennoch bis zum Abstieg 1907 erstklassig bleiben. Als der Klub zwölf Jahre später in den Spitzenfußball zurückkehrte, genügte das Stadion den Ansprüchen nicht mehr. Also wurde die Haupttribüne mit einer Kapazität von 1.000 Plätzen neu gebaut und durch eine zweite überdachte Holztribüne auf der gegenüberliegenden Seite ergänzt. In den folgenden Jahren wuchs das Stadion weiter: 1930 wurde hinter einem Tor eine überdachte Stehplatztribüne errichtet und 1935 die kleine Sitzplatztribüne durch eine große Längsseitentribüne mit 5.000 Sitzplätzen ersetzt. 1937 verfolgten bereits 51.380 Zuschauer ein Spiel gegen Arsenal.

Verhinderte Katastrophe

Seine Flutlichtpremiere erlebte der Victoria Ground 1956 mit einem 3:1-Sieg Stokes über den Lokalkonkurrenten Port Vale. Die letzte große bauliche Veränderung erfolgte in den späten 1970er Jahren, als die flache Stehtribüne am Stoke End durch eine doppelrangige Tribüne ersetzt wurde. Ebenfalls in den 1970er Jahren entgingen die Stoke-Fans nur knapp einer Stadionkatastrophe. Anfang Jänner 1976 hatte ein Sturm zum Einsturz eines Teils des Tribünendachs geführt. Die Trümmer waren schnell weggeräumt worden, um das für den 7. Jänner angesetzte FA-Cup-Wiederholungsspiel gegen Tottenham austragen zu können. Am Spieltag waren Bauarbeiter noch damit beschäftigt, Dachstützen auszutauschen und Gerüste aufzustellen, als einige tragende Stützen einbrachen und die Arbeiter verletzten. Das Spiel wurde abgesagt und das Stadion gesperrt. Zwei Wochen später konnte es zwar zum neuen Spieltermin wiedereröffnet werden, doch der Verein musste drei seiner besten Spieler verkaufen, um die Reparaturkosten von 250.000 Pfund zu finanzieren.

Stiller Abschied

Berühmtheit erlangte der Victoria Ground wegen seiner geschlossenen Tribünen, die eine besonders gute Akustik für die Fangesänge ermöglichten. Doch Anfang der 1990er Jahre ging es mit dem Stadion bergab: Zu seinen besten Zeiten für 56.000 Zuschauer zugelassen, wurde das Stadion nun nur noch für eine Kapazität von 25.000 genehmigt. Zunächst plante die Vereinsführung aufgrund der neuen Anforderungen zur Versitzplatzung lediglich Umbaumaßnahmen, entschied sich dann schließlich doch für einen Neubau.

Zum letzten Pflichtspiel trat Stoke am 4. Mai 1997 erneut gegen West Bromwich Albion an, die hier 1888 zum ersten Meisterschaftsspiel zu Gast gewesen waren. Der Gastgeber gewann das Zweitligaspiel 2:1. 22.500 Zuschauer begleiteten das Abschiedsspiel. Ehemalige Spieler waren eingeladen und wurden von den Rängen gefeiert. Trotz des würdigen Abschieds kam es in den Wochen danach zu Misstönen, denn im Victoria Ground fanden noch zwei Vorbereitungsspiele der Kampfmannschaft gegen Everton und Coventry City statt. Nur wenige tausend Zuschauer besuchten diese Begegnungen. Viele Fans waren unzufrieden, hatten sie doch mit dem letzten Meisterschaftsspiel bereits ihren Abschied von „The Vic“ genommen. „Es herrschte die Meinung vor, dass wir bis zur Eröffnung des Britannia Stadium kein Heimspiel mehr spielen sollten“, schrieb das Fanzine The Oatcake im August 1997. „Der 2:0-Sieg von Stoke gegen Coventry wird nicht lange in Erinnerung bleiben, sehr wohl jedoch der Anblick des spärlich besuchten Stadions und die gespenstische Stille.“

Nach der Eröffnung des Britannia Stadium wurde der Victoria Ground noch im Winter 1997/98 abgerissen. Seitdem sind mehr als 20 Jahre vergangen und das Gelände lag brach bis 2018. Nun entstehen dort etwa 200 Häuser und das neue Viertel soll Victoria Park heißen.

Nachtrag

Stoke City hat nie für große Schlagzeilen außerhalb Englands gesorgt, außer 1963. Zum 100-jährigen Clubjubiläum kam kein geringerer als Real Madrid nach Stoke. Größen wie Ferenc Puskas und Alfredo di Stefano dribbelten im Victoria Ground auf; auf seiten der Hausherren spielte verständlicherweise Stanley Matthews und das Spiel endete 2:2. Über das Datum der Vereinsgründung gibt es inzwischen jedoch weiterführende Recherchen von Martyn Cooke, die das Gründungsdatum eher auf 1868 legen, als wie bisher 1863.

Informationen zum Text
Der Beitrag erschien in Ausgabe 98 des Fußballmagazins ballesterer und wurde für die Onlineveröffentlichung aktualisiert.
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Episode 18: “Die Wurzeln des modernen Fußballs” mit Petra Tabarelli https://120minuten.github.io/episode-18-die-wurzeln-des-modernen-fussballs-mit-petra-tabarelli/ https://120minuten.github.io/episode-18-die-wurzeln-des-modernen-fussballs-mit-petra-tabarelli/#respond Thu, 25 Oct 2018 15:56:48 +0000  

In Ausgabe 18 des 120minuten-Podcasts spricht Oliver Leiste aus der Redaktion mit Petra Tabarelli und Redaktionskollege Christoph Wagner über die Wurzeln des modernen Fußballs. Grundlage des Gesprächs sind Petras Longreads zum Thema, in denen sie sowohl die Entwicklungen in England als auch in Deutschland nachgezeichnet hat. Dementsprechend stehen natürlich auch beide Länder im Fokus. Es geht zunächst um die Frage, wer den Fußball in England eigentlich erfunden hat und welchem Zweck er ursprünglich diente. Unter anderem besprochen wird außerdem, ob nicht vielleicht doch die Schotten die eigentlichen Erfinder dessen sind, was wir heute als Fußball bezeichnen würden. Anschließend geht der Blick nach Deutschland und wird vergleichend betrachtet, warum hier einige Dinge einfach länger brauchten als im Mutterland der schönsten Nebensache der Welt. Abschließend steht die Frage im Mittelpunkt, wann genau der moderne Fußball denn nun eigentlich modern wurde.

Wie immer freuen wir uns auf Euer Feedback zur aktuellen Folge und natürlich auch über eine angeregte Diskussion zum Thema auf Facebook, Twitter oder bei uns im Blog.

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Advent in den Blogs – Der Fußball-Weihnachtskalender https://120minuten.github.io/advent-in-den-blogs-der-fussball-weihnachtskalender/ https://120minuten.github.io/advent-in-den-blogs-der-fussball-weihnachtskalender/#comments Thu, 30 Nov 2017 18:15:50 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3971 Weiterlesen]]>

Der Advent ist die Zeit des Friedens, der Besinnlichkeit und der Familie. Oder sollte es zumindest sein. Aber der Dezember ist auch eine Zeit des Fußballs und insbesondere der Adventskalender. Beides wollen wir in diesem Jahr kombinieren – mit dem Fußball-Weihnachtskalender “Advent in den Blogs”. Der Kalender ist ein gemeinsames Projekt verschiedener Blogger und Fußballbegeisterter.

Ab dem 1. Dezember gibt es täglich eine Geschichte – von Weihnachten, von Frieden oder von besonderen Begebenheiten des schönen Spiels. Es gibt neue Storys und solche, die einfach mal wieder erzählt werden wollen. Los geht es hier bei 120minuten.de mit vier Erzählungen – zwei von unseren Autoren und zwei von Clemens Kurek (@berlinscochise). Anschließend reichen wir den Staffelstab an Kees Jaratz weiter, seine vier Türchen findet Ihr dann auf dem Zebrastreifenblog. Es folgen vier Texte, die bei Cavanis Friseur erscheinen werden. Von dort wird der Ball zu turus.net weitergespielt. Danach übernimmt Nachspielzeiten. Kurz vor Weihnachten kommt der Kalender dann zurück nach Hause. Insgesamt vier Texte von Clemens Kurek und uns läuten dann das Finale vor den Festtagen ein.

Schlagt hoch den Ball, das Tor macht rein …

An dieser Stelle findet ihr täglich ein neues Türchen des Fußball-Weihnachtskalenders.

Tür 1: England – Deutschland, 1. Dezember 1954, Wembley
Tür 2: Der westfälische Fanfrieden von Preußen Münster
Tür 3: Football is our life oder: Welt in Bewegung
Tür 4: Mark E. Smith liest Fußballergebnisse
Tür 5: Duisburg – die Fußballmacht der Anfänge im Westen (im Zebrastreifenblog)
Tür 6: Mitten in das Schalker Herz (im Zebrastreifenblog)
Tür 7: Was macht Horace Wimp nur samstags? (im Zebrastreifenblog)
Tür 8: Dominique Menotti macht mit Fußball Krimikunst (im Zebrastreifenblog)
Tür 9: Die enttäuschende Karriere des Francis Jeffers (bei Cavanis Friseur)
Tür 10: Die Keeper, die Pep rief (bei Cavanis Friseur)
Tür 11: Acht Tore und viel Rot zum Boxing Day (bei Cavanis Friseur)
Tür 12: Chicharito packt den Sack aus (bei Cavanis Friseur)
Tür 13: TeBe vs. BFC: Knüppel aus dem Sack und gratis Pfeffi zum Nikolaus 2008 (bei turus.net)
Tür 14: 20. Dezember 2000: Ernemann schießt Union ins Glück und lässt sogar Journalisten Sitzkissen werfen (bei turus.net)
Tür 15: Ein Spiel, das alles veränderte: F.C. Hansa Rostock vs. Eintracht Frankfurt im Oktober 1995 (bei turus.net)
Tür 16: FC Schalke 04 vs. 1. FC Köln: Als die Nikoläuse vor 25 Jahren im Parkstadion Bambule machten (bei turus.net)
Tür 17: Die ersten Sportzeitschriften (auf Nachspielzeiten)
Tür 18: Als Fußball in Deutschland ein Massenphänomen wurde (auf Nachspielzeiten)
Tür 19: Wissenschaftliches Spiel – Kombinationsfußball (auf Nachspielzeiten)
Tür 20: What about sports? (auf Nachspielzeiten)
Tür 21: BSG Chemie Buna Schkopau – Eine persönliche Fußballerinnerung

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Beitragsbild: Richard Ernst Kepler – Im Landes des Christkinds [Public domain], via Wikimedia Commons

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İlkay Gündoğan – Abseits https://120minuten.github.io/ilkay-gu%cc%88ndogan-abseits/ Fri, 15 Sep 2017 18:01:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3739 Weiterlesen]]> İlkay Gündoğan ist von Verletzungen geplagt. In den letzten Jahren war er nur selten fit. In Manchester arbeitete er lange an seinem Comeback in Verein und Nationalmannschaft. Marco Maurer von der Zeit hat ihn begleitet, porträtiert Gündoğan und veranschaulicht mit seinem Text, wie sich der Alltag eines Fußballprofis während der Reha anfühlt.

Jetzt lesen!

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Der Untergang des Orient https://120minuten.github.io/der-untergang-des-orient/ https://120minuten.github.io/der-untergang-des-orient/#comments Tue, 08 Aug 2017 07:00:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3527 Weiterlesen]]> oder: Warum Leyton Orient erst einen dramatischen Absturz hinlegte und nun doch auf eine bessere Zukunft hofft

Wohl selten gab es im Fußball einen solchen Absturz zu sehen, wie ihn in den vergangenen drei Jahren Leyton Orient hingelegt hat. 2014 war man mit einem Bein schon in Englands zweiter Liga, der Championship. Drei Jahre später stieg der Club aus der 4. Liga ab und ist somit erstmals seit 112 Jahren nicht mehr der Teil der Football League, sprich Mitglied einer der vier obersten Ligen im englischen Fußball. Wie konnte es dazu kommen? Was ist passiert?

Autoren: Oliver Leiste und Christoph Wagner (120minuten.github.io)

Ein Fußballfeld in der Sonne, dahinter eine Tribüne mit dem Schriftzug Orient

Leyton Orient hat in den vergangenen Jahren einen dramatischen Absturz hingelegt.

London im Juni 2017: An einem sonnigen und ungewöhnlich warmen Tag ist der Treffpunkt die U-Bahn-Haltestelle Leyton. Dort wartet der 69-jährige Universitätsprofessor Dilwyn Porter und will uns seinen Fußballclub vorstellen: Leyton Orient. Nur wenige Gehminuten von der Haltestelle entfernt liegt, versteckt zwischen Wohnhäusern, das Matchroom Stadium – die Heimat der “O”s. So wird der Verein von seinen Fans genannt.

Am Stadion angekommen ist alles ruhig, fast schon gespenstisch. Logisch, es ist schließlich Sommerpause. Doch die Ruhe passt so gar nicht zur Situation des Vereins. Schließlich erlebt der kleine Club aus dem Osten Londons in jenen Tagen im Juni die wahrscheinlich gefährlichste Phase seiner Geschichte. Ein paar Wochen vorher wurde der Abstieg in die National League besiegelt. Erstmals seit 1905 gehört Leyton Orient damit nicht mehr zur Football League, dem vier Klassen umfassenden Profisystem des englischen Fußballs. Wenige Tage vor unserem Treffen war die Situation besonders heikel. Schließlich drohte dem Club aufgrund seiner Schulden die Auflösung. Die ausstehenden Zahlungen wurden von Besitzer Francesco Becchetti vor dem entscheidenden Gerichtstermin beglichen, die Zukunft der “O”s war danach jedoch ungewisser denn je. Becchetti hatte sich zuvor monatelang nicht im Stadion sehen lassen. Und als wir das Stadion besichtigten, konnte noch niemand abschätzen, wie es in den kommenden Wochen weitergeht. Ob es überhaupt weiter geht. In einer Phase, in der andere Vereine allmählich in die Vorbereitung starten, hatte Leyton Orient kaum mehr als eine handvoll Nachwuchsspieler unter Vertrag. Einen Trainer oder einen Sportdirektor gab es nicht. Selbst Geld, um die kleinen Traktoren zum Rasenmähen zu betanken, war nicht da. Tottenham Hotspur und Crystal Palace, zu denen der LOFC ein gutes Verhältnis pflegt, halfen mit ein paar Handrasenmähern aus.

Es ist noch gar nicht lange her, das stand Leyton Orient mit einem Bein in der Championship, Englands zweiter Liga. 2014 war das. Im Play-Off-Finale gegen Rotherham ging es ins Elfmeterschießen. Dort bewahrheitete sich einmal mehr eine der Grundregeln des Fanseins bei Orient: “Don’t follow Orient, they’ll break your heart.”

Auch in diesem Finale brachen die “O”s ihren Fans das Herz. Von fünf Versuchen traf Orient nur dreimal, Rotherham machte vier rein. Aus war der Traum von der 2. Liga. Doch viel schlimmer: Mit dem geplatzten Aufstieg begann der tiefe Fall des Vereins. Daran hatte der Italiener Francesco Becchetti, der den Club 2014 übernahm, sicher erheblichen Anteil. Für den Niedergang gibt es jedoch noch weitere Gründe, wie im Folgenden gezeigt wird. Um das Ausmaß des Absturzes zu verstehen, lohnt sich jedoch zunächst ein Blick in die Geschichte von Leyton Orient.

Historische Eckpfeiler

Gegründet wurde der Club von Mitgliedern des Glyn Cricket Clubs im Jahre 1881. Viele dieser Mitglieder waren einst Schüler am Homerton College im Londoner Bezirk Hackney. Der Tradition folgend findet auch heute noch alljährlich ein Spiel zwischen dem Leyton Orient Supporters Trust (LOST) und einer Mannschaft des Homerton College, das inzwischen in Cambridge angesiedelt ist, statt. Der Club erlebte eine Reihe von Namensänderungen. So hieß man zuerst Eagle Cricket (1886) und nur zwei Jahre später Orient Football Club.

Laut Clubhistoriker Neilson N. Kaufman geht der Name auf einen Mitarbeiter der P&O Peninsula & Orient Shipping Company zurück, der darauf drängte, Orient in den Namen aufzunehmen. Erst als man nach Leyton umzog, wurde aus Orient der Leyton Orient Football Club. Hier hat der Club nun seine Heimstatt gefunden und trägt seit 1937 seine Spiele im Matchroom Stadium in der Brisbane Road aus. Doch obwohl der Club sehr klein ist, sorgte er bisweilen für große Schlagzeilen. Am 30. April 1921 schrieb der Verein Geschichte, als kein Geringerer als der Prince of Wales – der zukünftige König Edward VIII. – dem Club einen Heimspielbesuch abstattete. Gegner Notts County wurde mit einer 0:3-Niederlage nach Hause in die Midlands geschickt. Es war das erste Mal, dass ein Mitglied der königlichen Familie einem Fußballspiel beiwohnte. Heute erinnert eine Gedenktafel am Clapton Stadium – auch bekannt als Millfields Road – an diesen Tag.

Im für England so wichtigen Jahr 1966 benannte man sich erneut um: aus Leyton Orient wurde, nachdem der Bezirk Leyton im größeren Bezirk Walthamstow aufging, Orient. In seiner Geschichte erlebte der Verein einige finanzielle Krisen, sportliche Höhepunkte waren dagegen selten. So war Orient genau eine Saison lang erstklassig: 1962/63. Mit einem Punktekonto von 21:63 wurde man abgeschlagen Letzter. Zumindest konnte man sich jedoch brüsten, den Lokalrivalen West Ham auf dessen Platz geschlagen zu haben. Danach ging es munter hoch und runter zwischen der vierten und der zweiten Liga im englischen Ligasystem, doch die Zuschauer kamen oft zu Zehntausenden. Die größten Erfolge gab es im FA-Cup: ein 3:2-Erfolg über Chelsea, nachdem diese bereits 2:0 führten und ein Halbfinale gegen Arsenal 1978 sind die herausragenden Ereignisse im Pokal. 1976/77 wurde man Zweiter im  Anglo-Scottish Cup.

Seit 1987 ist Leyton Orient Football Club wieder der offizielle Name. Die Auswirkungen der Kolonialgeschichte Großbritanniens führten 1994 erneut zu finanziellen Problemen Der Vereinsvorsitzende Tony Wood verlor sein Unternehmen durch den Bürgerkrieg in Ruanda und stand dem Verein nicht mehr zur Verfügung. Der Londoner Unternehmer und Sportpromoter Barry Hearn sprang ein und es folgte eine Zeit der relativen Stabilität in Liga drei und vier. 1999 und 2001 vergeigte Orient das Playoff Finale in der League Two, der vierten Liga. Erst 2005 gelang der Aufstieg in die League One, also Liga 3. Dort hielt sich der Verein bis 2015. Ein Jahr zuvor misslang der Aufstieg in die Championship und anschließend übernahm mit Becchetti der wahrscheinlich unfähigste Eigentümer der Clubgeschichte das Kommando. Der Einstieg des italienischen Geschäftsmanns sollte zu einem Schlüsselerlebnis für den Club werden.

Das Logo des Clubs Leyton Orient mit zwei Drachen.

Die Zukunft von Leyton Orient war im Sommer lange ungewiss.

2014-2017: Lange Krise und dramatische Wochen im Juni

Krise ist im Fußball ein häufig verwendetes Wort, das oft schon nach einer Serie von drei oder vier nicht gewonnenen Spielen bemüht wird. Bei Orient war die Negativentwicklung deutlich langwieriger. Seit dem Sommer 2014 gab es nahezu keine Woche, in der nicht negativ über den Club berichtet wurde. Das lag natürlich auch am sportlichen Verfall, vor allem aber an Clubbesitzer Becchetti. Das Playoff-Finale 2014 war der Höhepunkt der Mannschaft, die seit 2010 von Russell Slade trainiert wurde. Eine Chance, das Ergebnis zu verbessern, bekam er nicht. Am 24. September 2014 wurde er entlassen. Allein bis Weihnachten versuchten sich drei weitere Trainer im Matchroom Stadium. So begann der Abwärtsstrudel, der Orient langsam nach unten zog.

Francesco Becchetti ist ein Bau- und Abfallunternehmer, der zudem auch einen Fernsehkanal in Albanien unterhielt. Dieser wurde im Oktober 2015 eingestellt, nachdem die laufenden Kosten nicht gedeckt wurden. Zudem beantragte die albanische Staatsanwaltschaft einen Auslieferungsantrag, weil Becchetti Betrug vorgeworfen wurde. Kurz darauf folgte ein öffentlicher Ausraster, als er dem Cheftrainer Andy Hessenthaler nach dem Abpfiff eines Ligaspiels in den Hintern trat und dabei gefilmt wurde. Die Szene ist auch auf YouTube zu sehen. Becchetti gab später zu, sich unverhältnismäßig aufgeführt zu haben, was die Football Association (The FA) jedoch nicht davon abhielt, ihn für sechs Spiele zu sperren und eine Geldstrafe von 40.000 Pfund zu verhängen.

Personen, die Fußballclubs in England übernehmen wollen, müssen nachweisen, dass sie bestimmte Voraussetzungen und Eignungen mitbringen. Dazu gibt es den “fit and proper persons test”, der 2004 im Fußball eingeführt wurde und seither für Personen, die sich um Managementpositionen im Fußball in den obersten fünf englischen Ligen sowie der Conference und der schottischen Premier League bewerben, Pflicht ist. Um einen Club zu besitzen, ist es Voraussetzung, dass

  • der Eigentümer keine Anteile an anderen Vereinen hält, bzw. Einfluss auf einen anderen Club ausübt,
  • der Gesetzgeber die Ausübung der Rolle als Direktor eines Vereins nicht verbietet,
  • die Person sich nicht in einem Insolvenzverfahren befindet,
  • die Vereine, welche die Person/Personen vorher führte/n, während dieser Zeit nicht durch Insolvenzverfahren gegangen sind.

Für die Premier League gelten strengere Regeln. So muss ein Club jede Person nennen, die 10% oder mehr der Vereinsanteile hält. Die Football League sieht diesen Passus nicht vor. Interessant ist hierbei die Tatsache, dass es keinen Passus gibt, der sich zu etwaigen kriminellen Vorbelastungen äußert. Die britische Anwaltskanzlei SpringLaw hat sich dazu in einem kurzen Text geäußert. So wurde der italienische Geschäftsmann Massimo Cellino nicht als Eigentümer von Leeds United zugelassen, weil er in Italien wegen Betrugs vorbestraft war. Der britische Journalist David Conn sieht noch ein weiteres Problem mit diesem Test. Er argumentiert, dass die Pläne und Ziele, die ein Investor oder neuer Eigentümer haben könnte, nicht genau hinterfragt werden. Ebenso wird auch nicht geprüft, ob der zukünftige Eigentümer auch wirklich die finanziellen Mittel hat, um den Club nicht nur zu erwerben, sondern auch die laufenden Kosten decken zu können. Es gab einige Fälle, in denen die Übernahme eines Clubs abgelehnt wurde, weil der potenzielle Investor die Kriterien nicht erfüllte.

Im Fall von Orient und Becchetti hat der “fit and proper person test” versagt. Die Übernahme wurde damals durchgewunken, was heute als Fehlentscheidung gesehen werden muss. Denn auch wenn ein Fußballverein ein Wirtschaftsunternehmen ist, unterliegt er doch anderen Regeln als die Firmen, in denen Becchetti bis dato involviert war. Auf dem Papier war Becchetti eine geeignete Person, um einen Club zu führen. Die Entwicklung von Leyton Orient bewies das Gegenteil.

Sportlich entpuppte sich der Eigentümer schnell als ziemlich inkompetent. Sein Vorgänger war der Sportpromoter Barry Hearn, der in den achtziger Jahren erfolgreich wirkte und der es schaffte, den Club über einen langen Zeitraum zu stabilisieren. Glaubt man verschiedenen Beobachtern, verfügte Becchetti dagegen über keine nennenswerten Kenntnisse des Clubs, der Liga oder des englischen Fußballs insgesamt. Auch fehlte es ihm an Kontakten im Mutterland des Fußballs. Wichtige Positionen im Verein besetzte er mit Vertrauten und Gefolgsleuten, Widerstand gegen sein Gebahren gab es deshalb kaum. Für Becchetti war es selbstverständlich, sich in Belange der Mannschaft einzumischen. Ein Umstand, der es den Trainern auf dem “heißesten Stuhl Englands” – so nannten Medien die oft vakante Position – nicht leichter machte. Insgesamt dreizehn Trainerwechsel in drei Jahren sprechen eine deutliche Sprache.

Durch sein Verhalten geriet der Verein mächtig in Schieflage. Im Frühjahr gab es eine Abwicklungsandrohung vom Finanzamt. Insgesamt waren mehr als 250.000 Pfund an Steuern zu zahlen. Hinzu kamen 5,5 Millionen Pfund Schulden. Becchetti bekam schließlich noch etwas mehr Zeit um die Schulden zu begleichen. Im Juni sollte dann die endgültige Entscheidung fallen. Der Italiener war ein Mysterium, der nur selten direkt mit der Öffentlichkeit kommunizierte. In den vergangenen Monaten sprach er fast ausschließlich über einen seiner Mittelsmänner. Die Fans sahen dem Treiben des Inhabers lange tatenlos zu. Erst im Frühjahr, als die Zukunft von Leyton Orient akut gefährdet war, formierte sich Widerstand. Dieser äußerte sich unter anderem in einem Platzsturm beim Spiel gegen Colchester Ende April. Die Fans auf dem Feld äußerten mit Transparenten und Sprechchören ihren Unmut. Das Spiel wurde daraufhin in 85. Minute scheinbar abgebrochen, zwei Stunden später unter Ausschluss der Öffentlichkeit aber doch beendet.

Am 12. Juni stand dann die entscheidende Gerichtsverhandlung an. Während Becchetti sich auch diesmal nicht sehen ließ, strömten die Fans in großer Zahl in den Verhandlungssaal und auf den Vorplatz. Dort gab es dann die erlösende Nachricht. Der Besitzer hatte die Schulden beglichen, die angedrohte Liquidation des Vereins wurde nicht vollzogen. Doch überstanden war die kritische Phase damit noch nicht. Denn anschließend begann die Zeit, in der niemand wusste, was die Gerichtsentscheidung tatsächlich wert war. Der Club schwebte tagelang zwischen tot und lebendig. Fans wie Dilwyn Porter wussten nicht, wer eigentlich gerade verantwortlich war. Auch Roy Cliffdon vom Supporters Club konnte nicht helfen. Der Supporters Club betreibt unterhalb der Haupttribüne einen Pub, ist Anlaufpunkt für Fans und sammelt Geld, was dem Verein zur Verfügung gestellt wird. Durch die Nähe zum Stadion und den Vereinsmitarbeitern sind Leute wie Cliffdon normalerweise besonders gut über die Vorgänge im Verein informiert. Doch diesmal war auch er völlig ahnungslos. Die Situation war ähnlich chaotisch wie bei 1860 München nach dem Abstieg aus der zweiten Liga. Zwischendurch gab es auch Überlegungen des Leyton Orient Fans’ Trust (LOFT) – ein weiteres Fanbündnis neben dem Supporters Club, dass sich deutlich mehr in die Vereinspolitik einmischen will – in in der untersten Liga neu zu beginnen. Dazu kam es letztendlich nicht, denn zwei Wochen nach der Verhandlung gab es die erlösende Nachricht. Becchetti hatte den Verein verkauft – und die neuen Besitzer lassen auf eine bessere Zukunft hoffen.

Eine Tafel am Stadion zeigt statt des nächsten Gegners ein leeres Feld.

Viele Fans befürchteten im Sommer, dass künftig keine Spiele mehr im Matchroom Stadium stattfinden werden.

Hoffnung für den Moment

Der neue Inhaber ist Nigel Travis, der den Club an der Spitze eines Konsortiums führen will. Sein Vermögen hat er unter anderem als Vorstandsvorsitzender von “Dunkin’ Donuts” gemacht hat. Geboren wurde er im Osten Londons und war deshalb schon als Kind ein Anhänger Orients. Bei seinem Antritt erklärte Travis, dass er künftig auch einen Fanvertreter im Vorstand installieren möchte. Beim LOFT sorgte diese Ankündigung für viel Vorfreude. Kurz nach der Übernahme wurde Martin Ling als Sportdirektor vorgestellt. Ling spielte früher selbst für Orient und war schon einmal Sportdirektor, als der Club 2006 den Aufstieg in die League One schaffte. Der neue Trainer Steve Davis hat eine Mannschaft zusammengestellt, die von Experten als vielversprechend eingeschätzt wird. Auch wenn nach den Wirrungen der jüngsten Vergangenheit von einer direkten Rückkehr in die League Two niemand etwas wissen will. Stattdessen ist von einer Mittelfeldplatzierung und Konsolidierung die Rede. Dass einige Spiele der “O”s in den ersten Saisonwochen live im Fernsehen gezeigt werden, zeigt jedoch, dass der Club eigentlich eine Nummer zu groß ist für seine jetzige Umgebung. Die Vorfreude bei den Fans jedenfalls ist riesig, es wurden deutlich mehr Dauerkarten verkauft als in den vergangenen Jahren. Auch Dilwyn Porter blickt optimistisch in nähere Zukunft.

Spannend ist jedoch ein Blick auf die langfristige Perspektive von Leyton Orient. Denn auch wenn der Niedergang durch Francesco Becchetti dramatisch beschleunigt wurde, gab es doch auch schon vorher Entwicklungen, die den Verein vor enorme Herausforderungen stellten. Diese sind, aller aktuellen Euphorie zum Trotz, nach wie vor aktuell. In London gibt es gleich fünf Premier-League-Teams. Arsenal und Tottenham spielen in relativer Nähe des Matchroom Stadiums, West Ham in direkter Nachbarschaft. Von der Leyton-Tube-Station sieht man das Olympiastadion, in dem die “Hammers” ihre Heimspiele austragen. Die großen Clubs bekommen medial deutlich mehr Aufmerksamkeit. Für Orient ist dann oft nur in den Randspalten Platz. Auch die Gelegenheitszuschauer in der Stadt werden im Zweifelsfall ein Erstligaspiel einer Partie in der vierten oder fünften Liga vorziehen. Von den Touristen ganz zu schweigen. Welchen Effekt der Umzug West Hams ins Olympiastadion hat, lässt sich nicht direkt beziffern. Einfacher ist es für Leyton Orient dadurch sicher nicht geworden.

Hinzu kommt, dass sich das Viertel verändert hat. Früher war der Osten Londons ein Arbeiterbezirk, der vornehmlich von weißen Engländern bewohnt wurde. Dilwyn Porter, Inhaber Nigel Travis oder Roy Cliffdon vom Supporters Club, alle um die 70 Jahre alt, verbrachten hier ihre Kindheit und Jugend. Sie repräsentieren eine Gruppe, die Leyton Orient seit vielen Jahrzehnten die Treue hält. Selbst wenn ihr Lebensmittelpunkt längst woanders liegt. Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte das Viertel einen enormen wirtschaftlichen Abschwung, viele verließen Leyton. Erst mit Entscheidung, im benachbarten Stratford im Osten Londons die Olympischen Spiele auszurichten, begann die Modernisierung. Die Mieten und Hauspreise waren in Leyton lange Zeit sehr günstig, was zur Folge hatte, dass sich Menschen aus aller Welt dort ansiedelten. Mittlerweile sind zwei Drittel der Bewohner schwarz, asiatisch oder gehören zu einer ethnischen Minderheit. Mehr als die Hälfte der Menschen in diesem Stadtteil sind unter 30. Durch Modernisierung und Gentrifizierung sind die Preise in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Aufgrund der Entwicklung wäre auch das Stadiongelände ein lukratives Grundstück für neue Wohnungsbauten.

An der Internationalität Leytons haben die höheren Preise wenig geändert. Wohl aber an der Bedeutung von Orient. Viele der insbesondere asiatischen Bewohner interessieren sich kaum für Fußball. Und schon gar nicht für eine Mannschaft aus einer unteren Spielklasse. Stattdessen steht Cricket bei ihnen hoch im Kurs.

Leyton Orient hatte in den vergangenen Jahren zwar meist recht ordentliche, vierstellige Zuschauerzahlen, lebte zuletzt aber vor allem von der Tradition. Von Leuten wie Porter, die schon immer hingegangen sind und die dann später ihre Familien mitgebracht haben. Doch diese Generation, der auch der neue Inhaber angehört, wird den Club nicht mehr ewig tragen können. Im Sommer ist Leyton Orient dem schnellen Tod von der Schippe gesprungen. Doch wenn der langsame Tod des Vereins verhindert werden soll, braucht der Club eine jüngere Fangeneration, die Verantwortung übernimmt. Und auch wenn sich das Viertel stark verändert, braucht der Verein gerade dort großen Rückhalt. Die gespenstische Ruhe aus dem Juni ist am Matchroom Stadium einer spürbaren Aufbruchsstimmung gewichen. Und vielleicht kann Leyton Orient die nutzen, um den Verein fit für die Zukunft und für die nächsten hundert Jahre im englischen Profifußball zu machen.

Zwei ältere Männer stehen vor einer Treppe in einem Stadion.

Dilwyn Porter (l.) und Roy Cliffcon können nun wieder hoffnungsvoller in die Zukunft schauen.

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England – Deutschland: Eine Rivalität https://120minuten.github.io/england-deutschland-eine-rivalitaet/ https://120minuten.github.io/england-deutschland-eine-rivalitaet/#respond Thu, 27 Apr 2017 15:00:34 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3314 Weiterlesen]]> England gegen Deutschland: man denkt sofort an Wembley 1966 oder an Turin 1990. Es werden Erinnerungen an einen Septemberabend in München 2001 oder an Bloemfontein 2010 wach. Es gibt aber auch Aspekte, die selten oder gar nicht betrachtet wurden.

Autor: Christoph Wagner, An Old International

Deutschland gegen England. Während diese Begegnung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Säbelrasseln und Krieg nach sich zog, ist diese seit den 1950er Jahren ausschließlich mit Fußball verbunden. So sehr, dass viele bei dieser Spielansetzung von einem Klassiker sprechen. In der Tat haben einige Spiele das Zeug zum Klassiker und zur Legendenbildung. In England ist das schon geschehen: Keine Mannschaft wird mehr in den Fußballhimmel gelobt als jene, die 1966 den Weltmeistertitel im eigenen Land gewann. Dabei war die Mannschaft die 1970 im Viertelfinale an Deutschland scheiterte, weitaus besser und stärker als jene Helden von 1966. Das untermauert einmal mehr die These, dass nie die besten Mannschaften Turniere gewinnen, sondern die konstantesten.

Das Jahr 1966 war und ist immer noch ein besonderes für den englischen Fußball. Ramseys Helden bezwangen Deutschland in einem spannenden Spiel mit 4-2. Damit hatte Ramsey Recht behalten. Bei seinem Amtsantritt 1963 postulierte er, dass England die WM gewinnen würde. Jedoch konnte keiner ahnen, wie dramatisch dieses Finale werden würde. So sehr, dass Fritz Wirth in seinem Spielbericht für Die Welt hinterher feststellte, dass dieses Spiel auf Jahre hinweg für Diskussionsstoff sorgen würde. Wohl selten lag ein Reporter richtiger als mit dieser Aussage. Allein das umstrittene dritte Tor für England sorgte in Deutschland für Diskussionsstoff, wenn auch nur, um in einen Jammerton zu verfallen, ob des erlittenen Unrechts. Der weitere Verlauf der Geschichte hat jedoch gezeigt, dass dies Jammern auf hohem Niveau war und nachfolgende DFB-Mannschaften sehr erfolgreich bei internationalen Turnieren abschnitten. Spätestens mit der Feststellung durch zwei britische Forscher 1995, dass der Ball NICHT die Linie überquert hat, war das Thema durch. Und erst recht nachdem 2010 ein Tor für England, das nach ähnlichen Umständen zustande kam wie jenes von 1966, nicht gegeben wurde, ist das Wembley-Tor eine Fußnote der deutschen Fußballgeschichte. Nach 44 Jahren wurde endlich das erlittene Unrecht durch die Nichtanerkennung des Treffers von Frank Lampard ausgeglichen. Dieser Fokus auf dieses eine Spiel versperrt jedoch die Sicht auf weitere große Spiele, die sich diese beiden Kontrahenten lieferten. Aber auch auf immer wiederkehrende Themen in der Sportberichterstattung in englischen Tageszeitungen.

Das Land geht vor die Hunde

Es besteht sicher kein Zweifel daran, dass Fußball Englands Nationalsport ist. Dies ist seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Fall. Nach 1945 wurde dem Fußball allerdings die Rolle als Gradmesser für den Zustand der Nation beigemessen. Und schaut man sich die Resultate in den 1950er Jahren an, so kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass es nicht besonders gut stand, um den Nationalsport und das Land. Bei der WM 1950 schied England in der Vorrunde aus, nachdem man gegen die USA verloren hatte. Drei Jahre später dann die Offenbarung im Wembley-Stadion als man gegen Ungarn 3-6 unterging. Die WM im folgenden Jahr war nur unwesentlich besser als die vorige aber immerhin konnte England das Viertelfinale erreichen, wo dann Uruguay zu stark war. Als also die Westdeutsche Nationalmannschaft im Dezember 1954 nach London kam, gab es für England allen Grund zur Wiedergutmachung. Auch für Deutschland ging es um den guten Ruf. Seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft hielten die Ergebnisse nicht Schritt. Es gab Niederlagen gegen Belgien und Frankreich. Zudem hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass die WM-Elf sich unerlaubter Mittel im Finale bedient hat. Angeblich wurden Spritzbesteck und leere Ampullen in der Kabine gefunden.[1]

An dieser Stelle ist es notwendig, den Blickwinkel zu erweitern. Fußball mochte und mag immer noch der Nationalsport Englands sein, jedoch ihm allein die Fähigkeit zuzuschreiben, den Zustand der Nation ablesbar machen zu können, ist vermessen. Vielmehr müssen auch andere Faktoren miteinbezogen werden. Beispielsweise die wirtschaftliche Leistung Großbritanniens, die seit Ende des Krieges kontinuierlich wuchs und das britische Wirtschaftswachstum, das bis 1973 konstant über 2% p.a. lag. Es ging den Briten also besser als vor 1939. Was sicher viele dazu bewogen hat, von einem Abstieg zu sprechen, waren die Zahlen im Vergleichszeitraum aus Deutschland, wo das Wachstum weitaus höher lag. Allerdings waren die Vorzeichen in der jungen BRD auch ganz andere. Das Land musste neu aufgebaut werden, was eine große Kraftanstrengung erforderte. Nicht zu verleugnen ist allerdings ein neidischer Blick der Briten auf das Wirtschaftswunder, welches ab Mitte der 1950er für Wachstum und damit Wohlstand sorgte. Es war eine Frage der Perspektive. Relativ gesehen, hat Großbritannien an Boden verloren, insgesamt aber ist der Fortschritt unbestreitbar. Hinzu kommt, dass 1954 ein Großteil der Lebensmittelrationierungen abgeschafft wurden, was die Versorgungslage erheblich verbesserte. Mit dem National Health Service, NHS, gab es erstmals eine Institution, die allen Bürgern kostenfreien Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglichte. Daneben sorgte die englische Cricket Mannschaft für eine lange Siegesserie gegen Australien, als die sogenannte Ashes-Serie zwischen 1953 und 1956 dreimal gewonnen wurde. Das Rugby-Team gewann mehrfach das Five-Nations-Turnier: 1953, 1954 und 1957 1958. Roger Banister war der erste Mensch, der die Meile unter 4 Minuten lief. Der Mount Everest wurde von einem Briten erklommen. Zu guter Letzt gab die Krönung von Elizabeth II. dem Land neue Hoffnung. Das Land geht vor die Hunde? Mitnichten. Der Premierminister Harold Macmillan brachte es 1957 auf den Punkt:

The British have never had it so good.[2]

Als zur Weltmeisterschaft 1966 in England das deutsche Wirtschaftswunder weiterhin Früchte trug und trotz eines Dämpfers 1965 dennoch für wachsenden Wohlstand sorgte, wurden dagegen die Sorgenfalten in Großbritannien tiefer. Die Abwertung des Pfund wurde durch Austeritätsmaßnahmen nicht abgewendet, sondern nur verzögert. Die Titelseiten der Zeitungen lasen sich apokalyptisch: „Großbritannien ist noch tiefer in den roten Zahlen.“ Und „Die Welt macht Druck auf das Pfund.“ Da kamen Titelseiten wie nach dem Sieg gegen Portugal durchaus recht: „Großartig! Englands ruhmreiche Jungs!“ Für den Daily Express wurde zu viel über Großbritanniens Versäumnisse und zu wenig über die Errungenschaften berichtet. „Es ist an der Zeit, dies zu ändern.“ Da kam das Finale in Wembley gerade recht als der Ort, an dem dieser Prozess beginnen sollte.[3] In der Tat sorgte der Sieg logischerweise für eine Welle der Euphorie, die nicht selten mit dem 8. Mai 1945 gleichgesetzt wurde.
Die englisch-deutsche Fußballrivalität bezieht sich aber nicht nur auf das Finale von Wembley 1966. Vielmehr zieht sich auch ein roter Faden des Misstrauens durch die Jahrzehnte seit 1954.

Englisches Misstrauen

Seit der Wiederaufnahme sportlicher Beziehungen herrschte ein offen zur Schau getragenes und gesundes Misstrauen seitens der englischen Presse gegenüber der deutschen Mannschaft. So auch beim Freundschaftsspiel 1954. Die Herberger-Elf musste auf insgesamt acht Spieler aus dem WM-Finale von Bern verzichten, und natürlich war unter diesen Umständen nicht an einen Sieg zu denken. Für die Zeitungen wie Daily Mirror und Daily Express war die Sache klar: die Deutschen hatten bereits ihre Entschuldigung parat. Mehr noch, in England wurde zu dieser Zeit noch ohne Auswechselspieler gespielt, und wurde diese neue Praxis nicht nur mit Skepsis, sondern durchweg negativ und als kontinentale Unsitte, ja Betrug, betrachtet, die strikt abgelehnt wurde. Dass Deutschland nun auch Wechselspieler nutzte, half wenig, um das Misstrauen zu schmälern. Die oben bereits erwähnte Dopinggeschichte wurde von Desmond Hackett vom Daily Express aufgegriffen. Vor dem Spiel im Dezember 1954 fragte er den Bundestrainer Sepp Herberger – Old Herr Hush, Hush – ob denn seine Mannschaft wieder aufpeppende Injektionen bekäme. Darauf erwiderte dieser etwas wirsch, dass ihn, Hackett, dies nichts anginge. Nicht nur, dass Deutschland mit Auswechselspielern antrat, sie brauchten auch noch Aufputschmittel, um gegen England zu bestehen.[4]

Spannend wurde es dann 1966, als im Verlauf des Turniers vier Spieler der gegnerischen Mannschaften Argentinien, Uruguay und der Sowjetunion gegen Deutschland vom Platz gestellt wurden. Auch hier war für die Schreiber schnell klar, dass dies nicht mit rechten Dingen zugehen konnte und dass deutsche Spieler sich besonders durch Theatralik auszeichneten. Auch hier war der Unterton: die Deutschen schummeln und betrügen und sind nicht vertrauenswürdig. Hugh McIlvanney schrieb im Spielbericht zum Viertelfinale gegen Uruguay im Observer, dass Helmut Haller die Hauptrolle spielte im deutschen Theater. Nur wenige Minuten, nachdem er aussah wie ein Krüppel nach einem Foul erzielte er das vierte Tor. Auch The Times stimmte in den Kanon ein. Geoffrey Green, der Fußballkorrespondent dieser Bastion des Konservatismus, beschrieb, dass die Deutschen dem Referee sehr gern zu Hilfe kamen und flamboyante Purzelbäume schlugen. Der Reporter des Daily Express, Alan Thompson, ging sogar noch weiter und befand, die fallenden deutschen Spieler lieferten eine „oskarreife Vorstellung.“

Die Reaktion von Bundestrainer Helmut Schön war konkret und ließ darauf schließen, wie sehr ihn diese Anschuldigungen trafen und beleidigten. Er, dem es so wichtig war, dass seine Mannschaft einen guten Eindruck hinterließ, bedauerte, dass das Spiel bereits einen bitteren Beigeschmack bekommen hatte, bevor überhaupt gespielt wurde.

„Wir haben diese Anschuldigungen nicht verdient und ich hoffe, sie sind bald vergessen oder die Atmosphäre im Finale ist vergiftet, bevor überhaupt ein Ball gespielt wurde.“[5]

Rechtzeitig vor dem Spiel erfolgte dann jedoch eine Kehrtwende. Die Deutschen wurden gepriesen für ihre Disziplin und Fitness. Selbstverständlich ging man davon aus, dass England das Finale gewinnen würde, trotzdem wurde die Leistung, vor allem aber der Spielstil der deutschen Mannschaft anerkannt. Desmond Hackett im Daily Express stellte fest, dass beide Teams einen nahezu identischen Stil pflegten und schob hinterher, dass England gewinnen würde, weil sie diesen Stil besser spielten. Beide Teams würden sich über den Kampf definieren und nicht wie die südamerikanischen WM-Teilnehmer über Technik und Tricks. Diesen wurde noch mehr Misstrauen entgegengebracht als der angeblichen deutschen Schauspielerei. Dieser Umschwung war eine gekonnte Vorbereitung auf die Spielberichte, in denen die Deutschen dann als hervorragende Sportsmänner und große Verlierer bezeichnet wurden.

Trotz dieser recht negativen Berichterstattung über die deutsche Mannschaft war es lange nicht klar, ob England überhaupt ins Finale kommen würde. England spielte wenig überzeugend im Verlauf des Turniers. Das Auftaktspiel gegen Uruguay war ein lahmes 0-0 und die Presse machte keinen Hehl daraus, dass es so mit dem Titel nichts würde. Nach dem Spiel schrieb der Reporter für The Times, Geoffrey Green, dass England “nach all der langen Zeit der Vorbereitung, frustriert wurde”. Sein Pendant beim Daily Express blieb weiterhin optimistisch, dass England durchaus in der Lage wäre besser zu spielen, wenn erst die Ausscheidungsspiele begännen. Er schloss seinen Bericht mit dem Wunsch, dass England auch englischen Fußball spiele. Auch wenn die folgenden Spiele gegen Frankreich und Mexico nicht besser wurden, so stimmten wenigstens die Ergebnisse. Hackett brachte es auf den Punkt, indem er schrieb, dass der Fortschritt zu begrüßen sei, allein die Art und Weise wie diese Spiele gewonnen wurden, ließe zu wünschen übrig. Dies änderte sich im Laufe des Turniers, insbesondere nach dem Halbfinale gegen Portugal, welches man wohl als das beste Spiel der WM bezeichnen kann. Hugh McIlvanney sah eins der besten Spiele überhaupt. Er war vollkommen überrascht, wie 22 Spieler sich kampfeslustig, aber gleichzeitig doch spielfreudig geben und dabei auch sportliche Vorbilder sein konnten. Der Kontrast zum anderen Halbfinale zwischen der Sowjetunion und Deutschland konnte kaum größer sein. Beide Mannschaften spielten hart und knüppelten. So sehr, dass ein Beobachter festhielt, dass solch eine Spielweise selbst unter dem Niveau der 4. englischen Liga sei. All das war aber nach dem Finale vergessen. England hatte gewonnen und alles schien gut und die Welt in Ordnung.

Der Krieg in der Fußballsprache
Natürlich fehlten auch die Bezüge zum Krieg nicht. Dabei ist es im Fußball gar nicht so leicht, ohne kriegerische Sprachmittel auszukommen. Man nehme die Worte Offensive, Defensive, Angriff, Verteidiger und es wird klar, wie nah dieser Bezug ist und wie leicht er herzustellen ist. Ein Schuss wird zu einer Rakete umgeschrieben, wenn er scharf ist und er schlägt im Tor ein. Diese Verbindung fiel den englischen Autoren in Bezug auf die deutsche Mannschaft leicht, eben wegen der jüngeren Vergangenheit. Beispielsweise wurde die deutsche Abwehr 1954 von der Times als “veritable Siegfried-Linie” beschrieben, was hier durchaus als Kompliment zu verstehen ist. Im Daily Express führte Stanley Matthews einen “One-Man Blitzkrieg against Germany”. Als sich die Welt wenige Tage danach erdreistete zu behaupten, mit allen Spielern vom WM-Finale hätte man England geschlagen, sprach Peter Wilson im Daily Mirror vom Dolchstoß in den Rücken. Während der WM 1966 gab es eine vollkommen neue Erfahrung: erstmals weilte ein deutsches Team einen ganzen Monat in England. Kein Wunder also das Peter Seddon schreibt, “When the Germans invaded Derbyshire”. Gemeint ist das Mannschaftsquartier in Ashbourne im Peak District. Ein Einwohner hatte bereits genug von den vorherigen Konflikten als er meinte, er hätte die Deutschen bereits genug auf den Kampfplätzen in den vergangenen Kriegen gesehen und müsse nun nicht bei deren Training zuschauen. Im Gruppenspiel gegen Argentinien strahlte die Mannschaft fröhliche Aggression aus und bahnte sich den Weg nach vorn wie eine gut gedrillte Miliz.

Wie aber berichteten deutsche Reporter von der WM in England? Würde man plump zurückschlagen? Oder eine feine verbale Klinge schwingen? Während sich englische Autoren meist an der Spielweise, bzw. an der Fallschule der Deutschen rieben, gingen ihre deutschen Kollegen auf die wirtschaftliche Situation Großbritanniens ein. So erwähnte ein Schreiber, dass mit einer weltweiten Zuschauerzahl von 400 Millionen zu rechnen sei, die das Finale an den Fernsehgeräten verfolgen würden. Daraufhin ließ sich der Autor zu einer ironischen Bemerkung hinreißen. Er schrieb, sollte England verlieren, würde es ein weiteres und noch größeres Staatsbegräbnis werden als jenes von Churchill im Jahr zuvor. Damals saßen 350 Millionen vor den Bildschirmen. Jedoch relativierte er seine Aussagen kurzerhand, indem er von einem englischen Sieg ausging.[6]

Für einen anderen war der Verweis auf die wirtschaftliche Lage mit einem deutschen Sieg verbunden. Nach einem solchen würde der Wert des englischen Fußballs tiefer fallen als der des britischen Pfund. Hier wurde die wirtschaftliche Situation mit Fußball gleichgesetzt. Der Autor legte den Finger in die Wunde, denn nur ein Jahr später wurde das Pfund entwertet, was als Ausdruck der unsicheren ökonomischen Situation gilt. Selbst wenn mit Herberger und Rahn zwei der Hauptakteure des WM-Gewinns von 1954 zu Wort kamen, so wurde dies nicht mit dem berühmten erhobenen Zeigefinger getan. Auch gab es keine Erinnerung, dass Deutschland ja bereits einmal diesen Titel gewonnen hatte. Ganz im Gegenteil, man sprach sachlich über die Chancen beider Mannschaften und bot den Lesern die Möglichkeit zu einer eigenen Meinung zu kommen.

30 Years of Hurt: Die EM 1996 in England

Während der Europameisterschaft 1996, die 30 Jahre nach dem WM-Sieg wieder in England stattfand, waren die Zeitungen sehr viel aggressiver in ihrer Herangehensweise. Die Berichterstattung von 1996 hatte mit jener von 1966 nicht mehr viel gemein. Hierbei ist nicht einmal nur die Boulevardisierung gemeint, denn die fand auch in den deutschen Printmedien statt. Vielmehr überraschte die offen zutage tretende Fremdenfeindlichkeit in vielen Tageszeitungen, allen voran im Daily Mirror und im Daily Express. Jetzt fand der Krieg auf den Sportseiten statt. Die Deutschen waren Panzer oder zumindest Kampfmaschinen, die ihre Gegner eiskalt platt machten. Die Krönung kam dann kurz vor dem Halbfinalspiel als die Titelseite des Daily Mirror die englischen Spieler Paul Gascoigne und Alan Shearer in Stahlhelmen darstellte unter der Überschrift:

“Achtung! Surrender! For you, Fritz, ze Euro 96 is over!”

Daneben schrieb der Chefredakteur Piers Morgan einen Kommentar, der in Ausdruck und Vokabular sehr stark an Neville Chamberlains Kriegserklärung an das Dritte Reich aus dem Jahre 1939 erinnerte. Helmut Haller, der im WM-Finale von 1966 das 1-0 erzielte, wurde als Dieb hingestellt, weil er sich angemaßt hatte, den Spielball mitzunehmen. Ein wunderbares Beispiel für fake news. Auf Film- und Fotoaufnahmen von 1966 ist Haller mit Ball unter dem Arm zu erkennen. Er geht in normalem Tempo vom Platz und scheint unbehelligt dabei. Trotzdem wurde er als Dieb abgestempelt.[7]

Auch 1996 gab es Vorwürfe an die deutsche Mannschaft, sie würde falsche Tatsachen vortäuschen. Die Wadenverletzung Klinsmanns sei eigentlich ein Ablenkungsmanöver, um England in Sicherheit zu wiegen. Klinsmann spielte nicht, aber England hat trotzdem verloren. Der Tenor ist aber klar: Deutschland nutzt alle Möglichkeiten, um seine Gegner in die Irre zu führen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

War die Reaktion 1966 verhaltener, so wurde 1996 doch etwas schärfer reagiert auf deutscher Seite. Bundestrainer Berti Vogts war dabei am trockensten, indem er sagte, dass das Halbfinale gegen England ein ganz normales Spiel sei, denn Deutschland ist es gewohnt im Halbfinale zu stehen. Für England dagegen war es eine vollkommen neue Erfahrung, da könne man die hochkochende Euphorie schon verstehen. In der FAZ forderte Roland Zorn die Spieler auf: “Jungs, haut sie weg!” Es war eine Reaktion auf die an Xenophobie grenzende Berichterstattung der englischen Presse und sicherlich war Zorn mächtig genervt vom ewigen Kriegsgeheul seiner englischen Kollegen. Für seinen Kollegen Steffen Haffner war die Anwesenheit von Panzern in den Sportseiten der sicherste Indikator dafür, dass ein Spiel England gegen Deutschland anstand.

Das Ende eines Klassikers?

Von einem Ende zu sprechen, würde zu weit gehen. Vielmehr ist es eine Periode, eine Zeit der Veränderung. In diesem komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen England und Deutschland, in der vergangene Konflikte sehr oft die Hauptrolle gespielt haben, ist momentan wenig Potential für ein weiteres Knallerspiel. Das hat seine Ursache in der Entwicklung beider Nationalmannschaften. Die geht seit einigen Jahren in diametral entgegengesetzte Richtungen. Hier soll keine Ursachenforschung betrieben werden, nur ein Blick auf die Resultate seit 2004 lässt deutlich werden: die Three Lions kommen über das Viertelfinale nicht hinaus, während die DFB-Elf bei EM und WM seit 2006 mindestens immer im Halbfinale stand. In der Breite ist das die erfolgreichste Zeit seit der Ära Schön von 1966-1976.

Von den neun Spielen seit 2000 haben nur die vom Herbst 2000, vom September 2001 sowie das Achtelfinale von 2010 das Zeug in die Reihe der großen Spiele beider Mannschaften aufgenommen zu werden. Im Oktober 2000 stand die WM-Qualifikation für 2002 an und England erwartete Deutschland zum letzten Spiel im alten Wembley-Stadion. Die Gäste versauten mit einem 1:0-Sieg die Party und beendeten nebenbei auch die Trainerkarriere von Kevin “Mighty Mouse” Keegan. Danach wurde Wembley in Trümmer gelegt. Wer meint, dass damit der Fluch von Wembley besiegt sei, der sah sich getäuscht. Knapp ein Jahr später dann der “wurst nightmare” (laut The Sun) für Deutschland. Das Rückspiel in der Qualifikation in einer sehr ausgeglichenen Gruppe. Gewinnt Deutschland, wäre alles klar gewesen und die Qualifikation in trockenen Tüchern. Gewinnt England, würde es eng. Alles schien normal zu laufen als Deutschland durch Carsten Jancker bereits in der 6. Minute in Führung ging. Danach nahm das Unheil seinen Lauf. Dreimal traf Michael Owen und seine Klubkollegen Steven Gerrard und Emile Heskey machten die Hand voll. Die BBC bezeichnete diese Niederlage als das neue Waterloo. Bei der WM 2002 schien die Ordnung wieder hergestellt: England schied im Viertelfinale aus, Deutschland unterlag Brasilien im Finale 2:0.

Und dann kam Bloemfontein. Jeder weiß, was geschah. Lampards Bogenlampe fliegt an die Latte und von dort sicher ins Tor. Ein hektischer Manuel Neuer holt den Ball sehr schnell aus dem Tor und bringt ihn ins Spiel zurück. Und der Schiedsrichter lässt weiterspielen. Wembley heißt seitdem Bloemfontein, zumindest in England.

Seit 2010 gab es drei weitere Begegnungen, allesamt Test- oder Freundschaftsspiele. Auf absehbare Zeit wird dies die Regel sein. Trotz Premier League hat England seit 1996 kein Halbfinale bei einem Turnier mehr erreichen können, musste 2008 sogar bei der EM in Österreich und der Schweiz zuschauen. Für Deutschland dagegen ist das Erreichen des Halbfinales ja wieder einmal Pflicht. Eigentlich schade, angesichts dieser Geschichte an Toren (ob gültig oder nicht), Tragödien und Tränen.

Endnoten

[1]Dazu auch Drepper, D., “Das Pervitin-Wunder von Bern?”, Zeit Online, Oktober 2010, Zugriff am 24. April 2017: http://www.zeit.de/sport/2010-10/bisp-doping-bern-1954; schon 2004 wehrte man sich gegen angebliche Dopingvorwürfe, wie dieser Spiegel Onlinebericht beweist: “Vitamin C, sonst nichts.” Zugriff am 24. April 2017: http://www.spiegel.de/sport/fussball/erzuernte-weltmeister-vitamin-c-sonst-nichts-a-293370.html
[2]Dazu auch Porter, D., “Never-Never Land: Britain under the Conservatives 1951-1964”, in N. Tiratsoo (ed.), From Blitz to Blair: A New History of Britain since 1939 (London: Phoenix, 1998), 118-119; Kynaston, D., Modernity Britain: Opening the Box 1957-59 (London: Bloomsbury, 2013), 55-56.
[3]Daily Express, 29. Juli 1966.
[4]Daily Express, 1. Dezember 1954.
[5]Daily Mirror, 27. Juli 1966.
[6]Die Welt, 30. Juli 1966.
[7]Daily Mirror, 24. Juni 1996.

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