Euro 2016 – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Tue, 28 Feb 2017 06:31:37 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Pariser Euro-Notizen https://120minuten.github.io/euro2016-paris-notizen/ https://120minuten.github.io/euro2016-paris-notizen/#respond Thu, 21 Jul 2016 06:00:40 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2335 Weiterlesen]]> Ein Turnier vor der Haustür

Autor: Christoph Wagner, anoldinternational.co.uk

Teil 1 unseres EM-Rückblicks von Alex, der sich an Fußball-Entzug versuchte, lest ihr hier.

Es ist Europameisterschaft und sie findet unmittelbar vor meiner Haustür statt. Die WM 2006 sah ich in England, was eine besondere Erfahrung war, weil die Engländer festgestellt haben, dass die Deutschen durchaus eine fröhliche Party organisieren können. Die Betonung hier liegt auf fröhlich; dass die Deutschen in der Regel gut im Organisieren sind, hat sich auch auf der Insel herumgesprochen. Nun also dieses Turnier in Frankreich. Unter durchaus besonderen Vorzeichen.


EM-Tagebuch von einem, der sich nicht entziehen kann, weil er vor Ort lebt und den Prinzenpark vor der Haustür hat. Wie soll man so ein Tagebuch beginnen? Gar nicht so einfach, etwas zu finden. Fangen wir doch mal mit den äußeren Begebenheiten an. Frankreich hatte 2015 ein schweres Jahr. Die Anschläge vom Januar und November habe tiefe Spuren hinterlassen und es herrscht immernoch Ausnahmezustand. Erst im Frühjahr hatte die Regierung ein neues Arbeitsgesetz mit Hilfe eines Notparagraphen der Verfassung durchgedrückt. Dass sich etwas ändern muss, ist klar. Nur scheint mir die Tatsache, dass eine neue Arbeitsgesetzgebung, die auf eben solche Art beschlossen wird, sehr stark gegen eben jene zu sprechen, die dieses Gesetz einführen wollen, sowie das Gesetz selber. Klar, Widerstand wird es immer geben gegen neue Gesetze und Regelungen. Hier wurde nicht einmal der Diskurs gesucht, sondern knallhart von oben auf- bzw. durchgedrückt. Während man in England und Deutschland getrost von Fußball als dem Nationalsport sprechen kann, ist der Streik der Sport der Franzosen. Dabei geht es sehr häufig um nichts weiter als das Prinzip. Die Metrofahrer streiken regelmäßig. Diesmal geht es aber um mehr und die Streiks haben sich auf die Müllabfuhr und die Regionalzüge sowie die SNCF (die französische Staatsbahn) ausgedehnt. Es gibt regelmäßig Demonstrationen gegen die linke Regierung und seit dem Frühjahr gibt es eine neue Bewegung: nuit debout, zu deutsch: Die Nacht wach bleiben. Diese Bewegung findet ihren Ausdruck in täglichen Demonstrationen in Paris und anderswo in Frankreich.

8. Juni 2016

In der Woche vor Turnierbeginn gab es im Büro von Kollegen natürlich Fragen, ob man denn die Europameisterschaft verfolgen würde und ob ich denn wolle, dass die DFB-Elf gewinnt. Das sind durchaus Fragen rhetorischer Natur. Mit einem Kollegen bespreche ich dessen Ergebnisvorhersagen für die Gruppenspiele. Bei den meisten sind wir einer Meinung. Mit ihm rede ich auch über das public viewing am Eiffelturm, welches er nicht besuchen würde, aus Vorsicht. Die Vorzeichen sind deutlich zu spüren.
In der 120minuten-Redaktion trudeln seltsame E-Mails ein. Die Firmen wollen Beiträge bei uns veröffentlichen zu mitunter seltsamen Themen. selbst der Fahrradhersteller Cube, einer der Ausrüster der Nationalelf, ist darunter.Das würde sicher Klicks bringen, ist aber nicht unser Anspruch. Diese E-Mails wandern sogleich in den Papierkorb.
Die EM hat noch gar nicht begonnen, das ist man auch schon irgendwie genervt vom Kommerz, der dieses Turnier begleitet. Überall, wo man hinschaut, sieht man das Turnierlogo prangen: Auf dem Saft, dem Bier. Die Equipe Tricolore hat sich für eine Burgerkette einspannen lassen und eine andere ist einer der wichtigsten Hauptsponsoren. In den Supermärkten stapelt sich das Bier bis unter die Decke und es grinsen die Spieler einen an. Ein weiteres Zeugnis, dass der Fußball ein Vehikel des Kommerzes ist. Und ich stelle mir die Frage nach der Systemrelevanz.

10. Juni 2016

Und da geht es los. Der Sohnemann ist heiß und will das Eröffnungsspiel sehen. Die erste Halbzeit geht ja noch in Ordnung, danach ist Bettchen angesagt. Zu seiner Enttäuschung gab es kein Tor. Rumänien steht sicher und lassen nur wenig zu und bekommen einen Strafstoß zugesprochen. Frankreich rennt an und kommt erst gegen Ende zu einem weiteren Tor. Aber was für eins! In den Winkel. Superbude.
Derweil beginnt in Marseille eine ganz andere Diskussion. Oder vielmehr, es beginnt eine Diskussion über Gewalt, über Hooligans, über ein Problem, von dem man in Frankreich ausging, dass es nicht mehr vorhanden sei. Welch eine fahrlässige Fehleinschätzung!

11. Juni 2016

Das Beste am Spiel England – Russland war die Aussage meines Sohnes zu Harry Kane: ‘Guck’ mal, der hat so ein dummes Gesicht.’ Er hat nicht ganz Unrecht. Die Geschehnisse in Marseille, im Stadion bestimmen weiterhin die Schlagzeilen. Man ist dabei schnell mit Urteilen, ohne die Lage genau zu kennen. Wer hat sich da mit wem geschlagen? Da es Marseille war, kann man davon ausgehen, dass es auch Einheimische waren, PSG Hools waren auch nicht weit weg und natürlich russische und englische Hooligans.

12. Juni 2016

Kroatien gegen die Türkei im Prinzenpark vor der Haustüre. Na, wenn da mal nichts passiert. Und so sollte es auch sein. Gegen 14 Uhr gab es wohl eine Auseinandersetzung, angezettelt von Pariser Hooligans. Davon habe ich nur hinterher Berichte eines befreundeten Journalisten gehört. Meine Eindrücke waren fröhlicher. Beide Seiten standen nebeneinander, sangen, tranken und unterhielten sich. Im Meer aus Rot und Weiß fielen die Farben der Schweden, Belgier, Iren, Deutschen regelrecht auf. Eine Gruppe von kroatischen Bikern ließ die Motoren aufheulen um zu zeigen: Seht her, wir haben die größten. Männlichkeitsrituale. Muss auch mal sein. Es blieb friedlich. Es roch nach Bier, Regen und Pisse.
Am Morgen hatte ich auf dem Weg zum Bäcker das Vergnügen, vier Kroaten den Tipp zu geben, die Metro statt des Autos zu nutzen, um zum Eiffelturm zu gelangen. Wie der Zufall es so wollte, sah ich die Vier nach Abpfiff wieder. Sie waren dankbar für den Tipp und hatten ein schönes Spiel gesehen. Sie kamen aus Göppingen, hatten also fast ein Heimspiel.
Mehr Details über Marseille, Nizza. Die gesamte Organisation erscheint absolut chaotisch, nicht durchdacht zu sein. Die Polizei verprügelt England Fans in Marseille, die im Stadioninnenraum Schutz suchen vor russischen Prügelschergen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass frz. Polizisten durchaus in der Lage sind, nicht zu differenzieren und überreagieren, sobald etwas außerhalb der Norm geschieht.

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Rückschau zum Mai 2013
PSG hatte nach einer gefühlten Ewigkeit die Meisterschaft erneut gewonnen. Der Präsident wollte angemessen mit den Fans auf den Champs Elysees feiern. Nur hat der gute Mann keine Ahnung von seinem Club und schon gar nicht von Fußball oder Fußballfans. Die Champs Elysées ist eine Prachtstraße. Das Gros der PSG-Fans sind sicher keine Prachtfans, die den Präsidenten erfreuen würden. Es sind sehr oft Leute aus den Vororten, die eine ganz andere Welt darstellen als die Straße im Zentrum von Paris. Der Club und das Stadion Prinzenpark sind im 16. Arrondissement, in einem der teuersten Bezirke von Paris; komplett fremd, wie aus einer anderen Welt erscheinen da die Fans, die in Jogginghosen ins Stadion gehen und eben keine teuren Hemden tragen. Die Feier geriet aus den Fugen, weil Anhänger und Polizei aneinandergerieten. Wie schnell, das merkte ich, als ich, auf dem Rad kommend, plötzlich in eine Wolke Tränengas fuhr. Was war geschehen? Einige Jugendliche hatten sich einem nicht als Polizeifahrzeug markierten Auto genähert, in dem uniformierte Polizisten saßen. Was wollten die Jugendlichen an dem Auto? Die Antwort blieb mir unbekannt. Die Polizisten sprangen raus und sprühten Pfefferspray in Richtung der jungen Männer und mir ins Gesicht. Es brauchte eine Viertelstunde, bis das Brennen an Augen, Nase und Mund nachließ und noch einmal so lang, bis ich mich in der Lage fühlte, wieder aufs Rad zu steigen. Klar, man kann fragen, was mache ich dort. Ganz einfach: Die Feier lag auf meinem Heimweg vom Französischkurs. Alle anderen Strecken waren zu lang und bedeuteten einen Umweg. Das nur als Beispiel, wie frz. Polizisten mitunter auf Fußballfans reagieren. Die Meisterfeier im Mai 2013 wurde abgebrochen.
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Klar, die Russen trifft auch Schuld und das nicht zu knapp. Sie waren organisiert und hatten nichts anderes im Sinn, als Unruhe zu stiften, die Engländer auch, logisch. Aber irgendwie war der russische Auftritt doch eine andere Hausnummer. Die Gemengelage ist unübersichtlich; wer hat mit wem koaliert um wen zu verprügeln. Erschreckend waren aber die Statements einiger Osteuropäer. ‘Weiter so’, sagte ein hoher russischer Beamter und der Westen sei verweichlicht, fügte er hinzu. Nun denn. Ein bekannter Rechtsradikaler ist Chef einer offiziellen Fanorganisation. Die Russen feiern ihre Kampferfolge, übersehen dabei aber gern, dass darunter auch Unbeteiligte sind, die in keinem Fall irgendwie involviert waren und deren Hauptanliegen eher der Fußball und nicht der Krawall war. Sie feiern sich, weil sie einen Mann Mitte 50 ins Koma geprügelt haben. Ich freue mich auf die WM 2018.

13. Juni 2016

Ich treffe mich mit Julien in der Pariser Innenstadt, um das Spiel Belgien gegen Italien in einer Bar zu sehen. Obwohl Julien gebürtiger Pariser ist, schlägt sein Herz für die Roten Teufel. Es war ein abwechslungsreiches Spiel: Belgien wollte, konnte aber nicht, Italien konnte, wollte nur noch nicht so recht. Dennoch war es irgendwann klar, dass Italien das Ding reißen würde. Die waren einfach zu abgeklärt. Belgiens Jungspunde dagegen rannten gegen diese mit allen Wassern gewaschenen Italiener an. Die Stimmung in der Bar ist gut. Es sind auch viele Iren und Schweden anwesend. Gut ist dabei den Umständen entsprechend zu verstehen.
Irgendwann nach dem Spiel Deutschlands gegen die Ukraine machen Bilder von Joachim Löws Handbewegung in die Hose und an die Nase die Runde. Dass daraus ein Mediensturm erwuchs, ist schier unglaublich. Das er noch eine Entschuldigung hinterherschieben musste, ist eine Frechheit. Was Lukas Podolski in der Pressekonferenz sagte, sollte daran erinnern, dass die Mehrzahl der Sportjournalisten männlich ist. Ich frage mich, warum ich so etwas überhaupt schreibe. Warum man dazu Worte verlieren muss.

16. Juni 2016

Im Büro kommt die Frage nach den Sternen auf dem DFB-Trikot auf. Gefragt hat meine Chefin, sie ist Österreicherin. Wie schön, wenn man da mit Schadenfreude hineinrufen kann: ‘Das kann man in Österreich ja nicht wissen, wofür die Sterne auf dem Trikot stehen.’ Danach ging es zurück ins Glied und die Arbeit weiter.

22. Juni 2016

Etwas ganz anderes: Während des Turniers beschließt unsere liebe Bundesregierung eine erneute Stufe der Überwachung. Diese soll sogar die Überwachung von Minderjährigen beinhalten. Wen wundert es da, dass mehr und mehr Leute sich von der Politik der Etablierten wegbewegen und sich an den Rändern ihre Überzeugungen holen?

26. Juni 2016

Feldversuch. Besuch einer Kneipe, die Bratwurst und deutsches Bier anbietet und als Treffpunkt für Deutsche in Paris bekannt ist. Bin ich froh, dass ich die WM 2006 NICHT in Deutschland erlebt habe. So ein aggressiver Feierzwang ist sehr sehr nervig und anstrengend. ‘Wer nicht singt, ist (Nazi, schwul, Hartz IV oder so). Die Feierprolls waren dabei nicht nur junge Männer, sondern bezogen alle ein: Männer, Frauen, alt, jung. Hinzu kommt der Kommentator: Bela Rethy. Sollte ich jemals wieder nach Deutschland ziehen, werde ich public viewing vermeiden. Freude dagegen beim Sohnemann: er hat alle drei Tore gegen die Slowakei gesehen, zu Hause mit Mama.

27. Juni 2016

Island führt gegen England seit der 19. Minute und England hat keinen Plan. Das ist wohl die bisher größte Überraschung bei dieser EM. Dabei mauern sie gar nicht, sondern bieten ein kampfbetontes Spiel, gegen das England keine Mittel findet. Ein erfahrener Trainer wie Hogdson ist mit seinem Talent am Ende, bzw. hat seine Mittel ausgeschöpft und musste feststellen, dass es nicht gut genug ist. Die Football Association sollte sich auflösen und die Mannschaft gleich mit. Schadensbegrenzung.

1. Juli 2016

Wales – Belgien. Was vor dem Turnier nach einem mäßigen Kick klang, war bei der Euro 2016 ein Viertelfinale und kein schlechtes obendrein. Belgien macht ein tolles Tor zum 1-0 durch Nainggolan, der aus 30m trocken abzieht und in den Winkel trifft. Irgendwann gleicht Wales aus und das Spiel kippt. Wales macht das 2-1 und Belgien verliert die Ruhe; es mangelt an Erfahrung. Kurz vor Schluss dann das 3-1 und der Drops ist gelutscht.

2. Juli 2016

Deutschland dagegen schreibt Geschichte. Seit 1970 hat keine deutsche Nationalmannschaft die italienische geschlagen. In Bordeaux war es nun soweit. Bis es soweit war, dauerte es 120 Minuten und man musste 18 (!!!) Elfmeter überstehen, ehe Jonas Hector den entscheidenden versenkte. Wieviele Herzattacken gab es im Stadion? In Deutschland? In Italien? Jogis Jungs lagen hinten, kamen wieder ran und behielten die Oberhand. Wie gut ging es meinem Sohn dabei. Der ist kurz vor Anpfiff der Verlängerung einfach eingeschlafen. War er beim 1-0 noch aus dem Häuschen, hat er beim Ausgleich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, ob Boatengs Fehler.

3. Juli 2016

Welch ein Kontrast dagegen Frankreich gegen Island. Nach 40 Minuten ist das Ding gegessen, Frankreich führt 3-0 und erhöht noch vor der Pause auf 4-0. Es droht ein Debakel als Giroud auch noch das 5. Tor macht nach 51 Minuten. Keine 5 Minuten später fällt das 1-5 aus isländischer Sicht. Ein Müllertor. Flanke von rechts auf den kurzen Pfosten, kein Verteidiger ging mit, bzw. hatte Sigthorsson auf der Rechnung, der Lloris im Tor keine Chance ließ. So gewinnt man keine Blumentöpfe, auch nicht im eigenen Land. Island gewinnt die 2. Hälfte 2-1 und Frankreich spielt gegen Deutschland im Halbfinale, ein erneuter sogenannter Klassiker unter den internationalen Begegnungen steht also an.
Spielerisch war die EM bisher keine Offenbarung. Die Vorsicht feiert fröhlich Urständ. Oder optimistischer ausgedrückt: es herrscht Disziplin allerorten und damit spiegeln sich im Fußball die Merkelsche Politik der Zurückhaltung, bzw. Schäubles Sparsamkeitszwang wider. Nur nichts riskieren sonst könnte man eventuell als Verlierer den Platz verlassen. Leider lebt der Fußball selten von Ordnung und Disziplin allein, Unordnung muss sein im Kopf wie auf dem Rasen.

7. Juli 2016

Und dann ist es vorbei. Gegen Frankreich. Die nicht besser spielen aber eben die Buden machen, weil sie Stürmer haben. Die DFB-Elf nicht. Unterschied. Selten sah man eine einseitigere 1. Halbzeit als in diesem Spiel. Allein, der Ball wollte nicht ins Tor. Und wenn der Ball nicht will, kann man auch noch Jahre spielen und es passiert nichts. Aber dann geschah doch etwas: ein Handspiel im Strafraum von Schweinsteiger, dem Kapitän. Dankend nimmt Frankreich diesen so wichtigen Strohhalm an. In der zweiten Hälfte kommt zum Pech noch Unvermögen hinzu; Les Bleues sagen Merci und es steht 2-0.
Um mich gegen Kommentare zu wappnen, trage ich ein grünes T-Shirt am folgenden Tag:

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10. Juli 2016

Da diese EM so ziemlich jede Serie hat reißen lassen jede und Ordnung aufgewirbelt hat, sage ich einen Sieg Portugals im Finale voraus. Als Cristiano Ronaldo nach 25 Minuten weinend den Platz verlässt, bin ich mir meiner Sache ziemlich sicher. Denn ohne ihn ist Portugal viel besser, weil ausgeglichener. Und so kommt es dann auch. Selbstredend habe ich auch die Verlängerung vorhergesagt. Frankreich hatte im Kopf wohl schon das Turnier gewonnen und waren mental überhaupt nicht auf dem Platz. Lediglich Moussa Sissokho wollte, hatte aber keinen, der mitspielen wollte/konnte. Der spielt übrigens bei Newcastle United in der 2. Liga.

Das letzte große Turnier?

Einige Kommentatoren haben die Euro 2016 als das letzte große Turnier bezeichnet. So schrieb Jonathan Wilson im Editorial von Heft 19 von The Blizzard und John Doyle schrieb ähnliches im 8by8 Magazin im Juni. Das ist sehr hoch angelegt und wahrscheinlich nicht zu halten. Begründet wird dies mit den bevorstehenden Turnieren. Schon in 2 Jahren wird die WM in Russland stattfinden. Was die Spieler 2016 in Frankreich auf dem Platz gezeigt haben, war erschreckend. Die nächste Europameisterschaft 2020 wird ein Wanderzirkus, um des 60. Geburtstags dieser Veranstaltung zu gedenken. Es wird kein Ausrichterland geben, sondern es wird überall gespielt werden. Nur das Finale soll auf neutralem Boden stattfinden. Um der Historie der Europameisterschaften gerecht zu werden, sollte das Finale in Moskau stattfinden; immerhin hat die Sowjetunion 1960 die erste Auflage dieses Turniers gewonnen. Danach kommt es ganz dick, steht der Zug in die Wüste an: 2022 Katar. Seit Jahren gibt es Berichte über eine verschobene Wahl für dieses Austragungsland, die Bedingungen der Arbeiter auf den Baustellen für die Stadien; immerhin muss eine komplette Stadieninfrastruktur einfach mal so aus dem Wüstenstand entstehen. Hinzu kommt die politische Lage in Katar und in Russland. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, dass man vom letzten großen Turnier spricht.

Abbild der Zeit

Doch soll hier nicht vorgegriffen und die Zukunft vorhergesagt werden. Vielmehr soll dieses Argument etwas näher beleuchtet werden. Was macht ein Turnier groß? Der Sport, die Atmosphäre, die Stadien, das Gastgeberland? Man braucht einige Zeit der Recherche, um ein sportliches Ereignis zu finden, welches diese Kriterien erfüllt. Spontan fallen da die Olympischen Winterspiele 1994 in Lillehammer ein. Die Atmosphäre war entspannt, sogar sehr entspannt hatte man den Eindruck. Die Großmannssucht vorheriger bzw. nachfolgender Veranstaltungen war nicht zu spüren. Aus sportlicher Sicht kommen Jens Weißflog und Björn Dæhlie in den Kopf. Beim Fußball muss man wohl das sogenannte Sommermärchen 2006 als Maßstab, was die Feierlaune der Deutschen angeht, anlegen. Die englische Presse überschlug sich mit Lobeshymnen und wohl auch die Deutschen selbst waren etwas überrascht von soviel Positivität. Fußballerisch dagegen war es eher magere Kost. Man denke an das Spiel Holland – Portugal, welches keine Mannschaft mit 11 Spielern beendete. Oder Zizous Kopfstoß. Diese Auflistung könnte weitergehen und jedes Turnier auf Höhepunkte untersuchen, sowohl auf dem Platz als auch auf den Rängen oder in den Austragungsorten. Hinterher würde die Erkenntnis stehen, dass es einfach zu viele Faktoren gibt, die ein sportliches Ereignis groß werden lassen. Vieles erschließt sich auch erst im Rückblick. England schwärmt immer noch von 1966, logisch: Sie haben ja auch gewonnen; Uruguay träumt noch vom Maracana 1950. Fest steht, es ist nicht einfach, festzulegen, welches Turnier nun das beste aller Zeiten war. Dazu ändern sich zu vielen Parameter über die Jahrzehnte, inklusive das Spiel selber. Vielmehr gilt: Jedes Turnier ist ein Abbild seiner Zeit. Gerade in Frankreich gibt es derzeit genug Nebenschauplätze, um den Fußball zu vergessen. Womit wir bei der Euro 2016 sind.

Nach den Anschlägen im letzten Jahr befindet sich Frankreich im Ausnahmezustand. Dieser wurde nach dem 13. November ausgerufen und inzwischen mehrfach verlängert; nach Nizza nun erneut. Irgendwann kräht kein Hahn mehr danach und der Ausnahme- wird zum Normalzustand. Die Cafés sind voll aber irgendwie war die Stimmung während dieser EM eine andere. Was an vielem gelegen haben könnte. Am Wetter zum Beispiel. Der Mai war verregnet und es gab Hochwasser in Paris. Einige umliegende Städte sind abgesoffen und die Leute haben sicher besseres zu tun, als Fußball zu schauen. In den ersten Turniertagen hat es in Paris regelmäßig geregnet. Dazu kommt die Arbeitsgesetzgebung, die weiter oben schon erwähnt wurde. Warum müssen immer sogenannte linke oder sozialdemokratische Regierungen solche neoliberalen Reformen umsetzen? Blair, Schröder, Hollande. Gibt es denn keine Möglichkeit, dass es in Europa einen Evo Moralez gibt? Dieses Gesetz stößt vielen sauer auf und die Konsequenz sind Streiks in Paris, aber auch anderswo. Der Gewerkschaftsführer der CGT wird als Tyrann bezeichnet, obschon er Gesprächsbereitschaft signalisiert. Er fordert die Regierung auf, diese Neuerungen zurückzunehmen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Alles in allem also eine durchaus bedrückte Stimmung. Dabei hätte es Europa dringend nötig gehabt, positive Ablenkung zu bekommen.

Finanzkrise, Bankenkrise, Flüchtlingskrise und mit dem Brexit auch noch eine Identitätskrise. Überhaupt ist Krise am ehesten, was man mit Europa assoziiert. Krise, der Umgang damit und die Folgen, die auf die einfachen Leute umgewälzt werden. Die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten haben Europa an den Rand des Scheiterns gebracht. Alle meckern über diese große Anzahl an Menschen, an deren Unglück wir nicht unschuldig sind. Polen, ein erzkatholisches Land, vergisst vor lauter Ablehnung ein christliches Leitmotiv: Nächstenliebe. Ungarn steht dem in nichts nach. Und so geht es weiter, bis irgendwann alle die Türen zuknallen ohne Rücksicht auf Verluste. Am Ostrand des Kontinents herrscht seit zwei Jahren Krieg. In der Ukraine blickt keiner aus dem sogenannten Westen noch so richtig durch. Nebenbei holt sich Russland die Krim zurück. Was wäre eigentlich geschehen, hätten Russland und die Ukraine gegeneinander spielen müssen? Orwells Motto vom Sport als Krieg ohne Schießen kommt in den Sinn. Nur ist davon auszugehen, dass es ganz ohne Gewalt nicht abgelaufen wäre. Stichwort Marseille. Was ist überhaupt mit Russland los? Der Ausrichter der WM 2018 unterstellt dem Westen, ein verweichlichtes Mannsbild zu haben. Ein ‘Weiter so!’ nach den Ausschreitungen in Marseille gibt es von offizieller Stelle zu hören. Die Aussage wird zwar dementiert, lässt aber dennoch tief blicken. Ein offen Rechtsradikaler ist Mitglied der russischen EM-Delegation und Chef der Fanorganisation in Russland. Die Leute, die in Marseille kämpfen, sind durchtrainiert und feiern sich, weil sie eine Überzahl englischer Gegner in Schach gehalten haben. Es ist etwas faul in Europa und der Fisch stinkt nicht allein vom Kopfe her. Diese EM hätte ein Lichtblick sein können für Europa, welches sich auf seine Werte besinnen und den Karren aus dem Dreck ziehen sollte. Stattdessen: Brexit. England fliegt innerhalb von 4 Tagen zweimal aus Europa raus. Das erste Mal folgen sie den medialen Rattenfängern und beim zweiten Mal ist die Naturgewalt Island einfach zu stark. Einmal mehr hat Europa eine Krise zu bewältigen und es ist nicht klar, wie viele solcher Krisen noch kommen werden und wie Europa darauf reagieren wird.

Einhundert Jahre nach der großen Katastrophe sind wir also fast wieder dort angekommen, wo Europa nach 1918 und 1945 nie wieder hin wollte: Ein Kontinent sonnt sich im eigenen Nationalismus und versinkt immer tiefer im Sumpf desselben.

Weiterlesen – Teil 1 unseres EM-Rückblicks

Die EM und ich

oder: Über die Sucht Autor: Alexander Schnarr, nurderfcm.de In Teil 2 unseres EM-Rückblicks beschreibt Christoph, der in Paris lebt, seine Eindrücke von der Euro vor der Haustür – seine Euro-Notizen… Weiterlesen

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Die EM und ich https://120minuten.github.io/die-em-und-ich/ https://120minuten.github.io/die-em-und-ich/#comments Wed, 20 Jul 2016 06:00:30 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2320 Weiterlesen]]> oder: Über die Sucht

Autor: Alexander Schnarr, nurderfcm.de

In Teil 2 unseres EM-Rückblicks beschreibt Christoph, der in Paris lebt, seine Eindrücke von der Euro vor der Haustür – seine Euro-Notizen könnt ihr hier lesen.

Mein Name ist Alex und ich bin ein Junkie. Ein Fußballjunkie. Und: Ich habe versagt. Gründlich, vollständig und auf ganzer Linie. Ein kritisches, alternatives EM-Tagebuch wollte ich schreiben. Dokumentieren, wie es sich im Schland-Wahn lebt, wenn man versucht, sich dem UEFA-Festival der Unmöglichkeiten, das auch “Fußball-Europameisterschaft 2016” heißt, vollständig zu verweigern. Die Zeit einfach sinnvoll nutzt, anstatt jeden verdammten Abend vor dem Fernseher zu sitzen und sich so illustre Paarungen wie Island-Ungarn anzuschauen. Und nein, ich habe tatsächlich keine Ahnung, ob es diese Paarung überhaupt gab.

Also machte ich mich ans Werk, führte Tagebuch über mein Leben als EM-Verweigerer. Der letzte Eintrag stammt vom 22.06., da war die EM gerade mal 12 Tage alt und die Vorrunde just beendet. Selbstredend hatte ich inzwischen bereits mehr Spiele gesehen, als ich mir eigentlich für das ganze Turnier vorgenommen hatte. Die letzten Zeilen meines Selbstversuchs waren die folgenden:

“Natürlich verfolge ich mittlerweile aufmerksam und interessiert den Turnierverlauf. Gut, den deutschen jetzt nicht so, wenngleich ich seit einigen Tagen überlege, ob wir uns nicht auch das offizielle Waschmittel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft kaufen sollen. Nee, mehr so generell. Enttäuscht bin ich von Österreich, begeistert von Island. Ach verdammt, ich bin dann eben doch ein Süchtiger…. So, und ab jetzt wird die EM genossen. Scheißenocheins.”

Dabei hatte alles so gut angefangen. Bereits Mitte/Ende Mai begannen sich die virtuellen Tagebuchseiten zu füllen und fing ich damit an, meiner Abneigung gegen diese Kommerz-Veranstaltung Ausdruck zu verleihen. Was nun folgt, ist nicht weniger als:

Eine Chronologie des Scheiterns

18.05.2016

Morgens im Deutschlandfunk über die Nominierung des vorläufigen EM-Kaders informiert worden. Große Enttäuschung – Bundes-Jogi hatte wieder keinen Spieler des 1. FC Magdeburg berufen. Dafür aber Lukas Podolski. Der spielt noch?

19.05.2016

Erste Politiker posieren mit Deutschland-Trikots; der ballesterer hat die EURO als Titelthema. “Ihr jetzt auch?!” rufe ich anklagend in Richtung Fußballzeitschriftencover. Meine Rufe verhallen ungehört.

20.05.2016

Zugegeben, das ballesterer-EM-Special ist richtig gut. Also, gewohnt gut. Habe ich vom ballesterer ja eigentlich auch nicht anders erwartet. Die Klagerufe von gestern tun mir ein bisschen Leid, dafür lese ich jetzt aber auch doppelt so interessiert und dreimal so aufmerksam.

25.05.2016

Der Deutschlandfunk berichtet, dass die deutsche Mannschaft in irgendein Trainingslager reist und dass Löw noch Spieler aussortieren muss. Hallenhalma hätte mich dann doch noch ein wenig mehr gekickt, aber okay, man kann sich die Nachrichten nun mal nicht aussuchen.

27.05.2016

Redaktionskollege Christoph fragt wegen eines EM-Tippspiels an. Die Einschläge kommen näher.

29.05.2016

Gerade zurück von einem Familienkurztrip nach Moskau. Angenehm un-EM-ig dort. Deswegen sind wir da aber nicht hingefahren. Bei der Ankunft am Frankfurter Flughafen das Ergebnis des Testspiels gegen die Slowakei (1:3) gesehen. Den Nebenmann gefragt, ob er Wayne kennt. Tat er nicht, dafür guckte er komisch. Nun denn. Ich zuckte mit den Schultern und bestieg den Zug in Richtung Hauptbahnhof.

31.05.2016

Jogi Löw gibt seinen endgültigen Kader bekannt, Marco Reus fährt nicht mit. Ich empfinde nichts.

07.06.2016

Es wird so langsam schwieriger, der Europameisterschaft im Alltag zu entfliehen. Bei “Sport Aktuell” ist die EM dauernd Top-Thema und im Supermarkt gibt es schwarz-rot-goldene LED-Herzen und Toffifee in ebenjener Farbkombi im Jumbopack. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass ich alles, was man über die EM wissen muss, tatsächlich aus der EM-Ausgabe des ballesterer erfahren kann. Die spannende Frage ist lediglich, ob ich das Heft bis zum Turnierauftakt auch ausgelesen haben werde.

Außerdem pusht mir mein Telefon folgende Eilmeldung (!!!!111!): “EM-Aus für Antonio Rüdiger”. Aha.

08.06.2016

“Die Schottische Furche” fasste gestern meinen Gemütszustand via Facebook hervorragend zusammen.

UNSPORTLICHER SPORT
“Es ist ja schon komisch mit der EM. Da steht ein sportliches Highlight vor der Tür und es geht um alles – nur eben nicht um Sport. Einerseits die großen Zweifel hinsichtlich der Sicherheitslage rund um die Spiele, andererseits die Debatten um die Aussage eines AfD-Politikers, der offensichtlich den Verstand verloren hat. Umsäumt wird all das Unsportliche von einer Marketing-Welle, die an Konsum-Perversion nur schwer zu überbieten ist und sich jeder Supermarkt anfühlt wie die Kabine der deutschen Elf.

Und der DFB? Der steht als „gemeinnütziger Verein“ dem ganzen Wahnsinn natürlich vorbildlich gegenüber und schreibt sich in seiner Satzung die „Förderung gesunder Ernährung (…) als gesundheitliche Prävention“ auf die Fahnen. Deshalb entschied man sich in Frankfurt auch guten Gewissens für Verträge mit Ferrero (“Steck deine Stars in die Tasche!”) und McDonalds (“Sport und McDonald’s gehören einfach zusammen”) und schnürte mit Coca Cola einen „Premium-Partner“-Deal. Während Erwachsene mit Brauspar-Aktionen ein alkoholisches Konto eröffnen, können so besonders Kinder die EM bei Schokolade, Burger und Cola kalorienarm genießen. Gesundheit ist eben alles, besonders in Satzungen.

Ein Supermarkt-Regal weiter kann man den Liter Milch heute übrigens ab 47 Cent erwerben. Und während zig Bauern in ganz Deutschland um ihre Existenz fürchten, entscheiden sich eben doch viele für die 24 Sammeldosen von Coca Cola – natürlich wegen des gesundes Inhaltes und nicht wegen den abgebildeten Mats Hummels oder Manuel Neuer. Die Welt ist verrückt geworden. Darauf ein Prosit, lieber DFB!” (via Die Schottische Furche/Facebook)

09.06.2016

Jetzt ist die Europameisterschaft also auch im Job angekommen: In der Mittagspause im Büro unterhalten sich die Kolleginnen über EM- und WM-Guck-Gewohnheiten, Autodeko und die Chancen verschiedener Mannschaften. Damit nicht genug, klärt mich zuhause die Angetraute darüber auf, dass es bereits eine schwere Verletzung in der deutschen Mannschaft gab und sie glaubt, dass die Nivea-Boys es nicht über die Vorrunde hinaus schaffen.

Gleichzeitig stelle ich ja doch eine gewissen Vorfreude fest (hey, 4 Wochen lang fast jeden Tag ein Spiel!) und frage mich, ob es okay ist, den ganzen Kommerz-Wahnsinn abzulehnen und sich trotzdem auf das Sportliche zu freuen. Problematisch zudem: Am Eröffnungstag bin ich Strohwitwer und finde wenig Gründe, nicht doch mal zum Auftaktspiel den Fernseher einzuschalten.

10.06.2016

Dann habe ich das Eröffnungsspiel doch geschaut… wobei “schauen” nicht ganz stimmt – die Partie lief halt nebenbei, während ich noch etliche Dinge erledigte. Erst am nächsten Morgen hörte ich im Podcast meines Vertrauens, dass es wohl keine so tolle Vorstellung der französischen Mannschaft gewesen sein soll, so viel zu meiner Konzentration auf das Fernsehbild.

Überhaupt, Podcasts: Während in Sachen Nationalmannschaft leider offenbar auch der Deutschlandfunk schlandisiert wurde, gibt es inzwischen glücklicherweise noch den Rasenfunk Kurzpass, in dem vor allem das Sportliche im Mittelpunkt steht und außerdem alle Mannschaften bzw. Paarungen besprochen werden. Und nicht, ob Mats Hummels Einzeltraining macht, Bastian Schweinsteiger mit nach Lille fliegt und dass der Flug von Evian am Genfer See bis zum ersten Spielort von Le Mannschaft anderthalb Stunden dauert. Gibt es wirklich Menschen, die sowas interessiert?

Formate wie der ‘Kurzpass’ hingegen erinnern mich daran, dass auf der Hochsicherheits-Marketingveranstaltung ja tatsächlich auch noch gegen den Ball getreten wird. Könnte aus der Perspektive vielleicht doch noch was werden mit der Europameisterschaft und mir. Und dann ist da noch der Fußball-Podcast des Guardian, seit über einem Jahr hochgeschätzt und aus meinem Podcatcher nicht mehr wegzudenken. Heute stehen bei mir 90 Minuten Lauftraining auf dem Programm, da werde ich doch da gleich mal reinhören.

Was mich dann auch zum nächsten Gedanken bringt: Gibt es eigentlich auch in anderen Ländern “Fußball-Schläfer”, also solche, die dem Sport sonst so gar nichts abgewinnen können wollen, bei Großereignissen dann aber plötzlich ihren Nationalstolz entdecken, ihre Außenspiegel mit, sagen wir mal dem Union Jack überziehen, sich vor Leinwänden in irgendwelchen Pubs versammeln und mit dem sonst so wenig wohl gelittenen Fußballvolk bei Toren der eigenen Nationalmannschaft in den Armen liegen? Klingt ja irgendwie nach einem spannenden Rechercheauftrag…

11.06.2016

Die Affen sind los. Jedenfalls in England. 

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Heftige Ausschreitungen auf jeden Fall in Marseille, was wohl vor allem an ziemlich motivierten russischen Hooligans liegt und daran, dass der gemeine Engländer sich offenbar für einen zünftigen Faustkampf auch nicht zu schade ist. Angesichts der Bilder, die da so durch die sozialen Medien flattern, darf man sich schon fragen, was genau die französischen Behörden mit “Sicherheitskonzept” eigentlich meinen. Fraglich allerdings auch, ob solche Szenen wie in Marseille überhaupt verhindert werden können.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Duktus, mit dem über die Ereignisse berichtet wird: Im “heute journal” während der Halbzeitpause im Spiel England-Russland irgendwas zwischen Entsetzen, Empörung und Angewidertsein (der Korrespondent spricht z.B. davon, dass der Alkoholkonsum vor Ort nicht mehr menschlich, sondern tierisch sei), beim Guardian dagegen ehrliche Bewunderung eines Reporters vor Ort für einen Landsmann, weil jener einen Russen mit einem technisch einwandfreien Dropkick aus dem Sprint heraus von seinem fahrenden (!) Motorrad beförderte… Beiderseits allerdings auch die berechtigte Feststellung, dass es eigentlich eine Schande sei, Polizei vor Ort durch solche Wald-und-Wiesen-Auseinandersetzungen zu binden, da die (Stichwort “Terror-Abwehr”) sicher andernorts besser eingesetzt werden könnte.

Ansonsten war gestern irgendwie Podcast-Großkampftag und wusste ich dank der verschiedenen, bereits erwähnten Formate, worauf ich abends bei England-Russland achten sollte. Auffällig war dann aber vor allem die Bandenwerbung: Eine amerikanische Fastfood-Kette, die auf Russisch wirbt, ein chinesischer TV-Hersteller, der die Bühne EM nutzt, um seine Produkte anzupreisen und Energie aus Aserbaidschan… Das versteht man dann wohl unter “The Global Game”.

Was die anderen Partien angeht, fasziniert mich eigentlich im Nachhinein nur, wie viel Zeit man gewinnt, wenn man sich den Nachmittag nicht durch Albanien-Schweiz und Wales-whatever vorstrukturieren lässt.

Heute Abend dann der erste Auftritt von Le Mánnschàft und ich habe ein wenig Angst vor hupenden Vollhonks, nachdem Mario Gomez den Ball in der 97. Minute mit der linken Pobacke über die Linie bugsiert. Und vielleicht ist das Team ja auch bereits nach 1 h 28 Minuten in Lille angekommen? Man weiß es nicht. Einigen Medien wäre so etwas sicher einen Brennpunkt wert.

12.06.2016

Auf dem Weg zu einer Frühstückseinladung und auf dem Weg zurück stolpert man hier und da über Menschen in Deutschland-Trikots; die Gespräche mit Freunden drehen sich aber eher um die Hooligan-Ausschreitungen in Marseille und Nizza. Was man zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: später würden auch in Lille Kategorie-C-Menschen auftreten, andere Menschen verprügeln und Reichskriegsflagge sowie Hitlergruß zeigen. Wirkt im Moment alles so ein bisschen wie Mixed Martial Arts mit ein wenig Fußball nebenbei. Schlimm.

Nach einem längeren Lauf aus Versehen in den Vorbericht zu Deutschland-Ukraine geschaltet. Darum weiß ich jetzt auch, dass Mario Gomez vor dem Spiel immer das linke Pissoir benutzt. Außer, es ist belegt, dann nimmt er auch mal das rechte. Wow. Einfach nur wow. Tja, das sind halt die Geschichten, die nur der Fußball schreiben kann.

Plötzlich verspüre ich außerdem große Lust, den Stromanbieter zu wechseln, einen neuen Fernseher aus chinesischer Produktion zu kaufen und endlich mal wieder im Gasthaus zur Güldenen Möwe zu speisen.

13.06.2016

Umfangreichste EM-Beschallung bisher mit anderthalb Spielen (Irland – Schweden und 50% von Belgien – Italien); so langsam hat man sich dann doch eintakten lassen in den EM-Modus… Thema – auch in der 120minuten-Redaktion – sind immer noch schwerpunktmäßig die Ausschreitungen in Nizza, Lille und Marseille.

Dank der EM weiß ich jetzt auch, wo in meiner Nachbarschaft Italiener*innen wohnen – und es ist total super, das durch unkontrollierte Grölerei rauszufinden, wenn man am nächsten morgen sehr früh aufstehen muss und daher auch zeitiger ins Bett ging. Mimimi. Überlege außerdem jetzt, einen Hyundai zu kaufen, um dann damit einen ganz bestimmten Drive-In einer ganz bestimmten Burgerkette unsicher zu machen.

14.06.2016

Gestern bis 20 Uhr gearbeitet, danach noch laufen gewesen – von der EM also so gut wie nichts mitbekommen, wenngleich der Guardian Daily und der Rasenfunk die Laufrunde begleiteten. Als ich nach hause kam, lief der Fernseher, weil meine Frau von sich aus (!) Portugal – Island schaute (!!) und mir sogleich berichtete, wie die erste Halbzeit lief (!!!). Pünktlich zum 1:1-Ausgleich der Isländer setzte ich mich mit einem isotonischen Kaltgetränk dazu.

15.06.2016

Keine besonderen Vorkommnisse – die EM und ich haben uns offenbar inzwischen aneinander gewöhnt bzw. ist man dann letztlich wohl doch abgestumpft. Und: Auch die Frankreich-Sympathisanten in der Nachbarschaft haben sich geoutet.

16.06.2016

Le Mannschaft, Schlandisierung, Allez zusammen, Teil 2 oder: Der zweite Auftritt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Polen. Natürlich habe ich mir das Spiel angeschaut, emotional hat es mich aber ungefähr so tangiert wie die Begegnung Ukraine – Nordirland. Die ich nicht gesehen habe. Faszinierend, wie es die DFB-Marketingmaschine, vermutlich powered by willkürlichen Vereinsstrafen, innerhalb von nur 2 Großereignissen geschafft hat, bei mir jegliches gesteigertes Interesse am eigenen Nationalteam sauber abzubinden. So läuft dann im Fernsehen eben das Spiel, während man sich nebenbei mit der Frau über den Tag, den nächsten Urlaub und sonstige Dinge unterhält, die wesentlich wichtiger sind. Plötzlich schwenkt die Kamera auf die Menge und zeigt deutsche Fans mit falschen Schnurrbärten in Schwarz-Rot-Gold. Meine Fresse.

17.06.2016

Dienstreise ist, wenn Du von der EM mal so überhaupt gar nichts mitbekommst. Und was ist eigentlich mit den Kroaten los? Die EM als Bühne für Streitigkeiten mit dem Verband bzw. bestimmten Personen zu nutzen, ist ja schon eher uncool. Genau wie die offensichtliche Anweisung der UEFA, die Mannschaften nicht in die Kabine zu schicken, während auf dem Spielfeld noch Fackeln und Böller entsorgt werden. In meinem Hinterkopf singt irgendwer ziemlich schief “The Show Must Go On”, während sich in der Magengegend ein wenig Übelkeit breit macht.  

18.06.2016

Mit der Partie Portugal gegen Österreich gibt es das erste Spiel der EM, das mit tatsächlich interessiert und emotional tangiert. Einerseits wegen Cristiano Ronaldo, den ich zwar als Fußballer wahnsinnig interessant finde, der mir aber aufgrund seines arroganten Auftretens häufig auch die Hasskappe aufs Haupt zaubert. Andererseits wegen des österreichischen Nationalteams, für das ich durch den ballesterer tatsächlich einige Sympathien hege. Ja, für Österreich. Wo es noch ein kindliches Staunen über den Erfolg der eigenen Mannschaft gibt. Man sich freut, bei der EM dabei zu sein. Es offenbar (soweit das zu beurteilen ist) ein Team gibt mit Ecken und Kanten, interessanten Charakteren und Spielerbiographien. Und keinen glattgeschleckten Einheitsbrei, der von der großen Maschine derart jeglicher Emotionalität beraubt wurde, dass es eigentlich ein Lehrstück in jedem Marketing-Handbuch sein müsste.

Das erste Spiel also, für das ich mir wirklich Zeit nahm und das ich mit Interesse schaute. Und dann das: Vollkommen indisponierte Österreicher (wie konnte man die im Vorfeld eigentlich derart stark schreiben?) und ein Cristiano Ronaldo, der beim Elfmeter den Pfosten trifft und anschließend ein Selfie mit einem Flitzer schießt. Ja mei.

19.06.2016

Drittes Spiel in Folge geschaut, drittes 0:0. Die Slowakei und England tun mir jetzt schon Leid. Was ich mich übrigens auch frage: Gibt es in anderen Ländern eigentlich auch so einen (dann natürlich länderspezifischen) Schland-Kommerz-Nervfaktor, der dazu führt, dass man eher andere interessante Teams verfolgt als die eigene Auswahl?

20.06.2016

Man muss auch mal die Größe haben, ein Spiel NICHT bis zum Ende zu schauen, in diesem Fall das äußerst, ähm, spannende 0:0 zwischen England und der Slowakei.

22.06.2016

Ich gestehe mein Scheitern ein und schreibe die eingangs bereits zitierten letzten Zeilen des Tagebuchs. Es bringt ja nichts, sich etwas vorzumachen. Dann gucke ich halt die EM.

Was sonst noch geschah

Tja, irgendwann wurde es dann doch Routine, bis spätestens 21:00 Uhr alle wichtigen Dinge erledigt zu haben und den Tag mit irgendeinem Fußballspiel ausklingen zu lassen. Meine anfängliche Anti-Haltung war zwar noch nicht ganz verschwunden, aber irgendwas hatte sich verändert. Gibt es bei solchen Turnieren so etwas wie einen Gewöhnungseffekt? Waren zunächst die Spiele selbst ein Problem, weil ich schon jedes Mal mit mir gerungen habe, ob ich mir den Mist nun jetzt angucken oder doch zu meiner Überzeugung stehen soll, waren es ab einem bestimmten Punkt die spielfreien Tage, die mir zu schaffen machten. Letztlich ist es ja schon interessant, was für ein Gewohnheitstier der Mensch doch ist.

Und es war ja auch nicht alles schlecht, immerhin gab es Island. Und ein EM-Halbfinale Frankreich – Deutschland, das ich reisenderweis’ im österreichischen Fernsehen verfolgen konnte, wo der Moderator einen lustigen Dialekt sprach und nicht Tom Bartels, Béla Réthy oder Steffen Simon hieß. Auch das Ausscheiden der DFB-Auswahl gegen die französischen Gastgeber ließ das Turnier für mich versöhnlich enden. Nicht, weil mich die Niederlage großartig gefreut hätte, dafür ist mir der DFB-Tross viel zu egal, sondern weil damit schließlich ein stundenlanger Autokorso durch meinen Wohnort so gut wie ausgeschlossen war.

Ein paar Portugiesen schafften es nach dem Finale natürlich trotzdem, mich hupenderweis’ noch ein wenig wachzuhalten, aber hey, es sei ihnen gegönnt. Derweil berauschten sich ein paar hundert Kilometer weiter westlich Ronaldo, Nani und Co. hoffentlich ausgiebig an diesem eigentlich ja doch ziemlich unwahrscheinlichen, dafür aber umso großartigeren Triumph, während die deutschen Nationalspieler vermutlich längst vorbildlich ins Land der (geplatzten) Träume entschlummert waren. Schließlich geht er ja bald schon wieder weiter, der große Zirkus, der mit seinen Attraktionen auf zwei Beinen vielleicht demnächst ja auch in Deiner Stadt Halt macht.

Und 2018, wenn dann vermutlich 64 oder so Mannschaften in Russland um die fußballerische Weltherrschaft ringen, ziehe ich ihn durch, den Fußballgroßereignisboykott. Ganz sicher. Doch, ganz bestimmt.

Weiterlesen – Teil 2 unseres EM-Rückblicks

Pariser Euro-Notizen

Ein Turnier vor der Haustür Autor: Christoph Wagner, anoldinternational.co.uk Teil 1 unseres EM-Rückblicks von Alex, der sich an Fußball-Entzug versuchte, lest ihr hier. Es ist Europameisterschaft und sie findet unmittelbar… Weiterlesen

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Beitragsbild: Wir bedanken uns bei Seth Werkheiser für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von Seth Werkheiser gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-SA 2.0

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Von der Kreisliga in die Nationalmannschaft https://120minuten.github.io/von-der-kreisliga-in-die-nationalmannschaft/ https://120minuten.github.io/von-der-kreisliga-in-die-nationalmannschaft/#comments Mon, 20 Jun 2016 06:00:20 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2243 Weiterlesen]]> Vor einigen Monaten begann ich, meine Erfahrungen als Kreisligaspieler aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Teil 1 und 2 können hier und hier nachgelesen werden. Eigentlich sollte nun Teil 3 folgen, der die Zeit in Frankreich beleuchtet. Leider ist etwas dazwischen gekommen. Ich wurde in die Nationalmannschaft berufen. In die Autorennationalmannschaft. Wie es dazu kam, soll hier kurz umrissen werden. 

Autor: Christoph Wagner, anoldinternational.co.uk

Irgendwann im Frühjahr erhielt ich von Frank Willmann eine Nachricht, dass im Juni in Frankreich ein Länderspiel stattfinden würde. Nun kann man als gemeiner Fußballfan davon ausgehen, dass während der EM in Frankreich im Juni einige Länderspiele stattfinden würden. Das Spiel, von dem Frank sprach, war aber ein besonderes. Es war ein Freundschaftsspiel zwischen den Autorennationalmannschaften des DFB und Frankreichs. Anlass war natürlich die EM. Im Pariser Goethe-Institut sollte dann abends noch eine Lesung mit zwei Autoren aus den jeweiligen Ländern stattfinden. Ich war eingeladen, das Spiel zu verfolgen und am Abend den Worten der kickenden Autoren zu lauschen. Klar, gar kein Problem, mache ich gern. Immerhin geht es um Fußball und ausnahmsweise müsste ich mal nicht irgendwohin reisen und auswärts übernachten. Nun wissen die Leser von 120minuten aber, dass ich selber gespielt habe und deshalb konnte ich mir die Frage auch nicht verkneifen, was es denn braucht, um mitzukicken: Mindestens zwei belletristische Werke und einigermaßen kicken können. Ok, Belletristik ist nicht meins, was das Schreiben bisher betraf. Eher die Kommentarfunktion bzw. die historische Recherche und Analyse. Schade, es hat also nicht sollen sein. Denn so ein Altherrenkick würde mich schon reizen. Sollte ich die französische AES anschreiben und darum bitten, auf der anderen Seite mitspielen zu dürfen? Wäre das Verrat oder gar Desertion? Ich beließ es dabei, nicht spielen zu können, sondern nur zuzuschauen.

Wie das so ist, kommt es dann meist anders. Ende Mai erreichte mich erneut eine Nachricht von Frank mit der Frage, ob ich mir vorstellen könnte, als Spieler auszuhelfen, da es einige Ausfälle gab. Meine Antwort: Ich habe insgeheim mit dieser Berufung gerechnet, aber mir keine Hoffnungen gemacht.

Eigentlich habe ich es nicht so sehr mit Deutschland und Trikot tragen. Will sagen, klar, die Mannschaft soll doch bitte gut spielen und wenn möglich gewinnen, aber ich bin kein Superfan. Und Trikots eines Vereins trage ich sehr selten, ein solches der DFB-Mannschaften besitze ich gar nicht und das Wort ‘Schland’ gehört in meinen Augen verboten. Dennoch, ich würde also ein Trikot tragen mit vier Sternen auf der Brust und ich wusste, es würde mich unheimlich stolz machen. Das ist Fußball. Also habe ich mir den 4. Juni rot im Kalender angekreuzt und mich gefreut.

AutoNaMa und AES
Die Autorennationalmannschaft oder kurz AutoNaMa wurde vor 10 Jahren vom fußballaffinen Autor Thomas Brussig initiiert. 2010 wurde die Mannschaft Europameister.
AES = Association des Ecrivains Sportifs, die Vereinigung der Sportautoren Frankreichs wurde im Juli 1931 gegründet und hat sich zur Aufgabe gemacht, den Sport in seiner gesamten literarischen und medialen Bandbreite darzustellen. Die französische Mannschaft kam erst 10 Tage vor dem Spiel zusammen, was man zum Teil sah.

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Das Stadion

Wer glaubt, der Pariser Fußball dreht sich nur um den Prinzenpark oder findet ausschließlich im Stade de France statt, der hat keine Ahnung. Fast 30 km außerhalb der Stadtmauern von Paris spielt seit inzwischen fast 100 Jahren der Racing Club de Paris. Seit 1920 ist man im Stade Yves du Manoir in Colombes beheimatet. Davor war der Club im Prinzenpark zu Hause. In den 1930er Jahren erlebte der Club Racing seine größte Zeit und gewann 1936 das Double aus Meisterschaft und Pokal. Das erste Double einer Pariser Mannschaft überhaupt, lange vor PSG à la Katar. Der Pokal ging noch insgesamt vier weitere Male nach Colombes: 1939 und 1940 und 1945 gleich nach dem Krieg wieder. Letztmalig wurde die Trophäe 1949 gewonnen. Racing erreichte 1950 sowie 1990 noch einmal das Finale, mehr ging nicht. Derzeit spielt der Klub in den unteren Amateurligen und lebt von seiner Geschichte. Man ging mehrere Fusionen mit anderen Vereinen ein, letztlich kam man doch immer wieder auf den originalen Namen zurück. Das Stadion in Colombes wurde für die Olympischen Spiele 1924 errichtet, später auf wahnsinnige 60.000 Plätze ausgebaut und wurde Olympiastadion von Colombes genannt. Das Stadion wurde ebenfalls 1938 für die WM in Frankreich genutzt; der spätere Weltmeister Italien spielte dort gegen Ungarn und zahlreiche Finalspiele des französischen Verbandspokals fanden dort statt. Am 5. März 1963 waren sage und schreibe 63.638 Menschen in diesem Stadion, um Ajax gegen Benfica spielen zu sehen im Landesmeisterpokal. Von dieser Größe ist heute nichts mehr zu erkennen; gut ein Viertel davon passt noch in die offene Schüssel rein. Im großen Stadion spielt heute der Racing Metro 92, eine Rugby-Mannschaft, die in der ersten Liga Frankreichs, der Top14, verortet ist.

Der Spieltag

Treffpunkt war vor eben jenem Stadion. Unser Spiel sollte auf einem Nebenplatz stattfinden. Nichtsdestotrotz war der Rasen wohl der beste, den ich je betreten durfte. Die bisherigen Plätze waren je nach Witterung entweder noch furztrocken vom Sommer und somit Staubwüsten, auf denen man Rasen bestenfalls erahnen konnte oder tiefe Schlammgruben und bedeckt mit Pfützen. Das hier war mein Wembleyrasen. Kurz gehalten und aufgrund des Regens in den Tagen zuvor relativ tief. Sogar in den Toren war Rasen zu finden! Auf der kleinen überdachten Tribüne finden etwa 1.000 Zuschauer Platz, insgesamt können wohl etwas mehr als 2.000 ein Spiel verfolgen.

In Frankreich und speziell in Paris sind Verabredungen eher Richtwerte. So kam ich etwas später als vereinbart; der Bus mit den Mannschaften, der Betreuung vom Goethe-Institut, den Fernsehteams, Fotografen etc. kam geschlagene 25 Minuten verspätet an. Als dann der Bus da war, kam Frank als Erster raus. Ich wurde sogleich allen vorgestellt, die nach und nach einzeln aus dem Bus purzelten. Wolfram Eilenberger, Simon Roloff, Lucas Vogelsang, Moritz Rinke … viele kannte ich nicht einmal. Nach gefühlt 100 Mal Hände schütteln erwähnte Frank, der mich jedem vorstellte, die französischen Autoren, die über Fußball schrieben und die durchaus interessante Kontakte darstellen könnten. Es war die reinste Informationsflut, die ich gar nicht bewältigen konnte in der kurzen Zeit. Der Weg zur Kabine: noch mehr Fragen, viel vorstellen, viel reden über mich, über die Bloggerei, über Paris, was ich hier so tue. Dazwischen immer wieder Frank, der mir Menschen zeigte, mit denen ich in Kontakt kommen sollte. Und dann die Mannschaftskameraden, die ebenfalls wissen wollten, woher man kam.

“Bist du denn fit?”, fragte Frank. “Klar, ich laufe ne 10 aus dem Stand in 48 Minuten.” Was nach Angeberei klang, war durchaus realistisch, selbst ohne Training. Die Fitness war also nicht das Problem. Eher die fehlende Spielpraxis. Das letzte Großfeldspiel war 2013 und zwischendurch gab es nur 2 Auftritte auf dem Handballfeld in der Halle in Magdeburg. Der letzte im April war durchaus vielversprechend. Trotzdem, Großfeld ist eine andere Hausnummer. Klar, Erfahrung meine ich genug zu haben, nach einer illustren Karriere in drei Ländern. Die Wahrheit würde wohl auf dem Platz zu finden sein. In der Kabine dann die offizielle Begrüßung durch die gesamte Mannschaft: Beifall von den Spielern und Vorstellung durch Trainer Frank. Ich nahm Platz in einer Ecke neben Wolfram Eilenberger und Moritz Rinke, beides keine Unbekannten. Das Umziehen war begleitet vom Üblichen: Geplänkel von den Spielern, Musik und eine Ansprache von Trainer Frank. Und dann war auch schon Aufwärmen angesagt. Vorher konnte ich mir die Frage an Frank nicht verkneifen, ob er mich denn mal bitte kneifen könne, als ich das Trikot übergestreift hatte.

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Wie es sich für ein Länderspiel gehört, wurden vor dem Anpfiff noch reichlich Fotos geschossen, jede Mannschaft für sich, dann gemeinsam. Mit dabei Arte und ein weiteres Kamerateam sowie die DFB-Kulturstiftung, das Goethe-Institut und noch einige mehr. Zum Glück wurde auf das Singen der Hymnen verzichtet. Abklatschen der Mannschaften mit den besten Wünschen auf ein schönes Spiel: bon match. Auf des Gegners Seite war dieser Satz verbunden mit dem Wunsch, es doch bitte ruhig angehen zu lassen; die Franzosen sollten heute zum ersten Mal gemeinsam spielen. Bevor es nun endgültig losgehen konnte, noch ein kurzer Moment der Besinnung: Muhammad Ali war in der Nacht zum Sonnabend verstorben und seiner sollte gedacht werden. Aber dann, dann ging es endlich los. Kaum war das Spiel 15 Minuten alt, stand es schon 2-0. Zweimal war Philipp Reinartz der Torschütze. Hernach entwickelte sich eine flotte Partie, bei der durchaus mehr Tore hätten fallen können auf beiden Seiten.

Nach 25 Minuten war es dann soweit: ich kam auf den Platz und spielte auf der rechten Außenbahn. Keine 5 Minuten später zwickte es in der Wade und eigentlich wäre ein Weitermachen töricht und leichtsinnig. Geht man aber schon nach 5 Minuten runter, wenn man so eine Chance bekommt? Wenn man spielen will? Genau. Als Läufer weiß ich, dass so eine kleine muskuläre Disbalance “rausgelaufen” werden kann. Das versuchte ich. Und lief rum wie Falschgeld. Die mangelnde Spielpraxis war mir eindeutig anzumerken. Ich würde dennoch sagen, dass es durchaus auch gute Szenen gab, muss aber hinzufügen, dass Frankreich aufgrund der Uneingespieltheit zur Improvisation gezwungen war. Als weiterer Punkt zu meiner Verteidigung sollen meine Gegenspieler nicht unerwähnt bleiben. Es gab derer zwei, die mir sehr auf den Fersen standen und von einem hatte ich sogar Stollen auf meinem Schienbeinschoner. Kein Pfiff, ich stand und spielte weiter, aber heftig war das schon.

Halbzeit. Kurze Ansprache und Erinnerung, weiterhin konzentriert zu spielen. Ein Schluck Wasser, ein Bissen vom Müsliriegel.

In der zweiten Hälfte ging es schon viel besser auf meiner Seite. Jedenfalls waren wir dem dritten Tor näher als Frankreich dem Anschlusstreffer. Die Wade wurde zum Weitermachen gezwungen und fügte sich. Im Adrenalinrausch des Spiels hatte sie auch keine Wahl. Es lief gut. Die Wechsel während des Spiels waren fließend, sodass jeder mal spielte und ausreichend Spielzeit bekam. So war es auch bei mir, als ich irgendwann runtergenommen wurde; die Pause war auch das Ende: der Wadenmuskel wurde hart und an Laufen war nicht mehr zu denken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht setzte ich mich und fluchte laut. Selbst Versuche, noch einmal zu laufen waren wenig erfolgreich. Es ging einfach nicht weiter.

Auf dem Rasen wurde das Spiel mehr und mehr ein Wettstreit zwischen deutscher Organisation und französischer Improvisation. Letztere schien durch beim Gegentreffer. Einer nahm sich ein Herz, zog aus 40 Metern ab. Die Bogenlampe war unhaltbar. Und plötzlich hatte Frankreich wieder Schwung und Energie, kamen die Pässe an. Deutschland hielt dagegen und siegte am Ende nicht ganz unverdient 2-1.

Die Dritte Halbzeit

Dieser Begriff hat einen schlechten Beigeschmack, steht er doch für Gewalt vor und nach dem Spiel. Für die AutoNaMa gab es eine dritte Halbzeit im Goethe-Institut in der Nähe des Eiffelturms. Unter dem Oberbegriff Fußball und Kultur wurde aus deutsch-französischer Sicht diskutiert. Darüber, ob Karim Benzema wegen zweier Straftaten nicht in die Nationalmannschaft Frankreichs berufen wurde oder nicht. Der Spieler selber behauptet, aufgrund seines nicht französisch klingenden Namens nicht nominiert worden zu sein. Das ist natürlich Unsinn, warf aber dennoch die Frage auf, inwieweit der Fußball rassistische Ressentiments bedient. Es wurde auch diskutiert darüber, welche literarische Form am besten zum Fußball passt. Die Vorschläge reichten von Drama über Poesie bis hin zur Oper und erklärt vielleicht, warum es bis heute noch keinen wirklich überzeugenden Fußballroman gegeben hat. Denn zu jeder der hier erwähnten Formen der Musik oder Literatur kann man zustimmen und es finden sich Beispiele zur Genüge. Anschließend gab es noch ausreichend Gelegenheit, bei einem Bier und belegten Broten Kontakte zu knüpfen, sich kennen zu lernen, auszutauschen, zu erzählen und einen schönen Abend zu haben.

Der Abend hatte gar nicht genug Stunden, um mit allen zu reden. Es fiel schwer, mich zu entscheiden: Franzosen? Deutsche? Beide!

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Es war ein tolles Erlebnis, einmal international zu spielen, wenn auch Licht und Schatten dicht beieinander lagen. Es hat Spaß gemacht; ich trug das Weltmeistertrikot für 90 Minuten und habe jetzt ein Länderspiel auf der Habenseite, war im Fernsehen und habe mit einigen literarischen Größen aus Deutschland und Frankreich auf dem Rasen gestanden und hinterher auch noch das eine oder andere Bier getrunken. Das kann nicht jeder von sich behaupten.

Mein Dank geht an Frank Willmann, der mich eingeladen hat, mitzuwirken. Ebenso möchte ich der gesamten Mannschaft meinen Dank aussprechen, für den warmen Empfang und einen sehr sehr interessanten Tag. Hier noch einmal die Namen aller Beteiligten: Andreas Merkel, Marius Hulpe, Thomas Klupp, Moritz Rinke, Wolfam Eilenberger, Lucas Vogelsang, Uli Hannemann, Bernd Oeljeschlaeger, Philipp Witte, Norbert Kron, Philipp Reinartz, Michael Kröchert, Falko Hennig und Simon Roloff, in dessen Trikot ich auflaufen durfte und den ich hoffentlich gebührend vertreten habe. Die Einladung zum Training in Berlin nehme ich gern an, wenn ich denn mal da bin.

Mein Dank gilt ebenso den Mitarbeiterinnen des Goethe-Instituts Paris. Allen voran Aurélie Marquer, die den gesamten Tag organisiert hat. Dem Fotografen Philippe Lelluch sei ein Dank ausgesprochen dafür, dass er die Fotos zur Verfügung gestellt hat.

Alle Fotos: © Goethe-Institut/Philippe Lelluch
Video: Kamera/Schnitt: Olivier Morice Redaktion: Katja Petrovic

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