Fußball – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 01 May 2019 11:00:33 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 It’s A Different World: Frauen im Fußball https://120minuten.github.io/its-a-different-world-frauen-im-fussball/ https://120minuten.github.io/its-a-different-world-frauen-im-fussball/#comments Thu, 02 May 2019 08:00:18 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5915 Weiterlesen]]> Eigentlich sollte es längst selbstverständlich sein, dass Fußball nicht nur ein Männer-, sondern auch ein Frauensport ist. Sei es in Sachen Spieler*innen, Fans oder Funktionäre. Die Realität sieht oft leider anders aus. Wie also können Frauen im Fußball sichtbarer werden? Der Frage geht dieser Text aus dem „Zeitspiel“-Magazin nach.

„Das soll unser Fußball sein?“ „Nein! Setzt euch gegen Sexismus ein.“ Tolle Choreo in Freiburg. (Foto: Nordtribuene.org)

von Mara Pfeiffer, 120minuten.github.io | April 2019

Frauen im Fußball sind Spielerinnen, Fans, Journalistinnen, Trainerinnen, Verantwortliche und Funktionärinnen. Frauen im Fußball sind aktiv, begeistert, hetero, lesbisch, schwarz, weiß, divers. Frauen im Fußball interessieren sich für kickende Männer und Frauen. Frauen im Fußball sind Ultras und VIPs, stehen in den Kurven und auf dem Rasen. Frauen im Fußball fahren auswärts, trinken Bier und Apfelschorle. Frauen im Fußball lieben ihren Sport.

Wir haben dieselben Themen, wie Männer im Fußball. Doch viel zu oft werden wir auf einen Aspekt reduziert: Unser Frau-Sein. Darauf regen sich zwei Seelen, zumindest in meiner Brust. Auf der einen Seite habe ich keine Lust, mein Geschlecht zu thematisieren, weder, wenn ich als Fan in der Kurve stehe, noch, wenn ich als Journalistin über Fußball schreibe.

Da sich aus der Rolle als Frau in diesem von Männern dominierten Business aber nach wie vor auch ganz eigene Problemfelder ergeben – Stichworte Sexismus, sexualisierte Gewalt, Job-Diskriminierung – ist es notwendig, das Gespräch hierzu weiter zu führen. Mit dem Ziel, beim Fußball als Frau wie als Mann irgendwann nur über das zu reden, was auf dem Rasen passiert, statt darüber, welches Geschlecht Spieler*innen oder Protagonist*innen haben.

Netzwerk ist Trumpf

Eine, die das Thema „Frauen im Fußball“ seit Jahrzehnten umtreibt, ist Antje Hagel. Die 57-Jährige arbeitet im Offenbacher Fanprojekt und hat 1994 das Fanzine „Erwin“ mitgegründet. „Ich hatte immer den Wunsch, Frauen sichtbar zu machen“, erklärt Hagel. Das gelingt da am besten, wo diese Banden bilden und so gründeten Besucherinnen der Tagung „Abseitsfalle – Fußballfans, weiblich“ der Koordinationsstelle Fan-Projekte (KOS) 2004 direkt ein Netzwerk, um sich gegenseitig zu unterstützen, verzahnen und sichtbar zu machen: F_in – Netzwerk Frauen im Fußball. „Ich saß mit Nicole (Selmer stellv. Chefredakteurin ballesterer) auf dem Podium anlässlich der Ausstellung ‚Tatort Stadion‘ und dachte danach nur: Ich möchte die noch mal treffen, das war alles viel zu kurz“, erinnert Hagel sich lachend an die Anfänge. In der Mailingliste für den informellen Austausch lesen aktuell etwa 200 Frauen, einmal im Jahr treffen die F_ins sich zum persönlichen Austausch.

„Die Treffen sind auch deshalb toll, weil immer neue Frauen dazu kommen.“ Darunter viele Ultras, aber auch Journalistinnen oder Wissenschaftlerinnen. Um die Berührungsängste mit Veranstaltungsorten gering zu halten, gehen die Frauen gern an solche, die keine klassischen Fußballzentren sind – in diesem Sommer findet das Treffen in Jena statt. Männer sind dabei nicht willkommen. „Darüber haben wir viel gesprochen und es geht definitiv nicht um eine Ausgrenzung, sondern den Schutzraum für die Teilnehmerinnen.“

Allen Frauen gemein sind „Erfahrungen in von Männern dominierten Feldern. Wir sind alle besonders, in einem ganz positiven Sinne“, beschreibt Hagel die geteilte Rolle. Über diese persönlichen Erlebnisse wird gesprochen, andere Erfahrungen werden gemeinsam gemacht, sei es durch neue Erkenntnisse bei Vorträgen oder in Workshops, „bei denen einige Frauen zum Beispiel das erste Mal eine Sprühdose in die Hand nehmen.“ Auch eine Wattwanderung haben die F_ins schon hinter sich, was zunächst ungewöhnlich klingen mag, aber „sehr nah, besonders und persönlich war.“ Erlaubt ist ohnehin alles, gewünscht, was verbindet und die Frauen im Miteinander stärkt, bevor sie in ihre jeweiligen Strukturen zurückkehren.

Module gegen Sexismus

Zur Stärkung der Frauen auch in der Kurve gehört es, Probleme, die sie dort erleben, sichtbar zu machen. Mit der Fanorganisation Unsere Kurve und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte hat F_in im letzten Sommer eine Online-Umfrage „Zum Umgang mit Sexismus, sexualisierter Belästigung und Gewalt im Kontext Fußball“ unter dessen Akteuren initiiert, deren erste Ergebnisse jetzt vorliegen. Zu den Anforderungen, die sich daraus ergeben, gehören klare Ansprechpartner*innen und Vernetzung auf lokaler Ebene ebenso wie ein positives Engagement der Verbände und Möglichkeiten der Weiterbildung. Eine selbst formulierte Aufgabe der ehrenamtlich in F_in organisierten Frauen ist deshalb derzeit, Module gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im Stadion zu entwickeln, die dann beispielsweise bei Workshops in den Verein an deren Mitarbeiter*innen weitergegeben werden können.

Frauen sprechen Fußball

Banden zu bilden ist nicht nur da wichtig, wo es auf den ersten Blick offensichtlich scheint, also rund um den Fußball der Männer. Im Bereich Frauenfußball spielen Sichtbarmachung und Vernetzung ebenfalls eine wichtige Rolle, nicht nur, aber auch für Frauen aus Ländern, in denen Gleichberechtigung generell ein noch schwierigeres Thema ist als in Deutschland. „Fußball als Empowerment-Strategie“, unter diesem Motto steht Discover Football. Das Projekt will Fußball für Begegnungen zwischen Frauen nutzen, die sich sonst nie getroffen hätten. Alle zwei Jahre veranstalten die Macher*innen ein Festival.

„Wir laden um die 100 Frauen ein, die teilweise noch nie gereist sind, kein Englisch können“, erzählt Sonja Klümper. Seit 2010 ist die Diplompädagogin mit einem Bachelor in Sozial- und Politikwissenschaften bei Discover Football, seit 2011 Projektkoordinatorin. Eine besondere Herausforderung ist die Finanzierung über Projektmittel, die Planungssicherheit selten über ein halbes Jahr gewährleistet. „Es ist schon irgendwo prekär, das so zu machen, andererseits sind wir sehr stolz darauf, was wir auf diese Art bisher schon geschafft haben.“

Plattform zur Begegnung

Mit dem diesjährigen Fußballturnier, das wie immer von einem breiten Kulturprogramm flankiert wird, feiern Projekt und Festival zehnjähriges Bestehen, Ende des Jahres soll aus diesem Anlass auch eine Ausstellung über die Entwicklung im Frauenfußball eröffnen. „In unserer Arbeit erleben wir, es sind strukturelle Probleme, die Frauen mit Diskriminierung beim Fußball und in der Gesellschaft haben.“ Im Netzwerk vereint spüren die Spielerinnen, sie sind nicht alleine mit ihren Problemen. „Wir wollen nicht irgendwo hingehen und dort klassische Entwicklungsarbeit machen, das ist gar nicht unser Thema“ betont Klümper.

Anliegen der Projektmitarbeiter*innen ist es, eine Plattform zur Begegnung zu bilden und die Frauen bei ihren Besuchen in ihren Themen zu stärken. „Wer in bestimmen Ländern in den Fußball geht, ist schon stark und entscheidungswillig, die Einladung zum Festival verändert aber oft positiv, wie die Frauen anschließend zuhause wahrgenommen werden.“ Geht es um Sichtbarmachung, ist ein Anliegen von Discover Football, Stereotype in der Darstellung von Frauen aufzubrechen. „Wir wollen Geschichten über sie erzählen, die auf den ersten Blick so nicht zu erwarten sind und die ohne diesen Austausch untergehen würden.“

Neuer Podcast: FRÜF – Frauen reden über Fußball

„In FRÜF steckt, was der Name verspricht: Frauen reden über Fußball. Hinter FRÜF steckt ein stetig wachsendes Podcast-Kollektiv von Frauen, für die Fußball mehr ist als nur eine Sportart. Wir sind Fans, Journalistinnen, Spielerinnen – und manche von uns sogar alles davon. Wir sind diskussionsfreudig, aber solidarisch. Uns interessieren fußballerische Trends, der Diskurs über 50+1 oder die gesellschaftliche Relevanz von Antirassismus-Kampagnen des DFB genauso wie die Unterschiede im Umgang mit Frauen- und Männerfußball, die weibliche Fußballsozialisation oder der Umgang mit Sexismus im Stadion. Über solche Fragen sprechen wir in wechselnder Besetzung in unserer monatlichen Sendung.

FRÜF ist keine Sportschau in rosa und keine Analyse von Spielerfrauen-Instagram-Profilen – bei FRÜF geht es um Fußball. Punkt. Wir geben dabei weiblichen Perspektiven und Stimmen eine Plattform, die in anderen Sendungen einfach viel zu selten auftauchen – weil wir es können. Denn wir sind viele.“ Kristell Gnahm & Rebecca Görmann

Weibliche Fans als Inspiration

Die Geschichte(n) weiblicher Fankultur erzählt die Ausstellung Fan.Tastic Females – Football Her.Story, die erstmals im September 2018 in Hamburg gezeigt wurde und seit Oktober auf Tour ist. Unter der Federführung von Football Supporters Europe (FSE), die auch Träger der Ausstellung sind, haben rund 70 Ehrenamtliche aus Europa und der Türkei (Frei-)Zeit, Arbeit und Herzblut investiert, um weibliche Fankultur jenseits der gängigen Stereotype zu zeigen. Die Ausstellung vereint 80 Videos von Frauen aus 21 Ländern, für die Teams von Freiwilligen monatelang durch Europa reisten, um Interviews zu führen. Dabei haben die Macher*innen auf die Bedürfnisse der Fans behutsam Rücksicht genommen, wenn diese beispielsweise ihr Gesicht nicht zeigen oder auch anonym bleiben wollten, was in manchen Ländern schon aus Selbstschutz notwendig ist, oder aber dem Schutz der Fangruppe dienen kann.

„Ohne eine stabile Vertrauensbasis, die über Jahre erarbeitet wurde, wäre das Projekt nicht möglich gewesen“, erklärt Sue Rudolph aus dem Orga-Team. So gelingt es, die ganze Vielfalt weiblicher Fans zu zeigen: Kutten bis Ultras, Frauen in Führungspositionen oder nationalen Netzwerken. Damit kann das Anliegen der Macher*innen gelingen, „Vorbilder zu schaffen, die vielleicht sogar andere Frauen inspirieren, sich ihren Platz auf der Tribüne zu erobern.“

Höhepunkte hinterm Bus

Wie aber geht Frau selbst mit der ihr zugewiesenen Rolle in der Männerdomäne Fußball um beziehungsweise wie bricht sie diese idealerweise auf? Für mich ist dabei immer wichtig, zu betonen: Die meisten Erfahrungen, die ich als weiblicher Fan im Stadion und als Journalistin im Fußball gemacht habe, sind positiv. Ersteres ist auch deswegen bedeutsam, weil Fans in einigen Medien als unzivilisierte, pöbelnde Rowdys verunglimpft werden, die eine Schneise der Verwüstung hinter sich herziehen. Allerdings werden negative Erfahrungen zum einen nicht weniger prägend, wenn sie vereinzelt auftreten. Zum anderen spüre ich durchaus, im beruflichen Umfeld nehmen diese zu, je intensiver ich mich dem Fußball widme.

Mein erster Heimbereich war der Q-Block des FSV Mainz 05 und dort habe ich in zig Jahren im Gewimmel niemals auch nur eine negative Erfahrung gemacht. Dumme und übergriffige Sprüche gab es nur von Gästefans oder eben auswärts. Aus Gesprächen weiß ich, dass viele Frauen diese Erfahrung machen. Offenbar hält die gemeinsame Leidenschaft für ein Team Männer eher davon ab, die Frauen im eigenen Block zu belästigen, wobei ich das nicht mit Zahlen belegen kann, sondern nur qua Erfahrungsaustausch. So erklärte mir einmal ein FCK-Fan nach dem Sieg seiner Mannschaft in Mainz mit Alkoholfahne, er werde jetzt hinter dem Bus seiner Reisetruppe dafür sorgen, dass mein Tag nicht ohne Höhepunkt ende.

Brüste für Einsfuffzig

Anfang der 2010er Jahre gab es in Mainz noch das wunderbare Fanzine „TORToUR“, das an Spieltagen auch verkaufend unter die Menschen gebracht werden musste. In einer Ausgabe habe ich von meinen Erfahrungen als Verkäuferin berichtet, das liest sich unter anderem so:

„Erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass eine Gruppe junger Männer mich an ihren Tisch winkte. Die Drei bestellten ein Heft, ich händigte es ihnen aus, kramte nach Wechselgeld und wollte mich verabschieden, als einer von ihnen um eine weitere TORToUR bat. Gerne händigte ich ihm sein zweites Heft aus, da erreichte bereits die Bitte um eine weitere Ausgabe mein Ohr. Bei aller Begeisterung musste ich doch stutzen: ‚Ihr interessiert euch wohl sehr für die Heimfans?‘ Worauf der eifrige Käufer erklärte: „Nee, gar nicht. Aber das Heft kostet ja nur Einsfuffzig, und wenn du dich vorbeugst, um es uns zu geben, kann ich dir in den Ausschnitt gucken.‘“

Inzwischen habe ich die derbsten Sprüche eindeutig als Journalistin zu hören bekommen. Los geht das mit Situationen, die ich in der Summe fast als Kleinigkeiten abtue, wie den Kollegen, der mir bei meinem Besuch im TV-Studio erklärte, es sei toll, „Mal etwas Blondes, Weibliches auf dem Sofa“ zu haben. Er tat dies erst, nachdem alle anderen den Raum verlassen hatten, wohl, weil er es eigentlich besser weiß, sich den Spruch aber nicht verkneifen wollte. So wie der Kollege, der befand, im Anschluss an ein gemeinsames Projekt hätten sich für mich mehr neue Kontakte ergeben als für ihn. Er erklärte, das liege daran, dass ich „Brüste habe und die auch zeige“ – seine charmante Art kann natürlich unmöglich der Grund gewesen sein.

Gekommen, um zu bleiben

Als Journalistin war ich von Anfang an transparent mit meiner 05-Vereinsliebe und schreibe einige Formate auch bewusst mit dem Kurven-Ansatz. Das nutzen vereinzelte Kollegen, um eine künstliche Angriffsfläche zu schaffen. „Fangirl mit Kugelschreiber“ ist da eine versuchte Beleidigung, über die ich angesichts der zahlreichen Sportjournalist*innen, die sich „ihrem“ Verein klar zuordnen lassen, ohne das offen zu thematisieren, nur lachen kann.

Gar nicht lustig sind Angriffe von Lesern, die sich statt mit den Inhalten meiner Artikel nur mit meinem Geschlecht befassen. Wenn Texte mit der Mutmaßung kommentiert werden, mir sei „beim Schreiben die Milch eingeschossen“ oder mir mitgeteilt wird, ich kritisiere den Trainer bloß deswegen nicht, weil ich ihn „ganz offensichtlich ficke“, kann ich daran nichts Witziges finden und es beschäftigt mich auch nach vielen Jahren in diesem Job.

Fest steht aber auch, Rückzug ist keine Option. Ich liebe das, was ich tue, so wie viele meiner Kolleginnen, so wie die weiblichen Fans, Wissenschaftlerinnen, Fanprojekt-Mitarbeiterinnen, die Aktiven und Funktionärinnen. Wir sind, wie die Band „Wir sind Helden“ das vor Jahren so wunderbar textete und sang, „Gekommen um zu bleiben“ und lassen uns aus dem Fußball, der längst auch unsere Domäne ist, nicht vertreiben. Wir breiten uns aus, bilden Banden und schlagen Wurzeln. Wir mischen mit, suchen uns Räumen und erheben unsere Stimme. Wir sind „Frauen im Fußball“ und wir gehören genau hierher. Mit uns ist jeder Zeit zu rechnen.

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Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 14 des Zeitspiel-Magazins, das Heft mit dem Schwerpunkt “Die andere Hälfte – Frauen und Fußball” kann hier bezogen werden.

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Autorinneninfo: Mara Pfeiffer ist freiberufliche Journalistin und Autorin. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem 1. FSV Mainz 05, aktuell unter anderem als Kolumnistin für die Allgemeine Zeitung Mainz, im SWR Flutlicht oder als Expertin bei Amazon. Auch in Büchern hat die „Wortpiratin“ sich dem Verein schon gewidmet, zuletzt erschien ihr 05-Krimi „Im Schatten der Arena“.

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“Allmächtige Corinthians-Girls”: Wie brasilianische Fußballfans gegen Sexismus kämpfen https://120minuten.github.io/corinthias-girls-brasilien-kampf-gegen-sexismus/ https://120minuten.github.io/corinthias-girls-brasilien-kampf-gegen-sexismus/#respond Sat, 20 Apr 2019 08:00:20 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5871 Weiterlesen]]> Als leidenschaftliche Fußballfans gründen brasilianische Frauen feministische Gruppen, um Sexismus im Sport zu bekämpfen. Dabei scheuen sie auch nicht die Auseinandersetzung mit Giganten, zeigt das Beispiel Corinthians.

Von Rosiane Siqueira
Übersetzung: Alexander Schnarr

Movimento Toda Poderosa Corinthiana: Eine feministische, brasilianische Gruppe weiblicher Corinthians-Fans, die gegen Sexismus im Fußball kämpfen.

Frauen auf der ganzen Welt wünschen sich die Freiheit, tun zu können, was sie möchten – und das beinhaltet, ihre Stimme für diese eine Liebe zu erheben: den Fußball. Brasilien sieht sich im Rahmen der letzten politischen Ereignisse einer radikalkonservativen Welle gegenüber, allerdings sind das reaktionäre Verhalten und diffuser Seximus nichts Neues für das Land: Zwischen 1941 und 1983 war es Frauen gesetzlich verboten, Sport zu treiben, mit der Begründung, dass sportliche Aktivitäten „mit ihrer Natur nicht kompatibel“ seien.

Es sind erst 36 Jahre vergangen, seitdem dieses Gesetz abgeschafft wurde. Viele der weiblichen Anhänger sind älter als 36 und haben ihre Passion über eine lange Zeit unterdrücken müssen. Heutzutage fühlen sie sich durch feministische Bewegungen in verschiedenen Bereichen bestärkt und verändern die Fußball-Szene in Brasilien.

Die furchtlosen Corinthians-Anhängerinnen

Die Bewegung namens „Movimento Toda Poderosa Corinthiana“ („Die allmächtige Corinthians-Mädchen-Bewegung, als Referenz auf den Spitznamen des brasilianischen Teams Sport Club Corinthians Paulista, „Die allmächtigen Corinthians“) ist eine der größten Gruppen weiblicher Fans im Land und verantwortlich für verschiedene Initiativen, die Respekt einfordern und Sexismus innerhalb des Fußballs bekämpfen.

Die Gruppe erlangte erstmals 2016 große Aufmerksamkeit, nachdem sie einen Offenen Brief gegen die Titelseite einer der berühmtesten brasilianischen Sportzeitungen, Lance!, veröffentlichten. Bei der Zeitung hatte man sich dazu entschieden, die Schönheit eines kurvigen Team-Models hervorzuheben, anstatt auf den beeindruckenden Sieg der Mannschaft am Abend vorher einzugehen. Der Brief wies auf die „Objektivierung“ von Frauen und den Sexismus im Leitartikel hin, der sich stets nur an eine männliche Leserschaft richtet. Die Zeitung hat auf die Kritik nie geantwortet.

Keine Angst vor Nike

2017 entschloss sich die Gruppe dazu, den Kampf gegen einen Giganten aufzunehmen: Nike. Nach der Vorstellung der Corinthians-Trikots für die neue Saison informierte der Ausstatter darüber, dass das Auswärtstrikot nicht in einer Frauenversion produziert werden wird. Das Unternehmen gab an, dass es dafür nicht genügend Nachfrage geben würde. Das Thema erhielt dank des Protests der Gruppe gewaltige Resonanz via Facebook, Instagram und Twitter: „Nicht genügend Nachfrage, Nike? Hold my beer….“ 1:0 für die Damen. Nach einem Monat intensiver Online-Angriffe überlegte Nike es sich anders und begann damit, Frauen-Versionen der Auswärtstrikots über die Webseite und in allen Corinthians-Läden zu verkaufen.

Die Aktionen, die durch die Bewegung initiiert wurden, dauern an und adressieren allgemeine Probleme innerhalb des Sports. So gab es eine Kampagne gegen Sexismus während der letzten Weltmeisterschaft in Russland oder es werden interne Entscheidungen der Vereinsführung hinterfragt, wie z.B., als Corinthians beschloss, einen Spieler zu verpflichten, dessen körperliche Aggressionen gegenüber seiner Freundin öffentlich bekannt waren.

Weibliche Fans zwischen Männern auf der Tribüne im Corinthians-Stadion in Sao Paolo, Brasilien. Auf der Fahne steht: Corintians-Mädchen gegen Sexismus.

Der Verein selbst achtet auf die Forderungen der Mädchen. Corinthians sind Pioniere im Engagement gegen Sexismus und Gewalt gegenüber Frauen in Brasilien, auf und neben dem Platz. Anfang 2019 unterzeichnete Corinthians gemeinsam mit zwei anderen großen Clubs des Landes, Palmeiras und São Paulo, eine Kooperationsvereinbarung mit der Stadtverwaltung von São Paulo. Sie verpflichteten sich dazu, sich dem Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen anzuschließen und weibliche Opfer von Aggressionen innerhalb der Familie und des häuslichen Umfeldes zu schützen.

Die wachsende, feministische Revolution im brasilianischen Fußball

Es sind nicht nur die weiblichen Fans von Corinthians, die gegen Sexismus in Brasilien kämpfen. Zahlreiche Gruppen und Kollektive von Frauen sind in letzter Zeit im Land entstanden, jede mit Verbindungen zu ihrem jeweiligen Herzensteam. Bei einigen Clubs findet man sogar mehr als eine Gruppe, die sich entwickelt und sich für verschiedene Themen engagiert. Trotz der Rivalität zwischen den Vereinen interagieren die Mädchen und ihre Gruppen in der Regel miteinander. Letzten Endes haben sie alle das gleiche Ziel: Respekt von Männern und das Recht, ihr Team zu lieben und frei zu unterstützen.

Gemeinsam glauben alle an ein simples und wichtiges Prinzip des Feminismus: Empathie. Kein Mädchen verdient es, belästigt zu werden, sich schämen zu müssen oder Angst davor zu haben, das zu tun, was es liebt: sein Team anzufeuern. Brasilien erlebt mehr und mehr, wie Frauen an den Fußball-Ritualen teilhaben, zu den Spielen gehen, in Sportlerinnen-Karrieren investieren, das Thema als Fan oder Journalistin diskutieren, den Sport selbst ausüben und Akteurinnen sind in etwas, das traditionell männlich ist.

Beitragsbilder: Die Fotos wurden von der Autorin zur Verfügung gestellt.

The Almighty Corinthians Girls Movement: How Brazilian football fans fight sexism

Der Text in der englischen Originalfassung/ English original version

Passionate for football, brazilian women are creating feminist groups to fight against sexism in the sport.

Women from all around the world desire the freedom to do whatever they like – and it includes speaking up their voices about one true love: football. Brazil faces a radical conservative wave in its recent political events but the reactionary behavior and diffused sexism are not something new to the country: from 1941 until 1983, a law forbade women from practicing sports under the argument that the sports practices were “incompatible with their nature”.

It has been only 36 years since this law was repealed. Many of the female supporters are older than that and have repressed their passion for a long period of their lives. Nowadays, feeling more and more empowered by feminist movements in different spheres, those women are changing the scenario of the football in Brazil.

The fearless Corinthians female supporters

The Movement named “Movimento Toda Poderosa Corinthiana” (The Almighty Corinthians Girls Movement, in a reference to how the Brazilian Team, Sport Club Corinthians Paulista, is called: The Almighty Corinthians) is one of the biggest collective of female supporters in the country and has created different initiative to demand respect and fight the sexism within football.

The Group got the attention widely for the first time in 2016 after releasing a public letter against one cover page from the most famous Brazilian sports newspaper, Lance!. The edition opted to highlight the beauty of the curvy muse model of the team instead of the impressive victory the team had done the night before. The letter pointed the “objectification” of the women and sexism of its editorial, always considering only its male audience. The newspaper never answered about the critics.

In 2017, the Collective decided to fight a battle against a giant: Nike. After launching the Corinthians uniforms for that season, the brand informed that the second uniform would not be produced in female versions. The company claimed that there was insufficient sales demand for that. The topic got massive repercussion through Facebook, Instagram and Twitter thanks to the protest created by the group. “Not enough female demand, Nike? Hold my beer…” 1×0 for the ladies. After one month of intense online attacks, Nike changed his mind and started to sell the female versions at the website and at all Corinthians stores.

And the campaigns created by the Movement go on, addressing general issues within the sport, such as the campaign against sexism during the World Cup in Russia, or questioning internal decisions and the management of the team, such as when Corinthians decided to hire a player who has a public record of physical aggression against his girlfriend.

The Club itself has paid attention to the demand of the girls. Corinthians has been one of the pioneering teams to engage into campaigns against sexism and violence against women in Brazil, inside and outside the field. At the beginning of this year, Corinthians together to other two of the biggest clubs in Brazil, Palmeiras and São Paulo, signed a cooperation agreement with the city hall of São Paulo. They committed to join in the fight against violence against women and to protect women victims of aggression in the family and residential environment.

The growing feminist revolution in Brazilian football

Not only Corinthians female supporters are fighting the sexism in Brazil. Numerous groups and collectives of women has emerged recently in the country, each one related to their heart team. For some of them, it is possible to find even more than one group emerging and being engaged into various topics. Despite the rivalry among them, the girls and their groups normally interact with the others. After all, they all aim the same: respect from the men and the right to love and support their team freely.

Commonly, they all believe in a simple and important principle from feminism: empathy. No girl deserves to be harassed, shamed or afraid to do something they love to: cheer for their team. More and more, Brazil sees women taking part of the football ritual, going to games, investing in a sports career, debating the topic as a fan or a journalist, practicing the sport and being the protagonist of something traditionally manly.

Although this feminist wave seems to be a breakthrough in Brazilian football, there is still a lot to be explored and debated within a society that shows signs of flirtation with regression when it comes to social rights and prejudice. Sexism, racism, homophobia and violence are still ghosts in every stadium of the country.

Every small initiative helps to create a safer environment for every human being with its own differences and particularities. And the girls know that very well! Holding each other’s hand, they do not intent to rewrite the world football history but to help writing new chapters.

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Frank Noack: “Erwarte keine Dankbarkeit vom Fußball” https://120minuten.github.io/frank-noack-erwarte-keine-dankbarkeit-vom-fussball/ https://120minuten.github.io/frank-noack-erwarte-keine-dankbarkeit-vom-fussball/#respond Thu, 07 Mar 2019 23:31:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5774 Weiterlesen]]> Seit 20 Jahren berichtet Frank Noack für die Lausitzer Rundschau über Energie Cottbus. Der Journalist hat den Verein in glamouröse Bundesligastadien begleitet, war aber auch auf besseren Bezirkssportanlagen in der Regionalliga und im Landespokal dabei. Einen festen Sitzplatz mit Stromanschluss weiß er deshalb sehr zu schätzen. Im Interview spricht er über Autorisierungen, veränderte Arbeitsaufgaben und neue Recherchemöglichkeiten.

Sportreporter Frank Noack berichtet über Energie Cottbus – auf Amateursportplätzen zum Teil auch unter widrigen Bedingungen.

120minuten.github.io | März 2019

Welche Rolle spielt Journalismus im Fußball?

Unsere Aufgabe hat sich gewandelt, weil viele Vereine durch eigene Kanäle einen Teil der Berichterstattung übernehmen. Doch gerade was die Bewertung und Einschätzung von Sachverhalten angeht, ist der Journalismus nach wie vor ganz wichtig, um nicht das Ungefilterte aus den Vereinen zu übernehmen.

Spieler und Vereine präsentieren sich zunehmend selbst auf Social-Media-Plattformen. Erleichtert oder erschwert das deine Arbeit?

Sowohl als auch. Das kann man nicht richtig mit ja oder nein beantworten. Natürlich geht ein Stück weit Exklusivität verloren, wenn zum Beispiel eine Pressekonferenz live im Internet übertragen wird oder die Vereine eigene Interviews mit Neuzugängen machen. Mit so etwas konnte man früher als Journalist punkten. Das ist heute deutlich schwerer.

Der Vorteil ist aus meiner Sicht, dass das Informationsangebot aber viel größer geworden ist. Weil die Vereine die Informationen verteilen, hat man viel mehr Quellen. Dazu kommt, dass auch die Spieler viel in den Netzwerken unterwegs sind. Für die Recherche hat man viel mehr Möglichkeiten.

Den Rhythmus der Zeitung gibt es nicht mehr. Wichtig ist, dass wir das Online-Angebot schnell bestücken. Es geht um Aktualität und darum, Informationen schnell rauszubringen. Da hat das Internet mittlerweile eine große Funktion.

Welches Verhältnis habt ihr bei der Lausitzer Rundschau zu den Pressesprechern von Energie, aber auch zu Pressesprechern allgemein?

Da kann ich in all den Jahren nur Positives berichten, egal ob erste, zweite oder dritte Liga. Klar, der Verein ist in der 3. Liga mehr auf unsere Berichte angewiesen, als er es zu Bundesligazeiten war. Weil der Fokus da ein anderer, deutschlandweiter war. Das ist jetzt nicht mehr so der Fall. Das Verhältnis zu den Pressesprechern war aber in all den Jahren immer gut. Selbst zu Erstligazeiten hatten wir keine Probleme, einen Zugang zur Mannschaft zu finden oder Interviews zu bekommen. Diese Hürde kenne ich in Cottbus nicht. Das ist sehr angenehm.

Das zeigt sich auch, wenn man den Vergleich sieht, als Cottbus und Dynamo Dresden auf Augenhöhe waren. Wenn man dann gesehen hat, wie die Begleitung der Mannschaften in den Trainingslagern abgelaufen ist. Da hatten wir es deutlich leichter als die Kollegen von der Sächsischen Zeitung. Das weiß ich sehr zu schätzen.

Habt ihr Probleme mit Autorisierungen – insbesondere wenn ihr über frühere Energieprofis bei größeren Vereinen berichtet?

Von den Pressestellen wird sehr selten eingegriffen. Das beschränkt sich auf kleinere Korrekturen. Größere Dissonanzen gab es wirklich nur ganz selten – auch bei der Interview-Autorisierung. Letztlich ist es wichtig, das gesprochene Wort sauber und korrekt aufzuschreiben. Dann lohnt es sich auch, bei der Autorisierung dafür zu kämpfen

In anderen Sportarten sind die Akteure deutlich zugänglicher. Würdest du dir wünschen, dass es im Fußball auch wieder so ist?

Ich erwarte in dem Sinne keine Dankbarkeit vom Fußball. Am Ende ist es ein Geben und Nehmen. Wenn der Fokus größer ist als in anderen Sportarten, dann sind die Stückchen vom Kuchen für alle ein bisschen kleiner. Das ist normal.

Die Fragen stellte Oliver Leiste. Das Interview war Teil der Recherche für den Longread “Mehr Einordnung wagen: Warum Lokaljournalismus im Fußball weiter wichtig ist“.

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Fußball und Fernsehen: Das Geld hat den Sportjournalismus versaut https://120minuten.github.io/fussball-und-fernsehen-das-geld-hat-den-sportjournalismus-versaut/ https://120minuten.github.io/fussball-und-fernsehen-das-geld-hat-den-sportjournalismus-versaut/#comments Wed, 23 Jan 2019 08:00:19 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5606 Weiterlesen]]> Jährlich überweisen Fernsehsender und andere Bewegtbild-Plattformen einen Milliardenbetrag für die Übertragung von Fußballspielen. Herauskommen sollen Produkte, die unterhalten und den Nutzern gefallen. Schließlich finanzieren die Konsumenten die Sendungen zu einem Großteil über ihre Beiträge. Doch wie vertragen sich Unterhaltung und kritischer Journalismus? Wie viel dürfen die Reporter tatsächlich fragen, wenn ihre Arbeitgeber den “Fußballzirkus” in seiner heutigen Form überhaupt erst ermöglichen? Und wie viel Distanz ist überhaupt möglich als Teil des Systems? Der Artikel geht der Frage nach, ob Fußballübertragungen und die Berichterstattung drumherum wirklich kritisch sein können. Und auch, ob sie es überhaupt sein müssen.

Von Jérôme Grad (@Mr_Degree)

Fieldreporter sind hautnah dabei und sorgen für erste Stimmen unmittelbar nach dem Spiel.

Fieldreporter direkt nach dem Spiel auf dem Feld / (CC BY 2.0) Victor Araiza

1.159.000.000 Euro, also 1,159 Milliarden Euro. Damit ließen sich fünf Produktionen des bislang teuersten Films der Geschichte, “Avatar”, realisieren. Oder die Autobahnstrecke von Dortmund nach Hamburg mit einer Stafette aus 500-Euroscheinen pflastern. Oder 27.720 Studierenden ein Jahr lang die Gebühren an der Harvard-Universität bezahlen. 1,159 Milliarden Euro – das ist auch mehr als das jeweilige Bruttoinlandsprodukt 2017 der 17 wirtschaftsschwächsten Staaten der Welt. Für diese Summe lässt sich aber auch deutscher Profifußball im deutschen Fernsehen zeigen. Denn das ist der Betrag, den SKY, Eurosport, ARD, ZDF und DAZN für die Bewegtbildrechte seit der Saison 2017/18 und noch bis 2020/21 bezahlen. Pro Saison.

Unabhängig von diesem zugegebenermaßen etwas polemischen Vergleich: Fußball im Fernsehen zu zeigen ist doch ein feiner Zug von SKY, Eurosport, ARD, ZDF und DAZN, oder? Fußball für alle ist doch eine tief demokratische Sache, nicht wahr? Bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts boten zunächst nur die Öffentlich-Rechtlichen Fußball im Fernsehen eine Plattform und ermöglichten den Fans einen ortsunabhängigen Zugang zum Sport. Doch wie verhält es sich, wenn nicht mehr nur 650.000 Deutsche Mark pro Spielzeit, wie 1965 von der ARD, für die Fußballrechte bezahlt werden, sondern 2,266 Milliarden Mark, also das knapp 3500fache?

“Wer nur Minderheiten bedient, kann nicht überleben”

Natürlich bedürfte es für eine umfassende Argumentation der Berücksichtigung der Inflation in Deutschland seit 1965, der weltweiten Vermarktungsmöglichkeiten des Fußballs heutzutage und auch der Summen, die mittlerweile in der Fußballbranche im Umlauf sind. Doch genau diese Aspekte beeinflussen auch die Arbeit derjenigen, die eigentlich kritisch auf solche Entwicklungen schauen sollten – die Sportjournalisten.

Um das gleich vorneweg zu sagen: Es ist legitim, dass Medienunternehmen bei Überlegungen der Aufbereitung eines Fußballspiels im Fernsehen den Aspekt der Refinanzierung eine nicht unwesentliche Rolle zukommen lassen und den Kunden in den Vordergrund stellen. Denn mit seinen monatlich regelmäßigen Zahlungen in Form eines Abonnements sorgt er, zusammen mit den Werbepartnern, für die Sicherung der TV-Rechte der Medienunternehmen. Den Kunden zufrieden zu stellen, damit er weiter für das Angebot zahlt, muss also das Ziel der Unternehmen sein. “Wer nur Minderheiten bedient, kann nicht überleben”, proklamierte einst der langjährige BR-Sportchef Werner Rabe mit Blick auf die Programmgestaltung.

Doch was bedeutet “den Kunden zufrieden stellen”? Kann kritischer Journalismus (ko)existieren, wenn Zufriedenheit erst durch die Vermittlung von Freude und Emotionen erzeugt wird? Wo ist dann noch Platz für einen Journalismus, der in erster Linie seriös, verlässlich und objektiv über das berichtet, dabei auch Hintergründe aufdeckt und hier und da zum Nachdenken anregt?

Infotainment für mehr Attraktivität

Natürlich kann kritischer Journalismus, wie man ihn aus anderen Medien, z.B. dem Printbereich, kennt, zum Unterhalten des Zuschauers vor dem Fernseher nicht taugen. Der Fernsehzuschauer schaltet die Glotze mit einer ganz anderen Intention an, als der Leser die Zeitung liest. Umgekehrt bedeutet das aber nicht, dass sich Journalismus und Unterhaltung ausschließen müssen. Für eine Sendung kann journalistisch sauber recherchiert und können Hintergründe beleuchtet worden sein. Anschließend wird der Zuschauer mit einem Informations-Mehrwert entlassen und sich dadurch unterhalten fühlen. Diverse Sendungen im Kulturbereich sind ein gutes Beispiel dafür.

Anders verhält es sich bei Fußballübertragungen und Live-Berichterstattungen, die mittlerweile zu großen Teilen im Privat- und Bezahlsendern gezeigt werden. Hier wird der kritische, hintergründige Sportjournalismus zugunsten der Attraktivität der Unterhaltung geopfert. Medienpädagoge Uli Gleich nannte das vor einigen Jahren bereits Infotainment. Die Informationen sollen leicht verdaulich präsentiert werden. Komplexe Zusammenhänge einfach darstellen – das ist doch ein Grundsatz von Journalismus, oder?

Halbzeitanalysen bei Sportübertragungen im Fernsehen

(CC BY 2.0) Ken Lund

Das Geld hat den Sportjournalismus versaut

In diesem Fall ist ein anderer Punkt wesentlich. Mit dem immer größer werdenden Pool an Mitspielern im Fußballbusiness, mit immer mehr Geld im Sport, hier sei vor allem an die Berichterstattung in den privaten Sendern gedacht, verschob sich die Achse von reiner Berichterstattung immer weiter Richtung Infotainment. Eine Entwicklung, die Gerhard Meier-Röhn, Dozent für Medien und Gesellschaft an verschiedenen Hochschulen, aufgreift: Damit sich die hohen Investitionen im Fußball lohnen, sei der Sport immer mehr zu einer Ware verkommen und deshalb im Fernsehen immer mehr inszeniert worden. “Geld hat den Sportjournalismus versaut”, so das Fazit des früheren DFB-Mediendirektors und langjährigen SWR-Sportchefs auf den Lokalrundfunktagen 2018 in Nürnberg

Die redaktionelle Freiheit, worüber man als Journalist sprechen kann, wird eingeschränkt. Nicht nur den Zuschauer gilt es zufrieden zu stellen, sondern auch die Interessen des Arbeitgebers, der viel Geld in die TV-Rechte investiert hat, sowie der (Werbe-)Partner und Sponsoren. Doch können Journalisten in einem Spannungsfeld überhaupt kritisch und unabhängig arbeiten, wenn ihre Arbeitgeber selbst Teil dieser immens gewordenen Fußball-Industrie sind?

Ein kritischer Beobachter wird nun anmerken, dass Werbeanzeigen schon seit langer Zeit in Zeitungen Einzug gehalten haben und ohne Sport die eine oder andere Zeitung kaum mehr überlebensfähig wäre. Dass die Print-Journalisten vom Erwerb der TV-Rechte für ihre Arbeit ebenfalls profitieren, steht außer Frage. Doch eine so enge Verzahnung wie bei den Bewegtbild-Anbietern mit den gezahlten Beiträgen für die Übertragungsrechte besteht nicht.

Wie viel Unterhaltung darf es denn sein?

Doch zurück zum Fernsehen, das in seinen Grundzügen mehr auf Unterhaltung ausgelegt ist als die Printmedien. Das Konzept von Fußball im Fernsehen soll dem Zuschauer vor der Mattscheibe oder dem Tablet den Fußball direkt ins Wohnzimmer bringen.

“Der Sport ist – aus der Sicht der Fans – zuallererst eine Unterhaltungsmaschine“, wie es Prof. Dr. Johannes Heil in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung formulierte. Diese Maschine beginnt bei der Übertragung selbst, durch die Fans nicht mehr ins Stadion müssen, um ihre Mannschaft live zu sehen. Und sie endet bei Interviews und Talks am Spielfeldrand, die in erster Linie eine explizite Stadion–Wohnzimmer-Nähe hervorrufen sollen. Ganz nach dem früheren Motto des Deutschen Sportfernsehen: “Mittendrin statt nur dabei”. An dieser Stelle kann kein kritischer Journalismus entstehen.

Und natürlich sind Bezahl-Sender (mehr als die Öffentlich-Rechtlichen) daran interessiert, ihr Produkt zu glorifizieren. Denn: Je mehr Menschen Fußball mögen, desto größer der potentielle Kundenkreis. Umgekehrt formuliert: Würde ein Bezahlsender, der auf Kundenabonnements und Einschaltquoten angewiesen ist, in wesentlich höherem Maße über Themen wie Doping und Korruption berichten, würde sich das unterhaltende Freude-Erlebnis beim Zuschauer wohl kaum einstellen. Es bestünde eine Gefahr der Anti-Popularisierung des Fußballs, die mit einer Schrumpfung des potenziellen Kundenkreises einhergehen würde.

Der Einfluss der Medien auf den Fußball

Betrachten wir ein einzelnes Fußballspiel, nehmen alle beteiligten Sender durch die Summen, die sie in das Fußballgeschäft pumpen, indirekt und mittelbar Einfluss auf die Qualität im deutschen Fußball. Die einfache Rechnung: Je mehr Millionen die DFL erhält, desto mehr kann sie davon an die Vereine weiterverteilen, die damit auf dem Transfermarkt bessere Argumente bei einer Verpflichtung eines Spielers haben. Im Übrigen auch eine Forderung von DFL-Geschäftsführer Christian Seifert, der die Vereinsvertreter nach dem letzten Fernsehvertrag in die Pflicht nahm. Diese (theoretische) Macht der Sender gegenüber dem Fußball ist auch Thema beim Interview mit Kommentator Uli Hebel.

Dass mehr Geld aber nicht unmittelbar zu mehr Erfolg führen muss, zeigt der Blick nach England. Dort wird von 2016 bis 2019 für die TV-Rechte knapp 2,3 Milliarden Euro pro Spielzeit bezahlt, also knapp das Doppelte im Verhältnis zu Deutschland. Seit Ankündigung des neuen Vertrags im Februar 2015 schafften es 2015/16 Manchester City als einziger englischer Viertelfinalist ins Halbfinale der Champions League. 2016/17 war Leicester sogar der einzig verbliebene englische Verein im Viertelfinale. 2017/18 waren es mit Manchester City und Liverpool immerhin zwei Klubs unter den letzten Acht. Macht summa sumarum vier aus 24 in den vergangenen drei Jahren. Auch wenn drei Teilnahmen allein auf den FC Bayern München entfallen – aus Deutschland kamen in diesem Zeitraum fünf Viertelfinalisten.

Journalistischer Mehrwert – Fehlanzeige

Soweit die Sender und Plattformen. Kommen wir zum Journalisten als Einzelperson. Bei der Live-Übertragung wird der Kommentator zur Erzählfigur. Seine Aufgabe ist es, den Zuschauer während des Spiels vor dem Bildschirm mit Informationen zu versorgen, Zusammenhänge zu erläutern und das, was auf dem Spielfeld passiert, zu kommentieren. Dazu kommt je nach Format und Sender noch ein Experte dazu, der erklärt, warum etwas auf dem Feld passiert. Eine übersichtliche Auflistung der verschiedenen Protagonisten liefert Luca Schepers in “Der Fußball und das Fernsehen – Inszenierung des Fußballs im Fernsehen”.

Zusammen sollen sie einen unterhaltenden Mehrwert schaffen, der sich allerdings nicht nur auf die Glorifizierung des Sports beschränken sollte, wie Uli Hebel betont: “Ich glaube nicht, dass die Zuschauer während der 90 Minuten Fußball nur die heile Welt hören wollen.” Stattdessen sei es laut Hebel die Aufgabe des Journalisten in der Rolle des Kommentators zu sagen, “warum es [das Spiel] nicht gut war. Ich kann nicht sagen, Spieler X ist ein schlechter Spieler. Erstens ist er Berufsfußballer und kann nicht per se schlecht sein. Und Zweitens wäre das nicht fair.”

Der Moderator wiederum hat während der zahlreichen Talks vor und nach dem Spiel auch die Aufgabe der Einordnung von Aussagen. Das wäre der journalistische Mehrwert in einem unterhaltenden Bereich wie dem Fernsehen. Doch eine Auseinandersetzung mit den Hau-drauf-Sprüche der Experten für die nächste Schlagzeile und zur Unterhaltung, Instagram-Posts als Rechtfertigung für die schlechte Leistung – sie findet nur selten statt.

Und noch ein Aufreger: Statt in der Halbzeit einer Live-Übertragung entscheidende Szenen zu analysieren, wird bei Bezahlsendern Werbung für einen Spielfilm gemacht. Das mag unter dem Aspekt der Selbst-PR und Ankündigung legitim sein, hat aber eben nichts mit Fußball und Journalismus zu tun.

Kumpanei im Sportjournalismus – ein Teufelskreislauf?

Schlimmer noch als die offensichtliche Vermengung von Werbung und redaktionellem Inhalt der Sender ist die Kumpanei, der sich Sportjournalisten teilweise auch zu Recht ausgesetzt fühlen. Die mangelnde Distanz ist ein oft in Diskussionen über und unter Sportjournalisten hervorgebrachter Aspekt und war auch Thema des Vortrags von Meier-Röhn auf den Lokalrundfunktagen.

Ein erheblicher Teil der journalistischen Arbeit macht selbstredend die persönliche Pflege von Kontakten aus. Ein Journalist, der an keinerlei Interna gelangt, keine Hintergründe kennt oder inoffiziellen Gespräche führt, kann kein Verständnis entwickeln und wird keine Exklusivgeschichten zu berichten haben. Das gilt für Print wie Fernsehen gleichermaßen. Im Sport wie in der Politik. Nähe ist im Journalismus nun mal gängig.

Die Kehrseite: Durch zu viel Nähe zu Spielern machen sich Journalisten angreifbar. Einem nahestehenden Sportler stellen nur die wenigsten Journalisten unangenehme Fragen. Gerade der Fieldreporter muss sich mit seinem Interviewpartner gut stellen, kann öffentlich nicht immer die Fragen stellen, die ihm mitunter auf den Lippen liegen. So entsteht das, was Axel Balkausky einst “Erfüllungsjournalismus” nannte – Fragen um der Fragen Willen. Nur so geht er sicher, dass er bei der nächsten Interview-Anfrage nicht ignoriert wird.

Fieldreporter sorgen bei sportlichen Live-Berichterstattungen für das Hautnah-Erlebnis

Fieldreporter im Einsatz / (CC BY 2.0) Gareth Williams

Glaubwürdigkeit vs. Nähe zum Sportler

Das mag bei SKY, die sich durch den TV-Vertrag auch das Recht auf Interviews einkaufen, ein geringeres Problem sein als bei regionalen Fernsehsendern. Aber oftmals suchen Fieldreporter deshalb die Nähe der Sportler, die sie mit dem Duzen vor laufenden Kameras unterstreichen wollen. Doch dadurch wird der Vorwurf der mangelnden Distanz der Sportjournalisten zu ihrem Themenfeld eher gefördert und der Respekt vor ihrer unabhängigen Arbeit bei den Vereinsverantwortlichen nicht unbedingt größer.

In den Augen einiger Vereinsvertreter profitieren Journalisten ohnehin von einem erfolgreichen Fußball und sollen daher im Hurra-Stil Bericht erstatten. Kritische Themen und Entwicklungen sind seitens der Vereine und Verbände unerwünscht. Da wird auch mal mit Interview-Verbot oder Akkreditierungsentzug gedroht. Mario Rieker, Leitender Redakteur Bundesliga bei DAZN, kann die Überlegungen der Vereine bei überzogenen Berichterstattungen teilweise nachvollziehen und plädiert deshalb für einen guten Umgangston untereinander: “Wenn du nicht nur auf die Schlagzeile aus bist, sondern kritisch fair, merken es die Vereine und werden dir weitere Interviews erlauben.”

Wie sehr der einzelne für Interviews und Exklusiv-Informationen die Nähe der Sportler sucht, darf jeder Journalist mit Blick auf seine Glaubwürdigkeit selbst entscheiden.

Der Sportjournalist als Fan

Apropos Glaubwürdigkeit: Diese leide, wenn man Fan wäre, lautet ein weiterer Vorwurf. Stichwort Heldenverehrung. Aber macht ein gewisses Fan-Sein für Journalisten nicht sogar Sinn? Ist gute Berichterstattung nicht erst durch Nähe im Sport möglich?  Ein Kommentator, der bereits selbst im Verein gespielt hat und sich für diesen Sport begeistert, wird mehr Empathie und mehr Leidenschaft vermitteln können, als jemand, der noch nie gegen einen Fußball getreten hat. Und Fan eines bestimmten Vereins zu sein, kann förderlich sein: “Im Zweifel ist man als Fan sogar kritischer, als der neutrale Beobachter”, so Rieker, der gleich eine Handlungsanweisung gibt, wie man zu viel Nähe ausschließt: “Wenn ich das Gefühl habe, in meiner Arbeit zu subjektiv zu sein, prüfe ich die Dinge zwei bis dreimal. So wirke ich dem Vorwurf entgegen, nicht journalistisch gearbeitet zu haben.”

Überhaupt: Haben Wirtschaftsjournalisten nicht ein gesteigertes Interesse an Finanzfragen? Werden von Politik-Journalisten nicht Artikel nach Sympathien zu handelnden Personen geschrieben und veröffentlicht? Ist es also schlimm, wenn Journalisten gleichzeitig auch Fan sind? Nein, solange sie sich dessen bewusst sind. Und genauso verhält es sich mit dem Fußball im Fernsehen und den TV-Sendern. Richtig ist, dass ein im Fußballfernsehen arbeitender Journalist selten ohne Zwänge arbeitet, weil er selbst Teil des Systems ist.

Wozu noch Journalisten?

Aber dieses Phänomen existiert nicht nur im Sport, sondern überall dort, wo Geld in großem Maße in Projekte fließt, beispielsweise in der Filmindustrie. Man muss sich also von dem Gedanken verabschieden, dass ein Bereich, der so stark mit der Unterhaltungsindustrie verbandelt ist, noch eigenständig arbeiten und kritischer Geist sein kann.

Und dennoch braucht es Journalisten, die dieser zunehmenden Kommerzialisierung im Sport entgegenwirken – gerade in Zeiten von aufkommenden Netflix-Produktionen zu Juventus Turin oder der Amazon-Reihe zu Manchester City, die gute Beispiele für eine immer größere Unterhaltung und Vermarktung und den zurückgedrängten Journalismus sind. Diese Produktionen suggerieren den Fans den Blick hinter die Kulissen.

Solange der Fan das Bedürfnis nach dem Verein hat, wird er Bedürfnis nach Journalismus haben

Doch das Material wird vom Verein vor der Veröffentlichung auf Feelgood-Faktoren überprüft. DAZN-Redakteur Rieker macht sich dennoch wenig Sorgen um den kritischen Sportjournalismus: “Wenn etwas am Lieblingsverein kritisiert wird, wird sich der Fan vielleicht aufregen, aber er wird die Inhalte konsumieren. Und solange der Fan dieses Bedürfnis hat, wird er auch ein Bedürfnis nach Journalismus haben.”

Die Chance für Journalismus liegt also im Gegengewicht zur Vermarktung des Fußballs durch kritischen Journalismus. Kritischer Journalismus heißt jedoch nicht, immer Dinge schlecht zu machen und/oder nach der skandalträchtigsten und quotenbringendsten Schlagzeile zu lechzen. Sondern es soll heißen einzuordnen, Hintergründe zu liefern, Argumente zu analysieren und auszutauschen, mehrere Positionen zu präsentieren. Kritischer Journalismus sollte, kulturell und (teilweise) unabhängig von der Annahme betrieben werden, wie viele Leute sich dafür interessieren.

“Das [„Footballleaks“] ist der kulturrelevante Teil, den Sport eben auch hat. Und Kultur bedeutet immer auch Überforderung. Auch Überforderung kann unterhalten. Das darf jeder für sich entscheiden. Und gerne auch täglich neu.”  – Uli Hebel, Kommentator und Dozent an der Macromedia Hochschule München

Öffentlich-Rechtliche Sender frei vom Quotendruck?

Und genau ein solcher Journalimus – quotenunabhängig und mit kulturellem Beitrag – ist der Bildungsauftrag der Öffentllich-Rechtlichen. Denn ohne in die Details des komplizierten Verteilungsschlüssels für die GEZ einzutauchen, lässt sich festhalten, dass die Öffentlich-Rechtlichen über ein gesichertes finanzielles Einkommen und damit Planungssicherheit verfügen, die andere TV-Anstalten nicht haben. “Man kann den privaten Sendern nicht vorwerfen, dass sie unterhalten wollen, da sie es wegen der Refinanzierung auch müssen”, konstatiert der Blogger und Journalist Klaas Reese. Gleichwohl würde er sich mehr journalistische Inhalte wünschen. Uli Hebel geht sogar noch ein Stück weiter: “Meiner Meinung nach sollte man im Journalismus nicht nur mit Quote argumentieren, auch nicht als privater Sender. Die Öffentlich-Rechtlichen aber dürfen es noch nicht einmal.”

Doch statt als Gegenpol aufzutreten, hecheln die Öffentlich-Rechtlichen in ihrem Programm den privaten Sendern teilweise hinterher. Zumindest kann man diesen Eindruck gewinnen. Der Fokus auf Infotainment begann mit dem Aus der Sat1 Sportsendung “ran” und dem Wechsel von Reinhold Beckmann und Matthias Opdenhövel zur Sportschau, mit der eine neue redaktionelle Ausrichtung einherging. Zudem haben sich die Öffentlich-Rechtlichen vom Fußball abhängig gemacht. Sie, die ihn einst erst groß gemacht haben, unterwerfen sich dem Fußball, um Quote zu generieren. “Wenn neben Fußball andere Sportarten in höherem Maße im Fernsehen gezeigt würden, müsste man auch nicht jede Schlagzeile mitnehmen”, ist sich Reese sicher, dass bei einem ausgewogeneren Programm weniger Fokus auf das Drumherum beim Fußball, sondern mehr auf den Sport selbst gelegt werden könnte.

Mehr Diskussionsrunden zu Doping

Klar sind bei der Berichterstattung der ARD und des ZDF deutliche Unterschiede zu den anderen Medien erkennbar, auch bedingt durch den ihnen aufgetragenen Bildungsauftrag. Natürlich gibt es profilierte Sportjournalisten, Dunja Hayali im Sportstudio beispielsweise. Natürlich werden Themen wie Doping angesprochen. Auch unterhält die ARD mit Hajo Seppelt und seinem Team eine investigative Doping-Redaktion, wahrscheinlich eine der größten weltweit.

Allein die Frage muss erlaubt sein, warum solche Themen nur gestreift werden oder außerhalb der Primetime laufen. Selten noch wurde bei Live-Übertragungen vor einem Spiel Doping mit Hajo Seppelt besprochen, wurde statt über den Wechsel von Spieler X über Doping hintergründig mit Experteneinschätzung berichtet. Sinnvoll im unterhaltenden Mehrwert wäre hier doch die Frage, woher Doping kommt oder wie staatliche Strukturen Prozesse decken. Das kann natürlich nicht während einer Halbzeitpause passieren, aber ein Einspieler mit Hinweis auf die Sendung in der Mediathek sollte machbar sein.

Ideale Welt trifft harte Realität

In einer aus Autorensicht idealen Welt wären die Themen und Sendeplätze losgelöst(er) von der Quote. In dieser idealen Welt wäre die ARD in den 1990er nicht mit dem Sponsoring des Radteams Deutsche Telekom bereits eine sehr verfängliche Partnerschaft eingegangen, bei der sie laut Meier-Röhn als Gegenleistung Exklusiv-Interviews bekam. In einer idealen Welt würden die Öffentlich-Rechtlichen nicht mit den privaten Sendern um die Live-Übertragung und Berichterstattung des Fußballs wettbieten und sich somit in Erklärungsnot bringen, wenn sie mehr Infotainment und Schlagzeilen produzieren wollen statt ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden.

In einer idealen Welt stellen Journalisten nicht nur nette Fragen aus Angst vor dem Bedeutungsverlust ihrer Zunft. In einer idealen Welt haben Vereine etwas übrig für fair-kritische Journalisten. In einer idealen Welt werden gute, journalistische Arbeiten von Kommentatoren und Moderatoren nicht nur maximal nebenläufig erwähnt, sondern zitiert und so in die breite Öffentlichkeit gebracht.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass hintergründige Themen wie Doping die große Mehrheit der Bevölkerung nicht interessiert, zumindest nicht unmittelbar vor einem Fußballspiel, dann nämlich, wenn man zum Feierabend unterhalten werden möchte. Quote ist zwar nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Jacques Reynaud, Executive Vice President Sports & Advertising bei SKY, unterstützt diese These im Gespräch mit Günter Klein auf merkur.de: “Wo weniger Zuschauer erreicht werden, kann man eher experimentieren. Wir wollen einem Millionenpublikum das beste Fernsehergebnis bieten.”

Der Blick in die Zukunft

Im Prinzip greift hier das antike Brot-und-Spiele-Konzept. Und dazu gehört für die Mehrheit offensichtlich der unterhaltende Aspekt im Fernsehen. Die von Uli Hebel postulierte Überforderung bleibt bei den Unterhaltungsformaten teilweise auf der Strecke. Für Fans, die nicht nur abgedroschene Phrasen hören, sondern z.B. Taktikfragen beantwortet haben wollen, eine ziemlich niederschmetternde Erkenntnis.

Exemplarisch für den unterhaltenden Aspekt sei die Frage erlaubt, warum der Frauenanteil bei Moderatorinnen (vor der Kamera) deutlich höher im Verhältnis zu Kommentatorinnen (hinter der Kamera) ist. Denn wenn Frauen als Moderatorinnen journalistisch arbeiten können, warum dann auch nicht als Kommentatorin?

Ob und inwieweit der Journalismus die Unterhaltung wieder zurückdrängen kann, bleibt abzuwarten. Mit DAZN und Eurosport sind neben dem Platzhirsch SKY zwei weitere Bezahlsender auf dem Markt getreten, die nachhaltig über Konsumentenverhalten auch das Angebot bei SKY verändern könnten. Auch wenn klar ist, dass SKY eine Mehrzahl seiner Kunden behalten wird, solange sie den Großteil der Lizenzen für die Live-Übertragungen der Fußballspiele besitzt.

Blick in die Zukunft des Sportjournalismus im Fernsehen

(CC BY 2.0) Jon Candy

Ob bei der nächsten Rechte-Vergabe der deutsche Markt im Zuge der internationalen Vermarktung der DFL überhaupt noch eine Rolle spielen wird, steht höchstens in den Notizbüchern von Christian Seifert und Co. Ob dort auch die zukünftige Rolle des Journalismus‘ im Fernsehen als Teil des Systems steht, ist nicht übermittelt. Daher soll der Text mit einem Blick in die Glaskugel abschließen:

Eine Zukunftsvision: Über die Verbandelung Medien – Sport – Wirtschaft wird regelmäßig diskutiert. Vereine begreifen Journalisten als Mitspieler auf Augenhöhe, die nicht stören, sondern mit ihrer Berichterstattung zu einem gelungenen gesamtheitlichen Bild beitragen. So verhindern die Vereinsverantwortlichen die Abkehr der Fans aufgrund der immergleichen Inhalte und dem Platzen der Fußballblase. Die Debatte darüber, wie man Teil des Systems sein kann und dennoch kritisch berichtet, wird wesentlich mehr in der Vordergrund gerückt.

Die Journalisten (der Öffentlich-Rechtlichen) hingegen begeben sich im Wettkampf um die beste Quote nicht mehr auf die Suche nach den skandalträchtigsten Zitaten. Der Bezahlsender wird zwar nicht zur Enthüllungsmaschinerie investigativen Journalismus‘, kooperiert aber mit den Öffentlich-Rechtlichen. Die Rollen sind dabei klar verteilt. Der Bezahlsender liefert den Live-Content, die Öffentlich-Rechtlichen Hintergründe. Nutznießer ist der Kunde, der sich sein Angebot zurechtlegen kann und dafür nur einen Flatrate-Preis zahlt.

Zweite Zukunftsvision: Es findet eine komplette Individualisierung des Sportangebots statt. Zukünftig bezahlt der Kunde lediglich für das, was er schauen möchte. Ein Live-Spiel – 5 Euro. Eine Halbzeit – 3 Euro. Eine Doku über Doping – 3 Euro. Einen Monat nur diesen Verein oder jene Liga – 10 Euro. Alle Spiele und Trainingseinheiten eines einzelnen Spielers – 15 Euro. Ein Vorbericht – 0,50 Euro. Blick in die Kabine: 2 Euro. Bewegtbild-Rechte werden auch nicht mehr ligaweit, sondern vom Verein vermarktet. Bei Sky bereits jetzt Realität: Das Sky Ticket für einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Woche

Dritte Zukunftsvision: Die Doku von Manchester City auf Amazon ist erst der Anfang einer Reihe solcher Original Content Produktionen. Der Fan darf hinter die Kulissen blicken, wie es Journalisten nicht mehr dürfen. Die Vereine jubilieren über neue Verbreitungskanäle, die Fernsehgelder steigen weiter, 2030 sichert sich Amazon die Komplett-Rechte an der Bundesliga und schluckt damit die anderen Bezahlsender endgültig. Die Öffentlich-Rechtlichen haben sich da schon seit Jahren nur noch auf den Amateurfußball konzentriert.

Vierte Zukunftsvision: Die Medien besinnen sich darauf, dass sie den Fußball groß gemacht haben und rebellieren gegen die Verbände. Die Öffentlich-Rechtlichen zeigen explizit nur noch andere Sportarten, der Fußball versinkt im medialen Niemandsland – oder für Unsummen auf den Club-TVs . Stattdessen machen 2030, nach einer Hochphase des American Football, nun vor allem Trend- und Outdoorsportarten den meisten Anteil im Fernsehen aus.

Interview mit Uli Hebel

“Der Ball ist die Botschaft”

Uli, es werden immer größere Summen für die TV-Rechte zur Fußball-Übertragung bezahlt. Die Beträge müssen irgendwie refinanziert werden. Muss ein Sportjournalist im Fernsehen auch ein guter Verkäufer sein?

Hebel: Klar, zur Rolle des Journalisten ist gewissermaßen die des Verkäufers dazu gekommen. Die Grenzen zwischen redaktionellen und werblichen Inhalten verschwimmen immer mehr. Diese sind aber zu trennen. Ich verkaufe aber, wenn du so willst, dem Zuschauer seinen Sport und dann und wann Programm des Senders. Ich bin Journalist und kein Testimonial oder Verkäufer. Plakativ gesprochen mindestens zu 95 Prozent. Das ist mein Anspruch.

Für eine gewisse Unterhaltung musst du auch noch sorgen, schließlich will der Kunde animiert werden…

Hebel: Das Wort Unterhalter wird oft mit dem Klassenclown gleichgesetzt. Unterhaltung kann auch aus einer dreistündigen Sendung bestehen, aus der du idealerweise mit mehr Wissen herausgehst. Mich unterhält Football Leaks mehr als ein langweiliges Fußballspiel, auch wenn es in dem Buch um das „Schlechte“ im Fußball geht. Das ist der kulturrelevante Teil, den Sport eben auch hat. Und Kultur bedeutet immer auch Überforderung. Auch Überforderung kann unterhalten. Das darf jeder für sich entscheiden. Und gerne auch täglich neu.

Der Vorwurf, Sportjournalisten seien mehr Unterhalter und keine richtigen Journalisten ist also falsch?

Hebel: Natürlich operieren wir nicht am offenen Herzen, wir beeinflussen auch nicht in dem Maße Menschenleben wie in der Politik oder Wirtschaft. Aber ich lasse es nicht zu, dass Sportjournalisten sagen, wir sind NUR Sportjournalisten. Wir machen einen großen Teil des gesellschaftlichen Lebens aus. Und egal über welches Thema du Journalismus betreibst: Du hast kritisch zu sein!

Kritisch sein, beißt sich das nicht mit den Interessen des Senders, der ein Produkt verkaufen will?

Hebel: Ich glaube einfach nicht, dass die Zuschauer während der 90 Minuten Fußball nur die heile Welt hören wollen. Es gehört zur Fußballberichterstattung dazu, alles anzusprechen. Das müssen wir den Zuschauern zutrauen und vor allem zumuten. Geht es dann um zu komplexe politische Themen, dann sage ich in der Sendung auch mal, das sollen andere machen. Ich spreche aber Dinge klar an, kann oder mag sie aber nicht einordnen und überlasse das Feld dann lieber einem Experten. Aussagen gegen Rassismus beispielswese wirst du von mir aber immer wieder mal hören.

Also noch nie Probleme mit dem Chef bekommen, weil du bei einem Spiel zu kritisch berichtet hast?

Hebel: Natürlich haben die Verantwortliche Angst, dass das Produkt kaputt gemacht wird. Aber DAZN traut uns die Abwägung zu. Ich würde mir das im Übrigen aber auch nicht verbieten lassen, etwas Kritisch anzumerken; dafür werde ich ja bezahlt. Meine Meinung wiederzugeben. Das Wichtigste ist: Du musst bei dir bleiben. Wenn du nicht versuchst, sozial erwünscht zu sein, dann wird es der Zuschauer verstehen.

Kannst du das an einem Beispiel fest machen?

Hebel: Angenommen die ersten 45 Minuten einer Partie waren totaler Dreck und du sagst das auch so: Dann wertest du dein Produkt natürlich ab und hast deinen Beruf nicht verstanden. Die Aufgabe des Journalisten ist es, zu sagen warum es nicht gut war. Ich kann nicht sagen, Spieler X ist ein schlechter Spieler. Erstens ist er Berufsfußballer und kann nicht per se schlecht sein. Und Zweitens wäre das nicht fair. Ich darf und soll kritisch sein, muss dabei aber respektvoll bleiben. Diesen Grundsatz sollten wir bedienen…

Häufig hört man, den Sportjournalisten fehle es an Distanz. Sie würden sich zu sehr mit Athleten rühmen wollen, eine Kumpelei stattfinden und kritische Fragen auf Sendung nicht stellen. Kann man diese Spirale überhaupt durchbrechen?

Hebel: Natürlich besteht die Gefahr, zukünftig keine Interviews mehr zu bekommen, wenn du kritisch über jemanden sprichst. Das muss sich das Fußballbusiness im Besonderen auch anschreiben lassen. Die Verantwortlichen denken, sie sind mit ihren Formaten nicht abhängig von Medien. Sie irren.

Inwiefern?

Hebel: Medien und Massensport leben von der Wechselwirkung. Die Medien sollten rigoroser sein und den Vereinen klarmachen: Ihr könnt eure Vereins-Formate behalten. Aber wenn ihr Geld von uns kassiert, müsst ihr uns Spieler für ein Interview anbieten und nicht alles exklusiv ausstrahlen. Wenn wir nicht mehr berichten würden, verlieren die Zuschauer den Zugriff und die Verbindung zwischen dem Fan und dem Sportler wird beschnitten. Das ist dann plötzlich ein zentrales Druckmittel, da ein Großteil der Vereinseinnahmen über die Fernsehgelder generiert wird.

Es gibt aber noch die Eintrittskarten, Merch-Artikel…

Hebel: Klar, aber wenn du nicht mehr gesendet wirst, findest du irgendwann nicht mehr statt. Das passiert nicht sofort, sondern erst über ein paar Jahre hinweg. Wenn du als Bayern München nicht mehr übertragen werden würdest, hättest du nur noch die Zuschauer in der Arena. Aber nicht die Abermillionen vor den Bildschirmen. Das sind ja die potenziellen Kunden für Vereinskanäle oder Fanartikel.

Im Konjunktiv weitergedacht: Als Bayern München würde ich entgegnen, dass du als Sender mit mir die höchsten Einschaltquoten in Deutschland generierst…

Hebel: Klar. Es wird immer jemanden geben, der sich die Rechte sichert, wenn du dieses Argument in die Realität umsetzen würdest. Ich diskutiere das Ideal. Und Ideal ist immer auch Utopie. Du kannst als Sender-Verantwortlicher dieses Argument in Verhandlungen nicht bringen, aber durchaus die Relevanz der Sender klar machen. Wir Medien sorgen für eine objektive Berichterstattung, daran sollte den Vereinsverantwortlichen auch gelegen sein. Wir schwimmen zwar nicht im selben Boot, aber auf selber See.

Stichwort Objektivität: Oftmals werden offensichtlich werbliche Inhalte von Journalisten im Fernsehen vorgetragen. Da wird ein Stadionname oder eine Marke genannt…

Hebel: Als Journalist lebe ich von meinem Wort, von meiner Glaubwürdigkeit. Ist es kein redaktioneller Beitrag, hat es mit Journalismus nichts zu tun. Ich stehe für best-mögliche Unabhängigkeit. Vereinen oder Waren gegenüber. Wenn ich Werbung mache, dann nimmt mich irgendwann keiner mehr ernst. Und die Verschmelzung von redaktionellen Inhalten und Werbung ist das größte Verbrechen der Medienlandschaft oder größer: die Meinungsfreiheit.

Wie sieht denn für dich perfekter Sportjournalismus aus?

Hebel: Fair, kritisch, auch positiv kritisch, reflektiert, sauber recherchiert, dann und wann meinungsstark und polarisierend. Aber ohne das hysterische, sozial erwünschte, von Klicks getriebene. Es gibt viele, die sich im Sportjournalismus selbst profitieren wollen, und das auf dem Rücken des Sportjournalismus‘ austragen. Das ist nicht der Sinn des Berufs. Der Ball ist die Botschaft.

In unserer Reihe zum Sportjournalismus sind außerdem erschienen:

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https://120minuten.github.io/fussball-und-fernsehen-das-geld-hat-den-sportjournalismus-versaut/feed/ 11 5606
Vom Kaiserreich zur Kommerzialisierung: Deutschland und der moderne Fußball https://120minuten.github.io/vom-kaiserreich-zur-kommerzialisierung-deutschland-und-der-moderne-fussball/ Thu, 23 Aug 2018 06:58:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5228 Weiterlesen]]> „Moderner Fußball“ ist ein Schlagwort. Ein Schlagwort, das in Zeiten von wankendem 50+1, zunehmender Kommerzialisierung, zerstückelter Spieltage etc. vorwiegend negativ konnotiert ist. Aber war der Fußball vorher alt? Antik? Natürlich mitnichten. Etymologisch betrachtet, bedeutet modern nichts anderes als „modisch/nach heutiger Mode“. So gesehen geht es bei der Frage nach modernem Fußball um die Phase, in der Fußball bei der Masse der Bevölkerung und nicht nur ein paar Nerds beliebt und in der die ursprüngliche Form weiterentwickelt wurde.
Es soll hier nur um den Beginn des modernen Fußballs in England und Deutschland (genauer gesagt: im deutschen Kaiserreich) gehen und um die Frage, was oder wer verursachte, dass er modernisiert wurde. Der Beitrag ist ein in Fließtext gebrachtes Brainstorming, das ausdrücklich zum Kommentieren anregen soll. Hauptsächlich werden die Anfänge des Fußballs – 1820-1900 in England und 1870-1930 in Deutschland – untersucht

Der erste von zwei Teilen befasste sich mit dem Beginn des modernen Fußballs in England. Im nun folgenden zweiten Teil geht es um die Entwicklung des modernen Fußballs in Deutschland.

Von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de)

Fußball wird in Deutschland bekannt

Ein Spiel des Dresdner Fußball Clubs aus den Anfangstagen des Sports in Deutschland.

Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gab es in England football, in Frankreich soule, in Italien calcio. In Deutschland, genauer gesagt dem damaligen deutschen Kaiserreich, gab es vor dem 19. Jahrhundert kein Fußballspiel. Es konnte also nicht auf schon bekannte Formen zurückgreifen, die in der Folgezeit reguliert wurden. Fußball war unbekannt. Und daher musste er erstmal Fuß fassen, um modernisiert werden zu können. Denn das Wort modern setzt ja voraus, dass es schon eine Vorform, eine antike Form zuvor gab.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kamen die in England beliebten Sportarten wie Cricket, Baseball und beide Fußballvarianten, Rugby und (Assoziations-)Fußball, nach Deutschland. Denn die in Deutschland lebenden Engländer und englische Langzeittouristen wollten nicht auf die liebgewonnenen Sportarten verzichten, die auch die Kontaktaufnahme zu anderen Engländern der Umgebung sehr erleichterte. In diesen Jahrzehnten entwickelte sich das reglementierte Fußballspiel vom Schüler- und Studentensport zu einem in der englischen Gesellschaft verankerten Freizeit- und Bewegungsvergnügen.

Deutsche, die in Kontakt zu Engländern standen – beispielsweise Ärzte, Sprachlehrer, Uniprofessoren oder Journalisten – beobachteten den Sport der Engländer, fanden mitunter Gefallen an Fußball und imitierten ihn. Das passiert vor allem in den so genannten Engländerkolonien in Deutschland. Diese befanden sich vor allem in Residenzstädten wie Hannover, Braunschweig, oder Dresden, oder in Universitätsstädten wie Heidelberg oder Göttingen. Auch in im 19. Jahrhundert beliebten Kurorten – Wiesbaden, Baden-Baden oder Cannstatt sind hier Beispiele – und in Handelsstädten wie Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Leipzig waren häufig Engländer anzutreffen.

Soziale Herkunft der Fußball-Liebhaber
In der Forschung wird noch über die soziale Basis der Fußball-Liebhaber diskutiert – waren es Angestellte oder doch Arbeiter, die in Deutschland das Fußballfieber entfachten? Oder waren es Arbeiter, die als verdeckte Bezahlung einen Bürojob erhielten und sind diese dann als Arbeiter oder Angestellte zu zählen? Eggers merkt an, dass die Quellenlage über die Mitgliederstruktur des DFB vor dem ersten Weltkrieg sehr dürftig ist und viele Fußballspieler noch in den 1920er Jahren als Pseudobezahlung eine scheinbare Angestelltenstellung erhielten, aber aus dem Arbeitermilieu stammten. Als Belege nennt er Clubs im Ruhrgebiet und die Mannschaft von Bayern München 1925, deren Spieler vor allem aus dem Arbeitermilieu stammten und die mit Schein-Arbeitsplätzen und der dazu entsprechenden Bezahlung geködert wurden.

Engländer in Deutschland und Konrad Koch

Es waren aber nicht nur die in Deutschland lebenden Engländer, die den Fußball in Deutschland bekannt machten, sondern auch Konrad Koch, der Thomas Arnolds Ideologie und Leben profund während seines Studiums erforscht hatte. Koch muss von Arnold begeistert gewesen sein, denn er kopierte ihn und führte als Lehrer das Fußballspiel 1874 am Martino-Katharineum in Braunschweig ein, um die Jugendlichen fit zu machen und um die Basis für eine athletische Elite zu legen. Wie in England wurde Fußball als Winterspiel in den kalten Monaten des Jahres gespielt, während im Sommer Leichtathletik im Vordergrund stand. Übrigens hat Konrad Koch nicht Assoziationsfußball spielen lassen, sondern Rugby – wie Thomas Arnold als Schulleiter der Privatschule in Rugby. Da jedoch Assoziationsfußball in Deutschland wesentlich mehr und schneller Verbreitung fand als Rugby, unterstützte er diesen ab den 1890er Jahren. Koch versuchte, in Deutschland eine Fußballbegeisterung zu entfachen, wie es in England damals gerade passierte. Aber der Funke sprang in Deutschland nicht über. Als die erste Assoziationsfußballmannschaft in Deutschland gilt der Lüneburg College Football Club, bei dem den Namen der Spieler nach auch aus Deutschland stammende Schüler spielten. 

Vgl. Hock, Hans-Peter: Der Dresden Football Club und die Anfänge des Fußballs in Europa. Hildesheim 2016. S. 18-20. Wer mehr zu Konrad Koch wissen möchte, sei Malte Oberschelps 2015 erschienene Biografie über Koch sehr empfohlen.

Denn in Deutschland war das Turnen die Körperertüchtigung Nummer Eins. Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt geworden, war das Turnen eng mit studentischen Verbindungen und dem Einheits- und Nationalgedanken verbunden. Die aus England kommenden Sportarten wie Rugby oder Assoziationsfußball, Tennis oder Cricket wurden argwöhnisch beobachtet, weil sie eben aus England stammten und nicht deutschen Ursprungs, also nicht Teil der deutschen Kultur waren. Dazu kamen die Übersetzungsschwierigkeiten des englischen Begriffs sports, der letztendlich einfach in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wurde. Auch Fachbegriffe wie offside, hand, to center oder goal wurden zunächst übernommen.

Die Spielbewegung und der Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen

Im November 1882 erließ der preußische Kultusminister, Gustav von Goßler, den nach ihm benannten Spielerlass. Er ermunterte darin die preußischen Kommunen, Spielplätze zu bauen und Turnen (später auch Bewegungsspiele/Sport) als regelmäßigen Teil des Unterrichts zu integrieren. Gleichzeitig sollten schulfreie Spielenachmittage etabliert werden.

Gustav von Gossler

Neun Jahre später, am 21. Mai 1891, gründeten von Goßler und der preußische Abgeordnete Emil Freiherr von Schenckendorff den Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen (ab 1897 Zentralausschuss zur Förderung von Volks- und Jugendspielen), kurz ZA. Der ZA war dabei kein Zusammenschluss von Fußball-Liebhabern verschiedener sozialer Herkunft, sondern bestand vor allem aus Mitgliedern der Nationalliberalen Partei und dessen Alldeutschen Verbandes (gemeinsame Ziele: Stärkung des deutschen Nationalbewusstsein, Pro-Imperialismus), somit vor allem Politikern, Beamten und Armee-Angehörigen. Ihr vorrangiges Ziel war aber nicht, den Sport politisch zu vereinnahmen, sondern vielmehr eine philanthropische, erzieherische, militärische und sozialdarwinistische Mischung, eine „gesunde“ Elite an sportlichen Deutschen und damit potentiellen Soldaten heranzuziehen. Daher versuchten die engagierten Persönlichkeiten, die Gräben zwischen Turnern und Sportlern aufzufüllen und zwischen ihnen zu vermitteln. Turnen und Sport (zeitgenössisch auch Bewegungsspiele genannt) sollten parallel existieren und sich ergänzen. Um diese Absicht zu erreichen, versuchte der ZA, die einzeln wirkenden Kräfte in Deutschland zu bündeln, um so das gemeinsame Ziel schnell zu erreichen. Dazu gehörte der Zentralverein für Körperpflege in Volk und Schule, der Deutsche Bund für Sport, Spiel und Turnen, das Komitee für die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen zu Athen 1896 und später der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, in dessen Bundesleitung auch viele Mitglieder des ZA vertreten waren und der sich wie der ZA in der vormilitärische Ausbildung engagierte.

Wie versuchte man, die Ziele zu erreichen? Nun, durch einen intensiven Lobbyismus in Militärbehörden und Schul- und Stadtverwaltungen, Englandreisen, regelmäßige und verschiedene Zielgruppen ansprechende Veröffentlichungen und eine enorm große Werbetätigkeit. Die Geldmittel kamen aus dem preußischen Kultusministerium und anderen deutschen Landesregierungen.

Der ZA erreichte letztendlich seine Ziele der Verbreitung der Sportarten und die nationale Ausrichtung dieser.

Der Deutsche Fußballbund

Logo des Deutschen Fußballbundes von 1900

In den 1890er Jahren entstanden eine Reihe von neuen Vereinen und auch erste regionale Fußballverbände, zum Beispiel in Berlin (Bund Deutscher Fußballspieler 1890, Deutscher Fußball- und Cricketbund 1891). Doch während Vereine in England gewachsene Gemeinschaften waren, gab es in Deutschland eine hohe Fluktuation in den Vereinen und daher auch einen geringen Zusammenhalt der Spieler. Die Identifikation mit einem Club war also nicht gewachsen – das kam dem ZA ungelegen. Seine Versuche, einen gesamtdeutschen Verband zu gründen, scheiterten zunächst an Unstimmigkeiten zwischen den Verbänden. Nach einigen Jahren der Vermittlung gab es Ende Januar 1900 in Leipzig einen neuen Versuch, einen deutschen Verband zu gründen. Nun stimmten 60 der 86 Vereine für die Gründung des Deutschen Fußballbundes. Die Gründungsmitglieder waren sowohl regionale Verbände (Verband südwestdeutscher Fußballvereine, beide Berliner Verbände und der Hamburg-Altonaer Fußball-Bund) als auch einzelne Vereine aus Prag, Magdeburg, Dresden, Hannover, Leipzig, Braunschweig, München, Naumburg, Breslau, Chemnitz und Mittweida – also aus dem ganzen damaligen Deutschland. Der Spielausschuss des DFB erstellte in den kommenden Jahren einheitliche Statuten und Spielregeln nach englischem Vorbild (1906 herausgegeben) und es gab einen regelmäßigen Spielbetrieb um die Deutsche Meisterschaft (ab der Saison 1902/1903) und den Kronprinzenpokal (ab der Saison 1908/1909).

Im DFB entschied man sich für die nationale und gegen die kosmopolitische Ausrichtung. Denn so erhielten sie vor den Turnern den Vorzug, um die Exerzierplätze als Spielfeld benutzen zu dürfen. Als Wehrsport wurde der Stereotyp eines Fußballers mit soldatischen Idealen aufgeladen: Kampf und Opfermut bis zur letzten Minute, Pflichttreue und Treue zur eigenen Mannschaft sowie Charakterstärke und Idealismus. An diesem Ideal hat sich bis heute wenig geändert und es ist auch der Grund, weshalb in Deutschland die Legalisierung von entlohntem Fußball noch vehementer abgelehnt und stigmatisiert wurde als in England. Vieles ist in Deutschland wie in England verlaufen, nur etwa 50 Jahre später, aber nicht in diesem Punkt: Während Fußball in England modern wurde, als er legaler Profifußball wurde und viele Menschen direkt oder indirekt durch das Fußballspiel Erwerbsmöglichkeiten fanden, wurde Fußball in Deutschland durch das Militär und das soldatische Ideal, also durch das deutsche Amateurideal, modern. Das änderte sich auch nicht, als der Profifußball etwa 50 Jahre nach der Legalisierung in England auch in Deutschland legalisiert wurde. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb in Deutschland das Begriffspaar moderner Fußball mittlerweile stark negativ konnotiert ist und die 50+1-Regelung nicht schon längst über den Haufen geworfen wurde. Es ist aber vielleicht auch der Grund dafür, dass häufig und des Geldes wegen wechselnde Spieler als Söldner(!) beschimpft werden, weil sie nicht bis zu ihrem letzten Atemzug ihrer Mannschaft treu blieben – bewusst sehr pathetisch formuliert.

Währenddessen stieg die Mitgliederzahl des DFB rapide an und versiebzehnfachte sich zwischen 1904 und 1913.

Wie schon gesagt, Goßlers Idee ging also auf, Fußball wurde Wehrsport. Schon vor 1910 spielte die Marine ihre eigene Fußballmeisterschaft aus, ab 1911 auch das Landesheer. Der DFB wurde wie der ZA Mitglied in staatlichen, militärisch geprägten Jugendorganisationen wie dem 1911 gegründeten Jungdeutschland.

Als Wehrsport musste sich Fußball nun aber endgültig von dem Vorwurf des undeutschen Sportes lösen und Sprachbarrieren  beseitigen. Daher gab es ab den 1890er Jahren immer wieder Artikel in Zeitungen, Pamphlete und auch Bücher, die die englischen Begriffe eindeutschten.

Moderner Fußball: Die Fußballbegeisterung wird Teil der deutschen Gesellschaft

Viele deutsche Soldaten lernten das Fußballspiel erst als Wehrsport während des ersten Weltkrieges kennen; liebten und lebten ihn. Die Spiele dienten hier, in dem reinen Stellungskrieg, vor allem zur psychischen Stabilisierung von Truppeneinheiten und zur Hebung deren Stimmung, fand aber auch durch seinen klassennivellierenden Charakter allgemeine Beliebtheit bei den nichtadeligen Milieus. Diese Begeisterung endete nicht mit dem Kriegsende – im Gegenteil. Manche spielten Fußball fortan in Vereinen und viele weitere wurden begeisterte Zuschauer. 1920 hatte der DFB die 500.000er Marke seiner Mitglieder geknackt. Jetzt begann der Fußball, auch in Deutschland ein Massenphänomen zu werden.

In dieser Zeit, in der Weimarer Republik, nahm Fußball eine Mittlerrolle zwischen der deutschen Bevölkerung und der Reichswehr ein. Dabei war die Grenze zwischen zivilem und Militärsport fließend. Das Wort Kampf wurde in den 1920er Jahren zu einem Schlüsselbegriff: Kampfspiele, Kampfbahn, Kampfgemeinschaft, usw. Der Fußball diente als vormilitärisches Feld, um trotz dem Verbot einer Armee, die kommende Generation an die Tugenden der Soldaten heranzuführen. Außerdem tarnten sich viele paramilitärische Vereinigungen als Sportclubs wie die Box- und Sportabteilung der NSDAP. Diese wurde aber schon verhältnismäßig früh, nämlich im November 1921, von Hitler in Sturmabteilung, SA, umbenannt.

Waren Sportarten wie Fußball nach Ende des ersten Weltkrieges ein gutes Ventil, um die psychische Belastung der Kriegsjahre zu kompensieren, bargen sie damit aber in der Zwischenkriegszeit ein deutliches Gewaltpotenzial. Viele, die das Fußballspiel während des Krieges kennengelernt hatten, spielten einen derart unfairen Fußball oder benahmen sich als Zuschauer mit Platzstürmen und Gewaltandrohungen gegen Schiedsrichter und Gegner so rüde, dass Fußball zu Beginn der 1920er Jahre nicht nur breite Beliebtheit erfuhr, sondern gleichzeitig einen sehr schlechten Ruf erlangte. Der sehr angesehene Schiedsrichter Peter Joseph „Peco“ Bauwens legte 1925 wegen des Verhaltens der Spieler und Zuschauer in der Halbzeit des Spieles 1. FC Nürnberg gegen MTK Budapest schlicht sein Amt nieder.

Zu der Problematik von Fußball in der Weimarer Republik und Bauwens vgl. Eisenberg, Christiane: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999. S. 306-339.

 

Dabei entwickelte sich der Fußball durch die zahlreichen Zuschauer zu einem veritablen Wirtschaftsgut. Diesen verlorenen Respekt versuchte der DFB abermals durch die Verknüpfung mit dem soldatischen Ehrbegriff wiederherzustellen – erfolgreich.

Die ersten Radioübertragungen

Unterstützung erfuhr der Fußball in Deutschland wie in England durch Journalismus, Getränke- und Bauindustrie, Wettbüros, Fotografie und Sportartikelhersteller. Auch Zigarren- und Zigarettenfabriken sowie Schnapsbrennereien profitierten von dem Sport, denn es war auf den Zuschauerrängen üblich, sich zwischendurch mit einem Schluck aus dem Flachmann oder einer Zigarre zu stärken. Neu und in diesem Fall ganz elementar war für Sportinteressierte das moderne Medium Radio, dessen Verkaufszahlen sich zwischen 1923 und 1926 rapide anstiegen. Es war für Sport und Medium eine Win-Win-Situation: Das Radio beflügelte das Interesse, Sport zu verfolgen und die an Sport Interessierten kauften sich Radios. Wann das erste Spiel in Deutschland übertragen wurde, ist umstritten: War es das Spiel Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld am 1. November 1925 oder das vom Rundfunkpionier Bernhard Ernst kommentierte DFB-Endspiel zwischen der SpVgg Fürth und Hertha BSC (Ende 1925)? Wie dem auch sei, der DFB unterstützte zunächst die Rundfunkübertragungen von Fußballspielen, um 1928 stark zurückzurudern: Um nicht die Zuschauerzahlen und damit Einnahmen der Vereine zu gefährden, wurden die Übertragungsrechte nur für das DFB-Endspiel sowie drei Länderspiele vergeben. Diese deutlichen Einschränkungen führten zu heftigem Protest der Zuschauer und tatsächlich wurden ab 1932 wieder mehr Fußballspiele via Radio übertragen; vor allem solche Spiele, bei denen eine Reduzierung der Zuschauerzahl nicht zu befürchten war.

Der DFB war kein Einzelfall. U.a. auch England und Schweden ließen die Übertragungen teils verbieten (Schweden) oder diskutierten über ein generelles Verbot (England).

Moderner Fußball: Profifußball wird (zum ersten Mal) legal

Mitte der 1920er Jahre kam es in Deutschland zu den ersten ernsten Anläufen, dass Fußballspieler ein bezahlter Beruf wird. Denn durch den Dawes-Plan (1925) und seine Unterstützungen begannen viele Städte, neue Stadien zu errichten, um mit Hilfe der Fußballbegeisterung die städtischen Kassen zu füllen. Um die Hypotheken schneller zurückzuzahlen und das Stadion auszulasten, musste man attraktive Spiele bieten und daher Fußballergrößen in die Vereine der Stadt locken. Außerdem war ab 1925 die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen wieder möglich. Der Ehrgeiz , eine besonders schlagkräftige Mannschaft nominieren zu können, war deshalb groß. Unter der Hand gezahlte Zuwendungen waren längst die Regel.

Der DFB blieb bei seinem soldatischen Ideal des Fußballers, den der ehrenvolle Verdienst leitete, nicht der finanzielle . Bei Zuwiderhandlung drohte die Disqualifikation aus Meisterschaft und Pokalwettbewerb. Dabei war der Wunsch vieler Vereine, wettbewerbsfähig zu anderen Ländern zu sein. Bereits 1925 hatte der DFB eine Satzungsänderung verabschiedet, die es deutschen Vereinen stark erschwerte, gegen ausländische Profimannschaften zu spielen. (Der Boykott wurde erst 1930 auf Druck der FIFA aufgehoben.)

Durch die finanziellen Verluste der Weltwirtschaftskrise, die insbesondere die untere Mittelschicht (Angestellte, Facharbeiter) traf, gab es ab 1929 erneut deutliche Bemühungen, den Berufsfußball einzuführen. Bezahlungen der Fußballer unter der Hand waren mittlerweile die Regel, aber der DFB blieb weiterhin bei seinen Prinzipien. Mehr noch, im August 1930 sperrte er 14 Schalker Spieler und zudem mehrere Schalker Funktionäre und verhängte eine empfindlich hohe Geldstrafe von 1000 Reichsmark gegen den Verein. Der Grund: Schalker Spitzenspieler waren Arbeiter in der Schachtanlage Consolidation, wurden aber nur mit leichteren Aufgaben betraut und mussten also nicht unter Tage arbeiten, erhielten dafür aber deutlich mehr Lohn als ihre Kollegen. Die Bestrafung als abschreckendes Exempel für alle anderen Vereine ging für den DFB komplett nach hinten los: Viele weitere erfolgreiche Vereine bedrängten den Verband, die Strafen zurückzuziehen und drohten andernfalls mit dem Austritt. Der Westdeutsche Fußballverband forderte die Trennung in Amateurfußball und Berufsfußball. Noch lehnte der DFB ab, aber als es noch 1930 zur Gründung des Deutschen Professionalverbandes innerhalb des Westdeutschen Fußballverbandes und zu einer Reichsliga (gegründet von Sportjournalisten) kam, lenkte er ein. Schalke wurden die drakonischen Strafen erlassen. Aber der Profifußball wurde noch nicht legalisiert. Das Drängen der Vereine blieb und zwei Jahre später fürchtete der DFB die Spaltung des Fußballs wohl so sehr, dass er wie ca. 50 Jahre zuvor Alcock in England den Fußballsport legalisiert, um ihn dann besser kontrollieren zu können. Doch zu der für 1933 geplanten Reichsliga kam es nicht. Daran hatten nicht direkt die Nationalsozialisten Schuld; ihnen wären professionelle Sportler vielleicht sogar entgegengekommen. Nein, Felix Linnemann, seit 1925 Vorsitzender des DFB wurde 1933 mit der Leitung des Fachamts Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen betraut und machte direkt die in seinen Augen erzwungene Legalisierung des Profifußballs rückgängig.

Moderner Fußball: Profifußball wird (wieder) legal

1950, noch vor der Neugründung des DFB, beschloss die Delegiertenversammlung der Landesverbände, ein Vertragsspielerstatut zur Legalisierung des bezahlten Fußballs. Ein Spieler, der noch einem weiteren Beruf nachging, durfte dennoch nicht mehr als 320 DM monatlich erhalten, d.h. nicht mehr als den Lohn eines Facharbeiters. Aus dem Jahresgehalt errechnete sich die Ablösesumme. Zur der gehörte auch immer ein Gastspiel des neuen Vereines.

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Am Ziel der Träume? Fußball und der Nationalsozialismus

Der Fußball in Deutschland hat es in seinen Anfangsjahren nicht leicht. Gesellschaftliche Vorbehalte, Konkurrenz durch die traditionsreiche Turnerschaft, das unsägliche Geschacher um das Amateurgebot. Unter der Regie des machtbewussten DFB hat sich der Fußball dennoch zum Spiel der Massen entwickelt, wie ich in meinem ersten geschichtlichen Überblick für 120minuten aufgezeigt habe. Ideale Voraussetzungen für die Nationalsozialisten, das Spiel für seine Zwecke zu ge- und missbrauchen? Welche Rolle spielte der DFB dabei? Wie hat der deutsche Fußball auf die verordnete „Gleichschaltung“ reagiert? Und wie ging es in Sachen Profitum weiter?

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1954 wurde Deutschland überraschend Weltmeister. In den Folgejahren nahm die Bedeutung der Nationalmannschaft wegen fehlender Erfolge jedoch spürbar ab. Viele Spieler wechselten zu Vereinen ins Ausland, wo der Profifußball längst etabliert war und sie höhere Gehälter erhielten. Beispielsweise nach Italien, wo Helmut Haller (1962-1968 FC Bologna, 1968-1973 Juventus Turin), Karl-Heinz Schnellinger (1963-1964 AC Mantua, 1964-1965 AS Rom, 1965-1976 AC Mailand) oder auch Horst Szymaniak (1961-1963 CC Catania, 1963-1964 Inter Mailand, 1964-1965 FC Varese) spielten. Um dem Trend entgegenzuwirken, beschloss der DFB auf seinem Bundestag 1962 die Einführung einer Berufsspielerliga, der Bundesliga. Neben Amateurspielern und Vertragsspielern gab es nun auch Lizenzspieler, die ein dreimal so hohes Gehalt wie Vertragsspieler erhalten und einen Teil der Transfersumme kassieren konnte. Aber die Bestimmungen waren in den 1960er Jahren noch recht restriktiv, weshalb in der ersten Bundesligasaison nur 34 Spieler Fußball als Vollzeitberuf ausgeübt haben sollen. Sie brauchten einen guten Leumund, durften aber ihren Namen nicht für Werbezwecke zur Verfügung stellen und so weiteren Lohn erhalten und die Gesamtbezüge aus Lohn, Handgeld, Prämien und Ablösesummen durften nicht 1200 DM monatlich übersteigen.

Für den DFB lohnte sich die Einführung der Bundesliga: Die Nationalmannschaft hatte wieder Erfolg und da in den 1960er Jahren schon viele Haushalte über einen Fernseher verfügten, konnte sich der DFB durch Fernsehübertragungsgebühren, Werbeeinnahmen und Sponsorengelder finanzieren.

Für die Vertrags- und auch Lizenzspieler war das Fußballspiel innerhalb der vom DFB gesetzten Grenzen nicht rentabel und so verwundert es nicht, dass es in der Saison 1970/71 zu einem so großen Bestechungsskandal kam und der DFB abermals zum Umdenken gezwungen wurde. 1972 wurde der Markt geöffnet – seitdem steigen die Einkommen der Fußballprofis kontinuierlich. Die Liberalisierung der elektronischen Medien und das Bosmanurteil vom Dezember 1995 haben diesen Effekt noch einmal deutlich verstärkt.

Fazit: Moderner Fußball durch Eventisierung und Taktik

Doch wann hielt der moderne Fußball nun tatsächlich Einzug in Deutschland? Je nach Betrachtungsweise gibt es dafür drei Möglichkeiten:

  1. Macht man den modernen Fußball an der allgemeinen, nationalen Begeisterung fest, so war es der erste Weltkrieg.
  2. Verbindet man den modernen Fußball mit Profifußball und seinen Folgen, so waren es die 1960er und 1970er Jahren, da die erste Legalisierung 1932 nur wenige Monate Bestand hatte.
  3. Nimmt man den Begriff “moderner Fußball” dagegen als Ausgangspunkt, liegt der Beginn in den 1980er Jahren. Bis 1976 existierte dieser Begriff in der deutschsprachigen Literatur noch gar nicht. Seitdem gab es ein kurzes kleineres Maximum von 1987 bis 1988, das ab 2002 wieder erreicht wurde und mindestens bis 2008 übertroffen wurde.

Lag die erste Häufung des Begriffs Ende der 1980er Jahre an dem Wechsel von Trainer Arrigo Sacchi zum AC Milan und seiner dort etablierten Spielidee? Wurde dieses Ereignis in der deutschsprachigen Literatur tatsächlich so gewürdigt? Oder hat es eine andere Ursache? Darauf habe ich leider keine Antwort.

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Advent in den Blogs – Der Fußball-Weihnachtskalender https://120minuten.github.io/advent-in-den-blogs-der-fussball-weihnachtskalender/ https://120minuten.github.io/advent-in-den-blogs-der-fussball-weihnachtskalender/#comments Thu, 30 Nov 2017 18:15:50 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3971 Weiterlesen]]>

Der Advent ist die Zeit des Friedens, der Besinnlichkeit und der Familie. Oder sollte es zumindest sein. Aber der Dezember ist auch eine Zeit des Fußballs und insbesondere der Adventskalender. Beides wollen wir in diesem Jahr kombinieren – mit dem Fußball-Weihnachtskalender “Advent in den Blogs”. Der Kalender ist ein gemeinsames Projekt verschiedener Blogger und Fußballbegeisterter.

Ab dem 1. Dezember gibt es täglich eine Geschichte – von Weihnachten, von Frieden oder von besonderen Begebenheiten des schönen Spiels. Es gibt neue Storys und solche, die einfach mal wieder erzählt werden wollen. Los geht es hier bei 120minuten.de mit vier Erzählungen – zwei von unseren Autoren und zwei von Clemens Kurek (@berlinscochise). Anschließend reichen wir den Staffelstab an Kees Jaratz weiter, seine vier Türchen findet Ihr dann auf dem Zebrastreifenblog. Es folgen vier Texte, die bei Cavanis Friseur erscheinen werden. Von dort wird der Ball zu turus.net weitergespielt. Danach übernimmt Nachspielzeiten. Kurz vor Weihnachten kommt der Kalender dann zurück nach Hause. Insgesamt vier Texte von Clemens Kurek und uns läuten dann das Finale vor den Festtagen ein.

Schlagt hoch den Ball, das Tor macht rein …

An dieser Stelle findet ihr täglich ein neues Türchen des Fußball-Weihnachtskalenders.

Tür 1: England – Deutschland, 1. Dezember 1954, Wembley
Tür 2: Der westfälische Fanfrieden von Preußen Münster
Tür 3: Football is our life oder: Welt in Bewegung
Tür 4: Mark E. Smith liest Fußballergebnisse
Tür 5: Duisburg – die Fußballmacht der Anfänge im Westen (im Zebrastreifenblog)
Tür 6: Mitten in das Schalker Herz (im Zebrastreifenblog)
Tür 7: Was macht Horace Wimp nur samstags? (im Zebrastreifenblog)
Tür 8: Dominique Menotti macht mit Fußball Krimikunst (im Zebrastreifenblog)
Tür 9: Die enttäuschende Karriere des Francis Jeffers (bei Cavanis Friseur)
Tür 10: Die Keeper, die Pep rief (bei Cavanis Friseur)
Tür 11: Acht Tore und viel Rot zum Boxing Day (bei Cavanis Friseur)
Tür 12: Chicharito packt den Sack aus (bei Cavanis Friseur)
Tür 13: TeBe vs. BFC: Knüppel aus dem Sack und gratis Pfeffi zum Nikolaus 2008 (bei turus.net)
Tür 14: 20. Dezember 2000: Ernemann schießt Union ins Glück und lässt sogar Journalisten Sitzkissen werfen (bei turus.net)
Tür 15: Ein Spiel, das alles veränderte: F.C. Hansa Rostock vs. Eintracht Frankfurt im Oktober 1995 (bei turus.net)
Tür 16: FC Schalke 04 vs. 1. FC Köln: Als die Nikoläuse vor 25 Jahren im Parkstadion Bambule machten (bei turus.net)
Tür 17: Die ersten Sportzeitschriften (auf Nachspielzeiten)
Tür 18: Als Fußball in Deutschland ein Massenphänomen wurde (auf Nachspielzeiten)
Tür 19: Wissenschaftliches Spiel – Kombinationsfußball (auf Nachspielzeiten)
Tür 20: What about sports? (auf Nachspielzeiten)
Tür 21: BSG Chemie Buna Schkopau – Eine persönliche Fußballerinnerung

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Beitragsbild: Richard Ernst Kepler – Im Landes des Christkinds [Public domain], via Wikimedia Commons

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https://120minuten.github.io/advent-in-den-blogs-der-fussball-weihnachtskalender/feed/ 7 3971 Schlafende Zwerge https://120minuten.github.io/schlafende-zwerge/ https://120minuten.github.io/schlafende-zwerge/#respond Wed, 27 Sep 2017 07:04:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3764 Weiterlesen]]> Warum der Fußball im Baltikum nicht auf die Beine kommt

In der Champions League oder der Euro League sucht man nach Mannschaften aus dem Baltikum vergebens. Im Teilnehmerfeld der großen Nationenturniere sind sie ebenfalls eigentlich nie zu finden. Doch auch in Litauen, Lettland und Estland selbst spielt “König Fußball” fast keine Rolle. Neben einer schlechten Infrastruktur gibt es dafür auch gesellschaftliche Ursachen.

Autor: Oliver Leiste (120minuten.github.io)

Jedes Jahr im Juli, wenn die großen Fußballnationen noch tief in der Sommerpause, oder wahlweise in der Endphase einer Weltmeisterschaft stecken, beginnen fernab der öffentlichen Wahrnehmung die Qualifikationsrunden für Champions League und Euro League. In Deutschland bekommt man von diesen Spielen nur etwas mit, wenn entweder die Glagow Rangers am luxemburgischen Meister Düdelingen scheitern oder RB Salzburg mal wieder frühzeitig die Segel streicht. Von Levadia Tallinn oder Zalgiris Vilnius hört man jedoch selbst dann nicht. Auch von keiner anderen Mannschaft aus Estland, Lettland oder Litauen. Und wenn Ende August die Gruppen ausgelost werden, ist die Europapokal-Saison in diesen Ländern schon längst wieder beendet.

Das gleiche Bild zeigt sich bei Welt- oder Europameisterschaften. Teilnehmer aus dem Baltikum: Fehlanzeige. Ein einziges Mal gelang Lettland die Qualifikation für eine EM. 2004 war das. Damals trotzten die Letten in Portugal dem Vizeweltmeister Deutschland sogar ein 0:0 ab. Was hierzulande das Ende von Rudi Völlers Amtszeit einläutete, wurde in Lettland frenetisch gefeiert. Von solchen Sternstunden sind die Mannschaften des Baltikums heute weit entfernt. Was mit Sicherheit auch dazu beiträgt, dass sich in den baltischen Staaten kaum jemand für Fußball interessiert, wie drei Besuche vor Ort zeigen

Nomme Kalju  – Levadia Tallinn, August 2015

An einem sonnigen Mittwochabend empfängt der Tabellenvierte der estnischen Meistriliiga, Nomme Kalju, am Stadtrand von Tallinn den Vorjahresmeister Levadia Tallinn. Ein Spitzenspiel, sollte man meinen. Das Interesse ist überschaubar. Gut 1.000 Zuschauer haben sich auf einem schicken Sportplatz eingefunden, der in Deutschland vielleicht einem Oberligisten als Heimat dienen könnte. Der “Gästeblock” – ein fünf Meter breiter Bereich auf der einzigen Tribüne – bleibt an diesem Tag leer. Die Gästefans verfolgen das Spiel lieber hinter dem Zaun in einem Waldstück stehend. Gerade mal eine handvoll Levadia-Anhänger hat die Reise, die aus dem Stadtzentrum vielleicht 20 Minuten dauert, auf sich genommen. Am Ende quälen sich beide Mannschaften zu einem müden 0:0

Auf den zweiten Blick war das Match aus Zuschauersicht aber sogar tatsächlich ein Spitzenspiel. Denn im Schnitt schauen die Spiele der Meistriliiga etwa 250 Menschen. Der Fußballblog “The Ball is round” erstellte vor einiger Zeit eine Liste der am schlechtesten besuchten Spitzenligen Europas. Estland gewann in dieser unrühmlichen Kategorie. Auch Lettland und Litauen belegten vordere Platzierungen.

Im August 2015 empfängt Nomme Kalju den FC Levadia Tallinn.

Litauen – Schottland, September 2017

Weiter geht es in Litauen. In der WM-Qualifikation empfängt die Nationalmannschaft Schottland. Dass hier ein Länderspiel stattfindet, merkt man eigentlich nur an den Gästen. Die Straßen und Kneipen der Hauptstadt Vilnius sind schon zwei Tage vor dem Spiel voll mit Schotten. Ankündigungen oder Werbung für das Spiel sucht man dagegen vergebens. Fragt man die Litauer nach ihrer Nationalmannschaft, erntet man nur Schulterzucken. “Das interessiert hier eigentlich keinen”, sagt einer. Deutlich mehr Begeisterung weckt die gleichzeitig stattfindende Basketball-EM. Im Basketball gehört Litauen zur europäischen Spitze, bei den Spielen sind die Kneipen voll. Die Nationalspieler sind auf Werbetafeln und selbst in den Kneipengesprächen omnipräsent.

Fanmarsch von litauischen Fans vor dem Spiel gegen Schottland.

Am Spieltag besteht die “Tartan Army”, so heißen die Schottland-Fans aufgrund ihrer Kilts, aus etwa 2.500 Männern und Frauen. Gemeinsam marschieren sie vom Rathaus zum nahen Stadion. Auch auf litauischer Seite gibt es einen Fanmarsch. An ihm beteiligen sich weniger als 100 Menschen. Mit etwas Rauch und viel Getöse machen sie auf sich aufmerksam. Es bleibt ein kurzer Moment, in dem der neutrale Beobachter sieht, dass Litauen am heutigen Spiel beteiligt ist.

Weil nur 5.000 Zuschauer ins LFF-Stadion passen, stehen sich beim Spiel zwei einigermaßen gleich große Fanlager gegenüber. Das kleine Häufchen Litauer, das auch den Fanmarsch veranstaltet hat, versucht, die eigene Mannschaft zu unterstützen. Nennenswerte Beteiligung der anderen litauischen Anhänger gibt es nicht – kein Vergleich zur schottischen Wand hinter dem einen Tor. Auch die Infrastruktur wirkt sich negativ auf die Stimmung aus. Tribünen gibt es nur auf drei Seiten. Hinter dem zweiten Tor ist eine weitere Spielfläche. Dort sind die Merchandise-Stände aufgebaut. Auf dem Rest der Fläche spielen Kinder, und sogar einige Erwachsene, selbst. Zur Entwicklung einer packenden Länderspielatmosphäre trägt das sicher nicht bei. Insgesamt wirkt die gesamte Veranstaltung wie ein sehr gut besuchtes Oberligaspiel und nicht wie ein Qualifikationsspiel für eine Weltmeisterschaft. Schottland hat schließlich wenig Mühe und setzt sich mit 3:0 durch.

Fanblock der litauischen Fans beim Länderspiel gegen Schottland.

Lettland – Schweiz, September 2017

Das gleiche Bild zeigt sich wenige Tage später in Riga. Hier erwartet Lettland die Schweiz. In der Altstadt findet man ebenfalls Werbung für die Basketball-EM und zahlreiche Schweizer. Fußballinteressierte Letten trifft man erst unmittelbar vor dem Skonto Stadion. Trotzdem bleiben im Stadion an diesem Tag viele Plätze leer. Gut 7.600 Zuschauer sehen die Partie, für die Stimmung sind fast ausschließlich die 1.500 bis 2.000 Schweizer zuständig. Was sicher auch daran liegt, dass die lettische Mannschaft wie eine Amateurtruppe wirkt und gegen die Schweizer Bundesliga-Auswahl von Beginn an chancenlos ist. Am Ende hält sich die lettische Niederlage mit 0:3 noch in Grenzen.

Dass es auch anders geht, zeigte sich exakt ein Jahr vor diesem Fußballspiel. Im September 2016 wurde die Olympiaqualifikation im Eishockey ausgetragen. Wenige hundert Meter vom Skonto Stadion entfernt standen sich in der Arena Riga Lettland und Deutschland im entscheidenden Spiel gegenüber. Die Euphorie der Letten war riesig, die Atmosphäre in der Halle gigantisch. Auch wenn Deutschland am Ende mit 3:2 gewann, verging den etwa 500 DEB-Fans phasenweise Hören und Sehen ob des Krachs, den 10.000 Letten veranstalteten.

Die Letten sind, genau wie Litauer und Esten, sehr stolz auf ihre kleinen Länder und entsprechend begeisterungsfähig, wenn ihre Landsleute sportliche Höchstleistungen vollbringen. Doch im Fußball sucht man diese Begeisterung vergebens. Aber woran liegt es, dass Fußball im Baltikum überhaupt keine Rolle spielt? Bei der Beantwortung dieser Frage kommen verschiedene historische, gesellschaftliche und strukturelle Aspekte zum Tragen.

Basketball als zweite Religion

Estland, Lettland und Litauen waren bis 1991 Teil der Sowjetunion. Spitzenfußball wurde aber woanders gespielt. In Moskau natürlich, in Leningrad – dem heutigen Sankt Petersburg – oder in Kiew. Aus den baltischen Staaten war lediglich Zalgiris Vilnius einigermaßen regelmäßig in der Wysschaja Liga, der obersten Spielklasse, vertreten. Zwischen 1953 und 1989 kamen die Litauer auf elf Spielzeiten in der ersten Liga. Mannschaften aus Riga und Tallinn spielten dagegen zuletzt Anfang der sechziger Jahre in der Wysschaja Liga. Die fehlende Fußballtradition wirkt bis heute nach.

Basketball sorgt in Litauen für große Begeisterung. Fußball eher nicht.

Hinzu kommt, dass es in anderen Sportarten wesentlich öfter Erfolge zu feiern gibt. Schon zu Sowjetzeiten stellten Litauer den Großteil der Basketballnationalmannschaft. Die Vergleiche zwischen Zalgiris Kaunas und ZSKA Moskau waren mehr als nur Spiele. Sie gehörten zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen das kleine baltische Land den großen Regenten in der Hauptstadt eins auswischen konnte und waren entsprechend prestigeträchtig. Seit der Unabhängigkeit gehört Litauen regelmäßig zu den Top-Teams im europäischen Basketball.

Das “Dream-Team” der USA ist wohl jedem Basketballfan ein Begriff. In Anlehnung an diese Super-Mannschaft erschien 2012 der Dokumentarfilm “The other Dream Team”. Er erzählt die Geschichte der litauischen Nationalmannschaft, die 1992 bei den Olympischen Spielen Bronze gewann. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Basketballmannschaft damit zum Symbol für Freiheit und die großen Hoffnungen des kleinen Landes.

Auch auf Vereinsebene sind die litauischen Mannschaften sehr erfolgreich. Kaunas kann in einer modernen Arena regelmäßig fünfstellige Zuschauerzahlen verzeichnen. Man spricht sogar von Basketball als zweiter Staatsreligion. Entsprechend träumen viele Kinder von einer Basketballkarriere. Das Nachwuchssystem ist deutlich besser aufgebaut als beim Fußball. Bis heute genießt der Sport einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft, weil er für Litauen die Chance bietet, der Welt zu zeigen, dass man in etwas gut ist. Und so als Projektionsfläche für den großen Nationalstolz dient.

Fußball, der Minderheitensport

Auch in Lettland ist Basketball sehr populär und gilt im Gegensatz zum Fußball als rein lettische Sportart. Im Eishockey hat Dinamo Riga in Lettland eine ähnliche Stellung wie Zalgiris Kaunas in Litauen. Schon zu Sowjetzeiten war Dinamo Riga sehr erfolgreich. Seit einigen Jahren spielt der Klub in der KHL, dem europäischen Pendant zur amerikanischen NHL. Spiele von Dinamo sind ein nationales Ereignis, vor allem, weil der Klub auch den Großteil der Nationalmannschaft stellt. Dem Vernehmen nach haben sich vor 1991 Basketballer und Eishockeyspieler in sehr unruhigen und gefährlichen Zeiten zur Unabhängigkeit Lettlands bekannt. Die Fußballer taten das nicht, was man ihnen bis heute übel nimmt.

Am Beispiel Lettlands zeigt sich ein weiteres Problem der russisch dominierten Fußballvergangenheit. Nach der Unabhängigkeit sollte Lettisch zur Amtssprache in der Nationalmannschaft werden. Das Problem: viele Spieler sprachen damals gar kein Lettisch. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Auch die meisten Trainer beherrschten die Sprache nicht. Seit 1991 war Russisch nur einmal nicht Amtssprache in der Nationalmannschaft – als zwischen 1999 und 2001 mit Gary Johnson ein Engländer Nationaltrainer war. Im Futbolgrad-Blog erklärt Ruben Martinez, woran das liegt. In Lettland gibt es eine sehr große russische Minderheit. Etwa 30 Prozent der Einwohner des kleinen Landes sind russischstämmig. Während viele Letten Eishockey oder Basketball bevorzugen, ist Fußball der Lieblingssport der russischen Bevölkerungsgruppe. Entsprechend ist Russisch auch bei einem großen Teil der Spieler in der Nationalmannschaft und auch in der Virsliga, der höchsten Spielklasse Lettlands, verbreitet.

Für die Akzeptanz des Sports in Lettland ist das ein Problem. Die Repressionen der Sowjetzeit sind tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Die nationale Identität Lettlands beruht im Wesentlichen auf diesen Erinnerungen und der Abgrenzung zu Russland. Der russisch dominierte Fußball taugt deshalb nicht als Identifikationsstifter und wird auch deswegen abgelehnt.

Im Fokus der Wettmafia

Ein weiterer Grund für die geringe Beliebtheit des Fußballs ist permanenter Wettbetrug. In Lettland wurden in den vergangenen Jahren drei Mannschaften aus der Virsliga ausgeschlossen. Sie hatten sich allzu offensichtlich an Spielmanipulationen beteiligt. Mehrere Verwarnungen und Gespräche brachten keine Verbesserung. In der Saison 2017 spielen deshalb nur noch sieben Mannschaften in der höchsten Liga Lettlands. Auch in den darunter folgenden Spielklassen mussten einige Vereine eliminiert werden. Der Deutsche Oliver Schlegl arbeitet als Spielerberater in Lettland. Knapp ein Jahr lang war er Geschäftsführer der Virsliga. Gemeinsam mit dem Autoren des Textes hat er die Länderspiele in Vilnius und Riga besucht. Davor und danach diskutierten beide sehr viel über den Fußball im Baltikum. Schlegl berichtet davon, dass er während seiner Zeit als Geschäftsführer fast wöchentlich Anrufe von Sportsradar, einem Schweizer Unternehmen, das den internationalen Wettmarkt überwacht, bekam. Immer wieder gab es Anzeichen, dass Spiele in Lettland verschoben werden sollten. Dabei ist es in Lettland seit wenigen Jahren sogar strafbar, sich an Spielmanipulationen zu beteiligen.

In den anderen baltischen Ländern sieht es nur unwesentlich besser aus. Estland hatte 2013 seinen letzten großen Wettskandal. Damals wurden elf Männer, darunter acht Fußballprofis, verhaftet, weil sie Spiele verschoben haben sollen. Darunter waren auch Qualifikationsspiele zur Euro League. 2014 veröffentlichte Transparency International eine Studie zu “Match fixing in Lithuania”. Befragt wurden Fußballer und Basketballer. 28 Prozent der Fußballer und 44 Prozent der Basketballspieler wussten, dass sich Mitspieler an solchen Aktivitäten beteiligt hatten. Viele waren schon selbst angesprochen worden. Auch in Litauen wurde 2017 ein Verein eliminiert.

Wettbetrug ist für die Spieler vor allem deshalb attraktiv, weil ihre Profigehälter meist sehr gering sind. Mit europäischen Spitzengehältern lassen sich die Summen nicht vergleichen, wohl eher mit der Regionalliga in Deutschland. Auch ist die Zahlungsmoral der Klubs bisweilen sehr schlecht, so dass die Spieler immer wieder sehr lange auf ihre Gehälter warten müssen. Mit ein paar verschobenen Spielen lässt sich oft ein vielfaches des eigentlichen Lohns verdienen.  

Fehlende Infrastruktur und fehlender Wille

Ins Skonto Stadion in Riga kann man vom angrenzenden Parkplatz hineinschauen.

In den Jahren nach der Unabhängigkeit gab es sicher wichtigere Probleme als den Aufbau professioneller Fußballstrukturen. Doch auch mehr als 25 Jahre nach der Loslösung von der Sowjetunion ist in den baltischen Staaten in Sachen Fußball noch nicht viel passiert. Oliver Schlegl ärgert sich darüber maßlos und führt zwei Beispiele an, die zeigen, dass es auch anders ginge. Island und Luxemburg haben es dem Fußball-Fachmann derzeit besonders angetan. Die Isländer haben vor etwa zehn Jahren in Fußballhallen investiert und damit ganzjährige Trainingsmöglichkeiten geschaffen. Auch die Trainerausbildung wurde verändert. Viele Isländer hospitierten in anderen europäischen Ländern. Die Folge: Die Dichte gut ausgebildeter Nachwuchstrainer ist so hoch wie nirgendwo sonst in Europa. Das Ergebnis konnte man in den vergangenen Qualifikationsrunden beobachten. Die WM 2014 verpasste Island noch knapp. Für die EM 2016 qualifizierten sich die Nordeuropäer dann sicher und schafften es sogar ins Viertelfinale. Dabei hat Island gerade mal 300.000 Einwohner. “Das ist ein Stadtteil von Riga”, bemerkt Schlegl.

Fußballzwerg Luxemburg machte zuletzt durch Achtungserfolge gegen Weißrussland und Frankreich auf sich aufmerksam. Hinter diesen Ergebnissen stecken nicht nur zwei gute Spiele, sondern eine langfristige Entwicklung. 2011 wurde der Deutsche Reinhold Breu zum technischen Direktor ernannt. Gemeinsam mit einem internationalen Team sollte er die Nachwuchsförderung im Großherzogtum reformieren. Bei diesem Vorhaben orientierte sich Breu an den Entwicklungen beim DFB in den frühen 2000ern. Im Nachwuchsbereich hat Luxemburg in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Das nächste Ziel ist es, diese in den Männerfußball zu übertragen.Vor einiger Zeit betrachtete das Online-Magazin “lessentiel” das Thema. Auch Ansgar Heck, einer von Breus Mitstreitern kam dabei zu Wort: “Jonas Hector ist in Deutschland aus der Oberliga in die Bundesliga gekommen. Solch ein vergleichbarer Fall ist in Luxemburg nicht möglich. Hier muss die Förderung fast ausschließlich über den Verband laufen”.

Eine Aussage, die sich gewiss auch auf die Nachwuchsentwicklung in den baltischen Staaten übertragen ließe. Doch in der Hinsicht passiert wenig. Gelder, die dem lettischen Verband von Fifa und Uefa für Talentförderung und Infrastruktur bereitgestellt werden – gut 7,5 Millionen Euro pro Jahr – versickern überwiegend in privaten Taschen, ist sich Oliver Schlegl sicher.  “Auch von dem Geld, dass eine Bank als Sponsor nach der EM 2004 zur Verfügung gestellt hat, ist nichts Sichtbares geblieben.” Deswegen hätte es von der Bank oder anderen größeren Sponsoren auch kein Interesse gegeben, sich nach Ablauf des Vertrags erneut zu engagieren.

Die Verantwortlichen in Lettland hätten sich viel zu lange auf dem Erfolg von 2004, der zudem noch auf der Ausbildung aus Sowjettagen beruhte,  ausgeruht, so Schlegl. Notwendige Veränderungen lassen seit Jahren auf sich warten. Die Trainings- und Spielbedingungen für die Vereine sind miserabel. Das Skonto Stadion ist das einzige Stadion im Land, das für internationale Spiele zugelassen ist. Fußballhallen gibt es kaum. In den langen Wintermonaten müssen sich teilweise drei Vereine gleichzeitig eine überdachte Spielfläche teilen. Theoretisch muss jeder Erstligaverein eine Jugendakademie betreiben. Doch zu Infrastruktur und Ausbildungsqualität gibt es keine Vorgaben. “Die Trainerausbildung ist eine Katastrophe” behauptet Schlegel. “Es gibt natürlich auch A- und B-Lizenzinhaber. Aber was man hier in diesen Lehrgängen lernt, ist nicht mit Deutschland vergleichbar. Das merkt man besonders am taktischen Können der Spieler.“ Einzige Ausnahme in Lettland ist der FK Metta aus Riga. Der Klub sieht sich als reiner Ausbildungsverein. Die erste Mannschaft ist nur Beiwerk, um dem Verein ein Gesicht zu geben. Schlegl glaubt, Metta ist die erfolgreichste Jugendakademie des gesamten Baltikums. In den lettischen Nachwuchs-Nationalmannschaften stellt Metta oft die meisten Spieler. “Auch wenn sie die 1. Mannschaft ziemlich vernachlässigen, ist das der Weg, den die Vereine hier gehen sollten”, glaubt Spielerberater Schlegl. Schließlich würden Spieler aus dem eigenen Nachwuchs für eine höhere Identifikation mit den Fans sorgen. Zudem könnten gut ausgebildete Fußballer Transfererlöse und damit die so dringend benötigten Einnahmen generieren. Zu guter Letzt würde auch die Nationalmannschaft profitieren, wenn es Letten schaffen, sich später bei guten internationalen Vereinen durchzusetzen.  “Doch leider” ergänzt Schlegl “macht sich darüber in Lettland kaum jemand Gedanken.”

Funktionärskrieg in Litauen

Aus Litauen hört man ähnliches. Auf der einen Seite gibt es Funktionäre, die vor allem aufgrund finanzieller Eigeninteressen Reformen blockieren. Verbandspräsident Edvinas Eimontas wollte dies nach seiner Wahl im Januar 2016 ändern. Doch den Kampf gegen die Gremien, die ihn ins Amt gehoben hatten, verlor er. Und damit auch seinen Posten.

Auf der anderen Seite wird die Nachwuchsentwicklung sträflich vernachlässigt. Zwar gibt es in Litauen Nachwuchstrainer. Viele von ihnen sind aber mittlerweile in die Jahre gekommen und nur die wenigsten nach modernen Standards ausgebildet. Junge Trainer sehen keine Perspektive im Fußball. Im Gegensatz zu den anderen baltischen Staaten, deren Ligen relativ ausgeglichen sind, dominiert Zalgiris Vilnius die A Lyga, die erste Liga Litauens, fast nach Belieben. Der fehlende Wettbewerb trägt auch nicht unbedingt zu großem Zuschauerinteresse bei.

Zwerge werden klein bleiben

Eine kleine aktive Szene unterstützt Nomme Kalju.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Ausgangsbedingungen für den Fußball im Baltikum nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht besonders gut waren. Das lag zum einen an fehlenden Strukturen, aber auch an der Beliebtheit anderer Sportarten wie Basketball oder Eishockey. Fehlende Erfolge und mangelndes Zuschauerinteresse stehen seitdem in einer Wechselbeziehung. Weil baltische Mannschaften international keine Rolle spielen, kommen kaum Zuschauer zu den Spielen. Aufgrund fehlender Atmosphäre im Stadion sind die Vereine und Nationalmannschaften jedoch uninteressant für größere Sponsoren. Deshalb fehlt es an Möglichkeiten, Infrastruktur aufzubauen und Trainer auszubilden. Diese wären jedoch die Grundlage für eine mittelfristige Entwicklung starker Nachwuchsmannschaften und im nächsten Schritt von international konkurrenzfähigen Spielern. Momentan scheint es in den baltischen Fußballverbänden niemanden zu geben, der die Beharrlichkeit hätte, entsprechende Strukturen über einen Zeitraum von mehreren Jahren zu entwickeln. Korruption und Spielmanipulationen tun ihr Übriges zum schlechten Ansehen des Sports in Estland, Lettland und Litauen.

Auch in den Medien spielt der Fußball kaum eine Rolle. Spiele werden nur sporadisch übertragen, in den Zeitungen finden sich nur selten große Berichte. Es fehlt also nicht nur an Publikum, es gibt auch keinen öffentlichen Druck, der manchmal nötig ist, um Veränderungen anzustoßen.

In Deutschland spricht man von “schlafenden Riesen”, wenn Vereine auf eine glorreiche Vergangenheit zurückblicken, nun aber in den Niederungen des Amateurfußballs verschwunden sind. Oft heißt es dann, man müsste diese Riesen nur aufwecken, um sie zu alter Größe zu führen. Was aber nur in den seltensten Fällen wirklich gelingt. Die baltischen Fußballverbände sind in der Hinsicht eher schlafende Zwerge. Sie waren noch nie besonders groß und werden so wenig beachtet, als lägen sie tief schlafend im dunklen Wald. Oliver Schlegl ist überzeugt, dass neue Erfolge baltischer Mannschaften auch wieder eine Begeisterungswelle auslösen könnten. So wie in Lettland 2004. Momentan lässt sich jedoch nicht erkennen, dass sich am aktuellen Zustand mittelfristig etwas ändern wird. Es gibt ein paar private Initiativen, um dem Fußball im Baltikum auf die Beine zu helfen. Doch solange die alten Funktionäre weitreichende Veränderungen blockieren, werden die schlafenden Zwerge wohl liegen bleiben. Und solange wird Fußball im Baltikum auch niemanden interessieren.


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Buchbesprechung: Ronny Blaschke – Gesellschaftsspielchen https://120minuten.github.io/buchbesprechung-ronny-blaschke-gesellschaftsspielchen/ https://120minuten.github.io/buchbesprechung-ronny-blaschke-gesellschaftsspielchen/#respond Fri, 10 Feb 2017 08:00:57 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3072 Weiterlesen]]> Dass der Fußball längst ein Milliardengeschäft ist, in dem es mitunter ziemlich, naja, eigentümlich zugeht, wissen wir nicht erst seit Football Leaks, Geschichten über den nächsten aberwitzigen TV-Gelder-Deal oder Debatten um neue Anstoßzeiten, um endlich auch den enorm wichtigen Markt in Nordsüdwestost-Lampukistan gewinnbringend erschließen zu können. Die Summen, die im Profifußball bewegt werden, sind vom gesunden Menschenverstand längst nicht mehr zu greifen, die Zugzwänge, die dadurch in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung offenbar entstehen, sowieso nicht. Gleichzeitig treten Verbände, Akteure und Vereine gern auch mal als brave Samariter auf, werden Stiftungen gegründet, Charity-Events veranstaltet und klar, auch Entwicklungshilfeprojekte realisiert. “Recht so!”, würde man denken, weil es bei den Gewinnen, die der Sport augenscheinlich abwirft, eigentlich ja ein Leichtes sein sollte, der Gesellschaft wieder etwas zurückzugeben. Die Frage ist dabei allerdings auch immer so ein bisschen, wie ernst es die Protagonisten mit ihrem Engagement wirklich meinen. Steht immer der soziale Gedanke im Mittelpunkt, oder dient Projekt X, Stiftung Y oder Initiative Z nicht vielleicht doch nur, überspitzt ausgedrückt, als Feigenblatt einer hochkorrupten Funktionärs- und Privilegierten-Elite?

Dem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Engagement im Fußball und potentiell heuchlerischen Maßnahmen, die eventuell ganz anderen Zwecken dienen, widmet sich Ronny Blaschke in seinem aktuellen Werk “Gesellschaftsspielchen”, das 2016 im Verlag Die Werkstatt aus Göttingen erschienen ist. In dem hervorragend recherchierten Buch gibt Blaschke in 18 Kapiteln, die auch gut für sich allein gelesen werden können, spannende und mitunter auch verstörende Einblicke in höchst unterschiedliche Aspekte des Themas. Liest man “Gesellschaftsspielchen” in einem Stück, fällt zunächst erst einmal die abwechslungsreiche Gestaltung auf: mal wird ein Ehrenamtlicher portraitiert, dann ein Projekt vorgestellt, ein Interview eingestreut, eine Stiftung kritisch hinterfragt oder eine Recherchereise dokumentiert. Ebenfalls auffällig: die Verknüpfung inhaltlicher Aspekte mit Hintergründen zu den Arbeiten am Buch selbst, aus denen man dann beispielsweise auch erfährt, wann Personen und Instanzen auf Interviewanfragen eben nicht reagiert haben. So erhält man nicht nur einen hintergründigen Einblick ins Thema, sondern auch in die Art und Weise, wie die “Gesellschaftsspielchen” im Profifußballgeschäft mitunter gespielt werden.

Auch wenn die einzelnen Kapitel notwendigerweise nur eine Auswahl möglicher Aspekte des Themas “gesellschaftliches Engagement im Fußball” darstellen können, wirken die Ausführungen ausgewogen. So wirft Blaschke beispielsweise einen kritischen Blick auf die widersprüchliche Gesellschaftspolitik des DFB oder die Medien als Katalysator und (Nicht-)Meinungsmacher in der Profi-Glitzerwelt, würdigt aber auch erfolgreiche Initiativen wie “Discover Football” oder “Champions ohne Grenzen”, blickt auf die gesellschaftlichen Aktivitäten von Bundesliga-Clubs wie Werder Bremen oder Mainz 05 und lässt politische (z.B. Claudia Roth), sportliche (z.B. Per Mertesacker) oder auf Funktionärsebene aktive Akteure (z.B. Reinhard Rauball) zu Wort kommen. Allgemeinplätze und glatt geschliffene 0815-Aussagen haben bei Blaschke keinen Platz, so werden Interviewpartner gern auch mal um konkrete Beispiele für allzu blumige Phrasen oder Ausführungen gebeten.

“Gesellschaftsspielchen” ist ein in allen Belangen wichtiges Buch. Es richtet sich an die über den reinen Fußballkonsum hinaus denkende, interessierte, kritische  Öffentlichkeit ebenso wie an Vereinsverantwortliche aller sportlichen Ebenen, Journalistinnen und Journalisten, ehren- oder hauptamtlich Engagierte und alle, die es vielleicht werden wollen. Darüber hinaus sei die Lektüre auch und besonders denjenigen ans Herz gelegt, die im Namen des Fußballs (sport)politische Entscheidungen treffen, sei es in der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt am Main oder anderswo.

Infos zum Buch
Ronny Blaschke: Gesellschaftsspielchen. Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei. Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2016.
ISBN: 978-3-7307-0254-3.

Das Werk ist für 16,90 Euro in jedem gut sortierten Buchhandel und direkt über den Verlag erhältlich.
NB: Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

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Buchbesprechung: Philipp Winkler – Hool https://120minuten.github.io/buchbesprechung-philipp-winkler-hool/ https://120minuten.github.io/buchbesprechung-philipp-winkler-hool/#respond Mon, 09 Jan 2017 07:00:54 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2856 Weiterlesen]]> Bücher, die sich fiktional mit Fußball beschäftigen sind rar, was wohl zum einen daran liegen kann, dass die Materie Fußball schwer in Worte zu fassen ist, oder zum anderen weil der Sport eher nicht als literarisch betrachtungswürdig angesehen wurde. Bisher. Wie dem auch sei, Philipp Winkler ist mit “Hool” nicht der große Fußballroman gelungen, aber dennoch ein Buch über einen jungen Menschen, der Fußball nutzt, um seine Aggressionen auszuleben und dessen Leben irgendwie ins Negative abzugleiten scheint.

Die Figuren in Winklers Roman Hool sind zum größten Teil sogenannte Millennials, die oft als Zielgruppe beschworen werden, aber selten zu Wort kommen, bzw. ernst genommen werden. Das ist ein Fehler, sind diese Leute doch die Zukunft. Dabei könnte Winklers Hauptfigur Heiko Kolbe für so etwas wie eine Versinnbildlichung von Leuten stehen, die per se nicht politisch sind, eine Meinung gegen Nazis haben, die aber durch gezielte Falschinformation dem rechten Pöbel von AfD und Pegida auf den Leim gehen. Das Vakuum ist vorhanden in der Person Kolbes.

Dabei ist Heiko Kolbe kein Einzelfall; Leute wie ihn gibt es viele in Deutschland. Oftmals besteht ihre einzige Möglichkeit der öffentlichen Kommunikation in der Kommentarfunktion bei facebook oder anderen ähnlichen Netzwerken. Und das ist, was Hool so interessant macht. Winkler gibt denen eine Stimme, die keine haben oder deren Stimme gern überhört wird. Die Stimmen sprechen dabei im Dialekt der Hannoveraner Gegend, was durchaus schlüssig ist. Würde ein Fitnessstudiobetreiber in korrektem Hochdeutsch sprechen, fehlte dem Roman ein gehöriges Stück Authentizität. Ähnlich wie Clemens Meyer, dessen “Als wir träumten” die Verunsicherung der Wendezeit sehr gut beschreibt, schafft es Winkler mit seiner Figur des Heiko Kolbe ein Bild einer Generation zu skizzieren, die alles andere als nur auf Party aus ist, die genauso verunsichert ist und darunter leidet, dass man sie nicht ernst nimmt.

Hool beginnt mit einer Kampfszene und man befürchtet, dass dem eine Aufreihung von Kämpfen, Saufgelagen und Frauengeschichten folgt. Dem ist aber nicht so. Vielmehr erliest man einen Lebensabschnitt von Heiko Kolbe, dem Protagonisten und Ich-Erzähler der Geschichte. Hier geht es um Erinnerungen an die Kindheit als die Familie intakt und das Leben einfach waren. Ganz anders als die Realität, in der Kolbe sich als Aushilfe in der Muckibude seines Onkels finanziell über Wasser hält, seine Beziehung in die Brüche gegangen ist und er darunter leidet. So sehr, dass er des Nachts sogar vor ihrem Haus im Auto sitzt, nur um zu sehen, ob und dass sie zu Hause ist. Gleichsam ist die Familie ein Problem; der Vater ist Alkoholiker und bedarf stationärer Hilfe, die Schwester dagegen ist ein Musterbeispiel der Mittelklasse: Haus, Mann und Kind. In ihrer Mittelklasseexistenz ist aber keine Zeit für den Vater und dessen liebstes Hobby: Tauben. Letztere verpflichtet sich Heiko zu versorgen als dieser in einer Entzugsklinik ist. Dies geschieht mehr schlecht als recht. Die Mutter kommt nur in Erinnerungen vor. Diese Gemengelage machen es nicht einfach für Heiko Kolbe, das Leben zuversichtlich zu sehen. Sein Halt sind die Mitstreiter der Hannover 96 Firm, deren Anführer sein Onkel Achim ist.

Der Suizid von Robert Enke im Herbst 2009 kommt im Buch ebenso vor wie eine Diskussion über die Kommerzialisierung des Spiels. Ultras sind nur eine Facette davon, denkt sich Heiko. Für ihn ist es ein Greuel, sich im Stadion hinsetzen zu müssen; selbst stehen, ja das Spiel an sich, ist für ihn nur Nebensache. Es geht ausschließlich darum, sich mit anderen zu verabreden und zu kämpfen, ihre Stadt, ihre Farben zu vertreten und zu verteidigen. Sie sind Hooligans, haben nichts mit Nazis am Hut, Politik ist ihnen egal, sie wollen Spaß haben. Genau darauf werden sehr gern die Millennials reduziert: Spaß und sorgenfreies Leben. Was ist daran falsch fragt man sich? Gleichzeitig ist es eine groteske Fehleinschätzung, deren Folge Radikalisierung sein kann, egal in welche Richtung.

“Some guys come home from work and wash up,
And go racing in the street”*

So oder so ähnlich fühlt es sich auch für Heiko an: er wartet darauf, dass etwas geschieht, was, weiß er selber nicht. Während seine Freunde neue, sie erfüllende Aufgaben haben, tritt Kolbe irgendwie auf der Stelle. Er ist ein Bewahrer des Status Quo, dem jede Änderung zuwider scheint und doch weiß er sehr wohl, dass etwas geschehen muss. Ein letzter Kampf gegen Braunschweig und dann ist es vorbei. Als sein Vermieter, Arnim verschwindet, ist es Zeit für Heiko, die Zelte abzubrechen. Arnim hatte eine Vorliebe für seltene Tiere. Bei seinem fluchtartigen Abschied muss Heiko den Tiger erschießen, nur einer der Kampfhunde ist noch am Leben und Siegfried der Geier will trotz offenem Fenster nicht in die Freiheit. Und ist damit irgendwie auch Sinnbild für Heiko: er könnte, will aber nicht.

*Bruce Springsteen: Racing in the Street, Columbia Records, 1978

”Hool”
Philipp Winkler, Hool, Roman. Berlin: Aufbau-Verlag, 2016. ISBN: 978-3-351-03645-4. Der Roman ist in jedem gut sortierten Buchhandel und beim Aufbau-Verlag erhältlich.
NB: Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
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Buchbesprechung und Verlosung: Imran Ayata – Ruhm und Ruin. Ein Roman in 11 Kapiteln. https://120minuten.github.io/buchbesprechung-imran-ayata-ruhm-und-ruin-ein-roman-in-11-kapiteln/ https://120minuten.github.io/buchbesprechung-imran-ayata-ruhm-und-ruin-ein-roman-in-11-kapiteln/#respond Fri, 08 Jan 2016 17:00:39 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1826 Weiterlesen]]> Wir verlosen den Roman “Ruhm und Ruin” von Imran Ayata!

Der Verbrecherverlag hat uns freundlicherweise ein Exemplar des Romans zur Verlosung bereitgestellt. Wie Ihr gewinnen könnt? Indem Ihr bis 28. Januar, 12 Uhr, über die unten eingebundene Box teilnehmt. Dann heißt es Daumen drücken. Zur Teilnahme genügt bereits ein Kommentar, Ihr könnt aber auch zusätzliche Lose verdienen. Was Ihr dafür tun müsst, erfahrt Ihr unten. Allen Teilnehmern wünschen wir viel Glück.

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Unsere Rezension zu “Ruhm und Ruin”

Das Thema ist derzeit in aller Munde: Migration und Flüchtlinge. Imran Ayatas Buch “Ruhm und Ruin”, welches im Verbrecher-Verlag erschienen ist, vereint zwei Themen, die Deutschland derzeit in Atem halten. Da ist zum Einen der Fußball, bei dem es zusehends klar wird, dass die WM 2006 nicht mit rechten Dingen nach Deutschland kam. Das Interview von Franz Beckenbauer in der Süddeutschen Zeitung im November ist ein guter Beleg für den Morast, in dem der DFB steckt. Und auch sonst liegt im Fußball einiges im Argen. Das Andere ist das Thema Migration. Jahrzehntelang wurde es totgeschwiegen beziehungsweise wurde so getan als ob das Thema nicht existierte, denn Migranten aus Jugoslawien, der Türkei, Griechenland, Makedonien waren keine Migranten, sondern Gastarbeiter. Die Problematik wurde linguistisch weggeschlossen, ehe sie in den 90ern und frühen Nullerjahren brachial zurückkam. Dabei war die alte Bundesrepublik sehr wohl ein Einwanderungsland, nur wollte es keiner wahr haben.

 

Dieses kleine Bändchen enthält 11 Kapitel, besitzt also Mannschaftsstärke, dreht sich dabei aber nur periphär um Fußball, sondern vielmehr um die Einbettung eines Fußballvereins in seine unmittelbare Umgebung. In jedem dieser 11 Abschnitte spricht eine andere Person über Fußball bzw. über die Beziehung zum eben jenem Kiezverein. Im Mittelpunkt steht dabei ein deutsch-türkischer Fußballer, Arda Toprak, der es schafft, vom Kiezclub zu einem Bundesligaverein zu wechseln und sogar in die Nähe der Nationalmannschaft rückt. Dann werfen ihn zwei Verletzungen zurück und die Laufbahn ist beendet. Dass seine Begabung ihn in seinem Kiez herausstellte, ist ihm bewusst:

“In unserer Hood träumten alle davon, entdeckt zu werden. Jeder wollte raus aus Elend und Mittelmaß … Mich traf es besser. Ich hatte das Ticket zum Glück gelöst.” (S.13)

In elf Kapiteln reden elf verschiedene Menschen über die Rolle des Vereins und ihre Sicht der Dinge auf den Club, das Schicksal Topraks, von dem vieles abhing, was ihm wiederum zu viel war und wie alles irgendwie zusammenhängt: Leben, Liebe, Fußball. Was passiert, wenn alles auf eine Karte, in diesem Fall auf die Karrierehoffnung des Sohnemanns, gesetzt wird, zeigt sich am Schicksal des Vaters, der sich als Manager in die totale Abhängigkeit seines Sohnes begibt und das größte Opfer bringt: er erleidet einen Zusammenbruch und muss ins Krankenhaus; aus Fikret Toprak wird Deli Fikret: der verrückte Fikret. In seinem Gespräch, eigentlich sind Selbstgespräche im Krankenhaus verboten, sagt er:

“Es sollte unseren Kindern anders ergehen. So haben Esra und ich uns das ausgemalt. Bei Allah, was ist daran falsch? Wir waren bereit, alles dafür zu tun, damit sie Erfolg haben. Aber das Leben ist kein Wunschkonzert.” (S.29)

Da ist die Schwester, Yasemin, die gern die traditionellen Schubladen schließen möchte und ein eigenes Modelabel gründen möchte. Aber:

“Eine Frau, die Yasemin Toprak heißt, ist für andere Schubladen vorgesehen.”

Sie redet über Mode und Sex. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung über die gescheiterten Modepläne. Sie hat die Nase voll und wer könnte es ihr verwehren? Hoffnung kommt auf für sie, als sie ein Angebot eines Praktikums in Paris erhält.

Das Schicksal der Familie ist aber nur eine Facette dieses gut geschriebenen Buches. Viel aufschlussreicher sind dagegen die Kapitel, in denen Vereinsmitglieder zu Wort kommen, also Vereinspräsidenten und solche, die es werden wollen, die Social-Media-Beauftragten, Trainer und anderen Leute, die alle irgendwie mit dem Verein zusammenhängen. Dabei kommt zutage, wie vielschichtig der Verein ist; längst sind nicht mehr nur türkischstämmige Spieler dabei und sogar ein Afrikaner mischt mit, genannt Türk Richard. Dieser mag keinen türkischen Tee, weil er so süß ist. Das Buch entlarvt den typischen deutschen Rassismus und so wird Kabul schon mal in die Türkei gelegt und ein Jugendtrainer des Kiezclubs wird Kollege Kebab genannt. Die Kurdenfrage ist problematisch und wird so gut es geht vermieden. Wenn aber jemand diese Frage in den Raum wirft auf einer Vereinssitzung – und das geschieht mit Regelmäßigkeit – ist schnell alles andere nebensächlich und Fußball sowieso. Wie für Türken ist es auch für afrikanisch-stämmige Deutsche schwierig oder gar unmöglich, als solche wahr genommen zu werden. So ergeht es Türk Richard, einem Lokalpolitiker, der im Vereinsvorstand sitzt, obwohl Fußball ihn “nicht sonderlich interessiert”. Er habe so viele Rollen bekleidet und alles dreht sich bei seinen Mitmenschen um die eine Frage:

“Warum tun sich die meisten damit schwer, dass ich Deutscher bin? Natürlich kenne ich die Antwort”. (S. 98)

Was dann folgt, ist eine Watsche an die Politik, die sich nur zu Wahlkampfzeiten blicken lässt, denn die meisten Mitglieder haben einen deutschen Pass und Pass = Wählerstimme.

Was ist ein Fußballverein? Eine Institution zur Identitätsbildung? Oder ein aus Ich-AGs bestehendes Gebilde? Genau diese Diskussion ist eines der zentralen Themen, die Komünist Yusuf, Türk Richard oder andere Vereinsmitglieder diskutieren. Hintergrund ist die Idee eines türkischen Geschäftsmannes, Şefik Aslan, den Verein als Präsident zu leiten und zu professionalisieren. Letzterer scheitert und die Tradition obsiegt. Verharrt der Fußball zu sehr im Überkommenen und wehrt sich gegen die Veränderung? Für Aslan ist es so und es kränkt ihn, dass er seine Ideen im Verein nicht wird umsetzen können. In wohl keinem anderen Bereich frönt man der Tradition so sehr in Deutschland wie im Fußball und dabei ist doch klar, dass Tradition erfunden ist.
Wie sehr der Volkssport Nr. 1 bereits wirtschaftlichen Zwängen unterworfen ist, tritt deutlich zutage in der Aussage des Schiedsrichters Herr Licht. Videobeweis? Da wurden die TV-Anstalten eher befragt als die Unparteiischen. Rassismus auf dem Platz? Nicht in Deutschland und die Polizei hat den Hitlergruß auch nicht gesehen, also keine Aufregung erzeugen. Bestechung? Suizidversuche eines Schiedsrichters? Morddrohungen? All das ist der wöchentliche Wahnsinn auf Deutschlands Plätzen, nur kümmert es keinen, wie es scheint. Irgendein großer Trainer postulierte einst, dass die Wahrheit auf dem Platze liege; nach Lektüre dieses Buches bleibt festzuhalten, dass dem nicht so ist.
Es bleibt “Türk Richard” überlassen, es auf den Punkt zu bringen, was den Verein ausmacht, für ihn und andere. Der Verein “ist eine hochpolitische Veranstaltung” sowie ein “Labor für Machtspiele”. Denn, “es geht um Fußball, es geht um unseren Alltag. Es geht um unser Leben”. Bill Shankly hätte seine Freude. Dieser Satz soll als Schlusspunkt dienen, denn er fasst es treffend zusammen, was dieses Buch und diesen Sport ausmacht.

NB: Der Roman basiert auf dem Theaterstück “Liga der Verdammten” welches 2013 im Berliner Ballhaus Naunynstraße aufgeführt wurde. Das Buch ist im Verbrecher-Verlag erschienen und kostet €19.-

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