Menschenrechte – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 04 Sep 2019 14:44:17 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Frauen in Schaltzentralen des Fußballs: Allein unter Männern https://120minuten.github.io/frauen-in-schaltzentralen-des-fussballs-allein-unter-maennern/ https://120minuten.github.io/frauen-in-schaltzentralen-des-fussballs-allein-unter-maennern/#respond Thu, 05 Sep 2019 07:00:40 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6486 Weiterlesen]]> Noch nie wurde im Fußball so intensiv über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen diskutiert wie in diesem Sommer während der Weltmeisterschaft in Frankreich. Jenseits der Lohnungleichheit sind in den Führungsetagen und Trainerteams des Fußballs kaum Frauen vertreten. In etlichen Ländern fehlen sogar grundlegende Strukturen für Mädchen- und Frauenfußball. Wie kann der beliebteste Sport weiblicher und damit demokratischer werden? Teil 12 und Abschluss der Themenreihe „Fußball und Menschenrechte.“

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Karen Espelund hatte schlaflose Nächte. Sie entwickelte Ideen, Themen, neue Ansätze, aber oft stieß sie auf Widerstände. Vor mehr als dreißig Jahren war Espelund die erste Frau im Vorstand des norwegischen Fußballverbandes. „Ich wollte nicht das Maskottchen der Männer sein“, sagt sie. „Leider müssen Frauen in Gremien immer wieder ihre Kompetenz unter Beweis stellen. Man muss ziemlich hart arbeiten und besser vorbereitet sein.“ Espelund setzte sich durch, erzeugte Sichtbarkeit für Frauen in Führungsriegen. 1999 wurde sie Generalsekretärin des norwegischen Verbandes. Zwischen 2012 und 2016 saß sie im Exekutivkomitee der Uefa.

Doch noch immer ist Karen Espelund eine von wenigen Ausnahmen. Nur 3,7 Prozent der Führungspositionen im europäischen Spitzenfußball werden von Frauen besetzt, so eine Studie des internationalen Netzwerkes Fare, Football Against Racism in Europe aus dem Jahr 2014. In den Klubs der Bundesliga, im DFB und in der Deutschen Fußball-Liga sitzen knapp 250 Personen in Aufsichtsräten, Präsidien, Vorständen. Mehr als 95 Prozent: Männer.

Karen Espelund war mehr als 20 Jahre in einer Führungsposition beim norwegischen Fußballverband tätig, Foto: Ronny Blaschke

Karen Espelund profitierte Ende der 1980er Jahre von einer neuen Frauenquote im norwegischen Verband. Inzwischen müssen mindestens zwei Frauen im Vorstand sitzen. Aktuell sind es vier Männer und vier Frauen. „Ob bei der Rekrutierung von Mitarbeitern, bei Ausschreibungen oder Wahlperioden: Häufig suchen wir nach Personen, die uns ähnlich sind“, sagt Karen Espelund. „Eine Quote kann traditionelle Strukturen brechen. Alle Forschungen zeigen: Diversität führt zu den besten Ergebnissen in jeder Organisation.“

Nur eine Frau im DFB-Präsidium

Auch dank Karen Espelund ist der norwegische Verband in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit weiter als andere Organisationen der Fußballindustrie. Die ehemalige Spielerin Lise Klaveness ist für sämtliche Nationalteams verantwortlich. Nationalspielerinnen erhalten seit 2017 die gleichen Prämien wie ihre männlichen Kollegen. Und dennoch wird die Debatte weiter intensiv geführt, etwa durch Weltfußballerin Ada Hegerberg, die wegen der „jahrelangen Benachteiligung“ gegenüber männlichen Spielern nicht mehr für das norwegische Nationalteam spielen möchte. Besonders intensiv wird die Debatte von den Weltmeisterinnen aus den USA mit ihrer Kapitänin Megan Rapinoe geführt, aber in den meisten anderen Ländern findet eine solche Debatte gar nicht erst statt.

Es dauerte lange, bis andere Verbände dem norwegischen Erfolgsmodell folgten. Die Fifa wünscht sich für ihr Führungsgremium mindestens sechs Frauen. Sie hält sich jedoch mit Forderungen und Empfehlungen gegenüber ihren mehr als 200 nationalen Mitgliedsverbänden zurück. Der DFB hat nur eine Frau in seinem Präsidium, Hannelore Ratzeburg, und die ist zuständig für Mädchen- und Frauenfußball.

Auch wegen der gesetzlichen Quote ist der Frauen-Anteil in Führungspositionen der Wirtschaft gestiegen: In Ostdeutschland auf 44 Prozent, im Westen auf 27 Prozent. Und im Fußball? Anfang 2018 kandidierte beim des FSV Mainz 05 die Juristin Eva-Maria Federhenn für den Vorstandsvorsitz. Etliche Fans sprachen ihr die Kompetenz ab, weil sie eine Frau ist. Solche Äußerungen seien keine Seltenheit, sagt Katharina Dahme. Die Aufsichtsratschefin des Regionalligisten SV Babelsberg wurde mal in einer VIP-Raum eines Stadions von einem Funktionär des gegnerischen Klubs kritisch gemustert. „Ich habe gesagt, dass ich Mitglied im Aufsichtsrat bin“, sagt Dahme. „Dann war er sehr erschrocken und hat deutlich gemacht, dass Frauen im Fußball nichts zu suchen hätten.“

In den ersten vier deutschen Ligen ist Katharina Dahme neben Sandra Schwedler beim FC St. Pauli die einzige Frau, die an der Spitze eines Aufsichtsrates steht. Der DFB hatte 2016 mit dem Deutschen Olympischen Sportbund ein Leadership-Programm gestartet. 24 Frauen wurden mit Führungsaufgaben vertraut gemacht. Einige der 21 Landesverbände im Fußball haben danach eigene Programme entwickelt. Katharina Dahme findet, dass sich auch die großen Klubs öffnen sollten. Noch haben engagierte Frauen in deren Gremien den Status von Exotinnen, und so geben sie den Druck manchmal auch untereinander weiter. „Manche Klubs geben sich vielleicht schon zufrieden mit einer Frau im Gremium“, sagt Dahme. „Aber wir sollten nach mehr Kandidatinnen suchen. Oft sind Frauen eher skeptisch und müssen anders ermuntert werden. Männer dagegen sind oft überzeugt, dass sie das können.“

Die erste Chefin eines israelischen Profiklubs

Seit September 2018 erzeugt eine Wanderausstellung Aufmerksamkeit für Frauen im Fußball, ihr Titel: „FanTastic Females. Football Her Story“. Die Fotos und Kurzfilme porträtieren mehr als achtzig Frauen aus 21 Ländern: Ultras, Aktivistinnen, Führungskräfte. „Das Projekt ist wunderbar, denn es nimmt unsere Leidenschaft in allen Facetten ernst“, sagt die Israelin Daphna Goldschmidt, einer der Porträtierten mit einer seltenen Biografie im Fußball.

Daphna Goldschmidt führt als erste Frau einen israelischen Profiverein, Foto: Ronny Blaschke

Mit Anfang zwanzig gehörte Daphna Goldschmidt 2007 zu den Gründerinnen ihres Vereins. Sie besuchte jedes Spiel von Hapoel Katamon Jerusalem. Sie sang, klatschte, hüpfte auf der Tribüne, wurde zu einem der einflussreichsten Vereinsmitglieder. Doch sie zögerte mehr als drei Jahre, um für den Vorstand zu kandidieren. „Das einzige, was mich davon abhielt, war die Angst, nicht gewählt zu werden und keinen Erfolg zu haben“, sagt Goldschmidt. Vor anderthalb Jahren wurde Daphna Goldschmidt zur Vorsitzenden von Hapoel Katamon Jerusalem gewählt. Als erste Frau führt sie einen Profiverein in Israel. „Das öffnet vielleicht auch anderen Frauen die Tür, die vielleicht gar nicht glauben, dass ein solcher Weg möglich ist.“

Hapoel Katamon hat sich in den vergangenen Jahren aus der fünften in die zweite Männerliga vorgearbeitet, aber Goldschmidt beschreibt lieber die sozialen Projekte: Sprachkurse für Einwanderer, Turniere für jüdische und muslimische Jugendliche. Goldschmidt hat es dabei nicht immer leicht, zum Beispiel bei Treffen mit Funktionären anderer Vereine. „Es ist immer noch seltsam, in einem Konferenzraum die einzige Frau zu sein“, erzählt sie. „Manchmal sagt mir jemand, ich hätte diese oder jene Entscheidung nur getroffen, weil ich eine Frau bin. Dann entgegne ich: Haben Sie ein Argument, das relevanter ist?“ Eine Antwort erhält sie darauf dann nicht mehr.

Kaum Trainerinnen in der Frauen-Bundesliga

Und wie sieht es an den Seitenlinien aus? Im deutschen Männerfußball hatten zuletzt zwei Trainerinnen für Schlagzeilen gesorgt: Imke Wübbenhorst übernahm 2018  vorübergehend den Fünftligisten BV Cloppenburg, die ehemalige Nationalspielerin Inka Grings den Viertligisten SV Straelen. Beide Beispiele täuschen darüber hinweg, dass Frauen im Trainingswesen eine Nebenrolle spielen. Bei der Weltmeisterschaft in Frankreich vor wenigen Wochen wurden neun der 24 Teams von einer Frau trainiert.

Deutlicher wird der Unterschied in Deutschland: In der Frauen-Bundesliga wurden zuletzt zwei der zwölf Teams von einer Frau trainiert. Eine von ihnen: Carmen Roth beim SV Werder Bremen. Der Verein wollte ihren Vertrag früh verlängern, doch Roth lehnte nach langem Bedenken ab. Sie kehrt zurück nach München, nimmt dort ihren unbefristeten Job bei einer Versicherung wieder auf. Ihr Arbeitgeber hatte sie für den Fußball zwei Jahre lang freigestellt. „Ich bin ein Sicherheitsmensch“, sagt Carmen Roth. „Man verdient zwar auch im Frauenfußball inzwischen ganz gut, aber man ist nicht dauerhaft abgesichert. Ich möchte nicht mit fünfzig dastehen und keinen Job zu haben.“

Carmen Roth hat fast 150 Bundesligapartien bestritten, die meisten für den FC Bayern. Schon als Spielerin arbeitete sie bei der Versicherung. Sie hatte den Wunsch, Bundesliga-Trainerin zu werden. Dafür benötigte sie drei Lizenzen: C, B und A. Carmen Roth nahm für die mehrwöchigen Kurse jeweils ihren Jahresurlaub. Ehemaligen Nationalspielerinnen wird der Einstieg ins Trainingswesen hingegen erleichtert, sie können den Grundlagenkurs überspringen. Carmen Roth plädiert dafür, dass auch ehemaligen Bundesliga-Spielerinnen ohne Länderspielerfahrung der Einstieg ins Trainingswesen erleichtert werden solle: „Eine Spielerin, die dreißig oder vierzig Stunden pro Woche arbeiten geht, leistet mehr als eine Spielerin, die sich nur auf den Fußball konzentrieren kann.“

Eine Frau führt ein Männerteam in Hongkong zur Meisterschaft

Noch höher sind die Anforderungen bei der mehrmonatigen Ausbildung zum „Fußball-Lehrer“ beim DFB. In der Regel war unter den 25 Teilnehmenden pro Jahrgang höchstens eine Frau. Die Ursachen dafür liegen bereits an der Basis: In den vergangenen Jahren haben sich mehr Frauen um die C-Lizenz bemüht, die unterste Kategorie, meist für Kinder- und Jugendfußball. Eine Stufe höher, an der Schwelle zum Leistungssport, sinkt der weibliche Anteil enorm. Das liege nicht an der fehlenden Bereitschaft der Frauen, sagt die Berliner Trainerin und Aktivistin Johanna Small: „Man ist als Frau in diesen Kursen schnell in einer Sonderrolle. Wir merken, wenn man einen Kurs nur für Frauen gibt, dass da wesentlich größeres Interesse ist.“

Beim DFB werden auch die Nationalteams der Juniorinnen von Frauen trainiert. In anderen Ländern ist das noch lange keine Selbstverständlichkeit. Bei der WM vor vier Jahren in Kanada wurden acht der 24 Teams von Frauen trainiert. Nun in Frankreich waren es neun. Im professionellen Männerfußball lassen sich Trainerinnen an einer Hand abzählen. Corinne Diacre betreute in Frankreich den Zweitligisten Clermont Foot. 2017 übernahm sie das Frauen-Nationalteam.

Chan Yuen Ting führte das Herren-Team des Eastern SC in Hongkong zur Meisterschaft, Foto: Ronny Blaschke

Internationale Aufmerksamkeit zog Chan Yuen Ting in Hongkong auf sich. Als Trainerin führte sie das Männerteam des Eastern SC zur Meisterstadt des Stadtstaates, im Alter von 27 Jahren. Für die BBC gehörte Chan Yuen Ting 2016 zu den 100 einflussreichsten Frauen der Welt. „In der asiatischen Champions League haben wir viele Spiele hoch verloren“, erzählt sie. „Die Kritik in den Medien war enorm. Doch ich wollte meine Linie beibehalten. Dabei ist es wichtig, gegenüber den Spielern die richtige Balance zu finden. Ich diskutiere mit jedem. Aber es gibt auch feste Regeln.“

Chan Yuen Ting ist eine zierliche Frau, etwa 1,60 Meter groß. In ihrem Team wurde sie von vier Assistenztrainern unterstützt, es gab noch eine Frau, eine Physiotherapeutin. Die Hälfte der Spieler war älter als Chan Yuen Ting. Bei Auswärtsspielen in der Champions League wurde sie als Vorbild gefeiert. Doch nach zwei Jahren gab die studierte Sport- und Gesundheitsmanagerin ihren Posten auf. Sie wollte die höchste Lizenz im asiatischen Trainingswesen erwerben. „Meine Eltern wollten nicht, dass ich im Fußball arbeite“, sagt Chan Yuen Ting. „Wir haben uns oft gestritten, denn wenn ich etwas unbedingt will, kann ich ziemlich stur sein. Nach einigen Jahren haben sie gemerkt, dass ich mich durch Fußball weiter entwickeln kann. Inzwischen kommen sie öfter ins Stadion uns schauen unsere Spiele.“

„Bei den meisten Verbänden ist Frauenfußball nur ein Häkchen“

Durch welche Strukturen können solche Karrieren wahrscheinlicher werden? Die Fifa schreibt bei der U17-WM der Frauen pro Team mindestens eine Trainerin und eine Medizinerin vor. Die Uefa fördert Einstiegskurse in Osteuropa. Aber reicht das? Wie lässt sich schon im Breiten- oder Schulsport das Interesse von Mädchen für ein späteres Engagement im Fußball wecken? Seit ihrer Premiere 1991 ist die WM der Frauen gewachsen: Erst 12, dann 16 und nun zum zweiten Mal 24 Teams. Doch das Wachstum täuscht darüber hinweg, dass Frauenfußball in etlichen Regionen noch keine langfristige Basis hat: auf dem Balkan, in der arabischen Welt, in vielen Ländern Afrikas.

Khalida Popal hat etliche Verbesserungsvorschläge. Sie ist in Kabul aufgewachsen, liebt den Fußball seit ihrer Kindheit. Nach der Schule kickte sie mit ihren Brüdern und anderen Jungen auf der Straße. Doch in Afghanistan empfinden viele Menschen Fußballerinnen als Provokation. So musste Khalida Popal früh das Improvisieren lernen. „Viele Leute sagten, ich solle in der Küche arbeiten und nicht an Fußball denken. Die Jungs wollten nicht mehr mit mir spielen. Ich habe mich in anderen Schulen umgehört und vielen Mädchen ging es wie mir.“ 2004 suchten Khalida Popal und ihre Freundinnen ein Trainingsgelände. Sie wurden beschimpft, bedroht, mit Müll beworfen. Einen sicheren Platz erhielten sie auf einem Nato-Gelände. 2007 formten sie ein afghanisches Nationalteam, Khalida Popal wurde Kapitänin, später Teammanagerin. Dem ersten Länderspiel in Pakistan folgte ein Turnier in Bangladesch.

Khalida Popal gründete ein afghanisches Frauen-Nationalteam, Foto: Ronny Blaschke

Doch Khalida Popal und ihre Mitstreiterinnen waren weitgehend auf sich gestellt. „Es ist die grundsätzliche Denkweise im Fußball, die uns das Leben schwer macht“, sagt Popal. „Bei der Fifa und den meisten Verbänden ist Frauenfußball nur ein Häkchen, eine lästige Verpflichtung. Für uns waren die Funktionäre gar nicht erreichbar, wir mussten immer wieder nachhaken. Frauenfußball ist für viele Verbandsleute eine Durchgangsstation in ihrer Karriere. Wenn es nach mir ginge, würden wir unsere eigene Fifa haben, mit Leuten, die sich tatsächlich für Frauenfußball interessieren.“

Mit Fußball gegen kulturelle Barrieren

Caitlin Fisher setzt sich für die Gleichbehandlung weiblicher Profi-Spielerinnen ein, Foto: Ronny Blaschke

2011 spielten in Afghanistan 1.000 Frauen Fußball. Khalida Popal erhielt Morddrohungen. Sie floh nach Dänemark, unterstützte aus der Ferne das Nationalteam. Ihre Erfahrungen sind keine Seltenheit, das zeigt ein Bericht von FIFPro von 2017. Die Profivereinigung hatte weltweit 3.600 Spielerinnen befragt. Fast die Hälfte von ihnen erhält von ihren Klubs keinen Lohn. Unter Nationalspielerinnen erhält ein Drittel keine Prämien. Von denjenigen mit Einkommen berichten fast vierzig Prozent von verspäteten Zahlungen, schriftliche Verträge gibt es oft gar nicht. „Wir haben im Frauenfußball eine lange Geschichte der Ungerechtigkeit“, sagt Caitlin Fisher von FIFPro. „Das drückt sich in den Ländern unterschiedlich aus. Durch ungleiche Bezahlung, aber auch durch schlechte Spielfelder, eine veraltete Ausstattung oder fehlende Wettbewerbe. Manche Nationalteams müssen für ihre Auswärtsspiele tagelang im Bus sitzen.“ Vieles von dem führt dazu, dass neunzig Prozent der Befragten ein vorzeitiges Ende ihrer Laufbahn in Erwägung ziehen.

Die mehr als 200 Mitgliedsverbände der Fifa sind verpflichtet, auch den Frauenfußball zu fördern. Doch im Jahr 2013 beispielsweise haben nur 97 von ihren ein Frauen-Länderspiel ausgetragen. Die Fifa hat ihre Entwicklungsprogramme zuletzt erweitert. Bestimmte Förderungen sind an Nachwuchsturniere oder Trainingscamps von Mädchen und Frauen gebunden. So können Kontinental- und Nationalverbände jährlich mehrere Millionen Dollar zusätzlich erhalten. Die langjährige Trainerin Monika Staab ist aktuell in Gambia in Westafrika aktiv und sagt: „Es gibt zu wenig Programme, um das auch zu fördern. Oft hat man das Gefühl, das Fördergeld kommt nicht an den richtigen Stellen an. Erst letztes Jahr hat der afrikanische Kontinentalverband ein Frauen-Komitee erstellt. Das ist schade, denn das Potenzial für Frauenfußball in Afrika ist groß.“

Monika Staab bildet Trainer*innen aus, Foto: Ronny Blaschke

Monika Staab war in den vergangenen zwölf Jahren in vielen Ländern unterwegs, auch als Trainerin in Bahrain und Katar. 2018 wurde sie nach Gambia entsandt, vom Auswärtigen Amt und vom Deutschen Olympischen Sportbund. Von den zwei Millionen Einwohnern in Gambia sind 44 Prozent jünger als 14. Monika Staab bildet Trainer und Sportlehrer fort, knüpft Kontakte zwischen Fußballverband und Schulministerium. „Meine Aufgabe ist, den Mädchen das Selbstvertrauen zu vermitteln. Dass sie sich ein bisschen gegen das Klischees und die kulturellen Barrieren auflehnen. Und dass sie dieses Selbstvertrauen dann auch mit in die Schule oder ins Studium nehmen.“

Etliche NGOs übernehmen Aufgaben der Verbände

Unabhängige Expertinnen für Frauenfußball sind in Entwicklungsländern selten. Auch deshalb bleiben gefährliche Netzwerke unerkannt. Seit Anfang des Jahres wurden in mindestens fünf Ländern Vorwürfe gegen Trainer und Betreuer geäußert, wegen Belästigung und sexualisierter Gewalt. In Afghanistan soll der Verbandspräsident Keramuddin Karim Jugendspielerinnen vergewaltigt haben. Die Aktivistin Khalida Popal machte das ganze öffentlich. Weltweite Medienberichte folgten, schließlich wurde Keramuddin Karim von der Fifa lebenslang gesperrt. Khalida Popal sagt: „Viele der Nationalverbände in unterentwickelten Ländern werden wie die Mafia geführt. Wir wollten die Vergewaltigungen früher öffentlich machen, aber viele E-Mails gingen verloren. Die Funktionäre schützen sich wie eine Bruderschaft. Frauen aus Afghanistan wurde lange nicht gehört. Im Gegenteil: Sie mussten sich rechtfertigen, als wären sie Beschuldigte.“

Laut der Studie der Profivereinigung FIFPro haben 18 Prozent der befragten Spielerinnen Sexismus erlebt. 3,5 Prozent berichteten von gewaltsamen Übergriffen. Die großen Fußballverbände haben bislang wenig Stellung dazu bezogen. Vielleicht sind auch deshalb etliche NGOs für Frauen im Fußball entstanden. „Discover Football“, „Women win“ oder „Right to play“. Khalida Popal hat in Dänemark eine Initiative für geflüchtete Frauen gegründet. Ihr Titel: „Girl Power“.


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


Die ganze Themenreihe auf einen Blick

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Die Veröffentlichung dieses Beitrags wurde auch durch die Unterstützung des 120minuten-Lesekreises möglich. Stellvertretend für alle bedanken wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Ralf, einem Lesekreis-Mitglied. Du möchtest 120minuten ebenfalls aktiv unterstützen? Dann bitte hier entlang!

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Fußball in Ägypten: Rebellische Ultras im Untergrund https://120minuten.github.io/fussball-in-aegypten-rebellische-ultras-im-untergrund/ https://120minuten.github.io/fussball-in-aegypten-rebellische-ultras-im-untergrund/#respond Thu, 20 Jun 2019 07:00:49 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6304 Weiterlesen]]> Am 21. Juni beginnt in Ägypten der Afrika-Cup. In wohl keinem anderen Land ist der Fußball so politisch aufgeladen wie in Ägypten. Seit mehr als hundert Jahren nutzen Autokraten in Kairo das Stadion für Propaganda. Im neuen Jahrtausend entwickelten dann die Ultras eine Protestkultur, die beim Arabischen Frühling 2011 eine beachtliche Rolle spielte. Mittlerweile sind Fußballfans jedoch ein Symbol für die unterdrückte Zivilgesellschaft. Kann der Afrika-Cup daran etwas ändern?

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

In Kairo sind viele staatliche Gebäude von Schutzmauern umgeben, davor patrouillieren Soldaten mit Maschinengewehren. Auf dem zentralen Tahir-Platz sind vor allem Männer unterwegs. Zwei von ihnen halten ein Banner in die Höhe. Darauf: Abdel Fattah al-Sisi, Ägyptens Präsident seit 2014. Er lächelt auf dem Bild, blickt ins Weite, als freue er sich auf die Zukunft. Doch in Ägypten hat nur eine kleine Elite Grund zur Freude. „Präsident Sisi betrachtet Menschenrechtsverteidiger als seine größten Feinde“, sagt der Ägypter Amr Magdi, der für Human Rights Watch in Berlin arbeitet. „Die Verfolgung der Zivilgesellschaft ist tiefgreifend, brutal und gnadenlos.“

Organisationen wie Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen gehen davon aus, dass rund 60.000 Menschen aus politischen Gründen in ägyptischen Gefängnissen sind. Mindestens 300 von ihnen sollen dort gestorben sein. Amr Magdi berichtet: „Tausende Bündnisse und NGOs wurden aufgelöst. Journalisten, Juristen und Menschenrechtler können jederzeit verhaftet werden. Oft erhalten sie Reiseverbote, ihre Bankguthaben werden gesperrt und ihre Familien eingeschüchtert.“

Millionen Ägypter sind 2011 auf die Straßen gegangen. Sie protestierten für freie Wahlen, unabhängige Medien, Demonstrationsrechte, vor allem aber: für ein Leben in Würde. Nichts davon ist Wirklichkeit geworden. Ägypten ist eine Militärdiktatur mit mächtigen Geheimdiensten. Mindestens 2.000 Menschen kamen nach 2011 bei Aufständen und Zusammenstößen mit dem Sicherheitsapparat ums Leben, darunter auch mindestens 150 aktive Fußballfans.

Ultras: In wohl keinem anderen Land steht dieser Begriff so sehr für die Politisierung einer Gesellschaft wie in Ägypten, für Hoffnung, Opferbereitschaft, sogar für Revolution. Doch der Begriff ist auch ein Symbol für Enttäuschung, Grabenkämpfe und Repression. Und so ist es der Fußball, der politische Entwicklungen zugespitzt zum Ausdruck bringt.

Das Stadion als letzter sozialer Freiraum

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Fans aus Kairo waren Anfang des Jahrtausends mit Ultras aus Europa in Kontakt gekommen. Junge Männer schlossen sich in Stadtvierteln der Megacity zu kleinen Bündnissen zusammen. Daraus erwuchsen 2007 die ersten offiziellen Ultra-Gruppen Ägyptens: „Ahlawy“ im Umfeld des Vereins Al Ahly und die „White Knights“ von Zamalek SC. Die Mitglieder, meist zwischen 16 und 30 Jahre alt, hatten unterschiedliche sozialen Hintergründe, unter ihnen waren Arbeiter und Studenten, auch Salafisten und Muslimbrüder. Bis 2011 entstanden in Ägypten etwa zehn Gruppen, mit mehreren zehntausend Mitgliedern.

„Die Grundmotivation der Ultras war am Anfang nicht politisch“, sagt Philip Malzahn. Der Islamwissenschaftler wertete arabische Quellen aus und forschte ein halbes Jahr in Kairo. Er verfasste seine Bachelor-Arbeit über ägyptische Ultras, immer wieder hält er Vorträge zum Thema. „Im Fußball wurden junge Männer quasi gezwungen, politisch zu werden. Denn der autoritäre Staat verweigerte ihnen jegliche Freiräume.“ Die Ultra-Bewegung entstand zu einer Zeit, in der sich Ägypten in einer Phase des Stillstands befand. Präsident Hosni Mubarak regierte seit 1981 mit Notstandsgesetzen, dadurch hatte er weitreichende Befugnisse.

Der Staat betrachtete die Ultras in ihrer Anfangszeit als Kleinkriminelle. Doch immer mehr junge Männer erkannten die Stadien als ihren vielleicht letzten öffentlichen Freiraum. „Die Ultras brachten gesellschaftliche Gruppen zusammen, die sich sonst nicht vertragen haben. Ihr gemeinsamer Nenner war der Fußball“, sagt Philip Malzahn.

„Mit ihrer antiautoritären Grundhaltung stellten sich die Ultras gegen den kommerziellen und korrupten Fußball, nicht zwangsläufig gegen den Staat. Allerdings sind Fußball und Staat in Ägypten nicht voneinander zu trennen.“

Philip Malzahn

Mit Al Ahly gegen die britische Fremdherrschaft

Hosni Mubarak hatte den Wert des Fußballs für seine Propaganda früh erkannt. In seiner dreißigjährigen Amtszeit gewann das ägyptische Nationalteam fünfmal die Afrikameisterschaft. Vor wichtigen Spielen traf sich Mubarak mit den Spielern, nach Titelgewinnen hängte er ihnen Medaillen um. Die Seilschaften zwischen Regierung, Sicherheitsorganen und Großkonzernen drangen tief in den Fußball vor, schreibt der Blogger und Wissenschaftler James M. Dorsey in „The Turbulent World of Middle East Soccer“. Als dieses Buch 2016 erschien, waren die Hälfte der 16 ägyptischen Erstligisten im Besitz von Innministerium, Polizei und Armee.

Den Kairoer Ultras des Vereins Al Ahly standen regelmäßig Vertretungen des Staates gegenüber. Al Ahly gewann vierzig Mal die ägyptische Meisterschaft und acht Mal die afrikanische Champions League. Mit keiner anderen Bewegung identifizieren sich so viele Ägypter wie mit Al Ahly. Die Ursachen reichen weit zurück in der Geschichte des Landes. „Es war der erste Klub von Ägyptern für Ägypter. Ein wesentliches Element der Emanzipation vom britischen Kolonialreich“, sagt der Politikwissenschaftler Jan Busse von der Universität der Bundeswehr in München. Al Ahly organisierte Versammlungen: für den Widerstand gegen die Briten, aber auch gegen die ägyptische Monarchie.

1952 stürzten die „Freien Offiziere“ die Monarchie. In der jungen und unabhängigen Republik Ägypten wandelten sich Politik, Kultur und Sport grundlegend. Der Staatschef Gamal Abdel Nasser wirkte auch als Ehrenpräsident von Al Ahly auf die Bevölkerung ein. Er besetzte zentrale Stellen der Fußballverbände mit Vertrauten des Militärs. Nassers Nachfolger folgten diesem Muster. Bis in die Gegenwart.

74 Tote beim Fußball – die Verantwortlichen werden kaum bestraft

Seit ihrer Gründung 2007 hatten sich die Ultras Ahlawy von Al Ahly und die White Knights von Zamalek viele Kämpfe mit der Polizei geliefert. „Das Stadion war lange ein Testfeld für Polizeitaktiken, die man später bei Gegnern einsetzen konnte, die man ernster nimmt“, sagt Jan Busse. Zur vielleicht größten Machtdemonstration kam es Anfang 2011 in Ägypten. Die Ultras warfen Steine, durchbrachen Polizeiketten, nutzten umgestürzte Autos als Schutzwall. „Die Ultras waren gut organisiert“, sagt Busse. „Sie waren wichtig, um den symbolisch wichtigen Tahir-Platz zu halten.“ Wie groß der Einfluss der Ultras am Sturz von Mubarak tatsächlich war, lässt sich schwer ermessen.

Die Zivilgesellschaft befand sich im Umbruch. Der gemeinsame Gegner Mubarak war Geschichte, nun schlossen sich Fraktionen unterschiedlichen Parteien an. In Gewerkschaften, Bündnissen und losen Gruppen bildeten sich neue Hierarchien. Das gilt auch für die Ultras. Ahlawy und die White Knights hatten großen Zulauf, dadurch wuchsen interne Spannungen. „Neue Mitglieder provozierten Gewaltakte, die nicht abgesprochen waren“, sagt Philip Malzahn. Rund um die Spiele verschärften die Gruppen ab Mitte 2011 den Ton gegen die Polizei. Regelmäßig kam es zu Straßenkämpfen und Demonstrationen mit Toten. Das Militär verbot alle Formen des Protests. Die Ultras galten nun als „Agenten, die Ägypten zerstören wollen“.

Das alles steht im Schatten des 1. Februar 2012, als Al Ahly in der Hafenstadt Port Said auf Gastgeber Al Masry traf, fast ein Jahr nach dem Sturz von Präsident Mubarak. Nach dem Schlusspfiff wurden Stadionlichter früh abgeschaltet. Hunderte Fans von Al Masry stürmten den Rasen und die gegnerische Tribüne. Sie warfen Brandsätze auf die Ultras von Al Ahly, attackierten sie mit Stöcken, Messern, Glasflaschen, die Polizei ließ sie gewähren. Die Gästefans flogen, es entstand Panik. Einige wurden von der Tribüne gestoßen, andere trafen auf verschlossene Tore. Am Ende waren 74 Menschen tot.

Einen Tag nach den Vorfällen in Port Said marschieren Ultras von Al Ahly zum Tahrir-Platz. Foto: Tori Aarseth, CC BY-NC-SA 2.0.

Wollte die Armee den rebellischen Ultras von Al Ahly eine Lektion erteilen? Planten Gefolgsleute von Mubarak die Destabilisierung des neuen Militärrats? Landesweit kam es zu Straßenschlachten. Die Aufarbeitung von Port Said verdeutlichte, wie sehr Politik und Justiz verflochten sind. Etliche der 73 Angeklagten beschwerten sich über willkürliche Festnahmen, einseitige Ermittlungen, unglaubwürdige Beweise. Am 26. Januar 2013, am zweiten Jahrestag des Revolutionsbeginns, wurden 21 Beschuldigte zum Tode verurteilt, die meisten von ihnen waren Ultras von Al Masry. „Hochrangige Militärs und Polizisten mussten sich nicht verantworten“, sagt Jan Busse. „Die Straflosigkeit für Sicherheitskräfte ist ein gängiges Phänomen in Ägypten.“

Die Ultras werden von den Geheimdiensten streng überwacht

Am 3. Juli 2013 putschte das Militär gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. Einer der Hauptverantwortlichen für den Staatsstreich war der General Abdel Fattah al-Sisi, der seit dem 8. Juni 2014 das Präsidentenamt bekleidet. Mehr als drei Jahre nach der Revolution war Ägypten von einer demokratischen Regierung weit entfernt, die Wirtschaft stagnierte, und Sisi verschärfte die Repression gegen die marginalisierte Zivilgesellschaft weiter.

Am 8. Februar 2015 wollte die Regierung die Stimmung testen und für ein Spiel wieder Fans zulassen. Das Innenministerium begrenzte die Zuschauerzahl für das Spiel zwischen Zamalek und ENPPI auf 10.000. Allerdings fanden sich weit mehr Menschen vor dem Stadion der Luftwaffe am Rande von Kairo ein. Tausende drängten sich vor dem schmalen Einlass. Die Atmosphäre wurde aggressiver, plötzlich schoss die Polizei Tränengas in die Menge. Massenpanik, Schlägereien, brennende Autos, am Ende waren zwanzig Menschen tot, die meisten von ihnen Mitglieder der White Knights.

Die Ligaspiele fanden weiter ohne Zuschauer statt, die Ultras wurden als terroristische Vereinigungen dämonisiert. Einige Mitglieder schauten sich seither Spiele im Basketball, Handball oder Volleyball an. Oder sie reisten mit ihren Klubs zu Auswärtsspielen der afrikanischen Champions League. „Die Ultra-Führer, die nicht im Gefängnis sitzen, werden von den Geheimdiensten beobachtet“, sagt der Ägypter Hussein Baoumi, der für Amnesty International in Tunis arbeitet. Es sei wahrscheinlich, dass Telefonate abgehört und Emails kontrolliert werden, daher halten sich Ultras in den sozialen Medien zurück. Baoumi sagt: „Die Regierung fürchtet sich vor organisierten Gruppen, also will sie jede Mobilisierung im Keim ersticken.“

Nationalhelden wie Aboutrika sind vor staatlicher Willkür nicht sicher

Diese Furcht reicht offenbar so weit, dass selbst an Nationalhelden Exempel statuiert werden. Mohamed Aboutrika gilt als einer der wichtigsten Spieler der ägyptischen Geschichte. 2006 und 2008 führte er das Nationalteam zum Gewinn des Afrika-Cups, in seinen 100 Länderspielen schoss er 38 Tore. Fast zehn Jahre spielte er für Al Ahly. Aber Aboutrika traf seine eigenen Entscheidungen: Er positionierte sich gegen ein Gehaltsgefälle im Fußball, sammelte Spenden für benachteiligte Menschen, sympathisierte offen mit der Bevölkerung im Gaza-Streifen.

Im September 2012 spielte Al Ahly im ägyptischen Supercup gegen ENPPI, es war das erste offizielle Spiel nach der Katastrophe von Port Said sieben Monate zuvor. Die Ultras boykottierten die Partie, auch als Zeichen gegen die schleppende Aufarbeitung. Mohamed Aboutrika tat es ihnen gleich und weigerte sich, gegen ENPPI aufzulaufen. Er wurde zwei Monate gesperrt. Monate später fühlten sich Mitglieder des Militärregimes brüskiert, denn Aboutrika wollte sich von ihnen keine Medaille umhängen lassen. Immer lauter wurde gemutmaßt, dass er den Muslimbrüdern nahestehe. Aboutrika bestreitet das. 2015 wurden seine Bankguthaben in Ägypten vorübergehend eingefroren, laut seinem Anwalt soll er seit 2017 auf einer Terrorliste der Regierung stehen.

Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi wählt für seine Fußballbühne andere Hauptdarsteller. Am 8. Oktober 2017 qualifizierte sich das ägyptische Nationalteam mit einem 2:1 gegen die Republik Kongo für die WM in Russland, den Siegtreffer schoss Mohamed Salah, die nationale Fußballikone in Diensten des FC Liverpool. Abdel Fattah al-Sisi empfing die Mannschaft bei der Eröffnung eines neuen Messezentrums. In seiner Rede verknüpfte er Sport, Wirtschaft und Politik. „Sisi wollte den Erfolg der Mannschaft als den Erfolg seiner Regierung verkaufen“, sagt Amr Magdi von Human Rights Watch. „Für ihn ist Fußball eine PR-Kampagne, um von negativen Themen abzulenken.“

Die Kritik aus den USA und der EU bleibt verhalten

Auch während der WM 2018 wurde die ägyptische Auswahl politisch beansprucht, vor allem in ihrem Quartier in Grosny in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Der autokratisch regierende Präsident Ramsan Kadyrow besuchte eine Trainingseinheit der Ägypter. Kadyrow, dem unter anderem Mord und Folter zur Last gelegt werden, ernannte Mo Salah zum Ehrenbürger Grosnys.

Salah soll darüber erbost gewesen sein, er wird längst auch in anderen arabischen Ländern als Idol wahrgenommen. Sein Konterfei ziert Werbebanner, Häuserwände, Fanartikel – und im April 2019 auch das Titelbild von „Time“. Das amerikanische Magazin ernannte ihn als eine der 100 weltweit einflussreichsten Personen. Bei den ägyptischen Präsidentschaftswahlen 2018 sollen eine Million Menschen für Salah gestimmt haben, obwohl dieser gar nicht kandidierte.

Abdel Fattah al-Sisi gewann die Wahl mit mehr als neunzig Prozent, potentielle Gegenkandidaten waren zuvor verhaftet oder zum Rückzug gedrängt worden. Aus den USA und der Europäischen Union blieb die Kritik verhalten. Die westlichen Industriestaaten beschreiben Ägypten als Partner gegen Terrorismus. „Wir fordern nicht das Ende der diplomatischen Beziehungen mit Ägypten“, sagt Amr Magdi. „Aber die USA und Europa können auf andere Weise Druck ausüben, zum Beispiel mit einer Einschränkung von Militärhilfen und Handelsbeziehungen.“

Ab dem 21. Juni wird in Ägypten der 32. Afrika Cup ausgetragen, erstmals mit 24 Teams. Wird Präsident Sisi seine Regierung als demokratisch inszenieren? Oder bringt das Turnier Themen an die Öffentlichkeit, die selten diskutiert werden? Osama Ismail, Mediendirektor des ägyptischen Fußballverbandes, sagte gegenüber dem WDR-Fernsehmagazin Sport Inside: „Wir garantieren, dass es keine Beschränkungen für die Anwesenheit von Zuschauern geben wird. Ägypten hat das Interesse, der Welt zu zeigen, dass wir den Terror im eigenen Land besiegen konnten. Die offenen Stadien sind ein Vorschuss an Liebe für die Zuschauer.“

In den dreißig Jahren unter Mubarak war die Menschenrechtslage nicht so dramatisch wie nun unter Sisi. Und das spiegelt sich auch im Fußball: Offiziell haben sich die Ultras aufgelöst. Frühere Mitglieder gehen zum Basketball oder Handball. Oder sie reisen mit ihren Klubs zu Auswärtsspielen der Champions League. Seit 2018 sind wieder wenige tausend Zuschauer bei Fußball-Ligaspielen zugelassen. Aber die ausgelassene Atmosphäre? Die sozialen Freiräume im Stadion? Vorerst Geschichte.

 


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


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Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Fast jeden Tag ist Rami aus Damaskus Richtung Norden nach Homs gefahren, zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Mit anderen Schülern und Jugendlichen baute er ab 2009 im Umfeld des Vereins Al Karamah eine der ersten Ultra-Gruppen in Syrien auf. Sie lernten Fangesänge, gestalteten Banner, organisierten Auswärtsfahren. Sie fanden etwas, was in der Gesellschaft selten war: Zusammenhalt und Zuversicht. Bis 2011 verpasste Rami nur ein Spiel seines Klubs, er ärgert sich darüber bis heute.

Mit Beginn des Bürgerkrieges legten die landesweit sechs Ultra-Gruppen eine Pause ein. Doch der Fußballbetrieb wurde in stark reduzierter Form aufrechterhalten. Einmal noch, 2014, ist Rami ins Stadion gegangen. Viele Plätze neben ihm blieben leer. Freunde waren tot, im Gefängnis oder an der Front. „Ich bin da fünf Minuten geblieben, dann bin ich rausgegangen“, sagt Rami. Wenige Monate später ist er nach Deutschland geflohen. Laut Schätzungen wurden während des Krieges rund 500.000 Menschen getötet. Zwölf Millionen, etwa die Hälfte aller Syrer, sind auf der Flucht. Die Lebenserwartung im Land ist von siebzig auf 55 Jahre gesunken.

Der syrische Präsident Baschar al-Assad möchte zur Normalität zurückkehren, dabei kann ihm der Fußball helfen. Im Januar fand in den Vereinigten Arabischen Emiraten die 17. Asienmeisterschaft statt. Zu den 24 Teilnehmern gehörten auch Nationen, die durch Kriege und Krisen gezeichnet sind: Jemen, Irak oder Saudi-Arabien. Die Auswahl Syriens scheiterte bereits in der Vorrunde – doch allein durch ihre Qualifikation schrieb sie internationale Schlagzeilen.

Assad ließ sich mehrfach mit Nationalspielern filmen

„Der Fußball zeigt die Zerrissenheit unseres Landes“, sagt Rami, 24, er lebt inzwischen im Ruhrgebiet und möchte bald sein Filmstudium fortsetzen. Die Spiele des syrischen Nationalteams verfolgt er im Internet, doch aus den Debatten in den sozialen Medien hält er sich weitgehend raus: „Viele Leute beanspruchen die Mannschaft für ihre politische Meinung, der Ton ist sehr hart und oft verletzend.“ Für Millionen Syrer ist Fußball eine Ablenkung vom Terror – für andere ist er ein Werkzeug der Diktatur.

Baschar al-Assad war vor dem Krieg nicht als Fußballfan aufgefallen. Doch in den vergangenen Jahren ließ er sich mit der Nationalmannschaft filmen, nach ihrem Gewinn der Westasien-Meisterschaft 2012, aber auch nach ihrer knapp verpassten Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018. Videos zeigen, wie Assad die Spieler im Oktober 2017 in einem repräsentativen Saal empfing, in hellgrauem Sakko, mit offenem Hemdkragen. Assad unterschrieb Trainingsjacken der Spieler und sagte in die Kamera: „Ihre Leistung ist ein Beweis für die Lebenskraft des syrischen Volkes, für Entschlossenheit, Stabilität und Patriotismus.“ Er lobte die Armee, ohne die diese Leistung nicht möglich wäre.

Früher hat die syrische Mannschaft ihre Heimspiele in Damaskus oder Aleppo bestritten, seit Kriegsbeginn spielt sie im Exil, häufig tausende Kilometer entfernt im Südosten Asiens. Mitunter haben dort Spieler und Offizielle T-Shirts mit Fotos von Assad getragen, der ehemalige Trainer Fajr Ebrahim bezeichnete ihn als den „besten Mann der Welt“. 2015 zeigten syrische Zuschauer in Malaysia ein riesiges Banner mit einem Porträt Assads. Das Massenphänomen Fußball sei eine wichtige Unterstützung für das Regime, sagt die freie Journalistin Kristin Helberg, die mehrere Bücher über Syrien geschrieben hat:

„Assad möchte zurück in die internationale Gemeinschaft. Er braucht Gelder für den Wiederaufbau des Landes. Ein Symbol wie die Nationalmannschaft kann ihm auf der Suche nach Investoren helfen.“

Fußballklubs als Gradmesser für gesellschaftliche Stimmungen

Rhetorik, Fotomotive, Verbreitung. In ihrer Propaganda greift die syrische Regierung auf Elemente zurück, die sich in der arabischen Welt über viele Jahrzehnte herausgebildet haben. In Ägypten wurde der Kairoer Verein Al Ahly schon vor hundert Jahren als Sammelbecken gegen die britische Kolonialmacht in Stellung gebracht. In Algerien beteiligten sich Nationalspieler in den 1950er Jahren am Befreiungskampf gegen die französischen Besatzer. Im Libanon nahm der langjährige Ministerpräsident Rafiq al-Hariri Vereine in Staatsbesitz, so konnte er das Verbindende zwischen den religiös getrennten Anhängerschaften betonen. In den palästinensischen Gebieten machte der Freiheitskämpfer Jibril Rajoub den Fußballverband als Präsident auch zu einem Forum für Kritik an Israel. Ob Tunesien oder Marokko, Irak oder Saudi-Arabien: Herrscherfamilien, Sicherheitsorgane und Klerus sicherten sich Einfluss in Vereinen und Verbänden – und damit einen Gradmesser für gesellschaftliche Stimmungen.

In Syrien hatten die Klubs des Militärs und der Polizei lange einen Systemvorteil. Der wichtigste und mit 16 Meistertiteln erfolgreichste Verein kommt aus Damaskus und heißt Al Jaish, übersetzt: die Armee. Gegründet 1947, ein Jahr nach Abzug der letzten französischen Truppen und Ausrufung der Syrischen Republik. Die Klubführung rekrutierte sich aus Militärkadern, die Mannschaft trainierte in Kasernen, aus dem ganzen Land wurden ihr die besten Talente zugewiesen.

Anfang des Jahrtausends, im anfänglichen Reformklima unter Baschar al-Assad, ließ der Fußball Privatisierungen zu. Ein aufstrebender Klub wie Al Karamah aus Homs scheiterte 2006 erst im Finale der asiatischen Champions League. Noch heute lassen sich die Jubelbilder auf der Ehrentribüne im Internet betrachten: Assad lacht und applaudiert stehend, umringt von vermeintlichen Bewunderern. Doch die Öffnung hatte Grenzen. „Das Assad-Regime hat die Gesellschaft seit Jahrzehnten gleichgeschaltet“, sagt die Reporterin Kristin Helberg, die von 2001 bis 2008 in Damaskus gelebt hat. „Sämtliche Aspekte des Alltags werden vom Regime vereinnahmt. Ob Frauenunion, Studentenverband oder Industrie- und Handelskammer: Wer sich engagieren möchte, landet in den Strukturen der Assad-Partei. Das gilt auch für den Fußball.“

Mindestens 38 Spieler wurden getötet

Viele Spitzenspieler sind inzwischen im Ausland unter Vertrag. In Kuwait, Jordanien oder Katar können sie sich finanziell absichern. Doch auch dort stehen sie unter dem Einfluss der syrischen Regierung, erst recht seit Beginn des Krieges. Der Leistungsträger Firas al-Khatib trat 2012 als Boykott gegen das Regime aus dem Nationalteam zurück und bekannte sich zur Opposition. 2017 kehrte er für die entscheidenden Qualifikationsspiele für die WM 2018 als Kapitän zurück. Seine Aussagen waren nun nicht mehr kämpferisch, sondern milde, er bedankte sich bei Assad. „Wir spielen für alle Syrer“, sagte er. „Wir wollen, dass unser Land wieder glückliche Momente erlebt.“ In den sozialen Medien wurde intensiv diskutiert: Setzte die Regierung al-Khatib unter Druck? War seine Familie in Gefahr?

Das amerikanische Sportportal ESPN recherchierte monatelang und veröffentlichte im Mai 2017 eine lange Reportage, darin hieß es: „Die syrische Regierung hat den Sport für ihre brutale Unterdrückung benutzt. Mindestens 38 Spieler aus den ersten beiden Ligen und Dutzende weitere aus den unteren Ligen wurden erschossen, bombardiert und gefoltert.“ Der ehemalige Nationalspieler Jihad Qassab, der an den Erfolgen Al Karamahs beteiligt gewesen war, wurde 2014 in Homs verhaftet. Ihm wurde die Konstruktion von Autobomben vorgeworfen – was er bestritt. Qassab soll nach schwerer Folter im Militärgefängnis Saidnaya im September 2016 gestorben sein.

Wer in Zeiten von Aufruhr und Revolutionen emotionale Zusammenkünfte von Männern verhindern wollte, der nutzte auch den Fußball als Machtdemonstration, dafür hat der Publizist und Blogger James M. Dorsey (https://mideastsoccer.blogspot.com) Dutzende Ereignisse analysiert, der Titel seines Buches: „The Turbulent World of Middle East Soccer“. In Jordanien wurde 1986 der Verein Al Wehdat nach Fangesängen gegen die Monarchie geschlossen. Im Irak ließ Udai Hussein, Sohn des früheren Diktators, unliebsame Sportler bei Sommerhitze barfuß auf Asphalt spielen. In Libyen ordnete im Jahr 2000 Al Saadi al-Gaddafi, Sohn des ehemaligen Staatsoberhauptes, die Zerstörung eines Vereinsheims an. In Bahrain sollen Gefolgsleute der Königsfamilie kritische Sportler gefoltert haben. In Ägypten, Tunesien und Algerien wurden zeitweilig Fans aus Stadien verbannt, aus Angst vor Protesten.

Stadien wurden als Militärbasen genutzt

Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass die syrischen Machthaber noch weiter gegangen sind. Noch immer werden etliche Spieler vermisst. Hunderte Sportler haben rechtzeitig das Land verlassen, doch es ergeht ihnen oft wie vielen anderen Flüchtlingen: Ihre Konten wurden eingefroren, ihr Besitz beschlagnahmt, ihre zurückgebliebenen Familien mussten Reisepässe abgeben. „Wir konnten im Land über alles reden, aber auf gar keinen Fall über Politik“, sagt Rami. „Sonst konnte es passieren, dass man für immer verschwindet.“ Wenn er an Fußball in Syrien denkt, hat er nicht mehr die bunten Fan-Choreografien vor Augen. Mehrere Stadien wurden als Militärbasen und Internierungslager genutzt. Aus dem Abbasiden-Stadion in Damaskus sollen Raketen abgefeuert worden sein.

Der Weltverband Fifa verbietet in seinen Statuten die politische Vereinnahmung des Fußballs, mehrfach hat sie Nationalverbände zeitweilig suspendiert, zum Beispiel Nigeria 2014, Sudan 2017 oder vor kurzem Sierra Leone. Trotz hartnäckiger Aufforderung von Aktivisten hält sich die Fifa gegenüber Syrien zurück. Nimmt sie Rücksicht auf den wichtigsten Assad-Verbündeten Russland, den Gastgeber der vergangenen WM 2018? In unterschiedlichen Statements formulierte die Fifa den gleichen Gedanken: Solche „tragischen Umstände“ würden weit über den Verantwortungsbereich des Fußballs hinausgehen. Aber muss sie dann in ihren Medien den sportlichen Erfolg der Syrer so blumig beschreiben?

Nun, da Assad den Krieg praktisch gewonnen hat, will die Regierung sich gegen ein Aufflammen von Protesten schützen. „In Regimen mit einer unterdrückten Zivilgesellschaft ist der Fußball wohl die letzte Arena für das Ausdrücken von sozialen und politischen Identitäten“, sagt der Nahost-Experte James M. Dorsey und nennt Beispiele, von denen Assads Vertraute gelernt haben dürften: In Tunesien, in der Türkei, aber vor allem in Ägypten während des Arabischen Frühlings 2011 waren es Ultras, die Straßenproteste gegen Regierungen anfachten. Sie waren geschult im Nahkampf mit der Polizei. Sie wussten, wie man Wasserwerfern ausweicht und Blockaden durchbricht.

Die Ultras dürfen sich nicht mehr Ultras nennen

Da diese Bilder noch immer nachwirken, sollen sich die Ultras in Syrien nicht mehr als Ultras, sondern als Fanklubs bezeichnen, seit 2017 kehren sie in die Stadien zurück. Auch Fahnen mit englischen Botschaften sind verboten. „Leute haben versucht, sich in die Fangruppen zu schmuggeln und Steine auf die Polizei zu werfen“, erzählt Nadim, Fan des Vereins Hutteen in der Hafenstadt Latakia. „Dann hätte es einen Vorwand gegeben, um die Ultras zu verbieten.“

Nadim lebt nach seiner Flucht nun im Südwesten Deutschlands. Von dort hat er mit Freunden einen Film für YouTube produziert, „The Secret Life Of Syrian Ultras“, mittlerweile mit rund 36.000 Aufrufen. Nadim war seit vier Jahren nicht mehr in Latakia. Trotzdem wurde er vor kurzem in einer Choreografie des Stadtrivalen attackiert, darauf war eine deutsche Fahne zu sehen. Der Hintergrund: Flüchtlinge aus der syrischen Bevölkerungsmehrheit der Sunniten werden in den Fankurven ihres Heimatlandes mitunter als Feiglinge und Verräter beschimpft, vornehmlich von Alawiten, jener Minderheit, der auch die Familie Assad angehört.

Etliche Regierungen konnten in schweren Krisen Erfolge im Fußball politisch für sich nutzen, der Irak als Asienmeister 2007 oder Afghanistan als Südasienmeister 2013. Syrien will nun einen neuen Versuch starten. Sollte sich das Team für die WM 2022 in Katar qualifizieren, würden wohl Hunderttausende Menschen selbstbewusst feiern. Es wären Bilder, die Diktatoren eigentlich vermeiden wollen.

 

Beitragsbild: Syria national football team in Tehran – 2015 AFC Asian Cup qualification,Quelle: Tasnim News Agency, Javid Nikpour, CC BY 4.0


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


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Der Fußball verdrängt nicht mehr https://120minuten.github.io/der-fussball-verdraengt-nicht-mehr/ https://120minuten.github.io/der-fussball-verdraengt-nicht-mehr/#respond Wed, 06 Feb 2019 08:00:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5659 Weiterlesen]]> Über Jahrzehnte war der Fußball ein Symbol für die Ignoranz gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Doch inzwischen haben Fans, Aktivisten und Historiker eine lebendige und kritische Erinnerungskultur rund um ihre Vereine entwickelt. Mit Forschungen, Gedenkstättenfahrten und politischer Bildung. Ihr Leitmotiv: „Nie Wieder!“ Teil 9 der Themenreihe: „Fußball und Menschenrechte“.

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

In den vergangenen Tagen sind Stadien, Plätze und Vereinsheime zu Gedenkorten geworden. In Gelsenkirchen putzten Fans des FC Schalke 04 Stolpersteine. In St. Pauli, Mainz oder Freiburg überspannten riesige Banner die Tribünen, darauf war unter anderem zu lesen: „Kein Vergeben, kein Vergessen!“ In Düsseldorf trugen Spieler T-Shirts mit dem Schriftzug „Nie Wieder!“ In Frankfurt, Hamburg oder Osnabrück diskutierten Zeitzeugen, Wissenschaftler und Fans über Vereine im Dritten Reich.

In München arbeitete das Museum des FC Bayern mit dem Stadtarchiv zusammen. Auf Tafeln in der Stadt und am Stadion informierten sie über die 26 Vereinsmitglieder, die in Konzentrationslagern ermordet wurden. Passanten sahen das Klublogo auf den Tafeln, blieben stehen, kamen mit den Mitarbeitern des Museums ins Gespräch. Der Internetsender des FC Bayern drehte einen kurzen Film darüber, inzwischen mit rund 240.000 Aufrufen. Diese Ereignisliste ließe sich lange fortsetzen.

Der Anstoß für den Erinnerungstag kam aus Italien

Lange war der Fußball ein Symbol für die weit verbreitete Ignoranz gegenüber der Geschichte. So wie Ministerien, Unternehmen oder Banken wollten auch der Deutsche Fußball-Bund und die großen Vereine nicht über ihre Rolle im Nationalsozialismus nachdenken. „Doch das hat sich geändert. In nur einem Jahrzehnt ist aus dem Nachzügler ein Vorbild geworden“, sagt Sporthistoriker Lorenz Peiffer, der lange an der Universität Hannover gewirkt und etliche Bücher zum Thema herausgegeben hat, unter anderem: „Hakenkreuz und rundes Leder“ sowie „Sportler im Jahrhundert der Lager“.

Vereine gegen Rechts, Quelle: Archiv Nie Wieder

Peiffer hielt Mitte Januar in Frankfurt am Main einen Vortrag auf einer Konferenz des Bündnisses „Nie Wieder“. Mehr als 200 Zeitzeugen, Aktivisten und Fans diskutierten in Workshops. Die übergeordnete Frage: Welche Rolle kann der Fußball in einer zeitgemäßen Erinnerungskultur einnehmen? In einer Zeit, in der immer weniger Zeitzeugen von ihrem Leid berichten können. Wie schafft man es 74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, dass das Gedenken nicht zum Ritual verkümmert?

Seit nunmehr 15 Jahren stößt das Netzwerk „Nie Wieder“ rund um den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar Aktionen im Fußball an. Und von Beginn an war es eine Bewegung der Basis. Der Anstoß war aus Italien gekommen. Dort hatte Riccardo Pacifici, Präsident der Jüdischen Gemeinde in Rom, Gedenkaktionen in die Stadien gebracht. Aktivisten der Versöhnungskirche Dachau haben diesen Anspruch 2004 und 2005 auf die deutschen Arenen übertragen. Sie mussten viel Geduld aufbringen.

Die Quellenlage der Vereine ist dürftig

Denn nur langsam schenkten Präsidien, Aufsichtsräte und Mitarbeiter der Vereine den geschichtsbewussten Anhängern etwas Aufmerksamkeit. Wichtige Referenzwerke zu Beginn waren die Bücher „Stürmer für Hitler“, 1999 vorgelegt von den Journalisten Gerhard Fischer und Ulrich Lindner, sowie 2002 die Studie von Gerd Kolbe über den „Der BVB in der NS-Zeit“. Es folgten zahlreiche Bücher über Vereine und ihre Verstrickungen im Nationalsozialismus, meist recherchiert und geschrieben von engagierten Fans und Historikern, oft unter Duldung der Klubs, manchmal gegen Widerstände. Der Verlag, der die meisten Bücher zum Thema veröffentlicht: „Die Werkstatt“ mit Sitz in Göttingen.

„Die Quellenlage bei den meisten Vereinen ist dürftig“, sagt Matthias Thoma, der als Leiter des Eintracht-Frankfurt-Museum eine intensive Forschung begleitet. Alte Mitgliederlisten oder Korrespondenzen seien kaum erhalten, und doch gebe es Möglichkeiten für Recherchen: in Stadtarchiven, Amtsgerichtsakten oder historischen Instituten. „Vor 15 Jahren war es etwas Besonderes, wenn Vereine sich der Erinnerungskultur gewidmet haben, heute wird eher der Verein beäugt, der sich dazu nicht äußert“, sagt Thoma, der nur noch wenige Zeitzeugen interviewen kann. Daher werden die biografischen Interviews digital festgehalten.

Dieser Wandel brachte mehr Fans dazu, nach vergessenen Persönlichkeiten zu suchen. Der DFB rehabilitierte Julius Hirsch, einen von zwei jüdischen Nationalspielern seiner Geschichte, ermordet 1943 in Auschwitz. Hirsch wurden Auszeichnungen, Sportstätten und Theaterstücke gewidmet. Die Ultras der „Schickeria“ in München hielten über Jahre die Erinnerung an Kurt Landauer wach, den einstigen jüdischen Aufbauhelfer des FC Bayern. Der Name Landauer prägt nunmehr Turniere und Veranstaltungen, einen Spielfilm, eine Ausstellung, eine Stiftung und eine App. Auch in Nürnberg, Fürth, Mainz und vielen anderen Orten schufen Fans Öffentlichkeit für verfolgte jüdische Mitglieder. Aber immer mehr auch für andere Opfergruppen: Sinti und Roma, Homosexuelle, Andersdenkende. „Mit dem Bezug zu ihrer Leidenschaft Fußball erreichen wir junge Menschen auf einer emotionalen Ebene, die sie woanders seltener zulassen”, sagt Eberhard Schulz, Sprecher und prägender Kopf des Netzwerkes „Nie Wieder“.

Durch das Gedenken begegnen sich Milieus, die sonst nebeneinander leben

Zunehmend ging das Interesse von kleinen Fachkreisen innerhalb der Vereinslandschaft auf andere Bereiche über. Klubs und pädagogische Fanprojekte gingen Partnerschaften mit Gedenkstätten ein. Vor ihren Auswärtsspielen in München besuchen Fangruppen das frühere KZ im nahen Dachau. Über den Bezug zu Sportlern aus Hamburg informiert die KZ-Gedenkstätte in Neuengamme. In Berlin erforschten Hertha-Fans in Archiven das Leben des jüdischen Mannschaftsarztes Hermann Horwitz, die Ergebnisse wurden auch im Stadtmuseum diskutiert. Und die Schalker Fan-Initiative arbeitet für Konzerte, Vorträge und Ausstellungen mit der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen zusammen. „Es ist uns wichtig, dass wir uns nicht nur zu Aktionen treffen, sondern auch darüber hinaus“, sagt Susanne Franke von der Schalker Gruppe. So kommen sich Milieus näher, die sonst mitunter nebeneinander leben.

Eingangstor der KZ-Gedenkstätte Dachau, Quelle: Archiv Nie Wieder

Von den rund sechzig Fanprojekten in Deutschland haben sich fast alle der Erinnerungsarbeit angenommen. Doch mit einem kurzen Besuch in einer Gedenkstätte sei es nicht getan, findet Daniel Lörcher, Abteilungsleiter für Fanangelegenheiten bei Borussia Dortmund. Lörcher hat mehrfach Fans, BVB-Mitarbeiter sowie Fanexperten aus ganz Deutschland auf Gedenkstättenfahrten begleitet. Wichtig sei eine ausführliche Vorbereitung, in der sich die Teilnehmenden aus unterschiedlichen Altersgruppen kennenlernen. „Manche Opferzahlen mögen abstrakt erscheinen, daher möchten wir das Thema über Biografien von Opfern erschließen“, sagt Lörcher. „Wir individualisieren und stellen einen breiteren Kontext her. Wir möchten uns auf den Ort einlassen.“

In einer Umfrage der Wochenzeitung Die Zeit 2010 kam heraus, dass sich mehr als zwei Drittel der Jugendlichen ab 14 Jahren für den Nationalsozialismus interessieren. Allerdings fühlen sich vierzig Prozent genötigt, Betroffenheit zu zeigen. Die Freiwilligkeit der Teilnehmenden sei wichtig, sagt Lörcher, es gehe nicht darum, zu belehren oder eine Schockwirkung zu erzeugen. Ein abschreckendes Beispiel: Der FC Chelsea schickte rund hundert Fans vor kurzem für einen Tagestrip nach Auschwitz. Einige von ihnen hatten bei Spielen antisemitische und rassistische Schmähungen gerufen, so konnten sie ihre Stadionsperren mindern.

Die Täter und Profiteure bleiben im Hintergrund

„Es darf keine Erwartungen an das Empfinden geben“, sagt der Berliner Historiker Andreas Kahrs, der ebenfalls Gedenkstättenfahrten im Fußballkontext didaktisch begleitet. „Das emotionale Aufladen kann zu einer Abkehr vom Thema führen.“ Manchmal wird Kahrs in Workshops gefragt, ob rechte Hooligans auf solchen Reisen „bekehrt“ werden können. „Eine Gedenkstätte, in der Familien an ihre Vorfahren erinnern, sollte man nicht instrumentalisieren.“ Für Diskussionen von Sozialarbeitern mit rechtsoffenen Fans gibt es andere Orte, zum Beispiel das Haus der Wannseekonferenz, wo führende Nazis 1942 den Holocaust organisiert hatten. Und generell müsse man nicht immer in die Ferne streben. In fast jeder Stadt gibt es Erinnerungsorte, historische Museen oder Gedenktafeln.

Die Universität Bielefeld untersucht seit langem die menschenfeindlichen Einstellungen in der Gesellschaft, auch die Verharmlosung des Holocaust. 55 Prozent der Befragten stimmten 2014 folgendem Zitat zu: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“

Was sind die nächsten Schritte in der Erinnerungskultur rund um den Fußball? Es ist das eine, an die Opfer zu erinnern, aber wie sieht es mit den Tätern, Profiteuren und Mitläufern aus? Der DFB gestaltet und fördert mittlerweile viele Gedenkprojekte, insbesondere durch seine Kulturstiftung. Aber zu seinem vierten Präsidenten äußert er sich kaum. Felix Linnemann war als Leiter der Kriminalpolizeileitstelle in Hannover auch an der Deportation von Sinti und Roma beteiligt. Und auch viele Geldgeber sind noch nicht so weit wie „Evonik“, der Hauptsponsor von Borussia Dortmund, der etliche Projekte unterstützt, immer mit dem Verweis zu den Verstrickungen seiner Vorgängerunternehmen im Nationalsozialismus.

Der Historiker Lorenz Peiffer glaubt, dass das Geschichtsbewusstsein im Fußball noch tiefer verankert wird: „In den Verbänden übernimmt eine junge Generation wichtige Posten.“ Vereine wie der HSV und Hertha BSC haben den Ausschluss jüdischer Mitglieder im Dritten Reich nachträglich zurückgenommen. In Frankfurt wird jährlich eine Auszeichnung für Erinnerungsarbeit ausgerufen, ihr Name: „Im Gedächtnis bleiben“. So kommt Cacau, Integrationsbeauftragter des DFB, zu der Schlussfolgerung: „Ich glaube, dass kein Land so offen zu seiner Geschichte steht wie Deutschland. Auch der Fußball hat daran seinen Anteil.“

v.l.: Matthias Thoma, Susanne Franke, Daniel Lörcher, Foto: Ronny Blaschke

Weiterhören: Über Erinnerungskultur im Fußball sprach Ronny Blaschke beim DLF im Sportgespräch mit Matthias Thoma, Susanne Franke und Daniel Lörcher.


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


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Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Ein Vereinsheim in Kreuzberg. An den Wänden hängen Wimpel. Ein Regal biegt sich unter Pokalen. Nebenan klappern Stollenschuhe, es riecht nach körperlicher Verausgabung. Am Kopfende des Raumes sitzt Cacau. Aufgewachsen in Brasilien, Meister mit dem VfB Stuttgart 2007, 23 Länderspiele für Deutschland. Um ihn herum lauschen Jugendliche, einige mit Fluchtbiografie. Cacau berichtet von seiner Ankunft in Deutschland vor zwanzig Jahren. Er absolvierte Probetrainings und landete zunächst in der Landesliga beim SV Türk Gücü in München. „Es war wichtig, Menschen zu haben, dir mir gezeigt haben, wie wichtig die Sprache ist in Deutschland“, sagt Cacau. „Und dass ich auf andere Leute zugehen sollte.“

Cacau hielt sich zunächst an einen Mitspieler, der Italienisch sprach, das klang für ihn zumindest ein bisschen wie Portugiesisch, dann lernte er immer mehr und brachte sich ein. „Meine Mutter hat damals gesagt: Wenn du es nicht packst, dann kannst du zurück nach Hause kommen, das hat mir Sicherheit gegeben. Das ist etwas, was mich deutlich von den Flüchtlingen heute unterscheidet.“ Denn Geflüchtete aus Kriegsgebieten haben diese Sicherheit nicht.

Cacau kam mit 18 Jahren nach Deutschland. Er etablierte sich in der Bundesliga, nahm 2009 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Ein Jahr später zählte er zur multikulturellen Nationalmannschaft, die bei der WM in Südafrika den dritten Platz belegte. Der Deutsche Fußball-Bund ernannte ihn 2010 zu einem seiner Integrationsbotschafter. Nach Beendigung seiner Karriere als Profifußballer 2016 stieg er im Verband auf, wurde alleiniger Integrationsbeauftragter.

Cacau 2016 bei der BMI-Veranstaltung #gemeinsam für ein starkes Deutschland © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Cacau ist viel unterwegs, gibt Interviews, diskutiert auf Podien, besucht Konferenzen. In Hochschulen, Stiftungen und vor allem: bei Vereinen. „Ich lese sehr viel über Integration in Zeitungen und in Büchern. Das hilft mir bei der Meinungsbildung“, sagt er. „Je mehr man recherchiert, desto mehr weiß man, wie hochkomplex das Thema ist.“ Bislang hat Cacau als Integrationsbeauftragter rund sechzig Termine gehabt. Dass ein ehemaliger Nationalspieler mit Migrationshintergrund den Verband politisch repräsentiert, war vor zwanzig Jahren kaum denkbar.

Auch andere ehemalige Profis beteiligen sich an der Migrationsdebatte: Gerald Asamoah oder Hans Sarpei. Von aktuellen Profis war in den vergangenen Monaten wenig zu hören. Der Rücktritt des türkischstämmigen Spielers Mesut Özils aus dem deutschen Nationalteam hat alte Fragen wieder aufgeworfen. Wie ernsthaft sind die Integrationsbemühungen im Fußball? Haben Persönlichkeiten wie Cacau tatsächlich Einfluss? Oder erhält er auch Anfragen, die sich als Showeinlagen herausstellen? Cacau sagt dazu:

„Es gibt schon Menschen, die mich einladen und denken: Ach, da kommt der Promi, der Fußballspieler, und sie sind am Ende begeistert, dass doch auch Inhalte dabei waren. Das ist immer mein Ziel, dass ich nicht nur als Ex-Fußballer wahrgenommen werde, sondern als jemand, der wirklich etwas zu sagen hat.“

Mit Uneindeutigkeiten tut sich der Fußball traditionell schwer

Einige Jahre hat die Erzählung gut funktioniert. Der Fußball – ein Symbol unserer Gesellschaft, in der fast ein Viertel der Menschen einen Migrationshintergrund hat. Und es stimmt ja auch, teilweise: Die Bundesligaspieler stammen aus über fünfzig Nationen, in den Nachwuchszentren haben vierzig Prozent einen Migrationshintergrund. Doch wie sieht es in den Führungsgremien aus? In Vorständen, Aufsichtsräten oder Sportgerichten liegt dieser Anteil weit unter zehn Prozent.

Beim Berliner Fußball-Verband beispielsweise haben von fünfzig Angestellten vier eine Einwandererbiografie, einer von ihnen ist der Betriebswirt Karlos El-Khatib. „Einerseits brauchen wir Vorbilder, die klar gezeigt werden“, sagt er. „Aber das ist nur ein Schritt von vielen. Sich einfach offen zu zeigen, hilft nicht, sondern man muss Personen mit Migrationshintergrund klar ansprechen. Dass auch sie damit gemeint sind, wenn wir Stellen besetzen wollen. Es braucht wirklich ein offensives Zugehen auf die Menschen.“

Karlos El-Khatib ist in Berlin aufgewachsen, sein Vater war in den 1980er Jahren aus Palästina geflüchtet. El-Khatib kam über ein Praktikum zum Berliner Fußball-Verband. Seine Skepsis gegenüber einer vermeintlich homogenen Männerbürokratie verschwand schnell. Er durfte Projekte entwickeln, erhielt eine Festanstellung. Doch in den meisten Gremien kommt es nicht zu solchen Begegnungen. Und so kann kein Verständnis für andere Perspektiven entstehen, sagt Tina Nobis vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, das auch vom DFB gefördert wird: „Wenn wir über Migrationsgesellschaften verhandeln, sprechen wir auch über Uneindeutigkeiten. Also über Möglichkeiten, zu Vielen dazugehören zu können. Viele Vereine haben lange auf das klassische alte Ehrenamt gesetzt. Es gibt diesen Vorstandsvorsitzenden. Und den gibt es halt und gibt es halt und gibt es halt.“

Der DFB hat Ehrenamtliche mit Migrationshintergrund lange vernachlässigt. Und sich erst mit der Flüchtlingsdebatte für das Thema geöffnet: In Preisverleihungen, Broschüren, zuletzt in mehreren großen Konferenzen. Doch nur zögerlich werden die Ideen an der Basis umgesetzt. Viele Vereine nehmen sie als akademische Bevormundung wahr – oder als Alibi aus der Marketingwelt des Nationalteams.

Karlos El-Khatib, Foto: Ronny Blaschke

Der Fußball war immer von Migration abhängig

Der Berliner Fußball-Verband verdeutlicht die Herausforderungen: Es gibt Begegnungsfeste und Sozialpreise. Gegnerische Teams können sich beim „Berliner Freunde-Frühstück“ kennenlernen. Doch Informationen in anderen Sprachen gibt es nicht. In den Ausbildungen für Trainer, Schiedsrichter oder Sportrichter spielt Integration eine Nebenrolle. Praktika oder Mentorenprogramme für Einwanderer wie in den USA oder Großbritannien gibt es nicht. Doch selbst wenn, eine bloße Beteiligung wäre kein Patentrezept, sagt Özgür Özvatan aus dem Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin: „In einigen Fällen wurden Personen mit Migrationshintergrund in Schiedsgerichte berufen. Und die haben großen Druck von Migrantenfußballvereinen erhalten.“ Özgür Özvatan plädiert für Konzepte jenseits von Phrasen und Aktionismus: „Das heißt: Migration und Einwanderung wirklich ernst nehmen.“

So wie Deutschland seit Jahrzehnten eine Einwanderungsgesellschaft ist, so ist der Fußball immer von Migration abhängig gewesen. Der Publizist Hardy Grüne hat diesem Thema eine Titelgeschichte in „Zeitspiel“ gewidmet, einem Magazin für Fußball-Geschichte. Darin beschreibt er auch den ersten Fußballverein auf deutschem Boden, den „English Football Club“, 1874 gegründet in Dresden. „Das waren Briten, die in Dresden gearbeitet oder studiert haben. Das sind also Befruchtungen, die von außen kamen. Eigentlich geht ja alles von Großbritannien aus. Die Wurzeln des deutschen Fußballs kommen aus dem Ausland.“

Ende des 19. Jahrhunderts kamen viele Industriearbeiter aus Polen ins Ruhrgebiet. Noch ihre Kinder und Enkel mussten sich mitunter als „Polacken“ beschimpfen lassen, doch sie prägten ganze Fußballergenerationen, beim FC Schalke 04 zum Beispiel durch Spieler wie Szepan, Kuzorra oder Tibulski. „Die Industrie hat im Ruhrpott schnell erkannt, dass Fußball ein hohes Potential für die Menschen hat“, sagt Hardy Grüne. „Auch um die Menschen an den Stadtteil und den Arbeitsplatz zu binden. Fußball war ein Verbindungsmedium.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten dann mehr als zwölf Millionen Menschen mit deutschen Wurzeln die abgetrennten Ostgebiete verlassen, Schlesien, Ostpreußen oder das Sudetenland. Eine indirekte Folge der Nazi-Gewaltherrschaft. Deutsche flohen zu Deutschen in den Westen, doch willkommen waren sie selten. Landesweit entstanden Aussiedlerklubs, der Fußball half ihnen beim Ankommen. Auch unter den deutschen Weltmeistern von 1954 waren Migranten aus dem Osten: Josef Posipal, Fritz Laband und Richard Herrmann. Die Abneigung der Mehrheitsgesellschaft verschwand bald, denn das Land brauchte Arbeitskräfte.

Die Isolierung der Gastarbeiter wurde auch durch den DFB gestützt

Anders verhielt es sich in den 1960er Jahren. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen 14 Millionen „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik, aus Italien, Spanien, Griechenland und insbesondere aus der Türkei. Die Politik glaubte, dass die Menschen nach getaner Arbeit in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Integrationskonzepte gab es kaum, auch im Fußball nicht, erzählt Hardy Grüne: „Es gab in den Statuten zunächst Absätze, dass keine Ausländer in den deutschen Mannschaften eingesetzt werden durften. Und dann folgte eine Ausnahmeregel, dass man Mannschaften ausschließlich mit Ausländern bilden konnte. Der DFB hat diese Spieler isoliert und ist erst in den 1970er Jahren aufgewacht. Aber da hatten sich schon Parallelstrukturen verfestigt.“

Die Folgen der fehlenden Konzepte in Politik und Zivilgesellschaft werden noch lange spürbar sein: Ein Drittel der ehemaligen Gastarbeiter über 65 Jahren ist heute von Armut bedroht. Bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund liegt dieser Anteil bei zwölf Prozent. Im Sport stehen häufig die 500 Vereine im Fokus, die von Migranten gegründet wurden. Die bekannteren von ihnen: Früher der SC Lupo in Wolfsburg, heute Türkiyemspor in Berlin oder Türk Gücü in München. Oft sind diese so genannten „ethnischen“ Vereine Ziel von Kritik: Sie würden die gesellschaftliche Abschottung festigen, heißt es. „Wenn wir die einzige Linie für Gleichheit entlang des Migrationshintergrundes ziehen, dann tragen wir auch zur Grenzziehung bei“, sagt die Migrationsforscherin Tina Nobis.

„Wenn Migrantensportvereine segregativ sind, dann sind auch Seniorensportvereine und Frauensportvereine segregativ.“

Tina Nobis

Vergemeinschaftung und Identifikation, glaubt Nobis, finde zunehmend in lokalen kleinen Räumen statt. Nicht nach dem Motto: Ich fühle mich Deutsch. Sondern: Ich fühle mich als Berliner. Oder als Kreuzberger.

Migrantenvereine haben gerade in Ballungsgebieten mitunter einen schlechten Ruf. Spieler mit Einwandererbiografie sind überdurchschnittlich oft an Spielabbrüchen beteiligt. Sie werden aber auch häufiger provoziert und diskriminiert. Vor Sportgerichten werden sie mitunter härter bestraft als Spieler ohne Migrationshintergrund. In Verbänden hören sie immer wieder, dass sie sich eingliedern sollen, dabei ist Integration ein wechselseitiger Prozess. Die Konsequenzen: Etliche Migranten fühlen sich auf ihre Wurzeln reduziert. Sie ziehen sich zurück ins eigene Milieu oder ändern ihren Vereinsnamen. Aus Galatasaray Berlin wurde der Rixdorfer SV, aus Samsunspor der FC Kreuzberg.

Silvester Stahl von der Fachhochschule für Sport und Management in Potsdam beschäftigt sich seit Jahren mit Migrantenvereinen und plädiert dafür, diese auch mit Einrichtungen außerhalb des Sports zu vergleichen: „Zum Beispiel mit Kulturvereinen, mit politischen Organisationen, mit Elternvereinen oder religiösen Gruppen wie den Moscheevereinen. Und in diesem Vergleich schneiden sie außerordentlich gut ab. Weil sie in aller Regel auf die Strukturen der Aufnahmegesellschaft bezogen sind, nämlich auf die Landesfußballverbände. Weil sie am allgemeinen Spielbetrieb teilnehmen und eine Brückenfunktion ausüben.“

Vereine halten an Traditionen fest, die Migranten auch abschrecken können

Und jenseits der Amateurebene? Frankfurt, Stuttgart oder Köln sind Städte, in denen mehr als ein Drittel der Einwohner einen Migrationshintergrund haben. Doch in den Fankurven ihrer Profivereine spiegelt sich diese Vielfalt nicht wieder. Repräsentative Studien gibt es nicht, doch lokale Forschungen legen nahe: Bei den Ultras, den besonders leidenschaftlichen Anhängern, haben maximal zwei Prozent eine Einwandererbiografie. Die Vorliebe für einen Fußballverein wird vererbt, heißt es oft, durch Familien und Freundeskreise. Das gilt für junge Menschen, die fürs Studium aus Dortmund nach München ziehen, und weiter die Borussia unterstützen. Das betrifft auch Jugendliche, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei stammen. Und die ihre Leidenschaft für Beşiktaş oder Galatasaray Istanbul über Generationen weitertragen.

Viele von ihnen fühlen sich mit zwei Ländern verbunden. Doch eine solche Mehrfachzugehörigkeit ist im Fußball kaum möglich, sagt der Berliner Fanforscher Robert Claus, denn dort herrsche Bekenntniszwang. „Es gibt keinen Ultra, der Ultra von zwei Vereinen ist. Das kann es gar nicht geben per Definition, weil man laut Eigenverständnis bis in den Tod seinem Verein die Treue hält. Eine ähnliche Logik liegt hinter Nationalismus. Die Idee, dass ich entweder Deutscher oder Türke bin, und eigentlich irgendwas dazwischen laut nationalistischer Logik kaum sein kann, weist eine starke strukturelle Parallele zu Fan-Denken auf.“

Es gibt keine Debatte über die eher homogenen Fankurven. Nicht in den Vereinen, nicht in der Wissenschaft, nicht mal in den pädagogischen Fanprojekten.

Die ersten beiden Ligen vermelden regelmäßig Zuschauerrekorde, also sind die Vereine nicht wirklich auf neue Kunden angewiesen. Doch Carsten Blecher, Mitarbeiter des Kölner Fanprojekts, möchte deutlich machen, wie wichtig eine gesellschaftliche Öffnung wäre. In Forschungen an der Universität Siegen zeigt er, dass die Klubs durchaus einen Querschnitt der Gesellschaft anziehen, was Altersspanne oder Bildungshintergrund angeht. Doch in kulturellen Fragen seien die Klubs ungewollt abschreckend. „Es gibt eine Fußballkultur, die lokal oder vielleicht auch national geprägt ist“, sagt Blecher und nennt als Beispiel das Kulinarische: „Bier und Bratwurst, Gesänge oder auch Vereinshymnen, mit denen sich jetzt auch nicht jeder direkt identifizieren kann. Man bleibt dann doch unter sich, weil man an bestimmten Traditionen festhält. Und möglicherweise gar nicht mitbekommt, dass sich die Gesellschaft verändert. Und man darauf gar nicht reagiert als Klub.“ Carsten Blecher hat bei Heimspielen des 1. FC Köln Fragebögen verteilt und später ausführlich mit Fans gesprochen. Eine junge Frau mit türkischen Wurzeln sagte ihm, dass sie sich in den Stadien nicht wohl fühle. Denn dort, „würden die Deutschen unter sich bleiben“ wollen.

Rechte Hooligans pflegten das „Ausländer-Klatschen“

Zudem spielt die Geschichte der Fankultur eine Rolle, zu der stets Provokation und Diskriminierung gehörten. Der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling sieht einige Ursachen für die Feindseligkeit gegenüber Migranten bereits in den 1970er Jahren. „Wir setzten uns für ihre Belange ein, als es um ihre miserablen Wohnungen ging, aber wir kannten sie eigentlich gar nicht“, sagt Schulze-Marmling, der damals viele Spiele von Borussia Dortmund verfolgt hat. „Ausländer und Türken waren für viele Menschen ein Synonym. Das manifestierte sich auch im Stadion. Ich kann mich eigentlich an kein Spiel erinnern, in dem nicht irgendein Spruch gegen die Türken kam. Obwohl keine Türken auf dem Spielfeld waren, und nur sehr wenige auf den Tribünen. Rassismus war absolut präsent.“

Vor allem in den 1990er Jahren machten rechte Hooligans dann regelmäßig Jagd auf Migranten – so genanntes „Ausländer-Klatschen“. In den Stadien wurden gegnerische Spieler als „Asylanten“ bezeichnet, schreibt Dietrich Schulze-Marmeling in seinem aktuellen Buch, Titel: „Der Fall Özil“. Er sagt: „Ich glaube, dass die Anschläge gegen türkischstämmige Menschen in Mölln oder Solingen in den Neunziger Jahren bis heute nachwirken. Auch die Morde des NSU haben tiefe Spuren hinterlassen. Und dann der Umgang des Staates damit: die mangelnde Sensibilität und Empathie von uns, der Mehrheitsgesellschaft. Das hat bei der türkischen Community Einstellungen verändert, die sich uns komplett entzogen haben.“

Nun, in Zeiten des erstarkenden Rechtspopulismus könnten Bundesligaklubs offensiv auf migrantisch geprägte Kieze zugehen, findet der Forscher Robert Claus, doch oft seien ihnen solche Projekte zu kleinteilig. Die Wachstumspläne zielen eher auf Asien oder Amerika. Trotzdem gibt es Bildungsinitiativen wie „Lernort Stadion“, die intensiver über Fußball und Migration diskutieren wollen. Im Umfeld von Hertha BSC kommt der Ethnologe Söhnke Vosgerau mit Jugendlichen ins Gespräch. Auch über Rituale der Fankultur. „Es gibt kaum eine andere Jugendkultur, die so beständig ist“, sagt Vosgerau. „Und genauso beständig sind auch einige Zugangsvoraussetzungen. Die stellen für viele Menschen mit Migrationshintergrund eine Hürde dar. Und sie sind auch vielleicht gar nicht attraktiv. Es wird eine sehr große Loyalität und ein großer Einsatz gefordert. Das heißt, da muss man sich bewähren. Da muss man Leute kennen, die da schon dabei sind. Und das führt dazu, dass diese Gruppen relativ geschlossen sind.“

Mehr als 70.000 Flüchtlinge in deutschen Vereinen

Viel ist seit der heimischen Weltmeisterschaft 2006 beim DFB entstanden: Konferenzen, Integrationspreise, Broschüren. Doch noch immer gibt es Fans, die sich beschweren, wenn Nationalspieler mit Migratonshintergrund die Hymne nicht mitsingen. Noch immer gibt es Vereinsvertreter, die Traditionen von Einwanderern zurückweisen, ihre Feiertage oder Fastenzeiten.

Wissenschaftler wie Özgür Özvatan wünschen sich ein Forum für Migrantenorganisationen, organisiert durch den DFB. In dem man Erfahrungen austauschen und Ideen entwickeln kann. „Repräsentanz ist ein zentraler Begriff“, sagt Özvatan.

„Ich glaube auch, dass wir in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren den ersten Nationalspieler oder die erste Nationalspielerin mit Fluchterfahrung erleben werden, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind.“

Özgür Özvatan

Seit 2015 sind mehr als 70.000 Flüchtlinge in deutschen Vereinen angekommen. Manchmal haben sie dort schrumpfende Jugendabteilungen am Leben gehalten. Aber reicht das? Laut den Vereinten Nationen leben weltweit fast 260 Millionen Menschen nicht mehr in ihrem Geburtsland, ein Anstieg von fünfzig Prozent gegenüber dem Jahr 2000. Knapp siebzig Millionen Menschen sind auf der Flucht. Wirtschaft und Kommunikation sind längst globalisiert. Macht es da noch Sinn, wenn im Fußball Nationen gegeneinander antreten? Getrennt durch Flaggen, Hymnen und patriotische Gesänge? Warum können Spieler, die sich mehreren Ländern verbunden fühlen, nicht für mehrere Nationen spielen, fragt Özgür Özvatan: „Momentan ist es undenkbar. Aber es könnte ja auch sein, dass ein Spieler bei einer EM für Frankreich spielt und bei der nächsten WM für Spanien. Natürlich muss das alles reguliert werden. Aber die nationalstaatliche Regel von heute war auch einmal undenkbar gewesen. Ich glaube, dass wir an einem historischen Moment sind. Es wird wahrscheinlich zäh werden. Und es wird wieder völkische Bewegungen geben, die sich ethnisch zusammengesetzte Nationalteams wünschen. Aber die sind nicht mehr zeitgemäß.“

Cacau oder Gerald Asamoah, Mesut Özil oder Jérôme Boateng, Sami Khedira oder Leroy Sané: Immer wieder wurden Nationalspieler diskriminiert, auf den Tribünen oder in sozialen Medien. Wenn das Nationalteam erfolgreich spielte, wurde der Rassismus in den Medien kaum diskutiert. Seit dem frühen Scheitern bei der WM 2018 in Russland ist das anders. Darin liegt eine Chance, auch mit Blick auf die Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Eine Chance für Aufklärung. Und ein tatsächliches Problembewusstsein.

Weiterhören: Zum Thema Migration im und durch Sport hat Autor Ronny Blaschke die 8-teilige Podcast-Reihe “Doppelpässe” für den Deutschlandfunk aufgezeichnet.


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


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Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Es ist ein Derby, doch von Feindseligkeit ist nichts zu spüren. In Eibar, 27.000 Einwohner, der kleinsten Erstligastadt des spanischen Fußballs, scheinen alle auf den Beinen zu sein. Der große baskische Bruder ist zu Gast: Athletic Bilbao. Auf dem Marktplatz am Rathaus stehen die Fans seit Stunden vor den Tavernen, mit Blaskapelle und bei Sonnenschein, reden und lachen miteinander. In manchen Familien sind die Trikots beider Teams zu sehen, Bilbao liegt vierzig Autominuten von Eibar entfernt.

Fanshop in Eibar, Quelle: Ronny Blaschke

Einen Kilometer weiter auf dem Hügel donnern die Gesänge durch das kleine Stadion. „Aúpa, Eibar“, vorwärts. Unter das Heimpublikum haben sich überall Fans von Athletic gemischt, einige tragen über ihrem rotweiß gestreiften Trikot die Ikurriña, die Flagge des Baskenlandes. Das grüne Andreaskreuz symbolisiert ihren Wunsch nach Unabhängigkeit. Am Stadiondach ist ein Schriftzug angebracht, ins Deutsche übersetzt: „Ein anderer Fußball ist möglich.“ Die baskischen Klubs halten zusammen, auch wenn sie gegeneinander spielen.

Eine Woche später, 600 Kilometer östlich. Im Camp Nou steht vor 93.000 Zuschauern „El Clásico“ auf dem Programm, der FC Barcelona empfängt Real Madrid. Auf den Stehplätzen schauen Fans auf die Uhr. Nach 17 Spielminuten und 14 Sekunden rufen sie mit Inbrunst „Independencia“. Dieses Ritual erinnert an das Jahr 1714. Im Erbfolgekrieg unterlagen die katalanischen Truppen dem Heer der Bourbonen, Barcelona wurde in den Zentralstaat eingegliedert.

Die Rufe nach Unabhängigkeit sind gegen die „Königlichen“ aus der Hauptstadt lauter als gegen andere Vereine. Aus Sicht der Barça-Fans symbolisiert Real Madrid den Zentralstaat, die Monarchie und vor allem: die dunkle Vergangenheit. Bis 1975 hatte Diktator Francisco Franco fast vier Jahrzehnte über Spanien geherrscht. Bei wichtigen Partien zeigen die Fans politische Transparente, nun auch im Clásico: „Nur Diktaturen sperren friedliche Politiker ins Gefängnis.“ Ein Kommentar zur Verhaftung katalanischer Mandatsträger, die 2017 ein Referendum zur Unabhängigkeit durchgeführt hatten. Viele Barça-Anhänger sehen sich als Verteidiger ihrer kulturellen Heimat. Stolz tragen sie die gelbrot gestreifte „Estelada“, die Flagge für die angestrebte Unabhängigkeit Kataloniens.

Drei Vereine sind nie abgestiegen: Real, Barça und Athletic Bilbao

Spanien ist eines der vielfältigsten Länder Europas. Seine 17 autonomen Gemeinschaften haben regionale Parlamente und Regierungen. Aber im Gegensatz zu den deutschen Bundesländern sind ihre Befugnisse und Kompetenzen höchst unterschiedlich. Ihre Selbstverwaltung und kulturellen Unterschiede haben sich über Jahrhunderte herausgebildet, doch Franco ließ Eigenständigkeiten brutal unterdrücken. Er zentralisierte den Staat, verbot Symbole und Sprachen.

Die Folgen sind noch heute spürbar: In einigen Landesteilen streben Menschen nach Unabhängigkeit, etwa im Nordwesten in Galicien, im Norden im Baskenland, im Nordosten in Katalonien. In politisch unruhigen Jahren ist das Thema Abspaltung auch für andere Bevölkerungsgruppen in Europa wieder aktuell: für Schotten in Großbritannien, für Flamen in Belgien, für Südtiroler oder Sarden in Italien. Die Ursachen sind komplex, doch so emotional wie in Spanien geht es wohl in keinem anderen Land zu. Das zeigt auch der Fußball, wie dieser Text am Beispiel zweier Städte verdeutlichen soll: Bilbao und Barcelona. In Regionen, in denen sich Zuneigung auch an der Herkunft der Spieler bemisst.

Die Leinwand an der Außenfassade von San Mamés ist schon aus der Ferne zu sehen. Das neue Stadion von Athletic wurde neben das alte gebaut und 2013 eröffnet, mitten in Bilbao. Der junge Tourguide Pablo führt an diesem Nachmittag 16 Gäste durch die Arena. Zu Beginn erläutert er das Alleinstellungsmerkmal: Athletic spielt seit 1912 ausschließlich mit baskischen Spielern. Das Motto: „Con cantera y afición, no hace falta importación”, mit einheimischen Talenten und lokaler Unterstützung brauchen wir keine Importe. Pablo formuliert es so: „Der Verein symbolisiert unsere Werte: Ehrgeiz und Heimatverbundenheit.“ Sein Idol ist Julen Guerrero. Der Mittelfeldspieler war 24 Jahre für Athletic aktiv, im Nachwuchs und bei den Profis. Einer seiner Verträge war auf zehn Jahre datiert, lukrative Angebote lehnte er ab. Nur drei Klubs sind nie aus der 1928 gegründeten Primera División, der höchsten spanischen Spielklasse, abgestiegen: Real Madrid, Barça und Athletic Bilbao.

Das neue San Mames, Quelle: Euskaldunaa, CC BY-SA 3.0, from Wikimedia Commons

Ein ehemaliger Fußballer wurde erster Präsident des Baskenlandes

Im Vereinsmuseum drei Etagen tiefer beginnt der Rundgang vor einer breiten Videowand. Eine Dampflok scheppert durchs Bild. Hochöfen, Fabrikschornsteine, hart arbeitende Männer. Aus den Lautsprechern dröhnen Hammerschläge und Schiffssirenen. Das Museum erinnert an das späte 19. Jahrhundert, als Bilbao mit seinen Werften und Minen zu den wichtigsten Industriestandorten zählte. Die wirtschaftlich aufblühende Hafenstadt war auch im Ausland attraktiv. Es waren britische Einwanderer, die 1898 Athletic gründeten, mit einem englischen Klubnamen.

Konservative Basken betrachteten den Fußball als Gefahr. Sie hatten Sorge, dass die Jugend den Kirchen fernbleiben würde, stattdessen bevorzugten sie das baskische Spiel Pelota. Das änderte sich: Unabhängigkeitsbefürworter nutzten auch die Vernetzungskraft von Athletic, um in den 1930er Jahren mehr Autonomie zu erstreiten. 1936 wurde José Antonio Aguirre, ein ehemaliger Athletic-Spieler, erster Präsident des Baskenlandes. Aguirre veranlasste den Aufbau eines baskischen Nationalteams, als Botschafter einer möglichen Loslösung von Spanien.

„Gloria y guerra“, Glanz und Krieg, mit dieser Zeile ist der Spanische Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1939 im Athletic-Museum überschrieben. In der Vitrine sind Plakate, Eintrittskarten und ein geflickter Lederball ausgestellt. „Es ist schwer, für diese Zeit Erinnerungsstücke zu finden“, sagt Asier Arrate. Der Museumsdirektor hat früher als Geschichtslehrer gearbeitet. In den vergangenen Jahren suchte er Flaggen, Trikots, Dokumente und Briefe. „Es gab über Jahrzehnte kein wirkliches Archiv“, sagt Arrate. „Es ist eine baskische Tradition, mit Erzählungen an die Geschichte zu erinnern und weniger mit Gegenständen.“

Museumsleiter Asier Arrate, Quelle: Ronny Blaschke

Asier Arrate befragt Zeitzeugen, archiviert Objekte, plant Kooperationen mit Schulen. Das 2017 eröffnete Museum stellt Fans und Mitglieder in den Mittelpunkt, es ist modern, ohne beliebig zu wirken. Es soll nicht nur Kluberfolge auflisten, sondern mit Hilfe von Athletic die Geschichte Bilbaos abbilden. Dazu gehören Enttäuschungen und Widersprüche. So waren bei Athletic auch etliche Anhänger von Franco aktiv. Der Diktator verbot ausländische Vereinsnamen – aus Athletic wurde Atlético. Die baskischen Wurzeln gerieten in den Hintergrund.

Der Vereinschef von Barça wurde von Francos Truppen erschossen

Klaus-Jürgen Nagel lehrt an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, Quelle: Ronny Blaschke

„Das ganze Stadion ist ein Schrei“, so beginnt die Vereinshymne des FC Barcelona. „Es ist egal, wo wir herkommen.“ Der Gründer hatte jedoch mit Katalonien wenig zu tun. Der Schweizer Hans Gamper hatte 1896 schon den FC Zürich gegründet. Sein Onkel besorgte ihm Arbeit in Barcelona, und so baute er dort 1899 einen weiteren Verein auf: den Football Club Barcelona. „Das erste Vereinsstatut war auf Deutsch, in der Mannschaft waren vor allem ausländische Spieler“, erzählt der Politikwissenschaftler Klaus-Jürgen Nagel, der seit bald zwanzig Jahren an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona lehrt, auch mit Interesse für Fußball. „Barça half vielen spanischen Binnenmigranten bei der Integration in die katalanische Gesellschaft.“

Seit 1923 regierte in Spanien Miguel Primo de Rivera in einer Militärdiktatur. Der General beschnitt die historischen Sonderrechte Kataloniens und drängte regionale Kulturgüter zurück, erläutert Julian Rieck, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin. Rieck führt den Fußball als Beispiel an: Bei einem Freundschaftsspiel des FC Barcelona 1925 spielte eine Marinekapelle erst die englische, dann die spanische Hymne. Im Stadion Les Corts, dem Vorläufer des Camp Nou, beklatschten die Zuschauer die englische Hymne demonstrativ, die spanische pfiffen sie aus. Daraufhin wurde dem FC Barcelona für ein halbes Jahr der Spielbetrieb untersagt, sein Stadion wurde geschlossen. Hans Gamper musste das Land vorübergehend verlassen.

Noch schwieriger wurde es während des Bürgerkrieges. Barças Vereinschef Josep Sunyol, Mitglied der Unabhängigkeitspartei ERC und Gründer des Sportmagazins „La Rambla“, wurde von Francos Truppen erschossen. Die Mitgliederzahl sank, der Klub stand vor dem Ruin. Die Mannschaft trat für Ticketeinnahmen in Amerika auf, drei Viertel der Spieler blieben im Exil. 1938 wurde das Gelände des FC Barcelona beschossen. Nach der Machtübernahme Francos musste die katalanische Symbolik aus dem Wappen weichen. Der Name wurde hispanisiert: in Club de Fútbol Barcelona. 1943 gewann Barça im Pokalhinspiel gegen Real Madrid 3:0. Vor dem Rückspiel sollen Polizisten die Barça-Spieler eingeschüchtert haben – Real gewann 11:1.

Real Madrid sicherte der Diktatur Prestige, Einnahmen und Kontakte

Ereignisse werden zu Mythen und prägen Identität. Noch heute begründen viele Katalanen ihre Abneigung gegen Madrid und die Zentralregierung mit den Geschehnissen vor mehreren Jahrzehnten. Wohl niemand fand dafür so große Worte wie der in Barcelona geborene Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán. Für ihn war Barça „die unbewaffnete Armee Kataloniens“ und eine „republikanische und laizistische Religion“. In einer Zeit, in der katalanische Geschichte und Sprache nicht gepflegt werden durfte, beschrieb Montalbán das Camp Nou als Sammelbecken für Unabhängigkeitsgefühle: Mit Taschentüchern in katalonischen Farben, auch mit Protestrufen gegen das Regime. Schon 1960, fünfzehn Jahre vor Francos Tod, formulierte Barça die Neujahrgrüße in der Vereinszeitung auf Katalanisch.

Sid Lowe schreibt für den Guardian über den spanischen Fußball, Quelle: Ronny Blaschke

War der FC Barcelona Opfer der Diktatur und Real Madrid ihr Profiteur? Sid Lowe schüttelt energisch den Kopf: „Es gab nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch Widersprüche, die Fans heute schwer aushalten können.“ Der Engländer Lowe lebt in Madrid und berichtet für die britische Zeitung „The Guardian“ über den spanischen Fußball, für seine Doktorarbeit hatte er sich mit dem Spanischen Bürgerkrieg beschäftigt. „In der Diktatur war es oft schwer, die Grenze zwischen Regime-Anhängern, Mitläufern und Widerständlern zu ziehen. Wer im Fußball an die Spitze wollte, der musste sich unterordnen, sonst drohte die Entlassung.“

„Fear and Loathing in La Liga“, so heißt das 2012 veröffentlichte Buch von Sid Lowe über die Rivalität zwischen Barça und Real Madrid, es ist auch eine spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts geworden. Darin schreibt Lowe über die franquistischen Statthalter beim FC Barcelona. Das Regime ließ den Verein gewähren, um sozialen Spannungen entgegen zu wirken. Francesc Miró-Sans, langjähriger Barça-Präsident, arrangierte sich mit Franco und vernetzte sich mit Real Madrid. Einige Fans wollten ihr neues Stadion nach Gründer Hans Gamper nennen, die Politik lehnte ab. Der Name blieb unverfänglich: Camp Nou, neues Spielfeld.

Von den Vereinten Nationen war Spanien als faschistischer Staat eingestuft worden, nur wenige Länder akzeptierten diplomatische Beziehungen mit Franco. 1948 untersagte das spanische Außenministerium dem Nationalteam Länderspiele gegen nichtbefreundete Nationen. Bei der Europameisterschaft 1960 verbot Franco der Nationalelf eine Reise zum Viertelfinale nach Moskau, aus Sorge vor einem Auftrieb linker Strömungen auf der iberischen Halbinsel.

In dieser Zeit sicherte Real Madrid der Regierung Prestige und Einnahmen, schreibt der Historiker Julien Rieck. Mit internationalen Spielern wie dem Exil-Ungarn Ferenc Puskás oder dem in Argentinien geborenen und später eingebürgerten Alfredo Di Stéfano entstand „der Anschein eines freien und weltoffenen Landes“. Santiago Bernabéu, zwischen 1943 und 1978 Reals Präsident, brachte auf der Ehrentribüne Vertreter aus Politik, Monarchie und Justiz zusammen. Und bei Europokalspielen knüpfte er Kontakte in Ländern, die diplomatische Beziehungen zu Spanien ablehnten. Der Niederländer Johan Cruyff entschied sich 1973 gegen Real und für einen Wechsel nach Barcelona. Er sagte, er könne nicht für einen Verein spielen, der mit Franco in Verbindung gebracht wird.

Athletic als emotionale Kulisse für baskische Tradition

Mikel Burzako (links) und José Maria Etxebarria von der PNV, Quelle: Ronny Blaschke

José Maria Etxebarria lehnt sich vor auf den Konferenztisch, wenn er an das Ende der Diktatur denkt, er spricht lauter und schneller. Etxebarria arbeitet für die PNV, die baskische nationalistische Partei, gegründet 1895. In seiner Jugend, kurz vor Francos Tod, spielte Athletic einmal mit Trauerflor, offiziell im Gedenken an ein gestorbenes Vereinsmitglied – tatsächlich aus Protest gegen Todesurteile.

Etxebarria berichtet auch von einem baskischen Derby, das er als 1976 verfolgt hat. Vor dem Anpfiff steckten die Kapitäne aus Bilbao und San Sebastián, José Ángel Iribar und Ignacio Kortabarria, die Flagge des Baskenlandes in den Anstoßpunkt. „Dieses Bild kennt heute jedes Kind in Bilbao“, sagt Etxebarria. „Das war wie eine Wiedererweckung, denn vierzig Jahre waren unsere Symbole verboten.“

1976 tragen die Kapitäne von Athletic und San Sebastián die baskische Fahne, Quelle: Argia.eus, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die PNV, der Partido Nacionalista Vasco, ist die einflussreichste Partei im Baskenland. Ihr übergeordnetes Ziel ist die Trennung von Spanien, dabei vertritt sie gemäßigte konservative Positionen. Die PNV war stets um gute Kontakte zu den baskischen Vereinen bemüht, etliche ihrer Spitzenkräfte waren in Vorständen aktiv. So war es vor der Diktatur – und erst recht danach: Athletic nutzte nun wieder den englischen Klubnamen. 1977 übernahm der PNV-Politiker Jesús María Duñabeitia das Präsidentenamt. Baskische Sänger und Tänzer traten wieder selbstbewusst im Stadion auf.

Immer mehr Vereinsmitglieder unterstützten das Werben um Autonomie. Mit Erfolg: Baskisch wurde als eine Nationalität festgelegt und neben Spanisch zur Amtssprache erhoben. Durch neue Selbstverwaltungsrechte konnte sich das Baskenland finanziell und infrastrukturell besser entwickeln als andere Regionen. Der Fußball, so das Narrativ, lieferte die emotionale Begleitkulisse. „Athletic brachte Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammen“, sagt José Maria Etxebarria. „Jung und alt, Links und Rechts.“

Die Terrorgruppe ETA vereinnahmte den Fußball

Real Sociedad aus San Sebastián gewann 1981 und 1982 die spanische Meisterschaft, Athletic Bilbao in den beiden Jahren darauf. Politik und Wirtschaft deuteten diese vier baskischen Titel als Mutmacher, denn die Region kämpfte mit zunehmender Arbeitslosigkeit und einem starken Rückgang an Industrie. In den Vororten litten viele Jugendliche an Heroinsucht. 1984 standen mehr als eine Million Menschen an den Flussufern von Bilbao, als ihre Meister auf einer Barkasse Richtung Innenstadt schipperten. Insgesamt hat die Autonome Gemeinschaft Baskenland nur 2,2 Millionen Einwohner.

Auf diese Triumphbilder stößt man in Bilbao häufig, ob in Tourismusbüros oder im Museum der schönen Künste, doch eine andere Strömung des Nationalismus wird eher verdrängt: Euskadi Ta Askatasuna, Baskenland und Freiheit, kurz: ETA. Die Untergrundorganisation tötete zwischen 1959 und ihrer Auflösung 2018 rund 830 Menschen. Und sie vereinnahmte auch den Fußball: Im Januar 1986 entführte die ETA den Unternehmer Juan Pedro Guzmán, ein Vorstandsmitglied von Athletic, Tage später wurde er wieder freigelassen. Zudem verschickte sie Erpresserbriefe an wohlhabende Basken, auch an Bixente Lizarazu, geboren auf der französischen Seite des Baskenlandes. Der Vorwurf der ETA: Als Nationalspieler habe er sich für eine „feindliche Nation“ entschieden, für Frankreich. Sie forderte von Lizarazu eine „Revolutionssteuer“, um seine Familie „vor Konsequenzen zu schützen“. Sie erhielt Polizeischutz.

Die ETA hatte einige hundert Mitglieder, aber Zehntausende Sympathisanten. Daher wägten Institutionen Stellungsnahmen genau ab. Auch auf den Tribünen von Athletic forderten Fans mitunter die Freilassung von inhaftierten ETA-Kämpfern, manche mit deren Logo, einer Axt, um die sich eine Schlange windet. Zwischen die lauten Fangesänge mischten sich vereinzelte Rufe: „Lasst uns einen Spanier töten“. Im März 2008 veranlasste Athletic eine Schweigeminute für Isaías Carrasco, der baskische Sozialdemokrat war zwei Tage zuvor ermordet worden. Ein Teil des Publikums störte die Stille mit Pfiffen. „Das waren kleine Minderheiten“, sagt Mikel Burzako von der Partei PNV. „Athletic war selbst in hitzigen Zeiten ein Ort der friedlichen Begegnung. Auf Fußball konnten sich alle einigen. So wird es immer sein.“

Der Katalane Oleguer Presas lehnte eine Berufung ins Nationalteam ab

Ernest Pujadas achtet weniger auf diplomatische Worte. Für das Interview hat er eine rustikale Taverne in der Nähe des Camp Nou vorgeschlagen. Pujadas ist Fan des FC Barcelona, seitdem er denken kann. Er kann sich gut an seinen ersten Clásico im Jahr 2000 erinnern. Er war sechs Jahre alt, saß auf dem Schoß seines Vaters, daneben sein Großvater. Es war die Saison, in der die einstige Barça-Ikone Luís Figo ins Camp Nou zurückkehrte, im Trikot von Real Madrid. Ernest Pujadas hat die ohrenbetäubenden Pfiffe noch in den Ohren. Geldstücke flogen aufs Feld, Handys, Steine, sogar ein Schweinekopf.

Ernest Pujadas gehört zur Fangruppe „Penya Almogàvers“, Quelle: Ronny Blaschke

Seine Fansozialisation durchlebte Ernest Pujadas Anfang des Jahrtausends, als aus dem katalanischen Nationalismus eine Unabhängigkeitsbewegung wurde, unterstützt durch den Anwalt Joan Laporta, der dem FC Barcelona zwischen 2003 und 2010 als Präsident vorstand. Laporta setzte sich für einen eigenen Staat ein und wertete die katalanische Sprache im Vereinsleben auf. Seine Fans skandierten: „Laporta president – Catalunya independent.“ Und er fand in Teamkapitän Carles Puyol einen prominenten Unterstützer. Dessen Kollege Oleguer Presas lehnte 2006 eine Berufung ins spanische Nationalteam ab. Das gefiel auch der Familie von Ernest Pujadas. Seine Großeltern erzählten ihm, wie sie unter Franco gelitten hatten, das Camp Nou jedoch war ein Rückzugsort.

„Wir können Fußball und Politik in Barcelona nicht trennen“, sagt Ernest Pujadas. Seit seinem 18. Lebensjahr verfolgt er Heimspiele auf den Stehrängen der Nordtribüne. Er ist ein prägender Kopf der wohl einflussreichsten Fangruppe, der „Penya Almogàvers“, gegründet 1989, mit nunmehr 600 Mitgliedern. Sie gestalten Choreografien, der harte Kern ist bei jedem Auswärtsspiel dabei. Pujadas hat zwei Jahre als Taktgeber in der Kurve getrommelt, zwei Spiele pro Woche, er hat Blasen an der Hand bekommen und konnte kaum noch schreiben. Nun pflegt er die sozialen Medien der Fangruppe und sagt: „95 Prozent unserer Mitglieder sind für die Unabhängigkeit Kataloniens, dafür setzen wir uns sein. Diese Haltung wünschen wir uns auch von neuen Mitgliedern.“

Am Tag des Referendums spielte Barça vor leeren Rängen

Ernest Pujadas hat Politikwissenschaften studiert, er ist viel gereist in der Welt, schaut gern amerikanische Politserien. Für die Separatisten hat er Flugblätter verteilt, auch für Gesprächsrunden und Solidaritätskonzerte geworben. Er nahm an dutzenden Demonstrationen teil, trug dabei gern sein altes Barça-Auswärtstrikot in den katalanischen Farben und schwenkte die Estelada. So auch im September 2017 beim Auswärtsspiel in Girona. Carles Puigdemont, der damalige Präsident der Autonomen Gemeinschaft und ehemalige Bürgermeister von Girona, wurde auf der Ehrentribüne gefeiert. Tausende Zuschauer riefen: „Wir stimmen ab!“

Am 1. Oktober 2017 hielt die Regionalregierung ein Referendum zur Unabhängigkeit ab – gegen das ausdrückliche Veto des spanischen Verfassungsgerichtes. Die Militärpolizei Guardia Civil wollte die Abstimmung verhindern und ging brutal gegen die Beteiligten vor. Die Bilder gingen um die Welt, hunderte Menschen wurden verletzt. Ernest Pujadas half in seiner Heimatstadt Malgrat, achtzig Kilometer von Barcelona entfernt, bei der Organisation des Referendums. Fünfmal schritt die Polizei im Wahllokal ein, es gab zehn Verletzte. „Ich wollte, dass meine Familie und Freunde sicher abstimmen können. Ohne Angst um ihre Gesundheit.“ 3.000 Menschen votierten in den Räumen der Schule, 87 Prozent für die Unabhängigkeit.

Pujadas telefonierte an jenem Tag dutzende Male, anfangs mit anderen Wahllokalen, später mit Fans und Mitarbeitern des FC Barcelona. Als sich die Eskalation abzeichnete, bat der Verein um die Verlegung des für denselben Tag geplanten Heimspiels gegen Las Palmas. Die Liga lehnte ab, dessen Geschäftsführer Javier Tebas gilt als konservativer Antiseparatist. Mehrere Fangruppen drohten mit einem Platzsturm und so entschied sich Barça für eine Partie vor leeren Rängen. „So konnten wir der Welt neunzig Minuten lang zeigen, wie sehr Katalonien leidet“, sagte Klubchef Josep Maria Bartomeu.

Gerard Piqué war die Anfeindungen leid und trat aus dem Nationalteam zurück

Unter den Stammspielern war es Gerard Piqué, der sich am deutlichsten positionierte: „Der Einsatz von Gewalt war eine der schlechtesten Entscheidungen in den letzten vierzig, fünfzig Jahren. Sie hat Katalonien und Spanien weiter voneinander getrennt.“ Piqué, geboren in Barcelona, seit 2008 für Barça aktiv, hat sich öffentlich nie für die Unabhängigkeit ausgesprochen, sondern für „dret a decidir“, das Recht auf Selbstbestimmung. Laut Umfragen möchten siebzig bis achtzig Prozent der Katalanen frei entscheiden können, auch viele Gegner der Loslösung. Ähnlich wie in Großbritannien: Dort haben die Schotten 2014 für einen Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Die spanische Verfassung jedoch verbietet ein solches Referendum.

In den Tagen nach der Abstimmung versammelte sich das spanische Nationalteam zur Länderspielvorbereitung, mit dabei: ihr Verteidiger Gerard Piqué. Bei einer öffentlichen Trainingseinheit mischten sich Rechtsextreme in militärischer Kleidung unters Publikum, sie sangen Lieder aus dem Bürgerkrieg. Dutzende Zuschauer skandierten: „Piqué cabrón, España es tu nación“ – „Pique, Arschloch, deine Nation heißt Spanien.“ Trainer Julen Lopetegui brach das Training ab.

Piqué hatte so etwas lange erdulden müssen, sogar den Vorwurf, er habe einmal lange Trikotärmel wegen der spanischen Nationalfarben abgeschnitten. Nach der WM 2018 beendete er mit 31 Jahren seine Laufbahn im Nationalteam. Er hat nun mehr Zeit für seine Nebentätigkeiten als Geschäftsmann und Investor, unter anderem im Tennis oder bei der Entwicklung von E-Sports-Veranstaltungen. Da könnten sich politische Debatten negativ auswirken.

Im Pokalfinale pfeifen Barça-Anhänger die spanische Hymne aus

An der Außenfassade des Camp Nou sind die Logos der Fanklubs angebracht, das der „Penya Almogàvers“ über dem Eingangstor 48. Schräg darüber hängt ein riesiges Banner mit dem Foto des kämpferisch aussehenden Piqué, ergänzt durch das Mantra des Vereins: „Més que un club“, mehr als ein Klub. Piqué bestritt 102 Länderspiele. Spanien wurde 2010 Weltmeister, gewann 2008 und 2012 die Europameisterschaft. Zu den Leitfiguren gehörten etliche Profis des FC Barcelona: Carles Puyol, Xavier Hernández, Sergio Busquets, Andrés Iniesta oder David Villa.

Vorübergehend sah es so aus, als könne das Nationalteam regionale Spannungen verringern. So war es schon 1992, als die spanische Auswahl bei den Olympischen Spielen in Barcelona Gold gewann, 95.000 Zuschauer jubelten im Camp Nou. Doch damals war die Situation noch nicht so verfahren. Jenseits dieses Turniers bestritt das Nationalteam seit 1975 kein Heimspiel mehr in Barcelona, die Fernsehquoten bei Länderspielen liegen in Katalonien, im Baskenland oder Galicien zehn bis zwanzig Prozent unter dem Landesschnitt.

Als Spanien bei der WM 2018 im Achtelfinale an Gastgeber Russland scheiterte, feierten Ernest Pujadas und seine Freunde eine Party mit Feuerwerk. Pujadas erwähnt auch die „Copa del Rey“, den spanischen Pokal unter Schirmherrschaft des Königs. Traditionell pfeifen Barça-Anhänger vor den Endspielen die Nationalhymne aus. Besonders laut war die Abneigung 2009, 2012 und 2015. Denn die Fans des Gegners stimmten mit ein: Athletic Bilbao.

Selbst Franco soll sich mit Athletic identifiziert haben

Eines der Zentren des baskischen Fußballs ist die „Cantera“, der so genannte Steinbruch von Lezama, einer idyllischen Gemeinde zehn Kilometer von Bilbao entfernt. Umgeben von Hügeln und Wiesen liegt das Trainingsgelände von Athletic. Gepflegte Rasenplätze und gläserne Bürogebäude, davor der Torbogen aus dem alten Stadion San Mamés, als Erinnerung an acht Meistertitel. Von der kleinen Tribüne beobachten Familien das Spiel ihrer Söhne. „Vamos“, rufen sie, auf geht’s. Unten am Spielfeld zieht der Sportdirektor den Reißverschluss seiner Jacke hoch und macht sich Notizen. José María Amorrortu soll das scheinbar Unmögliche auch für die Zukunft möglich machen: Erstligafußball – ausschließlich mit Spielern baskischer Herkunft.

José María Amorrortu, Sportdirektor bei Athletic Bilbao, Quelle: Ronny Blaschke

José María Amorrortu wurde 1953 in Bilbao geboren und wuchs in der Nähe des Stadions auf. Als Spieler, Trainer und Manager verbrachte er fast sein ganzes Berufsleben im Baskenland, in Bilbao, Eibar, auch San Sebastián. Zeitweilig trainierte er das inoffizielle baskische Nationalteam. „In dieser Region ist die Identifikation mit Fußball besonders hoch“, sagt der studierte Ökonom Amorrortu. „Die Menschen arbeiten hart. Sie müssen nicht immer die Besten sein, aber sie wollen in den Spiegel schauen können.“ Ehrlichkeit, Bodenständigkeit, Identität. Diese Begriffe werden von Fans und Mitarbeitern Athletics häufig genannt, auch als Abgrenzung zur turbokapitalistischen Fußballindustrie. Handelt es sich um Nostalgie, Sozialmarketing oder Naivität?

Seit mehr als hundert Jahren setzt Athletic auf Spieler mit baskischen Wurzeln. Eine vergleichbare regionale Rekrutierung betreibt sonst nur Deportivo Guadalajara in Mexiko. In Spanien hatten viele Anhänger Francos den FC Barcelona als Symbol für Internationalität abgelehnt, doch mit Athletic soll sich sogar der Diktator identifiziert haben: für die „Bewahrung der spanischen Rasse“, für „die Reinhaltung des Blutes“.

In Zeiten des sportlichen Misserfolgs stand diese Talentsuche bei Fans in der Kritik, sie fürchteten um die Wettbewerbsfähigkeit. 1959 kam für eine Verpflichtung Miguel Jones Castillo in Betracht, geboren in Äquatorialguinea, groß geworden im Baskenland. Jones wurde nicht für gut genug befunden. Manche denken noch heute: es lag an seiner schwarzen Hautfarbe. Jones wechselte zu Athlético Madrid und war erfolgreich. In den Achtziger und Neunziger Jahren nutzten radikale Nationalisten auch den Fußball als Ventil. Ein beliebter Slogan: „Gott hat nur eine perfekte Mannschaft erschaffen, den Rest überhäufte er mit Fremden.“

Iñaki Williams gilt als Symbolfigur für das moderne Bilbao

Die Gesellschaft veränderte sich, Athletic auch. Lange wurden nur Spieler aus den drei Provinzen der Autonomen Gemeinschaft Baskenland zugelassen, aus Gipuzkoa, Biskaya und Álava. Später wurde die Suche auf benachbarte Gebiete ausgedehnt, auf Navarra, La Rioja und den französischen Teil des Baskenlandes. Diese Regeln sind in keiner Satzung festgeschrieben, vermutlich würden sie sonst das Verfassungsgericht auf den Plan rufen.

Zuschauer auf dem Trainingsgelände Lezama von Athletic, Quelle: Ronny Blaschke

Athletic erwarb sich den Ruf eines Ausbildungsvereins, herausragende Spieler zogen weiter. Mittlerweile ist nicht mehr der Geburtsort der Spieler zentral, sondern ihr „Aufwachsen im baskischen Fußball“. Im Jahr 2000 wurde Blanchard Moussayou als erster schwarzer Spieler in den Nachwuchs aufgenommen. Nach Verletzungen musste er seine Laufbahn früh beenden. Jahre später gab er zu, dass er es als Schwarzer doppelt so schwer hatte. 2008 wurde der aus Kamerun stammende Jugendspieler Ralph N’Dongo bei einem Training von einem Zuschauer rassistisch beleidigt, Athletic erstattete Anzeige. 2011 spielte dann ein Schwarzer erstmals für Athletic in der Primera División, begleitet von einer intensiven Debatte in den Medien. Jonás Ramalho, Sohn eines Angolaners, konnte aber sich nicht in der Stammformation etablieren.

Der Durchbruch gelang 2014. Iñaki Williams, geboren in Bilbao, Sohn eines ghanaischen Vaters und einer liberianischen Mutter, war in der Europa-League der erste schwarze Torschütze für Athletic. Bis ins Detail beschrieben die Medien seine Biografie: die Gelegenheitsjobs seiner Eltern oder die Unterstützung des Pfarrers mit dem baskischen Namen Iñaki. Williams entwickelte sich zu einem treffsicheren und beliebten Stürmer. Und er galt als Symbolfigur für das moderne Bilbao. Mit architektonischen Glanzlichtern wie dem Guggenheim-Museum hat sich die Stadt als Kulturmetropole neu erfunden. Sie gehört zu den zwölf Austragungsorten der EM 2020, die über den Kontinent verteilt sind.

„Es ist nicht selbstverständlich, dass wir mit unserem Modell in der ersten Liga spielen“, sagt Sportdirektor José María Amorrortu. „Also müssen wir konzentriert und professionell sein.“ Athletic hat im Umland 150 Partnervereine, die ihre größten Talente nach Bilbao melden und dafür finanziell unterstützt werden. Zwanzig Scouts sind im Baskenland unterwegs. Eine Datenbank speichert Kandidaten aus anderen Ländern mit baskischen Vorfahren. Inzwischen kicken in den Jugendteams etliche Spieler, die in Afrika oder Lateinamerika zur Welt kamen.

Kaum jemand von ihnen spricht Baskisch. Etwa dreißig Prozent der regionalen Bevölkerung beherrscht diese Sprache, deren Entstehung unbekannt ist und die mit keiner anderen europäischen Sprache Gemeinsamkeiten hat. Athletic zögerte kommerzielle Entwicklungen gern hinaus, musste sich aber doch anpassen. Als einer der letzten Profivereine ließ Athletic Werbung auf Trikots und Stadionbanden zu. Und was würde mit der Talentförderung passieren, sollte der Klub zum ersten Mal in die zweite Liga müssen? Die rund 50.000 Mitglieder werden dann diskutieren, ob sie weiter von ihrer Hymne abweichen können: „Weil du aus dem Volk geboren bist, liebt dich das Volk.“

Der internationale Nationalismus Kataloniens stößt im Ausland auf Unverständnis

Der FC Barcelona erreicht mit 170.000 Mitgliedern andere Dimensionen. Auch an diesem Vormittag hat sich vor dem Vereinsmuseum eine Schlange gebildet. Touristengruppen schieben sich durch den dreistöckigen Fanshop, Trikotpreise von 170 Euro scheinen keine abschreckende Wirkung zu haben. Schnell laden sie ihre Handyfotos vor Werbebannern ins Internet hoch. Es funkelt an allen Ecken, dazu Chartmusik aus den Lautsprechern, die Besucher sprechen Englisch, Japanisch oder Deutsch. Barça erzeugt ein Viertel des Umsatzes im spanischen Profifußball und strebt mittelfristig einen Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Euro an. Der Clásico gegen Real Madrid ist im Fernsehen eines der meistgesehen Fußballspiele weltweit. Was wäre „La Liga“ ohne dieses Duell?

Journalist Florian Haupt lebt in Barcelona, Quelle: Ronny Blaschke

Kaum ein Verein hat so sehr von der Globalisierung profitiert wie der FC Barcelona. Wie passt es dazu, dass sich viele Fans als katalanische Nationalisten bezeichnen? Als Verteidiger eines Landstriches von siebeneinhalb Millionen Einwohnern, die innerhalb der spanischen Demokratie nicht unterdrückt werden? „Wir haben es hier nicht mit einem ethnischen Blut- und Bodennationalismus zu tun“, sagt der Journalist Florian Haupt, der in Barcelona lebt und unter anderem für „Die Welt“ berichtet. „Viele Katalanen orientieren sich regional und global. Viele Unabhängigkeitsbefürworter wünschen sich eine weltoffene Nation, die in der EU bleibt.“ Mit Begriffen wie Offside, Penalty oder Corner ist die katalanische Alltagssprache mehr von englischen Fußballvokabeln durchmischt als die spanische.

Die Frontverläufe sind widersprüchlich, die Lager gespalten, auch in Familien, Freundeskreisen und in der Anhängerschaft des FC Barcelona. Der Klub unterstützt das Selbstbestimmungsrecht. Die Pressemitteilungen sind diplomatisch formuliert, werben für „Dialog, Respekt, Sport“. Der Verein sei unpolitisch, stehe aber „auf der Seite des katalanischen Volkes“. Als die Polizei beim Referendum 2017 Gewalt ausübte und katalanische Politiker wegen mutmaßlicher Rebellion festgenommen wurden, äußerte sich die Barça-Führung offensiver, aber für die Abspaltung von Spanien tritt sie nicht ein. Auch aus Rücksicht vor den Fans in anderen Regionen. Und wie würden wohl Sympathisanten in China, Indien oder der Türkei reagieren, die mit dem Kampf von Minderheiten etwas anderes verbinden? Auch die spanische Liga, der Fußballverband und die Sportmedien scheinen ihre Äußerungen genau abzuwägen.

Guardiola sagt: „Ich bin nicht nur Trainer, sondern vorrangig Mensch“

Trotzdem scheint es dem Präsidium von Barça recht zu sein, wenn Stimmen aus dem Vereinsumfeld kompromissloser Stellung beziehen. Fans dürfen Banner entrollen, auf denen zu lesen ist: „Willkommen in der katalanischen Republik“ oder „SOS Democràcia“. Der wohl bekannteste Unterstützer der Unabhängigkeit ist Pep Guardiola, ehemaliger Spieler und Trainer von Barça. 2015 trat er bei der Regionalwahl auf dem letzten Listenplatz der separatistischen Einheitsliste „Junts pel Sí“ an. Mehrfach trug er bei Veranstaltungen Gedichte des katalanischen Lyrikers Miquel Martí i Pol vor.

Bei seinem aktuellen Arbeitgeber Manchester City trug Guardiola seit Oktober 2017 eine gelbe Schleife am Revers, eine Solidaritätsbekundung mit inhaftierten Unabhängigkeitsunterstützern. Für das Tragen von „politischen Symbolen“ wurde er vom englischen Verband FA verwarnt und mit einer Geldstrafe belegt. Dessen Geschäftsführer Martin Glenn sagte: „Wo zieht man die Linie – soll es jemanden geben, der ein ISIS-Abzeichen trägt?“ Und er nannte Beispiele, die er nicht im Fußball sehen wolle: „Starke religiöse Symbole, der Davidstern, Hammer und Sichel, das Hakenkreuz und so etwas wie Robert Mugabe auf dem Shirt“.

Martin Glenn entschuldigte sich auf Druck für diesen „beleidigenden Vergleich“, doch seine Äußerungen verdeutlichen die Unbeholfenheit bei politischen Themen. Wofür darf der Fußball eintreten? Wogegen sollte er Position beziehen? „Ich bin nicht nur Trainer, sondern vorrangig Mensch“, sagte Pep Guardiola. „Es geht nicht um Politik, es geht um Demokratie.“ Wenn er früher mit Barça in Madrid oder Sevilla spielte, dann schwenkten gegnerische Fans leidenschaftlich die spanische Flagge. Sie wollten Guardiola provozieren, und er akzeptierte das. Denn er weiß: In vielen Ländern wird ein solcher kultureller Wettstreit schon brutal im Keim erstickt.


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs.


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Wir stellen vor: die Longread-Themenreihe bei 120minuten

Im Herbst 2017 konnten wir uns ein Grow-Stipendium des Netzwerk Recherche sichern. Neben der tatkräftigen Unterstützung durch Workshops und andere Angebote ist auch eine finanzielle Zuwendung Bestandteil des Stipendiums. Was… Weiterlesen

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Die Veröffentlichung dieses Beitrags wurde auch durch die Unterstützung des 120minuten-Lesekreises möglich. Stellvertretend für alle bedanken wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Max, unserem neuesten Lesekreis-Mitglied. Du möchtest 120minuten ebenfalls aktiv unterstützen? Dann bitte hier entlang!

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Episode 19: “Unabhängigkeitsbewegungen in Spanien und die Rolle des Fußballs” mit Ronny Blaschke https://120minuten.github.io/episode-19-unabhaengigkeitsbewegungen-in-spanien-und-die-rolle-des-fussballs-mit-ronny-blaschke/ https://120minuten.github.io/episode-19-unabhaengigkeitsbewegungen-in-spanien-und-die-rolle-des-fussballs-mit-ronny-blaschke/#respond Thu, 08 Nov 2018 16:36:55 +0000  

In Ausgabe 19 des 120minuten-Podcasts spricht Alex Schnarr aus der Redaktion mit Ronny Blaschke und Redaktionskollege Endreas Müller über die Unabhängigkeitsbewegungen im Baskenland und in Katalonien und die Frage, welche Rolle der Fußball dabei eigentlich spielt. Das Thema des Podcasts ist gleichzeitig auch das Thema der nächsten Langstrecke von Ronny Blaschke, die im November 2018 in unserer Reihe “Fußball und Menschenrechte” erscheinen wird. Die Diskussionsrunde widmet sich zunächst der Situation im Baskenland, wo gleich vier Team in der höchsten spanischen Spielklasse am Start sind. Dann geht der Blick nach Katalonien und dort natürlich vor allem zum FC Barcelona und dessen Rolle im Zusammenhang mit den dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen.

Der von Endreas angesprochene Text zur Nachwuchsarbeit bei Athletic Bilbao trägt den Titel “A look inside: Athletic Club Bilbao’s Academy – “Development within a culture and identity”” und ist bei Caño Football erschienen.

Wie immer freuen wir uns auf Euer Feedback zur aktuellen Folge und natürlich auch über eine angeregte Diskussion zum Thema auf Facebook, Twitter oder bei uns im Blog.

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Gegen den Willen des Sultans – Fankultur in der Türkei https://120minuten.github.io/gegen-den-willen-des-sultans-fankultur-in-der-tuerkei/ https://120minuten.github.io/gegen-den-willen-des-sultans-fankultur-in-der-tuerkei/#respond Tue, 25 Sep 2018 09:59:08 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5290 Weiterlesen]]> Im Zuge des Machtgewinns für Präsident Erdoğan sind gesellschaftliche Freiräume in der Türkei geschrumpft. Wie unter einem Brennglas wird das seit Jahren im Fußball deutlich. Politiker und Unternehmer nutzen den Sport für ihre Zwecke. Kritische Fußballfans halten sich mit politischen Botschaften zurück oder meiden die Stadien. Teil 6 der Themenreihe: „Fußball und Menschenrechte“.

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Hunderte Fußballfans in schwarz-weißen Trikots drängen sich durch die engen Gassen von Beşiktaş, fünf Gehminuten vom Bosporus entfernt. Sie klatschen, singen, stoßen mit Raki auf ihren Verein an. Junge Männer stellen sich neben die Adler-Statue im Herzen des Viertels und entzünden bengalische Fackeln. Der donnernde Jubel hallt hinüber bis zum kleinen Markt, wo die sozialdemokratische CHP ihre Fahnen ausgebreitet hat. Es gibt nicht viele Stadtteile in Istanbul, wo die größte Oppositionspartei so selbstbewusst auftreten kann. In Beşiktaş schneidet die konservative AKP-Regierung mit ihrem Präsidenten Erdoğan traditionell schlecht ab.

Etliche Anhänger*innen von Beşiktaş bekennen sich stolz zu Çarşi, der vielleicht bekanntesten Fangruppe der Türkei. Sie engagieren sich für Umweltprojekte und Tierschutz, sammeln regelmäßig Spenden. Auf den Kneipenbänken ihres Viertels sprechen sie leidenschaftlich über Politik, über Erdoğan, Repression, über die zunehmende Religiosität im Alltag. Es sind Themen, die sie vor einigen Jahren noch ins Stadion getragen hätten, mit wütenden Gesängen und Protestbannern. „Doch diese Zeit ist erstmal vorbei“, sagt Bariş, ein Mitglied von Çarşi. Er trägt Vollbart und schwarze Klamotten:

„Niemand möchte für Fußball ins Gefängnis gehen.“

Bariş, Mitglied der Fangruppe Çarşi, Quelle: Ronny Blaschke

Von der Adler-Statue ziehen die Fans vor Heimspielen Richtung Taksim-Platz, vorbei am eindrucksvollen Dolmabahçe-Palast, hin zum Stadion von Beşiktaş. Wer Spiele in der Türkei besuchen möchte, muss seit 2014 in einem elektronischen Ticketsystem registrieren und persönliche Daten hinterlegen. Die einzige Betreiberfirma ist eine Bank mit Verbindungen zur AKP. Innerhalb der Stadien wurden noch mehr Überwachungskameras installiert, politische Botschaften sind untersagt. „Viele von uns wollen das nicht mehr mitmachen“, sagt Bariş mit seiner rauchigen Stimme. „Es ist traurig, dass wir selbst im Fußball vom Staat bedrängt werden.“ Einige seiner Freunde schauen sich Spiele nur noch in der Kneipe an.

Rivalisierende Gruppen schlossen sich gegen Regierung zusammen

Am 27. September wird die Fußball-Europameisterschaft 2024 nach Deutschland oder an die Türkei vergeben. Der europäische Verband Uefa hat im Bewerbungsverfahren erstmals auch Menschenrechtsfragen in den Fokus gerückt. Und da schneidet die Türkei wesentlich schlechter ab. Zivilgesellschaft, Pressefreiheit, Demonstrationsrechte: Im Zuge des Machtgewinns für Recep Tayyip Erdoğan sind Freiräume enger geworden. Wie unter einem Brennglas wird das im Fußball seit Jahren deutlich. Politiker, Unternehmer und Aktivisten*innen nutzen den Sport für ihre Zwecke. Wie wird Erdoğan am Freitag bei seinem Staatsbesuch in Berlin reagieren, sollte der Türkei das erste große Turnier auch im vierten Anlauf verwehrt bleiben?

Es begann im Mai 2013 mit Kundgebungen gegen ein Bauvorhaben im Gezi-Park, im Herzen von Istanbul. Die Polizei reagierte mit Gewalt, doch die Demonstranten wollten sich nicht einschüchtern lassen. Die Bewegung wuchs, ging auf andere Städte über. Auf dem Taksim-Platz stellten sich unterschiedliche Gruppen gegen die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan. Auch hunderte Fans der sonst verfeindeten Vereine Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray. Sie waren in ihrem Fußballalltag oft auf aggressive Sicherheitskräfte gestoßen. Mit Hilfe ihrer Erfahrungen schützten sie nun auch die demonstrierenden Jugendlichen und Senioren vor Tränengas und Wasserwerfern.

Erdoğan beschimpfte die Fans als Plünderer. Wenige Stunden später schlossen sie sich zusammen, klatschten im Rhythmus, stampften mit den Füßen und sangen: „Die Plünderer kommen“. Doch an einigen Tagen war die Stimmung ganz und gar nicht aggressiv, erzählt Emre, ein weiteres Mitglied von Çarşi: „Lange war es friedlich, ja sogar humorvoll. Es gab Vorträge, Konzerte, Diskussionen. Aber unsere Erwartungen waren wohl zu hoch, und die Probleme zu komplex. Einige Gruppen protestierten für die Kurden, andere für die Flüchtlinge aus Syrien. Die Demonstranten gingen bald ihren eigenen Weg und verstreuten sich.“

Der Zuschauerschnitt in der Süper Lig ist um ein Drittel gesunken

Mehr als drei Millionen Menschen nahmen 2013 an 5.000 Protestaktionen teil. Auch danach regte sich Protest, besonders in den Stadien. Ein beliebter Gesang: „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“. Fans in Istanbul zeigten regierungskritische Transparente und besangen Mustafa Kemal, genannt Atatürk, den Gründer der modernen Republik nach dem ersten Weltkrieg. In Beşiktaş ist Atatürk überall sichtbar. Fotos auf Hauswänden, Zitate auf Mauern, ein riesiges Banner im Stadion: „Der größte Beşiktaşli“. Fans übertönten die Nationalhymne vor Spielen oft mit Atatürk-Gesängen.

Doch die Netzwerke der AKP erholten sich von den Gezi-Protesten – und wollten ein Wiederaufflammen verhindern. Fans von Beşiktaş stürmten bei einem Derby den Rasen. Das Spiel wurde abgebrochen, der Verein bestraft. Später wurde bekannt, dass die Täter Verbindungen zur Regierung hatten. Sie nannten sich „1453 Adler“, nach dem Wappentier von Beşiktaş und dem Jahr, in dem das christliche Konstantinopel von den Osmanen erobert wurde. „Diese Leute wollten die Gezi-Demonstranten gegeneinander ausspielen und unseren Ruf kaputt machen“, sagt Bariş von Çarşi. Auch andere Fanszenen berichteten von Unruhestiftern mit Kontakten zur AKP.

„Lange gehörten Stadien zu den Orten, die man schwer kontrollieren kann“, sagt der britische Journalist Patrick Keddie, der gerade ein Buch über den türkischen Fußball veröffentlicht hat. „Der Staat schaut mit Sorgen auf die Vernetzungskräfte der Fans.“ Die Regierung ging mit dem elektronischen Ticketsystem in die Offensive, offiziell als Prävention gegen Fangewalt. Hunderte Fans wurden vorübergehend festgenommen. 35 Anhänger von Beşiktaş standen 2015 vor Gericht. Der Vorwurf: Terrorismus und Pläne für einen Staatsstreich. „Wir können nicht mal unseren unbeliebten Klubchef stürzen“, scherzte ein Beschuldigter bei der Anhörung. „Wie sollen wir dann die Regierung zu Fall bringen?“ Die Vorwürfe wurden fallengelassen, doch viele Fans wurden in ihrem Alltag eingeschüchtert, auf der Straße oder am Arbeitsplatz. Sie sind seither vorsichtig oder bleiben den Stadien ganz fern. 2013/14 lag der Zuschauerschnitt in der Süper Lig bei etwa 12.000. Inzwischen ist er um ein Drittel gesunken.

Neue Stadien stärken das konservative Netzwerk der AKP-Regierung

Doch verschwunden ist die Politik aus den Stadien nicht. Im Juli 2014 wurde das Stadion von Başakşehir eingeweiht, in einem konservativ geprägten Vorort von Istanbul. Der damalige Ministerpräsident Erdoğan führte eine Auswahl von Politikern aufs Feld, im Eröffnungsspiel schoss er drei Tore. Seine Rückennummer 12 wird im Verein nicht mehr vergeben. Erdoğan hatte sich schon als Oberbürgermeister von Istanbul in den Neunziger Jahren für die Stadtentwicklung Başakşehirs eingesetzt. Der Klub ist in wenigen Jahren ins Spitzenfeld der Süper Lig vorgestoßen. Er ist gut vernetzt mit Sportministerium, Fußballverband, Sportmedien. Başakşehir möchte eines der modernsten Trainingszentren etablieren. Der Bau des Stadions dauerte nur 16 Monate.

Reporter Patrick Keddie, Quelle: Ronny Blaschke

„Die AKP-Regierung will ihre eigene konservative Mittelschicht aufbauen. Ein Mittel dafür ist die Bauindustrie“, sagt der Reporter Pattrick Keddie. Die Wirtschaftselite der Türkei hatte sich über Jahrzehnte an den säkularen Werten des Staatsgründers Atatürk orientiert. Erdoğan und seine Gefolgsleute haben dann mehr Bauaufträge an islamisch-konservative Firmen aus Anatolien übertragen. Für Flughäfen, Straßen, Moscheen – und Stadien. „So kann die Politik ihre Ideologie auf einfache Art verbreiten“, sagt Keddie.

Bis zum Währungsverfall in diesem Sommer hatte die Türkei ein überdurchschnittlich hohes Wirtschaftswachstum. Seit Beginn des Jahrtausends wurde der Bau von dreißig Stadien in 27 Städten auf den Weg gebracht. Selbstbewusst verkündete die Regierung ihre Beteiligung an den Kosten mit einer Milliarde Euro. Die Stadien sind oft in Besitz der Regionalverwaltungen. Gerade in mittelgroßen Städten haben sie einen besonderen Wert weit über den Sport hinaus, sagt der türkische Sportjournalist Volkan Ağır. „Viele alte Stadien lagen in den Stadtzentren. Sie wurden abgerissen, und auf den wertvollen Grundstücken entstehen dann Einkaufszentren und Wohngebäude. Vor allem die Netzwerke der AKP profitieren langfristig. Die neuen Stadien werden in konservativen Außenbezirken errichtet, die dadurch ebenfalls aufgewertet sind.“ Neben den Stadien entstehen häufig Wohnkomplexe und Kulturzentren, der touristische Wert steigt.

Imam las Koran-Verse bei Stadioneröffnung

Zwölf alte Stadien waren nach Atatürk oder seinen Weggefährten benannt. Sie hatten in der Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches Staat und Religion voneinander getrennt. Bei den Neubauten ist davon kaum etwas zu spüren. In Istanbul war das alte Stadion von Beşiktaş nach İsmet İnönü benannt, einem Freund Atatürks – das neue trägt den Namen eines Mobilfunkunternehmens. Erdoğan bestimmte sogar, dass Stadien nicht mehr als Arenen bezeichnet werden dürfen. Das klang ihm zu amerikanisch.

Er hofft, dass ein Zuschlag für die EM 2024 neue Investoren ins Land holt. In der Wirtschaftskrise könnten die Betriebskosten der Stadien zur Bürde werden. „Die Verschuldung vieler Firmen ist enorm“, sagt Felix Schmidt, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul. „Die Folgen könnten eine Pleitewelle und eine höhere Arbeitslosigkeit sein.“

Journalist Volkan Ağır, Quelle: Ronny Blaschke

Doch auch ohne EM werden die Arenen gebraucht. Im Dezember 2016 wurde das neue Stadion von Trabzon eingeweiht, im Nordosten der Türkei am Schwarzen Meer. Ein Imam las vor 40.000 Zuschauern Verse aus dem Koran und gedachte der Opfer von Terroranschlägen. Er forderte Solidarität mit türkischen Soldaten in Kriegseinsätzen, vor allem in Syrien. Immer wieder zeigten die Fernsehkameras Erdoğan auf der Ehrentribüne. „Solche Gebete gehören zum Alltag, doch in einem Fußballstadion war es das erste Mal“, sagt der Journalist Volkan Ağır.

„Religion und Politik wurden vor einem großen Publikum zusammengeführt.“

Es war eine neue Dimension in der türkischen Fußballgeschichte, die nie frei von politischen Einflüssen war. Britische Kaufleute und Seefahrer hatten das Spiel in den 1870er Jahren ins Osmanische Reich importiert, in Hafenstädte wie Istanbul, Izmir oder Thessaloniki. Minderheiten des Riesenreiches wie Griechen, Armenier oder Italiener verfielen dem Fußball schnell, doch für Muslime war er zunächst verboten. Der autokratische Sultan Abdülhamid II. glaubte, das Spiel würde moralische Werte untergraben. Und er hatte Sorge, dass sich kräftige Männer in einer Mannschaftssport gegen die Herrscher verschwören könnten.

Vereine greifen Symbole der osmanischen Kultur auf

Spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts war die Leidenschaft für Fußball nicht mehr aufzuhalten. Nach der Niederlage im ersten Weltkrieg wurden Spiele als nationale Bewährungsproben überhöht. Etliche Vereine stützten die Unabhängigkeitsbewegung von Mustafa Kemal und schmuggelten Waffen beim Befreiungskrieg. Eine Professionalisierung mit Ligenbetrieb setzte in den 1950er Jahren ein. Seit den 1980er Jahren nutzen Politiker und Unternehmer die Reichweite des Fußballs. Regionalverwaltungen legten sich Klubs zu, Bürgermeister übernahmen Posten in den Vorständen. Korruption und Spielmanipulationen führten immer wieder zu hitzigen Debatten. Es war eine Zeit, in der auch Gewalt zwischen Fans zum Alltag wurde, in seltenen Fällen mit tödlichen Folgen.

Recep Tayyip Erdoğan fühlte sich, wie schätzungsweise drei Viertel aller Türken, früh dem Fußball verbunden. Er hat in seiner Jugend auf beachtlichem Niveau gespielt, sogar eine Profilaufbahn erschien möglich. Sein Spitzname: „Imam Beckenbauer“. Als Politiker lässt er sich in Stadien oder Spielerkabinen blicken. Vor allem in islamisch-konservativen Städten wie Trabzon, Konya oder Bursa. Das Stadion aus seinem Istanbuler Heimatviertel Kasimpaşa trägt seinen Namen. Auf den Ehrentribünen treffen sich Vertreter der Regionalverwaltungen und der Moscheen. Und manchmal werden sie Verhandlungsorte: Erdoğan lud mehrere Staatschefs zu Länderspielen ein, etwa den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad oder den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras.

Einige Klubs folgen dem kulturellen Kurs ihres Staatschefs. Sie greifen in Wappen oder Hymnen Symbole der osmanischen Kultur auf. Allen voran Osmanlispor in Ankara. Das wiederum nutzen gegnerische Fans für Provokationen gegen Osmanlispor. Sie besingen die Schlacht bei Ankara 1402: Das Osmanische Reich erlitt eine der schwersten Niederlagen, der Sultan wurde gefangen genommen, einmalig in der Geschichte. „Die säkulare Türkei nimmt ab und die religiöse Türkei nimmt zu“, fasst Felix Schmidt von der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen. „In den Schulen wird der Islam-Unterricht in den Vordergrund gerückt. Es werden auch immer mehr Religionsschulen gegründet. Und das wird eine Generation hervorbringen, die sehr viel stärker der Religion nahe steht.“

2011 wurde in einem Istanbuler Vorort die neue Arena von Galatasaray eröffnet. Erdoğan wurde ausgepfiffen, zornig verließ er noch vor dem Anpfiff das Stadion. Seitdem lässt er sich bei Partien der großen Istanbuler Klubs nicht mehr blicken. Und auch das türkische Nationalteam bestreitet Heimspiele kaum noch in Istanbul, sondern eher in konservativen Hochburgen wie Konya, so auch im Oktober 2015 gegen Island. Vor dem Anpfiff war eine Schweigeminute für Opfer eines islamistischen Selbstmordattentäters geplant. Hunderte Zuschauer störten die Stille mit Pfiffen, dankten den „Märtyrern“, priesen Allah als den „einzigen Gott“.

Der Rekordtorschütze wird zum Staatsfeind erklärt

Das gesellschaftliche Klima hat sich verschärft, insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 und dem folgenden Ausnahmezustand. Auch im Fußball scheint Erdoğan oft nur noch zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden. Zu den Freunden gehört Yildirim Demirören, seit 2012 Präsident des türkischen Fußballverbandes. Der Unternehmer, dessen Mischkonzern auch auflagenstarke Zeitungen verwaltet, sprach sich im Verfassungsreferendum 2017 für Erdoğan aus. Aktuelle und ehemalige Nationalspieler wie Arda Turan, Burak Yilmaz und Ridvan Dilmen stimmten ein.

Zu den Gegnern zählt Hakan Şükür, Galatasaray-Ikone und Rekordtorschützenkönig des türkischen Nationalteams. Şükür, der 2011 für die AKP ins Parlament eingezogen war, trat 2013 aus der Partei aus. Er gilt als Anhänger der oppositionellen Gülen-Bewegung, die in der Türkei als Terrororganisation betrachtet wird. 2016 wurde Şükür wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung angeklagt und zur Fahndung ausgeschrieben. Seit 2015 hält er sich in den USA auf. Auf Druck des Sportministeriums wurde ihm 2017 die Mitgliedschaft bei Galatasaray entzogen. Ebenfalls längst in Ungnade gefallen: Deniz Naki, deutsch-türkischer Spieler kurdischer Abstammung. Immer wieder hatte sich der ehemalige Spieler des FC St. Pauli für das Selbstbestimmungsrecht der Kurden in der Türkei stark gemacht. Dafür wurde er beschimpft, attackiert und angeklagt.

Sener, Mitglied der Fangruppe Vamos Bien, Quelle: Ronny Blaschke

Diese Feindseligkeiten führen dazu, dass immer weniger liberale Menschen in die Stadien gehen. Deutlich wird das bei einem Besuch in Kadiköy, einem Stadtteil auf der asiatischen Seite Istanbuls. Zwischen Flohmärkten, Buchläden und Musikshops zeigen die rustikalen Kneipen vor allem die Spiele von Fenerbahçe. „Wir halten uns mit politischen Botschaften zurück, auch in sozialen Medien, die Leute haben Angst vor der Regierung“, sagt Sener von Vamos Bien. Die linke Fangruppe von Fenerbahçe boykottiert seit Einführung des elektronischen Ticketsystems die türkischen Stadien. Stattdessen fahren sie zu Europapokalpartien ins Ausland oder besuchen Basketballspiele.

Vor vier Jahren hatten Vamos Bien noch hundert aktive Mitglieder, nun sind es dreißig. Früher haben Gruppen wie Vamos Bien Solidaritätsbotschaften für verhaftete Wissenschaftler und Journalisten veröffentlicht, doch das ist ihnen nun zu heikel. „Lange hat sich alles um Fenerbahçe gedreht“, sagt Sener. „Wir vermissen diese Zeit sehr.“ Er wird sein Studium in Bremen fortsetzen, andere Freunde wollen die Türkei ebenfalls verlassen.

Für die EM 2024 hätte die Türkei zehn Stadien vorgesehen. In konservativen Städten wie Konya oder Trabzon, nicht aber im westlich geprägten Izmir. In Istanbul sind zwei Arenen vorgesehen. Die Heimstätten der kritischen Fanszenen von Beşiktaş und Fenerbahçe gehören nicht dazu.


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs. Blaschke stellt die Recherchen für diese Themenreihe in einer Vortragsreihe zur Diskussion.

Die kommenden Termine sind hier zu finden.


Die ganze Themenreihe auf einen Blick

Frauen in Schaltzentralen des Fußballs: Allein unter Männern

Noch nie wurde im Fußball so intensiv über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen diskutiert wie in diesem Sommer während der Weltmeisterschaft in Frankreich. Jenseits der Lohnungleichheit sind in den… Weiterlesen

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Im Herbst 2017 konnten wir uns ein Grow-Stipendium des Netzwerk Recherche sichern. Neben der tatkräftigen Unterstützung durch Workshops und andere Angebote ist auch eine finanzielle Zuwendung Bestandteil des Stipendiums. Was… Weiterlesen

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Getarnter Hass – Israel, Antisemitismus und Fußball https://120minuten.github.io/getarnter-hass-israel-antisemitismus-und-fussball/ https://120minuten.github.io/getarnter-hass-israel-antisemitismus-und-fussball/#respond Thu, 06 Sep 2018 15:00:11 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5270 Weiterlesen]]> Der Antisemitismus ist eine der ältesten Diskriminierungsformen im Fußball, doch in den vergangenen Jahren hat er sich gewandelt. Feindseligkeit gegenüber Juden wird zunehmend als brachiale Kritik an Israel geäußert. Wenn sich Konflikte im Nahen und Mittleren Osten verschärfen, hat das auch Auswirkungen auf den Sport. Teil 5 der Themenreihe „Fußball und Menschenrechte“.

Autor: Ronny Blaschke, ronnyblaschke.de

Wieder waren die Reaktionen heftig. Bibras Natcho, Kapitän des israelischen Fußballnationalteams, musste Schmähungen und Gewaltandrohungen über sich ergehen lassen. Sein Wechsel von ZSKA Moskau zu Olympiakos Piräus wurde im August 2018 zu einem Politikum. Der griechische Klub hat seit Anfang 2018 auch Ehsan Hajsafi unter Vertrag, einen Leistungsträger der iranischen Nationalmannschaft. In der Islamischen Republik erkennen führende Kräfte aus Politik und Klerus das Existenzrecht Israels nicht an. Seit der Revolution 1979 ist iranischen Sportlern der Wettkampf gegen Israelis untersagt. Nie zuvor standen Spieler aus den verfeindeten Ländern im selben Team. Nach dem Wechsel von Natcho nach Griechenland zürnten die Religionsführer im Iran. Ein Torjubel ihres Landsmanns mit einem Israeli? In ihren Augen wäre das Verrat.

Ehsan Hajsafi stand im Iran schon mehrmals in der Kritik weil er gegen israelische Teams antrat und israelische Spieler zu seinem Verein gehörten. By Steindy (talk) 14:19, 18 June 2014 (UTC), GFDL 1.2, from Wikimedia Commons

Ehsan Hajsafi stand schon einmal in der Kritik der Religionsführer, ebenso wie sein Nationalmannschaftskollege Masud Schodschaei. Beide hatten 2017 mit ihrem damaligen Verein Panionios Athen in der Europa League gegen Maccabi Tel Aviv gespielt. Sie wurden auf Druck der Politik aus dem „Team Melli“ verbannt, wie die Auswahl von den Iranern bezeichnet wird. Erst nach Fanprotesten wurde der Ausschluss aufgehoben. Sportlich waren sie für die WM 2018 in Russland unverzichtbar. Doch im Schatten dieser Debatte wurden weltweit antisemitische Kommentare abgesetzt. Wieder war Fußball ein Vergrößerungsglas auf Stimmungen, Ängste und Verschwörungstheorien.

Dies sind nur zwei Beispiele für den institutionalisierten Antisemitismus, der zunehmend als brachiale Kritik an Israel getarnt wird. Die Erscheinungsformen wandeln sich, sind vielschichtig, werden je nach Region politisch und religiös aufgeladen. Manchmal sind sie brutal wie im August 2015, als rechte Hooligans von ZSKA Sofia Spieler des israelischen Vereins MS Aschdod mit Flaschen bewarfen und über den Rasen jagten. Oder wie im Juli 2014: Zwanzig zumeist türkischstämmige Jugendliche stürmten in der Nähe von Salzburg ein Testspiel zwischen der israelischen Mannschaft Maccabi Haifa und ihrem französischen Gegner OSC Lille.

Juden in Europa hatten 2014 einen Sommer voller Sorgen: Immer wieder wurden sie pauschal für die Intervention Israels im Gaza-Streifen verantwortlich gemacht. Das bekam auch Maccabi Netanya in einem Freundschaftsspiel in Dortmund gegen eine Nachwuchsauswahl zu spüren. Unter den 300 Zuschauern waren ein Dutzend Neonazis. Sie zeigten zwei Palästinenserflaggen und eine schwarz-weiß-rote Fahne des Deutschen Kaiserreichs. Ihre Parolen: „Nie wieder Israel“ und „Juden raus aus Palästina“. Tage später trafen Hannover 96 und Lazio Rom in einem Testspiel aufeinander. Dreißig rechte Anhänger skandierten: „Eine Bombe auf Israel.“

Verbände gehen der Kontroverse aus dem Weg

Öfter jedoch wird die Feindseligkeit gegen Israel subtiler ausgedrückt, auch jenseits des Fußballs: 2016 während der Olympischen Spiele in Rio wollten libanesische Teilnehmer nicht mit Israelis in einem Bus fahren. Eine Judoka aus Saudi-Arabien brach ihren Wettkampf mit angeblicher Verletzung ab, um einer Israelin in der nächste Runde aus dem Weg zu gehen. Im Herbst 2017 gab sich der iranische Ringer Ali-Resa Karimi bei der Junioren-WM in Polen absichtlich geschlagen, um danach nicht gegen einen Israeli antreten zu müssen. Auch der tunesische Tennisspieler Malek Jaziri hatte mehrfach aufgegeben, ehe er im September 2016 die Haltung seiner Regierung ignorierte. In Istanbul trat er in einem Turnierfinale gegen den Israeli Dudi Sela an. Dafür wurde Jaziri von vielen gefeiert – aber auch von vielen beschimpft.
Die internationalen Sportverbände wünschen sich Gleichberechtigung und lehnen Diskriminierung ab, so steht es in Satzungen und erklingt es in Sonntagsreden. Doch der sportpolitische Journalist Christoph Becker hat in der Frankfurter Allgemeinen viele Beispiele zusammengetragen, die verdeutlichen: Etliche Verbände gehen der Kontroverse aus dem Weg und verweigern eine klare Haltung. Im Gegenteil: Der israelische Judoka Tal Flicker gewann im Oktober 2017 ein Turnier in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bei der Siegerehrung wurde die Hymne des Judoverbandes gespielt und dessen Flagge aufgezogen, von israelischer Symbolik keine Spur. Monate später fanden die Schnellschach-Weltmeisterschaft in Saudi-Arabien und die Junioren-WM im Taekwondo in Tunesien statt. Israelische Athleten erhielten kein Visum.

Christoph Becker beschreibt die diplomatischen Verhandlungen und Manöver zwischen Sport und Politik. Einige Verbände würden Auslosungen beeinflussen, damit israelische Athleten gar nicht erst auf Gegner aus arabischen Ländern treffen. Zudem gibt es in Israel politische Vertreter, die eine Teilnahme ihrer Sportler ohne Hymne und Flagge besser finden als gar keine Teilnahme. Groß war die Empörung in Westeuropa gewesen, als das Internationale Olympische Komitee IOC bei den Sommerspielen in London 2012 eine Schweigeminute für die israelischen Opfer verweigerte, vierzig Jahre nach dem Angriff palästinensischer Terroristen in München 1972. Doch der einzige IOC-Vertreter aus Israel äußerte Verständnis. „Man müsse über den Dingen stehen“, sagte Alex Gilady. Eine Gedenkminute im Olympiastadion würde „die olympische Einheit gefährden“. Mehrere arabische Staaten hätten das nämlich als Provokation gedeutet, weitere Schmähungen hätten folgen können.

In Jerusalem wird unterschiedlich auf die Entwicklungen geblickt. Die Sportministerin Miri Regev untersagte eigenen Verbänden und Athleten die Teilnahme, sofern sie auf heimische Symbole verzichten müssen. Andere Abgeordnete pflegen pragmatische Lösungen, denn sie wissen: Arabische Funktionäre und Sponsoren werden im internationalen Sport immer wichtiger. Und auch von globalen Konzernen erwarten Israelis nicht allzu viel: Sportartikelhersteller, Schnellimbissimperien oder Elektrounternehmen halten sich aus politischen Konflikten heraus, sie wollen in Israel ebenso ihre Märkte etablieren wie in Saudi-Arabien oder Bahrain.

Israel wurde nach Ozeanien verschoben

Diese Entwicklung begann schon vor Jahrzehnten. 1973 wurde Israel von arabischen Staaten angegriffen, der Jom-Kippur-Krieg. Israel war in der Region fortan noch mehr isoliert. Im Fußball hatte es immer wieder Boykotte gegen Israel gegeben. 1974, zwei Jahre nach dem Attentat in München, schloss der Asiatische Fußballverband den jüdischen Staat aus. Der Weltfußballverband Fifa habe sich mit Israel lange schwergetan, analysierte der Sportwissenschaftler Robin Streppelhoff in Forschungen an der Sporthochschule Köln. Die Fifa verankerte Israel zunächst im Spielbetrieb Ozeaniens, unter anderem mit Australien und Neuseeland. Ein Aufnahmegesuch Israels in die europäische Uefa wurde 1978 auf Druck der sozialistischen Ostblockstaaten noch abgelehnt. Erst 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde Israel in die Uefa aufgenommen und ist nun fester Bestandteil der europäischen Wettbewerbe, 2013 sogar als Gastgeber der U21-Europameisterschaft.
Doch im Weltsport finden Veranstaltungen zunehmend in Ländern statt, die Israel ablehnend und sogar feindselig gegenüber stehen. Kritik aus Demokratien müssen diese Staaten immer weniger befürchten. Häufig fühlen sie sich sogar durch europäische Kontakte legitimiert: Einer der einflussreichsten Sportfunktionäre ist Scheich Ahmad al Sabah aus Kuwait. Überdies investierte etwa Katar Milliarden aus Staatsfonds und staatsnahen Organisationen in den europäischen Fußball, vor allem in Paris St. Germain. Der FC Bayern war bereits achtmal im Trainingslager in Doha, er unterhält Partnerschaften mit dem dortigen Flughafen und mit der Linie Fluggesellschaft Qatar Airways. Katar wurde 2017 durch seine Nachbarn und die USA politisch isoliert. Die Austragung der WM 2022 dürfte dem Land trotzdem wirtschaftlich ganz neue Möglichkeiten eröffnen.

Es ist unwahrscheinlich, dass sich Israel für die WM in Katar qualifiziert. Doch wohl erst dann würde aus einem sportpolitischen Nischenthema ein globaler Aufreger werden. Bislang blieben die Debatten auf Regionen beschränkt und ebbten schnell ab. 2007 wollte der Wolfsburger Profi Ashkan Dejagah nicht mit der deutschen U21 in Israel spielen, aus Sorge um seine Familie im Iran. 2013 schloss der FSV Frankfurt einen Sponsorenvertrag mit einer saudi-arabischen Fluglinie, die keine Israelis befördert, nach Protesten wurde der Vertrag aufgelöst. 2017 planten Red Bull Salzburg und Eintracht Frankfurt Trainingslager in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Auf Salzburger Seite erhielt der israelische Nationalspieler Munas Dabbur kein Visum – sein Verein flog dennoch. Bei Frankfurt durfte der Israeli Taleb Tawatha nicht einreisen. Die Eintracht suchte eine Alternative in Spanien. Die Emirate lenkten ein und erteilten auch Tawatha ein Visum.

15 Prozent der Befragten finden, dass Juden in Deutschland zu viel Einfluss haben

Es lassen sich viele Beispiele dafür finden, wie Israelis und Juden im Fußball ausgegrenzt werden. Öffentlich würde kein Spitzenklub zugeben, dass er auf die Verpflichtung israelischer Spieler aus Sorge vor schwindenden Einnahmen in den arabischen Märkten verzichtet. Und auch in einigen europäischen Gesellschaften haben sich antisemitische Einstellungen verfestigt. In Deutschland veröffentlicht die Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Universität Bielefeld regelmäßig Studien zu rechtsextremen Einstellungen. Danach stimmten im Jahr 2014 fast dreißig Prozent der Deutschen folgender Aussage zu: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“ Zwei Jahre darauf ist diese Zahl auf nahezu 40% angestiegen. 15 Prozent der Befragten sagen sogar, dass Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten.

So entladen sich die Formen der Judenfeindschaft hierzulande auch im Fußball. Der Hamburger Sport- und Politikwissenschaftler Florian Schubert beschäftigt sich seit Jahren mit Fankulturen, vor allem mit Antisemitismus, seit 2008 hat er hunderte Medienberichte ausgewertet und Interviews geführt. Er sagt: „Der Fußball ist keine Parallelwelt. Dass ausschließlich Neonazis den Antisemitismus von außen in das Stadionumfeld tragen, ist verkürzt. Judenfeindliche Sprüche gibt es dort seit langem.“ Mit dabei in der emotional aufgeladenen Kurve: Dutzende junge Mitläufer, die sich wohl nie als rechtsextrem bezeichnen würden, aber die schon den Begriff „Juden“ als Provokation und Kränkung ihres Gegners verstehen. „So können Jugendliche diese Sprüche im Stadion verinnerlichen und zurück in die Gesellschaft tragen, zum Beispiel in die Schulen.“

Was das bedeutet, bekommt vor allem die jüdische Sportbewegung Makkabi zu spüren, mit ihren über 4.000 Mitglieder*innen in 37 deutschen Ortsvereinen. Makkabi hat bei der Integration von jüdischen Einwanderern aus Osteuropa einen großen Beitrag geleistet, erzählt Alon Meyer, Präsident von Makkabi Deutschland. Meyer sagt auch, dass der Antisemitismus sich an der Basis in den vergangenen zehn Jahren verändert habe. Feindseligkeit käme seltener von Rechtsextremen, sondern zunehmend von muslimischen Gegnern und Zuschauer*innen. Alon Meyer berichtet von einem Jugendspiel, das Makkabi kurz vor Schluss für sich entschieden hatte. Die arabischstämmigen Gegner fühlten sich provoziert: „Auf dem Weg zur Kabine gab es schlimme Beschimpfungen. Ich habe es geschafft, unsere Leute in die Kabine zu bringen. Aber ich konnte die Sicherheit meiner Sportler nicht mehr garantieren.“ Die Polizei musste die Jugendlichen nach Hause begleiten.

Partnerschaften der DFB-Landesverbände mit jüdischen Gemeinden sind dünn

Makkabi ist offen für alle Gruppen: Juden kicken gemeinsam mit Christen, Muslimen und Atheisten. Wenn sich im Nahen Osten der Konflikt zwischen Israel und arabischen Nachbarn verschärft, dann eskalieren mitunter auch Amateurspiele in Deutschland: Schon öfter wurden muslimische Spieler Makkabis von muslimischen Gegenspielern angegriffen, berichtet Claudio Offenberg von Makkabi in Berlin. „Nach dem Motto: wie könnt Ihr Verräter bloß bei den Saujuden spielen?“

Nach Jahrzehnten des Desinteresses hat sich zumindest in Deutschland ein zivilgesellschaftliches Fußballnetzwerk gegen Antisemitismus gebildet. Der DFB vergibt seit 2005 den Julius-Hirsch-Preis gegen Diskriminierung. Hirsch war einer von zwei jüdischen Nationalspielern in der Geschichte des DFB, er wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Der Verband schickt seine Nachwuchsteams jeweils im Dezember nach Israel, wo sie auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besuchen.

Nachholbedarf gibt es in der Ausbildung. Bei den Schulungen von Trainern im Amateurfußball wird selten über Antisemitismus gesprochen. Dünn sind zudem die Partnerschaften der 21 DFB-Landesverbände mit den jüdischen Gemeinden.

Die Funktionäre könnten sich zum Beispiel an Bremen orientieren. 2013 haben dort Mitglieder der Ultra-Gruppe Caillera ein Forum gegründet, das überregional Anhänger*innen ansprechen soll: „Fußballfans gegen Antisemitismus“. Auf ihrer Facebook-Seite dokumentieren sie antisemitische Vorfälle und weisen auf Info-Veranstaltungen  hin. In Bremen haben sie Vorträge und Filmabende organisiert, mit hunderten Gästen, die sich sonst selten für Fußball interessieren. Sie können sicher sein: Das Thema bleibt aktuell.


Autor und Themenreihe

Ronny Blaschke beschäftigt sich als Journalist mit den gesellschaftlichen Hintergründen des Sports, u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Mit seinen Büchern stieß er wichtige Debatten an, zuletzt mit „Gesellschaftsspielchen“ zur sozialen Verantwortung des Fußballs. Blaschke stellt die Recherchen für diese Themenreihe in einer Vortragsreihe zur Diskussion.

Die kommenden Termine sind hier zu finden.


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Episode 14: “Die Fußball-WM 2018 – abseits des Sportlichen” mit Ronny Blaschke https://120minuten.github.io/episode-14-die-fussball-wm-2018-abseits-des-sportlichen-mit-ronny-blaschke/ https://120minuten.github.io/episode-14-die-fussball-wm-2018-abseits-des-sportlichen-mit-ronny-blaschke/#respond Tue, 10 Jul 2018 15:09:55 +0000  

In Ausgabe 14 des 120minuten-Podcasts sprechen Endreas Müller und Alex Schnarr aus der Redaktion mit Journalist und Buchautor Ronny Blaschke über verschiedene Themen rund um die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Russland. Zunächst geht es um die Frage, welche Auswirkungen das Großereignis eigentlich auf die Zivilgesellschaft hat und inwiefern Aktivist*innen vor Ort die Möglichkeit hatten, auf die sie bewegenden Themen aufmerksam zu machen. Anschließend nimmt die Gesprächsrunde das Themenfeld “Hooligans/Überwachung/Repression” in den Blick, um abschließend auf die politische Bedeutung des Turniers und ein wenig auch auf den Clubfußball und eine russische Fußballlegende einzugehen.

Kapitelmarken:

00:00:00 Intro, Sendungsthemen
00:01:40 WM 2018 – kein Platz für politische Themen?
00:06:45 Zivilgesellschaftliches Engagement rund um die WM
00:13:43 Hooligans/Überwachung/Repression
00:26:30 Politische Dimensionen des Turniers
00:35:14 Vereinsfußball in Russland
00:41:01 Lew Jaschin
00:46:30 Danksagungen, Ausblick, Abschluss

Ronny Blaschke gestaltet auf 120minuten.github.io die Themenreihe “Fußball und Menschenrechte”; im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft sind von ihm in der Serie “Futbol-Politika” des Deutschlandfunk 10 Beiträge zu 120 Jahren russischer Fußballtradition erschienen.

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