Nationalmannschaft – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 22 Aug 2018 09:07:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Vom Kaiserreich zur Kommerzialisierung: Deutschland und der moderne Fußball https://120minuten.github.io/vom-kaiserreich-zur-kommerzialisierung-deutschland-und-der-moderne-fussball/ Thu, 23 Aug 2018 06:58:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5228 Weiterlesen]]> „Moderner Fußball“ ist ein Schlagwort. Ein Schlagwort, das in Zeiten von wankendem 50+1, zunehmender Kommerzialisierung, zerstückelter Spieltage etc. vorwiegend negativ konnotiert ist. Aber war der Fußball vorher alt? Antik? Natürlich mitnichten. Etymologisch betrachtet, bedeutet modern nichts anderes als „modisch/nach heutiger Mode“. So gesehen geht es bei der Frage nach modernem Fußball um die Phase, in der Fußball bei der Masse der Bevölkerung und nicht nur ein paar Nerds beliebt und in der die ursprüngliche Form weiterentwickelt wurde.
Es soll hier nur um den Beginn des modernen Fußballs in England und Deutschland (genauer gesagt: im deutschen Kaiserreich) gehen und um die Frage, was oder wer verursachte, dass er modernisiert wurde. Der Beitrag ist ein in Fließtext gebrachtes Brainstorming, das ausdrücklich zum Kommentieren anregen soll. Hauptsächlich werden die Anfänge des Fußballs – 1820-1900 in England und 1870-1930 in Deutschland – untersucht

Der erste von zwei Teilen befasste sich mit dem Beginn des modernen Fußballs in England. Im nun folgenden zweiten Teil geht es um die Entwicklung des modernen Fußballs in Deutschland.

Von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de)

Fußball wird in Deutschland bekannt

Ein Spiel des Dresdner Fußball Clubs aus den Anfangstagen des Sports in Deutschland.

Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gab es in England football, in Frankreich soule, in Italien calcio. In Deutschland, genauer gesagt dem damaligen deutschen Kaiserreich, gab es vor dem 19. Jahrhundert kein Fußballspiel. Es konnte also nicht auf schon bekannte Formen zurückgreifen, die in der Folgezeit reguliert wurden. Fußball war unbekannt. Und daher musste er erstmal Fuß fassen, um modernisiert werden zu können. Denn das Wort modern setzt ja voraus, dass es schon eine Vorform, eine antike Form zuvor gab.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kamen die in England beliebten Sportarten wie Cricket, Baseball und beide Fußballvarianten, Rugby und (Assoziations-)Fußball, nach Deutschland. Denn die in Deutschland lebenden Engländer und englische Langzeittouristen wollten nicht auf die liebgewonnenen Sportarten verzichten, die auch die Kontaktaufnahme zu anderen Engländern der Umgebung sehr erleichterte. In diesen Jahrzehnten entwickelte sich das reglementierte Fußballspiel vom Schüler- und Studentensport zu einem in der englischen Gesellschaft verankerten Freizeit- und Bewegungsvergnügen.

Deutsche, die in Kontakt zu Engländern standen – beispielsweise Ärzte, Sprachlehrer, Uniprofessoren oder Journalisten – beobachteten den Sport der Engländer, fanden mitunter Gefallen an Fußball und imitierten ihn. Das passiert vor allem in den so genannten Engländerkolonien in Deutschland. Diese befanden sich vor allem in Residenzstädten wie Hannover, Braunschweig, oder Dresden, oder in Universitätsstädten wie Heidelberg oder Göttingen. Auch in im 19. Jahrhundert beliebten Kurorten – Wiesbaden, Baden-Baden oder Cannstatt sind hier Beispiele – und in Handelsstädten wie Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Leipzig waren häufig Engländer anzutreffen.

Soziale Herkunft der Fußball-Liebhaber
In der Forschung wird noch über die soziale Basis der Fußball-Liebhaber diskutiert – waren es Angestellte oder doch Arbeiter, die in Deutschland das Fußballfieber entfachten? Oder waren es Arbeiter, die als verdeckte Bezahlung einen Bürojob erhielten und sind diese dann als Arbeiter oder Angestellte zu zählen? Eggers merkt an, dass die Quellenlage über die Mitgliederstruktur des DFB vor dem ersten Weltkrieg sehr dürftig ist und viele Fußballspieler noch in den 1920er Jahren als Pseudobezahlung eine scheinbare Angestelltenstellung erhielten, aber aus dem Arbeitermilieu stammten. Als Belege nennt er Clubs im Ruhrgebiet und die Mannschaft von Bayern München 1925, deren Spieler vor allem aus dem Arbeitermilieu stammten und die mit Schein-Arbeitsplätzen und der dazu entsprechenden Bezahlung geködert wurden.

Engländer in Deutschland und Konrad Koch

Es waren aber nicht nur die in Deutschland lebenden Engländer, die den Fußball in Deutschland bekannt machten, sondern auch Konrad Koch, der Thomas Arnolds Ideologie und Leben profund während seines Studiums erforscht hatte. Koch muss von Arnold begeistert gewesen sein, denn er kopierte ihn und führte als Lehrer das Fußballspiel 1874 am Martino-Katharineum in Braunschweig ein, um die Jugendlichen fit zu machen und um die Basis für eine athletische Elite zu legen. Wie in England wurde Fußball als Winterspiel in den kalten Monaten des Jahres gespielt, während im Sommer Leichtathletik im Vordergrund stand. Übrigens hat Konrad Koch nicht Assoziationsfußball spielen lassen, sondern Rugby – wie Thomas Arnold als Schulleiter der Privatschule in Rugby. Da jedoch Assoziationsfußball in Deutschland wesentlich mehr und schneller Verbreitung fand als Rugby, unterstützte er diesen ab den 1890er Jahren. Koch versuchte, in Deutschland eine Fußballbegeisterung zu entfachen, wie es in England damals gerade passierte. Aber der Funke sprang in Deutschland nicht über. Als die erste Assoziationsfußballmannschaft in Deutschland gilt der Lüneburg College Football Club, bei dem den Namen der Spieler nach auch aus Deutschland stammende Schüler spielten. 

Vgl. Hock, Hans-Peter: Der Dresden Football Club und die Anfänge des Fußballs in Europa. Hildesheim 2016. S. 18-20. Wer mehr zu Konrad Koch wissen möchte, sei Malte Oberschelps 2015 erschienene Biografie über Koch sehr empfohlen.

Denn in Deutschland war das Turnen die Körperertüchtigung Nummer Eins. Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt geworden, war das Turnen eng mit studentischen Verbindungen und dem Einheits- und Nationalgedanken verbunden. Die aus England kommenden Sportarten wie Rugby oder Assoziationsfußball, Tennis oder Cricket wurden argwöhnisch beobachtet, weil sie eben aus England stammten und nicht deutschen Ursprungs, also nicht Teil der deutschen Kultur waren. Dazu kamen die Übersetzungsschwierigkeiten des englischen Begriffs sports, der letztendlich einfach in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wurde. Auch Fachbegriffe wie offside, hand, to center oder goal wurden zunächst übernommen.

Die Spielbewegung und der Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen

Im November 1882 erließ der preußische Kultusminister, Gustav von Goßler, den nach ihm benannten Spielerlass. Er ermunterte darin die preußischen Kommunen, Spielplätze zu bauen und Turnen (später auch Bewegungsspiele/Sport) als regelmäßigen Teil des Unterrichts zu integrieren. Gleichzeitig sollten schulfreie Spielenachmittage etabliert werden.

Gustav von Gossler

Neun Jahre später, am 21. Mai 1891, gründeten von Goßler und der preußische Abgeordnete Emil Freiherr von Schenckendorff den Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen (ab 1897 Zentralausschuss zur Förderung von Volks- und Jugendspielen), kurz ZA. Der ZA war dabei kein Zusammenschluss von Fußball-Liebhabern verschiedener sozialer Herkunft, sondern bestand vor allem aus Mitgliedern der Nationalliberalen Partei und dessen Alldeutschen Verbandes (gemeinsame Ziele: Stärkung des deutschen Nationalbewusstsein, Pro-Imperialismus), somit vor allem Politikern, Beamten und Armee-Angehörigen. Ihr vorrangiges Ziel war aber nicht, den Sport politisch zu vereinnahmen, sondern vielmehr eine philanthropische, erzieherische, militärische und sozialdarwinistische Mischung, eine „gesunde“ Elite an sportlichen Deutschen und damit potentiellen Soldaten heranzuziehen. Daher versuchten die engagierten Persönlichkeiten, die Gräben zwischen Turnern und Sportlern aufzufüllen und zwischen ihnen zu vermitteln. Turnen und Sport (zeitgenössisch auch Bewegungsspiele genannt) sollten parallel existieren und sich ergänzen. Um diese Absicht zu erreichen, versuchte der ZA, die einzeln wirkenden Kräfte in Deutschland zu bündeln, um so das gemeinsame Ziel schnell zu erreichen. Dazu gehörte der Zentralverein für Körperpflege in Volk und Schule, der Deutsche Bund für Sport, Spiel und Turnen, das Komitee für die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen zu Athen 1896 und später der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, in dessen Bundesleitung auch viele Mitglieder des ZA vertreten waren und der sich wie der ZA in der vormilitärische Ausbildung engagierte.

Wie versuchte man, die Ziele zu erreichen? Nun, durch einen intensiven Lobbyismus in Militärbehörden und Schul- und Stadtverwaltungen, Englandreisen, regelmäßige und verschiedene Zielgruppen ansprechende Veröffentlichungen und eine enorm große Werbetätigkeit. Die Geldmittel kamen aus dem preußischen Kultusministerium und anderen deutschen Landesregierungen.

Der ZA erreichte letztendlich seine Ziele der Verbreitung der Sportarten und die nationale Ausrichtung dieser.

Der Deutsche Fußballbund

Logo des Deutschen Fußballbundes von 1900

In den 1890er Jahren entstanden eine Reihe von neuen Vereinen und auch erste regionale Fußballverbände, zum Beispiel in Berlin (Bund Deutscher Fußballspieler 1890, Deutscher Fußball- und Cricketbund 1891). Doch während Vereine in England gewachsene Gemeinschaften waren, gab es in Deutschland eine hohe Fluktuation in den Vereinen und daher auch einen geringen Zusammenhalt der Spieler. Die Identifikation mit einem Club war also nicht gewachsen – das kam dem ZA ungelegen. Seine Versuche, einen gesamtdeutschen Verband zu gründen, scheiterten zunächst an Unstimmigkeiten zwischen den Verbänden. Nach einigen Jahren der Vermittlung gab es Ende Januar 1900 in Leipzig einen neuen Versuch, einen deutschen Verband zu gründen. Nun stimmten 60 der 86 Vereine für die Gründung des Deutschen Fußballbundes. Die Gründungsmitglieder waren sowohl regionale Verbände (Verband südwestdeutscher Fußballvereine, beide Berliner Verbände und der Hamburg-Altonaer Fußball-Bund) als auch einzelne Vereine aus Prag, Magdeburg, Dresden, Hannover, Leipzig, Braunschweig, München, Naumburg, Breslau, Chemnitz und Mittweida – also aus dem ganzen damaligen Deutschland. Der Spielausschuss des DFB erstellte in den kommenden Jahren einheitliche Statuten und Spielregeln nach englischem Vorbild (1906 herausgegeben) und es gab einen regelmäßigen Spielbetrieb um die Deutsche Meisterschaft (ab der Saison 1902/1903) und den Kronprinzenpokal (ab der Saison 1908/1909).

Im DFB entschied man sich für die nationale und gegen die kosmopolitische Ausrichtung. Denn so erhielten sie vor den Turnern den Vorzug, um die Exerzierplätze als Spielfeld benutzen zu dürfen. Als Wehrsport wurde der Stereotyp eines Fußballers mit soldatischen Idealen aufgeladen: Kampf und Opfermut bis zur letzten Minute, Pflichttreue und Treue zur eigenen Mannschaft sowie Charakterstärke und Idealismus. An diesem Ideal hat sich bis heute wenig geändert und es ist auch der Grund, weshalb in Deutschland die Legalisierung von entlohntem Fußball noch vehementer abgelehnt und stigmatisiert wurde als in England. Vieles ist in Deutschland wie in England verlaufen, nur etwa 50 Jahre später, aber nicht in diesem Punkt: Während Fußball in England modern wurde, als er legaler Profifußball wurde und viele Menschen direkt oder indirekt durch das Fußballspiel Erwerbsmöglichkeiten fanden, wurde Fußball in Deutschland durch das Militär und das soldatische Ideal, also durch das deutsche Amateurideal, modern. Das änderte sich auch nicht, als der Profifußball etwa 50 Jahre nach der Legalisierung in England auch in Deutschland legalisiert wurde. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb in Deutschland das Begriffspaar moderner Fußball mittlerweile stark negativ konnotiert ist und die 50+1-Regelung nicht schon längst über den Haufen geworfen wurde. Es ist aber vielleicht auch der Grund dafür, dass häufig und des Geldes wegen wechselnde Spieler als Söldner(!) beschimpft werden, weil sie nicht bis zu ihrem letzten Atemzug ihrer Mannschaft treu blieben – bewusst sehr pathetisch formuliert.

Währenddessen stieg die Mitgliederzahl des DFB rapide an und versiebzehnfachte sich zwischen 1904 und 1913.

Wie schon gesagt, Goßlers Idee ging also auf, Fußball wurde Wehrsport. Schon vor 1910 spielte die Marine ihre eigene Fußballmeisterschaft aus, ab 1911 auch das Landesheer. Der DFB wurde wie der ZA Mitglied in staatlichen, militärisch geprägten Jugendorganisationen wie dem 1911 gegründeten Jungdeutschland.

Als Wehrsport musste sich Fußball nun aber endgültig von dem Vorwurf des undeutschen Sportes lösen und Sprachbarrieren  beseitigen. Daher gab es ab den 1890er Jahren immer wieder Artikel in Zeitungen, Pamphlete und auch Bücher, die die englischen Begriffe eindeutschten.

Moderner Fußball: Die Fußballbegeisterung wird Teil der deutschen Gesellschaft

Viele deutsche Soldaten lernten das Fußballspiel erst als Wehrsport während des ersten Weltkrieges kennen; liebten und lebten ihn. Die Spiele dienten hier, in dem reinen Stellungskrieg, vor allem zur psychischen Stabilisierung von Truppeneinheiten und zur Hebung deren Stimmung, fand aber auch durch seinen klassennivellierenden Charakter allgemeine Beliebtheit bei den nichtadeligen Milieus. Diese Begeisterung endete nicht mit dem Kriegsende – im Gegenteil. Manche spielten Fußball fortan in Vereinen und viele weitere wurden begeisterte Zuschauer. 1920 hatte der DFB die 500.000er Marke seiner Mitglieder geknackt. Jetzt begann der Fußball, auch in Deutschland ein Massenphänomen zu werden.

In dieser Zeit, in der Weimarer Republik, nahm Fußball eine Mittlerrolle zwischen der deutschen Bevölkerung und der Reichswehr ein. Dabei war die Grenze zwischen zivilem und Militärsport fließend. Das Wort Kampf wurde in den 1920er Jahren zu einem Schlüsselbegriff: Kampfspiele, Kampfbahn, Kampfgemeinschaft, usw. Der Fußball diente als vormilitärisches Feld, um trotz dem Verbot einer Armee, die kommende Generation an die Tugenden der Soldaten heranzuführen. Außerdem tarnten sich viele paramilitärische Vereinigungen als Sportclubs wie die Box- und Sportabteilung der NSDAP. Diese wurde aber schon verhältnismäßig früh, nämlich im November 1921, von Hitler in Sturmabteilung, SA, umbenannt.

Waren Sportarten wie Fußball nach Ende des ersten Weltkrieges ein gutes Ventil, um die psychische Belastung der Kriegsjahre zu kompensieren, bargen sie damit aber in der Zwischenkriegszeit ein deutliches Gewaltpotenzial. Viele, die das Fußballspiel während des Krieges kennengelernt hatten, spielten einen derart unfairen Fußball oder benahmen sich als Zuschauer mit Platzstürmen und Gewaltandrohungen gegen Schiedsrichter und Gegner so rüde, dass Fußball zu Beginn der 1920er Jahre nicht nur breite Beliebtheit erfuhr, sondern gleichzeitig einen sehr schlechten Ruf erlangte. Der sehr angesehene Schiedsrichter Peter Joseph „Peco“ Bauwens legte 1925 wegen des Verhaltens der Spieler und Zuschauer in der Halbzeit des Spieles 1. FC Nürnberg gegen MTK Budapest schlicht sein Amt nieder.

Zu der Problematik von Fußball in der Weimarer Republik und Bauwens vgl. Eisenberg, Christiane: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999. S. 306-339.

 

Dabei entwickelte sich der Fußball durch die zahlreichen Zuschauer zu einem veritablen Wirtschaftsgut. Diesen verlorenen Respekt versuchte der DFB abermals durch die Verknüpfung mit dem soldatischen Ehrbegriff wiederherzustellen – erfolgreich.

Die ersten Radioübertragungen

Unterstützung erfuhr der Fußball in Deutschland wie in England durch Journalismus, Getränke- und Bauindustrie, Wettbüros, Fotografie und Sportartikelhersteller. Auch Zigarren- und Zigarettenfabriken sowie Schnapsbrennereien profitierten von dem Sport, denn es war auf den Zuschauerrängen üblich, sich zwischendurch mit einem Schluck aus dem Flachmann oder einer Zigarre zu stärken. Neu und in diesem Fall ganz elementar war für Sportinteressierte das moderne Medium Radio, dessen Verkaufszahlen sich zwischen 1923 und 1926 rapide anstiegen. Es war für Sport und Medium eine Win-Win-Situation: Das Radio beflügelte das Interesse, Sport zu verfolgen und die an Sport Interessierten kauften sich Radios. Wann das erste Spiel in Deutschland übertragen wurde, ist umstritten: War es das Spiel Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld am 1. November 1925 oder das vom Rundfunkpionier Bernhard Ernst kommentierte DFB-Endspiel zwischen der SpVgg Fürth und Hertha BSC (Ende 1925)? Wie dem auch sei, der DFB unterstützte zunächst die Rundfunkübertragungen von Fußballspielen, um 1928 stark zurückzurudern: Um nicht die Zuschauerzahlen und damit Einnahmen der Vereine zu gefährden, wurden die Übertragungsrechte nur für das DFB-Endspiel sowie drei Länderspiele vergeben. Diese deutlichen Einschränkungen führten zu heftigem Protest der Zuschauer und tatsächlich wurden ab 1932 wieder mehr Fußballspiele via Radio übertragen; vor allem solche Spiele, bei denen eine Reduzierung der Zuschauerzahl nicht zu befürchten war.

Der DFB war kein Einzelfall. U.a. auch England und Schweden ließen die Übertragungen teils verbieten (Schweden) oder diskutierten über ein generelles Verbot (England).

Moderner Fußball: Profifußball wird (zum ersten Mal) legal

Mitte der 1920er Jahre kam es in Deutschland zu den ersten ernsten Anläufen, dass Fußballspieler ein bezahlter Beruf wird. Denn durch den Dawes-Plan (1925) und seine Unterstützungen begannen viele Städte, neue Stadien zu errichten, um mit Hilfe der Fußballbegeisterung die städtischen Kassen zu füllen. Um die Hypotheken schneller zurückzuzahlen und das Stadion auszulasten, musste man attraktive Spiele bieten und daher Fußballergrößen in die Vereine der Stadt locken. Außerdem war ab 1925 die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen wieder möglich. Der Ehrgeiz , eine besonders schlagkräftige Mannschaft nominieren zu können, war deshalb groß. Unter der Hand gezahlte Zuwendungen waren längst die Regel.

Der DFB blieb bei seinem soldatischen Ideal des Fußballers, den der ehrenvolle Verdienst leitete, nicht der finanzielle . Bei Zuwiderhandlung drohte die Disqualifikation aus Meisterschaft und Pokalwettbewerb. Dabei war der Wunsch vieler Vereine, wettbewerbsfähig zu anderen Ländern zu sein. Bereits 1925 hatte der DFB eine Satzungsänderung verabschiedet, die es deutschen Vereinen stark erschwerte, gegen ausländische Profimannschaften zu spielen. (Der Boykott wurde erst 1930 auf Druck der FIFA aufgehoben.)

Durch die finanziellen Verluste der Weltwirtschaftskrise, die insbesondere die untere Mittelschicht (Angestellte, Facharbeiter) traf, gab es ab 1929 erneut deutliche Bemühungen, den Berufsfußball einzuführen. Bezahlungen der Fußballer unter der Hand waren mittlerweile die Regel, aber der DFB blieb weiterhin bei seinen Prinzipien. Mehr noch, im August 1930 sperrte er 14 Schalker Spieler und zudem mehrere Schalker Funktionäre und verhängte eine empfindlich hohe Geldstrafe von 1000 Reichsmark gegen den Verein. Der Grund: Schalker Spitzenspieler waren Arbeiter in der Schachtanlage Consolidation, wurden aber nur mit leichteren Aufgaben betraut und mussten also nicht unter Tage arbeiten, erhielten dafür aber deutlich mehr Lohn als ihre Kollegen. Die Bestrafung als abschreckendes Exempel für alle anderen Vereine ging für den DFB komplett nach hinten los: Viele weitere erfolgreiche Vereine bedrängten den Verband, die Strafen zurückzuziehen und drohten andernfalls mit dem Austritt. Der Westdeutsche Fußballverband forderte die Trennung in Amateurfußball und Berufsfußball. Noch lehnte der DFB ab, aber als es noch 1930 zur Gründung des Deutschen Professionalverbandes innerhalb des Westdeutschen Fußballverbandes und zu einer Reichsliga (gegründet von Sportjournalisten) kam, lenkte er ein. Schalke wurden die drakonischen Strafen erlassen. Aber der Profifußball wurde noch nicht legalisiert. Das Drängen der Vereine blieb und zwei Jahre später fürchtete der DFB die Spaltung des Fußballs wohl so sehr, dass er wie ca. 50 Jahre zuvor Alcock in England den Fußballsport legalisiert, um ihn dann besser kontrollieren zu können. Doch zu der für 1933 geplanten Reichsliga kam es nicht. Daran hatten nicht direkt die Nationalsozialisten Schuld; ihnen wären professionelle Sportler vielleicht sogar entgegengekommen. Nein, Felix Linnemann, seit 1925 Vorsitzender des DFB wurde 1933 mit der Leitung des Fachamts Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen betraut und machte direkt die in seinen Augen erzwungene Legalisierung des Profifußballs rückgängig.

Moderner Fußball: Profifußball wird (wieder) legal

1950, noch vor der Neugründung des DFB, beschloss die Delegiertenversammlung der Landesverbände, ein Vertragsspielerstatut zur Legalisierung des bezahlten Fußballs. Ein Spieler, der noch einem weiteren Beruf nachging, durfte dennoch nicht mehr als 320 DM monatlich erhalten, d.h. nicht mehr als den Lohn eines Facharbeiters. Aus dem Jahresgehalt errechnete sich die Ablösesumme. Zur der gehörte auch immer ein Gastspiel des neuen Vereines.

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Am Ziel der Träume? Fußball und der Nationalsozialismus

Der Fußball in Deutschland hat es in seinen Anfangsjahren nicht leicht. Gesellschaftliche Vorbehalte, Konkurrenz durch die traditionsreiche Turnerschaft, das unsägliche Geschacher um das Amateurgebot. Unter der Regie des machtbewussten DFB hat sich der Fußball dennoch zum Spiel der Massen entwickelt, wie ich in meinem ersten geschichtlichen Überblick für 120minuten aufgezeigt habe. Ideale Voraussetzungen für die Nationalsozialisten, das Spiel für seine Zwecke zu ge- und missbrauchen? Welche Rolle spielte der DFB dabei? Wie hat der deutsche Fußball auf die verordnete „Gleichschaltung“ reagiert? Und wie ging es in Sachen Profitum weiter?

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1954 wurde Deutschland überraschend Weltmeister. In den Folgejahren nahm die Bedeutung der Nationalmannschaft wegen fehlender Erfolge jedoch spürbar ab. Viele Spieler wechselten zu Vereinen ins Ausland, wo der Profifußball längst etabliert war und sie höhere Gehälter erhielten. Beispielsweise nach Italien, wo Helmut Haller (1962-1968 FC Bologna, 1968-1973 Juventus Turin), Karl-Heinz Schnellinger (1963-1964 AC Mantua, 1964-1965 AS Rom, 1965-1976 AC Mailand) oder auch Horst Szymaniak (1961-1963 CC Catania, 1963-1964 Inter Mailand, 1964-1965 FC Varese) spielten. Um dem Trend entgegenzuwirken, beschloss der DFB auf seinem Bundestag 1962 die Einführung einer Berufsspielerliga, der Bundesliga. Neben Amateurspielern und Vertragsspielern gab es nun auch Lizenzspieler, die ein dreimal so hohes Gehalt wie Vertragsspieler erhalten und einen Teil der Transfersumme kassieren konnte. Aber die Bestimmungen waren in den 1960er Jahren noch recht restriktiv, weshalb in der ersten Bundesligasaison nur 34 Spieler Fußball als Vollzeitberuf ausgeübt haben sollen. Sie brauchten einen guten Leumund, durften aber ihren Namen nicht für Werbezwecke zur Verfügung stellen und so weiteren Lohn erhalten und die Gesamtbezüge aus Lohn, Handgeld, Prämien und Ablösesummen durften nicht 1200 DM monatlich übersteigen.

Für den DFB lohnte sich die Einführung der Bundesliga: Die Nationalmannschaft hatte wieder Erfolg und da in den 1960er Jahren schon viele Haushalte über einen Fernseher verfügten, konnte sich der DFB durch Fernsehübertragungsgebühren, Werbeeinnahmen und Sponsorengelder finanzieren.

Für die Vertrags- und auch Lizenzspieler war das Fußballspiel innerhalb der vom DFB gesetzten Grenzen nicht rentabel und so verwundert es nicht, dass es in der Saison 1970/71 zu einem so großen Bestechungsskandal kam und der DFB abermals zum Umdenken gezwungen wurde. 1972 wurde der Markt geöffnet – seitdem steigen die Einkommen der Fußballprofis kontinuierlich. Die Liberalisierung der elektronischen Medien und das Bosmanurteil vom Dezember 1995 haben diesen Effekt noch einmal deutlich verstärkt.

Fazit: Moderner Fußball durch Eventisierung und Taktik

Doch wann hielt der moderne Fußball nun tatsächlich Einzug in Deutschland? Je nach Betrachtungsweise gibt es dafür drei Möglichkeiten:

  1. Macht man den modernen Fußball an der allgemeinen, nationalen Begeisterung fest, so war es der erste Weltkrieg.
  2. Verbindet man den modernen Fußball mit Profifußball und seinen Folgen, so waren es die 1960er und 1970er Jahren, da die erste Legalisierung 1932 nur wenige Monate Bestand hatte.
  3. Nimmt man den Begriff “moderner Fußball” dagegen als Ausgangspunkt, liegt der Beginn in den 1980er Jahren. Bis 1976 existierte dieser Begriff in der deutschsprachigen Literatur noch gar nicht. Seitdem gab es ein kurzes kleineres Maximum von 1987 bis 1988, das ab 2002 wieder erreicht wurde und mindestens bis 2008 übertroffen wurde.

Lag die erste Häufung des Begriffs Ende der 1980er Jahre an dem Wechsel von Trainer Arrigo Sacchi zum AC Milan und seiner dort etablierten Spielidee? Wurde dieses Ereignis in der deutschsprachigen Literatur tatsächlich so gewürdigt? Oder hat es eine andere Ursache? Darauf habe ich leider keine Antwort.

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Fußball hinterm Eisernen Vorhang: Der Fall der Magyaren https://120minuten.github.io/fussball-hinterm-eisernen-vorhang-der-fall-der-magyaren/ https://120minuten.github.io/fussball-hinterm-eisernen-vorhang-der-fall-der-magyaren/#respond Mon, 29 Jan 2018 07:30:30 +0000 https://120minuten.github.io/?p=4132 Weiterlesen]]> Manchmal entscheiden Millimeter über Wohl und Wehe. Manchmal sind die Fingerspitzen eines Torhüters zu kurz und können eine Fußballnation nicht vor dem Verderben retten. Was für den einen die Wiederauferstehung, ist für den anderen der Untergang.

Autor: Constantin Eckner, spielverlagerung.de

Hierzulande wird mit großer Genugtuung auf den 4. Juli 1954 zurückgeblickt. Damals hing eine ganze Nation – gebeutelt durch Kriegsleiden, beschämt von den begangenen Verbrechen, im Selbstzweifel über die eigene Identität – an den Stimmbändern von Radiokommentator Herbert Zimmermann. Die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes spielte im Finale der Weltmeisterschaft gegen die hochfavorisierten Ungarn. Was in die deutsche Geschichte als „Wunder von Bern“ einging, war für Ungarn ein Tiefschlag sondergleichen.

Das Team um die Superstars Ferenc Puskás und Sándor Kocsis hatte mit beeindruckender Spielfreude und technischer Außergewöhnlichkeit die 50er Jahre dominiert – bis zu jenem Spiel. Als der matschige Boden im Wankdorfstadion kein Kombinationsspiel zuließ. Als sich Puskás angeschlagen übers Feld schleppte. Als der umstrittene Linienrichter Mervyn Griffiths den Ausgleichstreffer nicht anerkannte. Als Torhüter Gyula Grosics den legendären Helmut-Rahn-Schuss mit seinen Fingern nicht erreichte.

Weltklasse

Budapest ist eine Stadt von alter Schönheit. Einmal am Bahnhof Nyugati pályaudvar angekommen entlässt einen die weitläufige Halle in den VI. Bezirk von Pest, in dem der Hotelprunk daran erinnert, dass die Hauptstadt der Ungarn immer noch ein Ziel von Besuchern wie Geschäftsleuten ist. Aber die Wände ergrauen mit jedem weiteren Jahr. Budapests Fassade bröckelt schon seit langem. Wie Wien ist es ein Relikt früherer Großmacht, ein Relikt der alten Monarchie. Einst trafen sich hier die Reichen und Mächtigen des Kontinents.

Budapest hat sich gewandelt. Aus Verfall wurde Verwandlung. Von der einstigen Kultur ist bis auf die Namen wenig geblieben. Stattdessen gibt es heute – gerade an Sommertagen – ein südländisches Flair, in dem sich die vielen jungen Ungarn, die Landflüchtlinge, tummeln. Wirklich wohlhabend sind hier nur noch ganz wenige. Und eine ungarisch-nationale Arroganz ist abseits der Orbán-Eliten auch nicht zu vernehmen. Das Land ist mehr Geschichte als Gegenwart, mehr Umbruch als Status Quo.

Im Heimatort Orbáns, einem 1.800-Seelen-Dorf, wurde die eindrucksvolle Pancho-Arena hochgezogen, in der nun ein Erstligist spielt. In Budapest bekam MTK eine neue Heimspielstätte – Präsident des Vereins ist Tamás Deutsch, der Mitbegründer von Orbáns Fidesz-Partei. Sportlich scheint dieses Engagement wenig zu bewegen – die ungarischen Klubs sind fast vollständig von der Bildfläche verschwunden und zwischen der Teilnahme an der auf 24 Teams vergrößerten EM 2016 und dem letzten großen Turnier mit ungarischer Beteiligung lagen 30 Jahre.

Viele Spielstätten in der Hauptstadt zeichnen jedoch ein tristes Bild – ganz besonders das mittlerweile geschlossene Puskás Stadion, gezeichnet vom Zahn der Zeit. Eröffnet wurde die Arena 1953, zur Hochphase der ungarischen Nationalmannschaft, die in der einstmals 100.000 Zuschauer fassenden Betonschüssel bis 2014 zumeist ihre Spiele austrug. Der morbide Zustand des ungarischen Fußballs wird nur allzu gut vergegenwärtigt, wenn Treppenaufgänge zur ehemals monumental anmutenden Haupttribüne mit Unkraut bedeckt sind. Wenngleich die große Stunde Ungarns in den 50er Jahren schlug und eine breite Öffentlichkeit die Hochkultur des Fußballs mit eigenen Augen betrachten durfte – das Land war kein Unbekannter in der Weltspitze. Immerhin marschierte die Nationalauswahl schon 1938 ins Finale der damaligen Weltmeisterschaft und zerstörte auf ihrem Weg viele Gegner.

„Manche ungarischen Fußballhistoriker würden dir bestätigen, dass die Spieler in den 40ern eigentlich besser waren. Aber da es keinen richtigen internationalen Fußball gab, fehlt der handfeste Beweis.“

Erläutert Tomasz Mortimer, der heute als Korrespondent für internationale Medien über den Fußball im Land berichtet.

Das Wissen um die Klasse der ungarischen Vorkriegsfußballer ist vornehmlich einem kleinen Expertenkreis vorbehalten. Außerhalb dieses Zirkels wissen jedoch viele Hobbyhistoriker um die Qualität der Puskás-Elf, die ihren großen Durchbruch 1953 feierte. In jenem Jahr wurde die englische Nationalauswahl nicht nur bezwungen, sondern mit 6:3 gedemütigt. Was als Jahrhundertduell in die Annalen einging, markierte gleichzeitig die Geburtsstunde eines Mythos. Die „Aranycsapat“, die Goldene Elf, war plötzlich in aller Munde.

Mortimer hakt ein. Die „Romantik“ rund um die Aranycsapat resultiere aus der Schwäche der Ungarn heute, aus dem neuartigen Spielstil zur damaligen Zeit und natürlich aus dem 6:3-Sieg über England im Wembley. „Es war das erste Mal, dass England ernsthaft akzeptierte, jemand war besser als sie. Das war ein großer Moment in der Geschichte.“

Reißbrett

In alledem gab es politische Implikationen. Immerhin teilte sich der Kontinent in den Nachkriegswirren. Ungarn gehörte zum Ostblock, England war eine führende Macht des Westens. Und trotz der stets beanspruchten Sonderposition innerhalb des Warschauer Pakts, konnten sich die Ungarn für lange Zeit nicht vollends aus den Fängen Moskaus befreien. Der Sieg im Finale des Olympischen Turniers 1952 gegen das blockfreie Jugoslawien unter dem „Verräter“ Josip Tito war ebenso politisiert wie die gesamte verbandsinterne Politik in jenen Jahren.

Die Ostblockstaaten bauten allesamt in ähnlicher Form ein System auf, um im Arbeitersport Fußball triumphieren und die Überlegenheit der eigenen Weltanschauung in einem Spiel der Massen demonstrieren zu können. Nationaltrainer Gusztáv Sebes erkannte ein Erfolgsrezept in Italien, wo die wichtigsten Auswahlspieler bei einer kleinen Zahl an Vereinen unter Vertrag standen und sehr gut miteinander harmonierten. Eben dies versuchte er „von oben“ auch in Ungarn zu implementieren. Der Hauptstadtclub Honvéd entwickelte sich deshalb zum Nährboden für die Aranycsapat. Puskás, Kocsis, Czibor, Bozsik und Grosics schnürten im Stadtteil Kispest ihre Stiefel.

Sebes galt gemeinhin als der organisatorische Kopf des ungarischen Erfolgs, aber taktisch liefen ihm andere den Rang ab. Da war zum einen der extrovertierte und extravagante Béla Guttmann, der später als Weltenbummler in Portugal und Brasilien seine größten Erfolge feiern sollte. Guttmann machte sich genau wie Márton Bukovi, dem Trainer von Magyar Testgyakorlók Köre Budapest (MTK), dem anderen Spitzenverein im Land, als Tüftler und Vordenker einen Namen. Bukovi entwickelte das erfolgreiche 4-2-4, das rasch vom Nationalteam adaptiert und später von Guttmann nach Brasilien gebracht wurde, wo es bis in die 70er Jahre eine wichtige Rolle spielte.

Die technische Überlegenheit der Ungarn, ihre stringente Vorgehensweise und die Ballung an kompetenten Trainern kreierte eine Fußballmacht, die England bezwang und sich anschickte, den Weltmeistertitel aus der neutralen Schweiz hinter den Eisernen Vorhang zu bringen. Doch ebenso wie die sowjetische Eishockeymannschaft, gleichfalls bekannt für ihr flüssiges, ästhetisch anmutendes Kombinationsspiel, beim „Miracle on Ice“ 1980 ihres Traumes beraubt wurde, erlitten auch die Ungarn eine Bruchlandung. Der Erfolg war anscheinend doch nicht bis ins Letzte planbar. Das zähe Spiel der Deutschen, die widrigen Umstände und eine Portion Spielpech verwandelten sicher geglaubtes Gold in rostiges Silber.

Unmittelbar nach der Niederlage von Bern begannen in der Heimat die Schuldzuweisungen. Viele Menschen strömten auf die Straße und demonstrierten gegen das Regime. Manche meinen sogar, am Finaltag von 1954 wurde weitere Saat für den Aufstand von 1956 gelegt. Gerüchte über die Gründe für die Niederlage der eigentlich übermächtigen Aranycsapat machten die Runde. Vielleicht hatten sich Puskás und seine Mitspieler für eine Reihe von Mercedes-Karossen vom kapitalistischen Feind kaufen lassen. Vielleicht waren die Feiern im Trainingsquartier Schuld. Vielleicht gehören Niederlagen einfach zum Leben dazu.

Krebsgeschwür

Einem sollte wenige Jahre später eine vielfach schmerzlichere Niederlage das Leben kosten. Der sozialistische Reformer Imre Nagy, der schon von 1953 bis 1955 als Ministerpräsident Ungarns diente, jedoch aus Amt und Partei gedrängt wurde, setzte sich während des Volksaufstandes 1956 an die Spitze der Erneuerungsbewegung. Nagy avancierte zum Hoffnungsträger jener, die eine Abkehr von Moskau präferierten. Doch die Sowjetunion ließ einen Austritt aus dem Warschauer Pakt nicht zu. Panzer rollten in Budapest ein, während über 200.000 Ungarn nach Österreich flohen. Nagy selbst wurde verhaftet und nach fast zweijähriger Isolationshaft in Rumänien hingerichtet.

Mit den letzten Hoffnungen auf eine humanere – vielleicht sogar demokratischere – Zukunft Ungarns verflüchtigten sich auch zusehends die großen Stars des runden Leders. Während die Rote Armee in Budapest marschierte, befanden sich Honvéd und MTK auf Reisen, von der manche Spieler niemals zurückkehrten. Puskás, Kocsis und Czibor setzten sich ab. Sie taten es László Kubala gleich, der schon 1949 in abenteuerlicher Manier geflohen war, und sich in Spanien einen Namen machte. Puskás und die anderen fanden Einzug in die Fußballprominenz des Westens.

Für sie bedeutete die Flucht aber auch den Bruch mit der geliebten Heimat. Eine straffreie Rückkehr wurde beispielsweise Puskás jahrzehntelang verweigert. Doch weder konnten sie sich mit den Zuständen in Ungarn anfreunden, noch waren sie überzeugte Kommunisten wie etwa Mittelfeldstratege József Bozsik oder regimehörige Karrieristen wie Trainer Sebes. Ob sich die Mannschaft von 1954 zum Zeitpunkt des Aufstands bereits über ihren Zenit befand, wird für immer Raum für Spekulation lassen. Immerhin gewann Ungarn die 18 Partien, die sich an das verlorene WM-Finale anschlossen. Erst eine Niederlage gegen die Türkei im Februar 1956 leitete einen langsamen Abwärtstrend ein.

Die Dominanz der ungarischen Nationalmannschaft:

Ein schwerer sportlicher Schlag für das ambitionierte Fußballland war der Verlust von mehreren Starspielern in jedem Fall, zumal zur etwa gleichen Zeit auch Teile der U21-Nationalmannschaft ein Turnier in Belgien für die eigene Flucht nutzten. Der jugendliche Unterbau brach somit ebenfalls weg. „Ich denke nicht, dass Ungarn zunächst allzu drastisch abstürzte. Natürlich war es ganz schön happig, aber das würde jedem so gehen, der mit einem Schlag die Mehrheit seiner besten Spieler verliert. Ungarn jedoch nahm an den nächsten drei Weltmeisterschaften teil und gewann die eigene Gruppe in zwei von ihnen“, erläutert Mortimer.

„Es war ein Absturz von der Spitze, aber kein Absturz in jene Tiefen, in denen sich Ungarn heute befindet.“

Tomasz Mortimer

Die grundsätzliche Struktur des Fußballs im Land wurde nach der Niederschlagung des Aufstands 1956 immer weiter vom Regime und seinen Vorstellungen durchzogen. Schon vor Nagys Ablösung war das schöne Spiel von den blutverschmierten Griffeln der Politik umklammert. Das betraf große Duelle wie das Olympia-Finale gegen Jugoslawien oder den symbolischen Sieg über die Sowjetunion im September 1956, aber in gleicher Stärke die Vorgänge in den Ligen und Bezirken. Der Fußball fiel zusehends in die Hände der Machthaber, die in einem Spiel aus Bevorteilung und Bevormundung ihr Unwesen trieben. MTK beispielsweise, der Club des legendären Stürmers Nándor Hidegkuti, stand unter der Fuchtel der Államvédelmi Hatóság, der ungarischen Geheimpolizei. Verteidigungsminister Mihály Farkas hingegen favorisierte bis zu seiner Entmachtung Honvéd. Andere wollten lieber Ferencváros oder Vasas siegen sehen.

In all diesem Klamauk unter den kommunistischen Amtsträgern, der sich auch in den darauffolgenden Jahrzehnten fortsetzen sollte, litt die Qualität des Fußballs natürlich ungemein. „Der Kommunismus war der Krebs, der dem ungarischen Fußball langsam aber stetig das Leben aussog“, bringt es Mortimer auf den Punkt. Bis zum Finale im Europapokal der Pokalsieger 1975, das Ferencváros mit 0:3 gegen den sowjetischen Vertreter Dynamo Kyiv verlor – eine von vielen Schlappen gegen den „großen Bruder“ zu jener Zeit –, spielten die Clubs noch eine passable Rolle auf internationalem Parkett. Doch ein Status der Gewöhnlichkeit war spätestens Mitte der 70er Jahre erreicht. Gerade auch als die Nachfolger Puskás‘ rund um den eleganten Stürmerstar Flórián Albert ihre Karrieren beendeten. „Die Identität des vorrevolutionären Ungarns war zerstört“, unterstreicht Mortimer.

Schicksale

1956 verabschiedete sich nicht jeder bekannte Name des ungarischen Fußballs und verdiente fortan sein Brot in den Spitzenligen auf der Westseite des Kontinents. Manche blieben aus Überzeugung, manche aus Verbundenheit, manche aus Zwang. Eine tragische Figur der damaligen Generation war gewiss Torhüter Gyula Grosics. Nicht nur konnte er den Siegtreffer von Helmut Rahn im wichtigsten Spiel seiner Karriere nicht verhindern, sein Ruf als Intellektueller und Querkopf unter den Balltretern brachte ihm im Regime keine Freunde ein. Grosics war der Sündenbock.

Der Schlussmann, der auch als „Fekete Párduc“, als schwarzer Panther aufgrund seiner Trikotfarbe und der geschmeidigen Bewegungen bekannt war, kam bereits 1949 in Konflikt mit der Obrigkeit, nachdem ein Fluchtversuch misslang und er zeitweilig unter Hausarrest stand. Infolge der Niederlage von Bern setzte ihn das Regime erneut in seinem Haus fest. Es kam einem Arbeitsverbot gleich.

Noch in den Jahren zuvor hatte der talentierte Torhüter ein Angebot aus Brasilien ausgeschlagen, als er sich auf Reisen in Südamerika befand. Während des Volksaufstands 1956 gelang ihm und seinen Angehörigen aber die vorübergehende Flucht, bis Grosics zur Rückkehr gezwungen wurde. Eine Zukunft beim ausgehöhlten Spitzenclub Honvéd hatte er nicht. Stattdessen fristete Grosics für die nächsten Jahre ein Dasein in der Provinz und blieb bis zum Ende des Regimes ein Außenseiter.

Irrelevanz

Als der ganze Ostblock Ende der 80er Jahre wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzte, erlangte auch Ungarn die eigene Unabhängigkeit zurück. Demokratisiert, aber wirtschaftlich rekonvaleszent, wurden an den Fußball und seine Nöte wenig Gedanken verschwendet. Geld floss zunächst in den Wiederaufbau, nicht aber auf die Konten der Budapester Spitzenclubs. International konnten die Teams schon lange nur noch schwerlich mithalten. Die quasi-Monopolisierung des europäischen Fußballs der Westeuropäer in den Wettbewerben und eine fehlende Chancengleichheit auf dem Transfermarkt verdrängte Ferencváros und die anderen von der Landkarte der breiten Wahrnehmung.

Ungarn „verkam zu einer Wüste. Der ungarische Fußball in den 90ern war grausam. Es ist heute schon schlimm, damals war es noch viel schlimmer“, erinnert sich Mortimer. Natürlich besaß Ungarn nie die Größe, um über lange Strecken hinweg zur erweiterten Weltspitze zu gehören. Ähnlich wie andere ambitionierte, aber bevölkerungsarme Fußballnationen ist eine hohe Amplitude, der temporäre Ausschlag Richtung Weltklasse, der Idealfall. Doch statt wie die Niederlande auf einen starken Unterbau oder wie Kroatien auf einen scheinbar nie abreisenden Strom von Rohtalenten vertrauen zu können, fehlt es in Ungarn an allen Ecken.

Mortimer gibt sich pessimistisch:

„Es wird nie mehr so sein wie einst. Das Land ist schlichtweg zu weit weg, um den Rückstand aufholen zu können. Und es gibt gar keine großen Bestrebungen aufzuholen, nicht einmal auf das Niveau von Ländern wie Serbien oder Kroatien. Der Kommunismus tötete den ungarischen Fußball und ich glaube, nicht genügend Leute wollen wirklich, dass er wiederbelebt wird.“

 

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https://120minuten.github.io/fussball-hinterm-eisernen-vorhang-der-fall-der-magyaren/feed/ 0 4132 DFB-Chefscout Siegenthaler: “Partien werden vor dem Spiel entschieden” https://120minuten.github.io/dfb-chefscout-siegenthaler-partien-werden-vor-dem-spiel-entschieden/ Sun, 31 Dec 2017 19:01:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=4076 Weiterlesen]]> Was klingt wie Überheblichkeit legt der Chefscout der Nationalmannschaft, der Schweizer Urs Siegenthaler, in einem ausführlichen Interview mit der Berliner Morgenpost dar. Es ist klar: die DFB-Kicker werden die Gejagten sein im Sommer in Russland und Siegenthaler arbeitet daran, die Jäger zu überraschen und selbst zum Jäger zu werden. Ein interessanter Einblick in die Denkweise des Chefscouts.

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Der letzte Leitwolf https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/ https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/#comments Thu, 09 Mar 2017 17:00:32 +0000 https://120minuten.github.io/?p=3151 Weiterlesen]]> Am 3. März 2010 war es noch nicht absehbar, doch ein Großer verließ die Nationalmannschaft. München bereitete im Testspiel gegen Argentinien die Bühne für den letzten Auftritt Michael Ballacks im schwarz-weißen Dress. Der Abgang selbst sollte sich elendig lang hinziehen. Der dritte Teil einer Retrospektive (hier geht es zu Teil 1, Teil 2 ist hier zu finden).

Autor: Sebastian Kahl

Das Ende nahm in Wien seinen Anfang. Auch bei der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz liefen die Fäden des deutschen Spiels bei Michael Ballack zusammen. Erneut trieb der nun 31-Jährige sein Team mit wichtigen Treffern an. Im letzten Gruppenspiel gegen Österreich erzielte er das einzige Tor der Partie. Ballacks brachialer Freistoß wurde anschließend in Deutschland zum Tor des Jahres gewählt. Im Viertelfinale gegen Portugal stellte er per Kopf auf 3:1. Nach einem Anschlusstreffer von Helder Postiga gereichte das zum Siegtreffer. 

Es war allerdings keine Ein-Mann-Vorstellung mehr. Der 2008er Kader ist der wohl beste, in dem Ballack zu einem Turnier antrat. Die Achse Lehmann, Metzelder, Frings, Ballack, Klose brachte die nötige Erfahrung mit, während Talente wie Lahm, Mertesacker, Schweinsteiger und Podolski nicht mehr blutjung waren. In der Folge sollten es diese vier auf insgesamt 467 Länderspiele bringen. Die Allrounder Friedrich, Fritz, Jansen und Hitzlsperger sowie der im Turnier glücklose Gomez ergänzten das Aufgebot, das mit einer ungewohnt offensiven Mentalität, nervenaufreibender defensiver Naivität und einer Portion Glück das Endspiel erreichte.

Dort fiel die Niederlage gegen Spanien mit 0:1 noch gnädig aus. “Deutschland, Holland, Italien”, lautet zukünftig die Antwort auf eine Fußball-Quizfrage. Es sind die Finalgegner einer der besten Mannschaften aller Zeiten. Zu groß war die Kluft zur Furia Roja.

„Ballack, ein verwünschter Kapitän.“

Le Parisien (FRA), nach dem verlorenen EM-Finale 2008

 

Für Ballack ergab sich eine bittere Parallele zu 2002. Lagen damals knapp sieben Wochen zwischen verlorenem CL- und WM-Finale, waren es nun kaum mehr sechs zwischen CL- und EM-Finale. Lagen damals noch realistischerweise vier bis sechs Spielzeiten auf einem ähnlichen Weltklasse-Niveau vor ihm, waren es nun mit etwas Glück bei möglichen Verletzungen noch zwei oder drei Spielzeiten in der internationalen Klasse.

Was sich knapp ein Jahrzehnt danach nüchtern aufrechnen lässt, dürfte am Abend selbst im Spielerkopf auf einer ganz anderen Gefühlsebene rumort haben. Der immens wetteifernde Ballack wirkte nie wie jemand, der sich darüber freut, im Anschluss an ein solches Finale bei der Siegerehrung eine Medaille für den zweiten Platz entgegennehmen zu müssen. Es ist wenig verwunderlich, dass sich in dieser Gemengelage ein Konflikt Bahn brach, der wohl schon seit Wochen im Camp schwelte.

Im ersten Turnier unter der Ägide von Joachim Löw wurden die Machtverhältnisse neu ausgelotet, innerhalb des Teams wie auch im Verhältnis zwischen Trainerstab und Mannschaft. Die Altvorderen um Ballack und Frings reklamierten diese Vormachtstellung für sich, sollen so z.B. eine Reduzierung des Fitnessprogramms im Trainingslager durchgesetzt haben. Ballack sprach sich gegen die Besuche der Frauen und Freundinnen im Camp aus, betitelte diese als “unprofessionell”. Ein Novum: Neben den Lebensgefährtinnen der Spieler waren erstmals auch Familienangehörige des Trainerstabs regelmäßig im Camp zu Besuch.[1]

Besonders nach der 1:2-Niederlage gegen Kroatien im zweiten Gruppenspiel schien die Stimmung auf der Kippe. Kapitän Ballack hatte sich Einwechsler Odonkor zur Brust genommen und dessen gezeigte Leistung kritisiert. Lahm und Friedrich gingen dazwischen, Odonkor sei als Ergänzungsspieler die falsche Gewichtsklasse. Während die ältere Generation in unmissverständlicher Sprache ihre Meinung kundtat, störten sich die Jüngeren vor allem am fehlenden Mannschaftsgeist und negativen Vorbildern.[2]

Als Herbergsvater der Sippschaft fungierte Oliver Bierhoff. Der 70-fache Nationalspieler wurde zum Amtsantritt von Jürgen Klinsmann im Sommer 2004 als Teammanager installiert. Die neu geschaffene Position diente als Bindeglied und Blitzableiter zwischen dem Trainerstab der Nationalmannschaft und dem DFB-Präsidium. Teammanager Bierhoff verantwortete neben der Planung und Durchführung der Trainings- und Turnierlager ebenfalls die Marketingstrategie der DFB-Auswahl.

So war es dann auch Bierhoff, der nach Abpfiff des verlorenen EM-Finales wagemutig Ballack ein Spruchband in die Hand drückte, mit dem sich das Team bei den Fans für die Unterstützung bedanken sollte. Als nette Geste gedacht, mutierte die Szene zum unrühmlichen Schauspiel. Neben den unflätigen Ausdrücken, die Ballack Bierhoff dabei entgegen geschleudert haben soll (FAZ: “Pisser”, “Obertucke”), drohte der aufgebrachte Kapitän seinem Teammanager laut kicker-Bericht auch Schläge an. Kevin Kuranyi konnte ihn von Schlimmerem abhalten.[3][4]

Unmittelbar nach der Partie wurde die Situation kleingeredet. Bierhoff zeigte sich verständnisvoll ob der erneuten Enttäuschung und vermutete ein Missverständnis. Ballack schwieg. Wohl auch intern, denn da wurde die Situation nicht aus der Welt geräumt, bevor sich die Auswahlspieler in den Urlaub empfahlen.

Erst im September folgte die Aussprache und eine Entschuldigung seitens Ballack für seine Wortwahl. Trotz Verletzung und Nicht-Nominierung für den Auftakt zur WM-Qualifikation gegen Liechtenstein erschien Ballack im Trainingslager in der Sportschule Oberhaching. Und trotz angenommener Entschuldigung konnte sich Bierhoff eine weitere Spitze gegen Ballack nicht verkneifen. Angesprochen auf das verletzungsbedingte Fehlen des Kapitäns stellte Bierhoff trocken fest, die Nationalmannschaft habe sowohl mit als auch ohne Ballack gute Spiele gemacht und sei nicht so abhängig von ihrem Star, wie häufig angenommen. Dieser wiederum entgegnete, dass die Nationalmannschaft Erfolg hatte, bevor Bierhoff Teammanager war und auch zukünftiger Erfolg nicht von Bierhoff abhängen werde. Einig waren sich die beiden wohl nur, dass sie gut aufeinander in der Nationalmannschaft verzichten könnten.[5][6]

Derweil wusste die BZ, wie die Sympathien in der Mannschaft verteilt waren: Team Ballack umfasste Frings, Schweinsteiger, Podolski, Hitzlsperger, Gomez und Fritz. Auf Seiten Bierhoffs standen Lahm, Metzelder, Klose, Friedrich und Jansen. Der Rest sei neutral – oder froh, überhaupt dabei zu sein.[7]

Kapitän und Adjutant

Der größte Ballack-Befürworter in Mannschaftskreisen war sicherlich Torsten Frings. Beileibe nicht als Frohnatur bekannt, wird auch der eine oder andere jüngere Spieler mit dem knorrigen Bremer aneinander geraten sein. Spätestens seit der EM 2004 gehörte der Lutscher zum Stammpersonal der Nationalmannschaft, gab neben Ballack im zentralen defensiven Mittelfeld den Aufräumer und Wasserträger. Zwei vom selben Schlag bildeten ein Duo, das funktionierte.

Auch bei der EM 2008 bestritt Frings alle Gruppenspiele, ehe ihn eine Rippenverletzung aus der Österreich-Partie im anschließenden Viertelfinale zur Pause zwang. Mit einer Einwechslung im Halbfinale und einem Startelf-Einsatz im Finale bestritt Frings also fünf von sechs Partien. Allerdings war Frings auch einer von sechs Spielern über 30 im Kader und entsprach damit nicht dem Jugendtrend. Die Optionen im zentralen Mittelfeld hießen nun Schweinsteiger, Hitzlsperger und bald darauf Khedira. Die Konkurrenz um den Posten neben Ballack war jünger, handlungsschneller, formbarer.

“Ich weiß, dass er seine Leistung noch bringen kann und bringen wird”, kommentierte Löw Frings’ Status im Oktober 2008. Die Aussage stand am Ende eines Länderspielwochenendes, bei dem Frings sechs von 180 Minuten gespielt hatte.

Am Vorabend des ersten Spiels, gegen Russland, habe Löw seinem Mittelfeldmann gegen 20 Uhr mitgeteilt, dass er mit ihm reden müsse. Erst nach Mitternacht habe er Frings dann auf sein Zimmer bestellt, um ihm “lapidar” mitzuteilen, dass er nicht in der Startelf stehen würde. Frings empfand die Art der Übermittlung als “Unverschämtheit”. Dass er sich im zweiten Spiel gegen Wales nicht einmal warmlaufen sollte, war eine “Demütigung”. Einen Rücktritt wollte er danach nicht ausschließen, denn das Wochenende habe ihm die Augen geöffnet.

Frings müsse “diese Pille eben auch mal schlucken”, befand Löw. Und schob einen Satz nach, den er über die Jahre noch so manchem Spieler ins Poesiealbum schreiben würde: “Ich setze weiter auf ihn.”[8][9]

Ballack sprang für seinen alten Kumpanen öffentlich in die Bresche. Nur wenige Wochen nach der überstandenen, aber sicherlich nicht überwundenen, Spruchbanner-Saga öffneten sich nun alle Schleusen.

In der FAZ kritisierte der Kapitän die Form des Konkurrenzkampfes. Gestandene Leistungsträger, Frings, Klose und auch er, würden plötzlich in Frage gestellt und öffentlich angegriffen. Vom Bundestrainer forderte er ehrlichere Ansagen, wenn Spieler nicht mehr in die Pläne passen sollten. Und zählte flugs Beispiele auf, nannte so Kahn, Kuranyi und Wörns, die ebenfalls mehr schlecht als recht aus der Mannschaft hinauskomplimentiert wurden.

Die Abgänge Kahn und Wörns fallen zwar noch unter die Amtszeit Klinsmanns. Ballack sah aber Löw in derselben Tradition. Kuranyi hatte sich während des vorgenannten Russlandspiels unerlaubterweise von der Mannschaft entfernt, nachdem er trotz Nominierung nur auf der Tribüne Platz nehmen durfte. Löw erklärte hernach die Nationalmannschaftskarriere Kuranyis für beendet. Auch Ballack kritisierte Kuranyis Aktion, sah darin aber vielmehr eine forcierte Handlung. Löw habe ihm schlichtweg keine Chance gegeben.[10]

Löw zeigte sich, verständlicherweise, verwundert und enttäuscht über die öffentlich vorgetragene Kritik. Ballacks Kommentare waren kein simples Rückenstärken eines verdienten Mitspielers. Vielmehr glich der Rundumschlag einer Kampfansage, denn wie Löw in seiner Replik richtig feststellte, waren “Aufstellung und Personalpolitik das Hoheitsgebiet des Bundestrainers und seines Trainerstabs”.

Eines verwundert: Löw betonte, Ballack sei als Kapitän ein wichtiger Ansprechpartner für ihn. Tatsächlich saßen die beiden im September bei Ballacks Besuch in Oberhaching mehrere Stunden zusammen. Auch der Plan für Südafrika stand: Das Spiel sollte schneller, die jungen Talente integriert werden. Allein 2009 würden Neuer, Boateng, Khedira und Özil debütieren. Selbst wenn Frings seine Form zwei weitere Jahre halten sollte, war doch nur noch eine WM-Teilnahme als – dann 33-Jähriger – Ergänzungsspieler realistisch. War es kein Thema? An welchem anderen Punkt sollte ein Trainer denn seinen Kapitän einschalten, wenn nicht um dessen besten Freund im Team auf eine veränderte Rolle oder einen möglichen Abgang vorzubereiten? Ein Reservespieler Frings würde nur funktionieren, wenn sich der Bremer darauf einließ.

Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus. DFB-Sportdirektor Matthias Sammer rügte, dass sich der Kapitän auf dieselbe Stufe wie der Trainer zu stellen versuchte. Letzterer sei “immer etwas Außergewöhnliches”. Karl-Heinz Rummenigge und Jürgen Klinsmann befanden, Ballack müsse sich entschuldigen. Während Lothar Matthäus das gegenseitige Vertrauen erloschen sah, appellierte Klaus Allofs, damals Werder-Manager, an die Vernunft aller, sich an einen Tisch zu setzen. DFB-Präsident Theo Zwanziger monierte zum wiederholten Male binnen mehrerer Wochen, die schmutzige Wäsche der Nationalmannschaft doch bitte nicht in der Öffentlichkeit zu waschen.[11][12][13]

Ballacks Gesundheitszustand verkomplizierte die Posse nur noch. Der 32-Jährige war kurz zuvor an beiden Füßen operiert worden, befand sich in der Reha. Eine Woche schwelte die Geschichte bereits, als ausgerechnet Uli Hoeneß Löw zur Aktion forderte. Bei aller Zeit, die der Bundestrainer ja habe, hätte er “selbst längst nach London fliegen und die Sache aus der Welt räumen können”. Der Schweizer Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld pflichtete ihm bei. Wer den beiden zur gemeinsamen Bayern-Zeit einen solchen Vorschlag gemacht hätte, wäre nie wieder auch nur in die Nähe der Säbener Straße gekommen.[14]

Löw dürfte sich der Symbolkraft eines solchen “Besuchs” bewusst gewesen sein. Der Bundestrainer hatte sich in dieser Situation nicht auf den Störenfried zuzubewegen. Daher wurde telefoniert. Was die Angelegenheit nur schlimmer machte.

Anders als beim Treffen im September dürfte es über die Inhalte keine Missverständnisse gegeben haben, wohl aber über die Interpretation. Ballack kam einer Erklärung des DFB zuvor und ließ bereits am selben Abend eine Erklärung veröffentlichen. Er wolle sich “in kürzester Zeit” mit Löw zusammensetzen und sich entschuldigen. Wohlgemerkt dafür, den Weg über die Öffentlichkeit gegangen zu sein. Während sich Ballack für die Form der Kritik entschuldigen wollte, erwartete Löw eine komplette inhaltliche Kehrtwende.[15]

Ballacks Zukunft in der Nationalmannschaft schien nun wirklich ungewiss. Selbst ein kompletter Rausschmiss war denkbar. Die Abendzeitung wollte von einem Ablasshandel erfahren haben, wonach Ballack zwar weiter Teil der Mannschaft bleiben würde, jedoch nicht mehr ihr Kapitän wäre. Der Favorit auf die Nachfolge: Philipp Lahm.[16]

Drei Tage nach dem Telefonat trafen sich die Parteien zum Friedensschluss. Ballack reiste im Privatjet nach Frankfurt, trotz Reha. Zwei Stunden trafen sich Bundestrainer und Kapitän unter vier Augen. Danach gab der DFB in einer Pressemitteilung zu erklären, Ballack habe seinen Fehler eingesehen: An die Öffentlichkeit zu gehen, habe den Eindruck erweckt, Ballack wolle Löw in seiner Position als Bundestrainer kritisieren. Er blieb Kapitän. Wenige Wochen später sollte er in einem Interview mit dem Pay TV-Sender Premiere zu Protokoll geben, dass er die Öffentlichkeit bewusst gesucht habe, “um ein bisschen wachzurütteln”. Was er da auf der anderen Seite im letzten halben Jahr erweckt hatte, sollte die Zeit zeigen. Die Auflösung des Disputs bestätigte nur, dass Ballack fußballerisch noch zu wichtig für die Nationalmannschaft war. Der Gegenbeweis sollte bei der Weltmeisterschaft 2010 erbracht werden.[17][18]

Meanwhile in London

Währenddessen hatte in London in Folge des verlorenen Champions League Finales 2008 Luis Felipe Scolari die Zügel in die Hand genommen. Und wohl recht schnell schleifen lassen. Denn an der Stamford Bridge war niemand so wirklich mit dem Weltmeistertrainer warm geworden, zu fremd die Methoden, zu schlecht die Ergebnisse. Nach wenigen Monaten war die Amtszeit des Brasilianers beendet. Auch Ballack soll seinem Unmut über den Trainer Luft gemacht haben.[19]

Als Nachfolger wurde Guus Hiddink auserkoren, ein Glücksgriff sowohl für den Verein als auch den deutschen Mittelfeldspieler. Hiddink stabilisierte das Team und brachte den Erfolg zurück, Ballack war gesetzt. Der holländische Coach nutzte ihn so defensiv wie sonst wohl keiner. Ballack agierte teilweise als einziger defensiver Mittelfeldspieler vor der Abwehr. In anderen Phasen teilte er sich die Aufgaben mit Michael Essien. Ein Ligator bei 29 Einsätzen sind Ausdruck für seine offensiv harmloseste Saison in England. Vorne brillierten Frank Lampard, Florent Malouda und der unter Hiddink ebenfalls neu aufblühende Didier Drogba.

Neben seinem Engagement bei Chelsea war Hiddink zugleich Trainer der russischen Nationalmannschaft. Er arbeitete von vornherein mit geborgter Zeit. Da die Konkurrenz aus dem Norden in der Liga bereits enteilt war, musste ein Pokal her, um den Coach am Saisonende mit einer Trophäe zu verabschieden. Wieder einmal ist es gerade der Wettbewerb, in dem es nicht klappte, der in Erinnerung bleibt. Im Halbfinal-Hinspiel der Champions League hatte Chelsea Guardiolas Barcelona ein 0:0 abgetrotzt. An der Stamford Bridge führten sie lange mit 1:0. Mehrere berechtigte Elfmeter wurden den Hausherren nicht zugesprochen. Unvergessen, wie Ballack Schiedsrichter Tom Henning Øvrebø mit wutverzerrtem Gesicht und ausgestreckten Armen über den Platz verfolgt. Die unrühmliche Szene zeigt, unter was für einem Druck er und sein Team standen. Andres Iniesta besorgte schließlich in der dritten Minute der Nachspielzeit den Ausgleich und somit den Finaleinzug Barcas.[20]

Chelseas Triumph sollte wenige Wochen später in Wembley folgen. Dieses Mal bogen sie den Rückstand um, Evertons Louis Saha hatte bereits nach 25 Sekunden getroffen. Drogba antworte nach 20, Lampard nach 70 Minuten. Im Sommer zog Ballack die Option, seinen Vertrag um ein Jahr zu verlängern und mahnte, dem neuen Trainer Carlo Ancelotti die nötige Zeit zu geben. Mit Mourinho, Grant, Scolari und Hiddink würde Ancelotti Chelseas fünfter Cheftrainer in nur drei Jahren werden.

Aber auch der baute auf den Deutschen, der 2009/10 auf 45 Pflichtspieleinsätze (fünf Tore) kam. In der Champions League war überraschend früh Schluss. Bereits im Achtelfinale mussten sich die Blues gegen Internazionale geschlagen geben, verloren sowohl Hin- als auch Rückspiel. In der zweiten Begegnung wurden auf beiden Seiten je vier Spieler verwarnt, Drogba flog nach einem Tritt gegen Thiago Motta vom Platz. Die zynische Spielweise der Mourinho-Truppe sollte u.a. noch Barcelona zur Verzweiflung treiben und am Ende zum Titelgewinn verhelfen. Chelsea war in diesem Sinne einmal mehr schicksalsbehaftet, schieden die Londoner doch bereits zum dritten Mal in Folge gegen den späteren CL-Sieger aus.

In England war die Saison jedoch ein voller Erfolg. Chelsea wurde mit einem Punkt Vorsprung auf Manchester United Meister. Das war vor allem ihrer überragenden Offensive zu verdanken: Nie hatte ein Premier League-Team mehr als 100 Tore geschossen, Chelsea schaffte 103. Dabei schossen sie gleich vier Teams mit sieben oder mehr Buden ab. Drogba wurde mit 29 Treffern Torschützenkönig, Lampard steuerte grandiose 22 Tore bei. Auch den FA Cup konnte Chelsea verteidigen und so das nationale Double klarmachen.

Das Foul und die Folgen

Der 15. Mai 2010: Gegner im Finale von Wembley war Portsmouth, die in der Liga aufgrund finanzieller Probleme abgeschlagen den letzten Tabellenplatz belegt hatten. Trainer Avram Grant wusste die Frustrationen immerhin in einen guten Pokallauf zu lenken. Mit Sunderland, Birmingham und Tottenham wurden drei Premier League-Teams ausgeschaltet.

Für eine Spielzeit hatte auch Kevin-Prince Boateng seine Zelte im Süden Englands aufgeschlagen. Der Deutsch-Ghanaer schaffte zuvor bei Hertha den Durchbruch und erarbeitete sich dort sowie bei seinen Stationen Tottenham und Dortmund den Ruf des Bad Boys. Nach gut einer halben Stunde gerieten er und Ballack im FA-Cup-Finale aneinander. Letzterer hatte sich mit Boatengs Mitspieler Brown ein sehr aktives Kopfballduell geliefert. In der anschließenden Auseinandersetzung wischte Ballack Boateng durchs Gesicht. Referee Chris Foy beließ es bei einer Ermahnung.

Boateng nicht. Nur wenige Minuten später räumte er Ballack resolut ab. Ob vorsätzlich oder nicht, Rücksicht auf Verluste nahm der damals 23-Jährige in der Situation nicht. Wohlwollend ging es ihm darum, den ballführenden Spieler und den gegnerischen Angriff zu stoppen. Zimperlich war Portsmouth aufgrund des Klassenunterschieds ohnehin nicht ins Spiel gegangen. Auf der anderen Seite wirkte es so, als hätte hier einer seine Chance zur Revanche gesehen und genutzt.

Letztere Auslegung entsprach dem geltenden Tenor in Deutschland. Boateng wurde auf Jahre zur persona non grata, denn Ballack schleppte sich im Finale zwar noch einige Momente über den Platz, wurde dann aber noch vor der Halbzeitpause ausgewechselt.

Mit der Diagnose kam der Schock: Teilriss des Syndesmosebandes im rechten Sprunggelenk. Die WM in Südafrika würde ohne den Kapitän der deutschen Nationalmannschaft stattfinden.

Ein solcher Wegbruch der Gallionsfigur war unvorstellbar. “Das Gerüst steht auf sehr wackligen Beinen”, befand der mittlerweile geschasste Torsten Frings im Hinblick auf die Kadersituation. Auf der Position im zentralen Mittelfeld fehlten neben Ballack auch Simon Rolfes und Christian Träsch verletzt. Frings spielte keine Rolle mehr in den Überlegungen des Bundestrainers. Im Februar 2009 war der Bremer noch einmal zu einem letzten Einsatz für die Nationalmannschaft gekommen. Bis zur finalen Absage von Löw, dass er nicht mehr mit ihm plane, sollte ein weiteres Jahr vergehen.[21]

Das Problem mit all den Grünschnäbeln, der “Fraktion Schwiegersohn” (Frings), die ihn und andere Altgediente im Kader ersetzen sollten, waren laut Frings die mangelnde Wettkampfhärte und die fehlende Turnier-Erfahrung. “Gegen England, Argentinien oder Spanien wird es somit eng werden”, prophezeite Frings.[22]

Mit 8:2 Toren in den Spielen gegen England, Argentinien und Spanien zog sich die unerfahrene Truppe dann aber achtbar aus der Affäre. Es sind die K.o.-Spiele, die in der Erinnerung herausstechen. Gerade weil sie in zwei von drei Fällen eben nicht im Desaster endeten. Und weil der Fußball kaum mehr wieder zu erkennen war. Hinten heraus leitete Neuer mehrere Treffer mit schnellen Abschlägen und -würfen ein. Die Abwehr um Mertesacker und Lahm war gefestigt. Schweinsteiger und Khedira ergänzten sich in der Zentrale, ließen Özil davor zur Entfaltung kommen. Der unbekümmerte Thomas Müller wurde zur Entdeckung des Turniers. Vorne schloss Klose unwiderstehlich die Angriffe ab.

Der bemühte Ballbesitzfußball, der auch in der Zeit unter Klinsmann noch notgedrungen gespielt wurde, gehörte der Vergangenheit an. Das Spiel war nun auf Vertikalität und überfallartige Konter ausgelegt. Lagen 2005 zwischen Ballannahme und Weiterleitung im Schnitt noch 2,5 Sekunden, waren es nun nur 1,1. Gegen England und Argentinien wurde die Sekunden-Marke sogar noch unterboten.[23]

Begünstigte Ballacks Ausfall die Spielweise? Selbstverständlich wäre es mit einer solch dominanten Figur nicht dasselbe Spiel gewesen. Die Entwicklung hin zum schnelleren Stil fand aber nicht ausschließlich im Trainingslager von Erasmia nahe Johannesburg statt. Ballack machte den Prozess mit, auch bei den Spielen der EM 2008 war schon ein Unterschied erkennbar. Das Tempo lag dort bei 1,8 Sekunden zwischen Annahme und Verarbeitung. Im englischen Liga-Alltag kam er zurecht, die vertikale Bewegung zwischen den Strafräumen war seine Stärke. Das richtige Gespür, wann er beim Konter aus dem Mittelfeld den Lauf in den Strafraum anbieten müsste, hatte er jahrelang perfektioniert.

Ballack wäre auch in einer erfolgreichen 2010er Mannschaft denkbar. Als einer, der “auf den Ball treten” und “Tempo rausnehmen” als strategische Mittel einsetzen kann. Nicht als Altgedienter, den es durchzuschleifen gilt.

Begünstigte Ballacks Ausfall nicht viel eher die Stimmung im Camp und somit indirekt die Spielweise?

Während der Kader 2008 unter dem “Generationenkonflikt” litt und 2012 von den Grabenkämpfen zwischen Bayern- und Dortmund-Spielern bestimmt wurde, glich die Situation in Südafrika allen Angaben nach eher dem ersten sturmfreien Abend eines Haufens Zwölfjähriger. Viele Spieler vom gleichen Schlag, die die Erfahrung des ersten oder zweiten Turniers eher mit großen Augen aufsaugten als sich die nötige “Wettkampfhärte” abzuholen. Ein guter Teil der Truppe kannte sich eh aus den Junioren-Auswahlmannschaften. 2009 gewann die U21-Auswahl die Europameisterschaft. Fünf Spieler, die dort das Finale bestritten, kamen im Jahr darauf auch in Südafrika zum Einsatz. Die “Fraktion Schwiegersohn” machte die Nationalelf zu ihrer Elf, schneller, als dem einen oder anderen lieb war.

Ein Kapitän ohne Team

“Natürlich ist das nicht einfach”, gab der zugeschaltete Kapitän zu Protokoll. Im Vorbericht der ARD zur Achtelfinal-Partie hatte Ballack den England-Experten gemimt. Wie denn die Stimmung sei, ob Capello aus den Einzelspielern ein Team formen könne. (Durchwachsen. Nein.) Nun sollte es aber um den Capitano gehen. So bejahte der Verletzte die Frage, ob er denn als Fußballer und obendrein Kapitän nicht lieber bei der Nationalmannschaft sei und die WM mitspiele, statt sie vor dem Fernseher zu verfolgen. Fünfzehn Jahre im Stahlbad der Medien hatten Ballack längst zum Profi werden lassen, und doch sind Frustration und Bitterkeit zu erahnen. Bei einem Weiterkommen würde er zur Mannschaft reisen, der Plan stünde. Der Viertelfinal-Einzug fehle zwar noch, aber da mache er sich keine Sorgen.

Auf den moralischen Support schien in Südafrika allerdings niemand gesteigerten Wert gelegt zu haben. Das Viertelfinale verfolgte Ballack im Stadion. In einer Szene fangen ihn die Kameras im Innenraum ein, dem Eingang zu den Katakomben näher als dem Spielfeldrand. Er wirkt vielmehr wie der Ritter von der traurigen Gestalt denn als Kapitän, der seine Mannschaft anfeuert. Und vielleicht liegt hier in der Nachbetrachtung auch schon eine vertane Chance. Es muss verdammt schwer sein, das womöglich letzte Turnier in international hochklassiger Form in solch einer Weise zu verpassen. Dann aber mit den Gegebenheiten zu arbeiten und, nicht im Camp, aber doch vor Ort, den ersten Cheerleader der Mannschaft zu geben, hätte ihm wohl viele Sympathien eingebracht. Oliver Kahn setzte sich bei der WM 2006 auf die Bank, nachdem er den Zweikampf um die Position als Stammtorhüter gegen Jens Lehmann verloren hatte. Der Handschlag zwischen beiden vor dem Elfmeterschießen im Viertelfinale gehört zu den Szenen des Turniers.

Ballack zog sich zurück und reiste nach einer Partie wieder ab, um sich selbst besser auf die neue Saison vorbereiten zu können und die Mannschaft in Ruhe arbeiten zu lassen. Dass im Halbfinale erneut gegen Spanien Schluss war, geriet dank des erfrischenden Stils fast zur Nebensache. Diese Elf habe noch Zeit, daraus würde sie lernen. Unter schlechten Vorzeichen hatte die Mannschaft eine doch erfolgreiche Weltmeisterschaft gespielt. Sogar das Spiel um Platz 3 gewann sie gegen Uruguay mit 3:2. An diesem 10. Juli 2010 sah die Zukunft der Nationalelf vielversprechend aus. Erstmals seit knapp einem Jahrzehnt schien darin auch eine erfolgreiche Variante ohne Ballack denkbar.

Noch im Mai hätte das niemand für möglich gehalten. Nicht einmal Philipp Lahm. Zumindest sprach der Interimskapitän es nicht öffentlich aus, als er gegenüber der SZ davon ausging, “dass Michael nach der WM wieder unser Kapitän sein wird”. Der Wind drehte noch während des Turniers. Lahm dürfte schon während der EM 2008? und zur Causa Frings als Rädelsführer der jungen Garde gegolten haben. Angespornt von den guten Leistungen seiner Mannschaft, schien die Zeit reif, auch extern Ansprüche zu stellen.[24][25]

Die erste Kampfansage lancierte der Münchner ausgerechnet vor dem Halbfinale gegen Spanien. Ballack war soeben abgereist, da warf Lahm am selben Abend in der BILD die Frage auf, warum er das Amt “freiwillig abgeben” sollte. Es sei doch klar, dass er die Kapitänsbinde gerne behalten möchte. In der folgenden DFB-Pressekonferenz befand Bierhoff den Zeitpunkt für “unglücklich”. Ein klares Bekenntnis blieb aus.[26]

Auch die Kritik von außen an Lahm, etwa von Effenberg oder Andi Herzog, störte sich eher am Zeitpunkt. Uli Hoeneß hatte Ballack bereits im Juni zum Rücktritt geraten, befand es für unklug, die EM 2012 mit dann 35 Jahren als großes Ziel ins Auge zu fassen. Lothar Matthäus sprach aus eigener Erfahrung, bereute sein Comeback Ende der 90er und gab die wohl vernünftigste Einschätzung zwischen allen Aufgeregten: Ballacks Fokus sollte auf der eigenen Gesundheit liegen, sodass er überhaupt im Verein noch einmal angreifen könne. Die Nationalmannschaft sei auch ohne ihn gut genug. Die Zeichen der Zeit zu erkennen und nun abzutreten, würde Größe beweisen.[27][28][29]

Schrödingers Kapitän

“Ich bin Kapitän der Nationalmannschaft”, verlautbarte Ballack beim Antritt in Leverkusen. Acht Jahre nach der dreifachen Vize-Saison war der Weltstar auf Bestreben von Bayers Sportdirektor Rudi Völler an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt. Im Hinblick auf Lahm pochte er auf die Hierarchien. Die Kapitänsfrage sei kein Wunschkonzert, bei Ansprüchen müsse er sich an den Trainer wenden. Oder direkt an ihn, denn beim nächsten Länderspiel werde Ballack “noch das eine oder andere Wort [mit Lahm] sprechen”.[30]

Beim ersten Länderspiel nach der WM waren allerdings beide nicht dabei, so wie viele andere Stammkräfte. Für die Statistiker: Im Testspiel gegen Dänemark im August 2010 führte Hitzlsperger die Mannschaft als Kapitän aufs Feld. Ballack fehlte auch Anfang September gegen Belgien und Aserbaidschan beim Auftakt zur EM-Qualifikation aufgrund von Fitnessrückständen. Das ersparte Löw erneut die Entscheidung. Der Bundestrainer wollte ohnehin zunächst mit beiden Spielern reden und “die Frage in aller Ruhe analysieren”. Auch “konzeptionelle Überlegungen” würden dabei eine Rolle spielen. Das legt den Schluss nahe, dass die Entscheidung schon gefallen war. Der offizielle Wechsel auf dem Posten des Kapitäns wäre der logische Endpunkt einer Entwicklung, die konsequent vorangetrieben wurde. Auch wenn die Umsetzung teilweise holpriger war als nötig, siehe Frings. Bierhoff ließ die Haltung der Verantwortlichen durchschimmern, als er bereits im Rahmen des Testspiels gegen Dänemark einen Appell nach Leverkusen schickte. So spüre Bierhoff aus Ballacks Aussagen, dass dieser noch “große Lust auf die Nationalelf” habe, die 100 Länderspiele voll machen und “eine starke EM spielen” wolle. Möglich wären die, dann aber nur nach den Regeln der Teamleitung. Bierhoff: “Ich glaube, das wird er nicht davon abhängig machen, ob er Kapitän bleibt.”[31][32]

So angriffslustig Ballack sich zum Antritt in Leverkusen gezeigt hatte: Sein zweiter Stint bei der Werkself stand unter einem schlechten Stern. Am 3. Spieltag musste er bereits nach einer halben Stunde verletzt ausgewechselt werden. Diesmal war es eine Schienbeinverletzung, die sich als hartnäckig erweisen sollte. Ballack fiel beinahe die komplette Hinrunde aus. In der Saison 2010/11 bestritt er nur 20 von 48 Leverkusener Pflichtspielen, wobei er 14 Mal in der Startelf stand. Glänzen konnte er selten.

Sein Team war allerdings trotzdem gut unterwegs. Leverkusen überwinterte auf Platz drei, punktgleich mit dem Tabellenzweiten Mainz, allerdings zehn Punkte hinter Dortmund. Mit seinem Vereins-Comeback zu Beginn 2011 wurde Ballack dann auch wieder, zumindest medial, ein Thema für die Nationalelf. Und bekam kurioserweise auch von Löw Rückendeckung. “Ballack ist der Kapitän, wenn er wieder dabei ist”, erklärte der Bundestrainer Ende Dezember in der Welt am Sonntag ohne Not. Ballack brauche nur Spielpraxis, dann regle sich alles andere schon.[33]

Die Devise lautete also: Aussitzen und hoffen, dass sich das Problem von allein erledigt. War es bei der ersten Länderspielreise im Februar 2011 durchaus sinnig, abzuwarten und zu schauen, wie sich Ballacks Fitnesszustand entwickelt, wurde mit fortschreitender Rückrunde einfach das Zeitfenster verschoben. Im Rahmen der anstehenden Nominierungen im Frühjahr wurde Ballack vertröstet, die Fitness… Aber man wolle sich in Kürze zusammensetzen und reden. Im Mai lautete der Tenor dann, man wolle “mal sehen, was in der nächsten Saison passiert”.[34]

Dabei war es ungewiss, ob Ballack diese noch in Leverkusen bestreitet, wechselt oder gar ganz aufhört. Denn auch im Verein hatte er beileibe keinen guten Stand. Der dreifache Fußballer des Jahres wurde weniger als heimkehrender Sohn betrachtet, denn mit Argwohn. Der Transfer ging vor allem auf Völler zurück, der seinen alten Weggefährten mit einem Zweijahresvertrag ausstattete. Das kolportierte Grundgehalt belief sich dabei auf sechs Millionen Euro im Jahr. Da hilft es nicht, auch noch Sonderbehandlungen einzufordern. Mit Trainer Jupp Heynckes war Ballack mehrfach aneinander geraten, da er sich halbfit nicht auf die Bank setzen wollte. Andererseits herrschte ohnehin ein Überangebot im zentralen Mittelfeld, defensiv wie offensiv. Das 4-2-3-1 als Grundlage ließe sich mit Simon Rolfes, Arturo Vidal und Renato Augusto sowie dem jüngeren Trio aus Stefan Reinartz (21 Jahre), Lars Bender (21 J.) und Gonzalo Castro (21 J.) eine ordentliche Doppelbesetzung ausmachen. Hinzu kam noch Routinier Hanno Balitsch, der zumindest den Vorteil hatte, fit zu sein und fit zu bleiben.[35][36]

Es war schon kaum mehr realistisch, dass sich Ballack noch einmal zum Leistungsträger eines Champions League-Klubs aufschwingen würde. In Leverkusen war kein Stammplatz zu haben, somit war auch eine leistungsbezogene Nominierung für die Nationalmannschaft in weite Ferne gerückt. Seit März hatte es rumort, dass Ballack noch eine Abschiedsspiel-Nominierung erhalten solle. Im Juni 2011 hatte Fußball-Deutschland schließlich Gewissheit, jedoch nicht ohne eine letzte Episode im Ballack-Löw’schen Rosenkrieg.

Vier Tage des Nachtretens

Am 16. Juni ließ der DFB über eine Pressemitteilung wissen, dass die Nationalmannschaft zukünftig ohne Michael Ballack plane und seinen Jugendkurs fortsetze. Ende März habe ein Treffen zwischen Löw und Ballack stattgefunden, zudem standen Bundestrainer und Kapitän a.D. regelmäßig telefonisch im Austausch. Löw habe dabei den Eindruck erhalten, dass Ballack durchaus Verständnis für die Sichtweise der Teamleitung hat. Im Interesse aller sei daher “eine ehrliche und klare Entscheidung angebracht” gewesen. Ein bereits angesetztes offizielles Freundschaftsspiel gegen Brasilien im August sollte als Abschiedsspiel dienen.[37]

Das Angebot schlug Ballack einen Tag später öffentlich aus. Im Nachhinein ein Test- zum Abschiedsspiel zu deklarieren, sei eine “Farce”. Ferner sei es scheinheilig zu behaupten, mit ihm und seiner Rolle sei “jederzeit offen und ehrlich umgegangen” worden.[38]

Das unwürdige Schauspiel nahm seinen Lauf. Die Reaktionen des DFB reichten von Gleichgültigkeit bis Entrüstung. Während Löw genau wusste, “was in den Gesprächen besprochen wurde”, zeigte Präsident Niersbach für Begriffe wie “Scheinheiligkeit” und “Farce” kein Verständnis. Die Gespräche seien aus seiner Sicht korrekt und fair verlaufen. Zudem soll im März bereits die Entscheidung über die Ausbootung/Abdankung kommuniziert und Stillschweigen vereinbart worden sein. Neben der Partie gegen Brasilien stand auch eine Nominierung im Mai für das Testspiel gegen Uruguay im Raum. So sollte die Marke von 100 Länderspielen erreicht werden. Dies habe Ballack ausgeschlagen.[39]

Ballack behielt am 19. Juni das letzte Wort, wohl aber nicht die Deutungshoheit. In einer Erklärung traf er Aussagen, die denen des DFB scheinbar diametral gegenüber stehen. Beim Treffen im März hätte Löw klar gesagt, dass er Ballack auf einem guten Weg sehe. Die Möglichkeit zur Rückkehr in die Nationalmannschaft wäre nicht versperrt. Vielmehr habe Ballack im Mai entschieden, selbst seinen Auswahl-Rücktritt zu verkünden. Als Zeitpunkt dafür schien ihm der Sommer angemessen. Dies sei so auch mit Löw und Niersbach abgestimmt worden. Während seines Urlaubs habe er dann lediglich eine Stunde vor ihrer Veröffentlichung von der Pressemitteilung erfahren.[40]

Letztlich verlief es wie schon mit Frings. An eine Wunderheilung, dass Ballack mit Mitte 30 nun endlich von Verletzungen verschont bleiben und nochmal an alte Glanztaten anknüpfen würde, wird niemand mehr geglaubt haben. Das Fass nicht während der WM 2010 aufzumachen, ist verständlich. Zumal Löws Vertrag mit dem Turnier auslief und eine Verlängerung an ein gutes Abschneiden geknüpft war. Die Frage, wo ein Spieler, der nicht zum Kader der 23 vor Ort gehört, gerade in der Hierarchie steht, dürfte nicht zu den pressierendsten des Bundestrainers gehört haben.[41]

Das mag und wird in der Mannschaft anders gewesen sein. Bei Ballacks Besuch dürfte dann wohl zu erkennen gewesen sein, dass er eben nicht mehr zu seinem Team kommt. Peter Ahrens brachte den Unterschied zwischen altem und neuen Kapitän auf den Punkt: Lahm ist Klassensprecher, nicht Leitwolf. Darauf sprang die Mannschaft in dieser Konstellation eher an. Und wollte diesen Weg weiter mitgehen. Lahm dürfte sich, ganz Klassensprecher, einer breiten Unterstützung im Team bewusst gewesen sein, die öffentliche Ansage in dieser Art und Weise während des Turniers zu lancieren. Das Ganze lässt sich beklagen oder bejubeln, als Fraktion Schwiegersohn schlecht reden oder zu flachen Hierarchien stilisieren. Es waren, wertfrei, einfach die Zeichen der Zeit.[42]

Und es waren andere Gegebenheiten, mit denen Ballack Mitte der Neunziger zwischen Chemnitz und Kaiserslautern als Jungprofi konfrontiert und in denen er sozialisiert wurde. “[Junge Spieler] hatten sich unterzuordnen, einzuordnen”, erzählte er 2009 in einem Interview mit der 11Freunde. Rechte und Freiheiten hätten junge Spieler nicht gehabt. Dafür konnten sie “innerhalb des Gerüsts wachsen”. Das zu vermitteln, ist Ballack nicht gelungen, wenn er es denn versucht hat.[43]

Nach der von Zwistigkeiten begleiteten EM 2008 soll der Bundestrainer seinem Kapitän ans Herz gelegt haben, seine Kritik an die Mannschaftskollegen doch moderater vorzutragen. Die dafür nötige Einfühlsamkeit mag ihm völlig abgegangen sein. Die Nuller Jahre hindurch verbrachte er in größtenteils “fertigen” Vereinsmannschaften. Bereits die Bayern hatten wenig Raum für junge entwicklungsfähige Spieler, solche die angelehrt werden mussten. Bei Chelsea war der Verdrängungskampf nur noch größer. Gestandene Spieler wurden für teures Geld geholt und, wenn sie nicht die erhoffte Leistung erbrachten oder in die Jahre kamen, durch andere gestandene Spieler ersetzt. Ballack war es im Sommer 2010 nicht anders ergangen. Alle zwei Monate zur Nationalmannschaft zu reisen, mit einer völlig ungewohnten Spielergeneration konfrontiert werden und diese dann in Reih und Glied bringen zu wollen, funktionierte nicht. Bzw. nur bis zu dem Punkt, wo die anderen nicht an der unabstreitbaren spielerischen Klasse vorbeikamen. Und irgendwann fehlten ihm die Kempen, die es auch noch so kannten, von Kahn und Lehmann über Nowotny und Metzelder hinzu Schneider und Frings.[44]

Nach der Weltmeisterschaft hätte die Entscheidung, die intern wohl gefallen war, auch kommuniziert werden können. Oder nach dem Treffen im März, bei dem jeder das rausgehört hat, was er hören wollte. Ballack mag der Letzte sein, der sich in diesem Fall Lahm kampflos geschlagen gegeben hätte, es wäre allemal ehrenwerter gewesen, als die Geschichte ein Jahr lang hinauszuzögern.

Und so schließlich Matthäus zu bestätigen, denn der hatte es am besten gewusst: Selber abtreten, Kräfte schonen, im Verein einen guten Abschluss finden. Auch Ballacks Saison 2011/12, in Diensten von Bayer Leverkusen, blieb von Verletzungen geplagt. Nur dieses Mal lief es chronologisch umgekehrt zur Vorsaison: Die beste Phase hatte Ballack von Oktober bis Dezember. Ein Muskelfaserriss verdarb dann die Rückrunde. Insgesamt machte Ballack 25 von 45 Pflichtspielen mit, stand 20 Mal in der Startelf. Nebenkriegsschauplatz in der zweiten Saisonhälfte war die Entscheidung, wie es weiterging. Wollte Ballack, dessen Vertrag auslief, in die MLS? Sollte Leverkusen verlängern? Dieses Mal entschied er selbst. Und hörte auf.

Unvollendet. Unvergessen?

Während großer Turniere gibt es einige Regelmäßigkeiten in Deutschland: Fatalismus zu Beginn, unangenehmer Patriotismus währenddessen und bei Problemen oder nach dem Ausscheiden die ewige Debatte um Führungsspieler der Marke Lautsprecher – eben Einer, der das Weiterkommen mit schierem Willen sichert.

Bei der EM 2016 war das nach dem zweiten Gruppenspiel nicht anders. Die Auswahlen Deutschlands und Polens trennten sich in Saint-Denis nach müdem Ballgeschiebe in einem torlosen Remis. Aufgrund des Turnierformats half das Unentschieden beiden. Der Auftritt der DFB-Elf ließe sich auch unter dem Motto “ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss” verbuchen.

In den USA hatte der Sportsender ESPN die Partie übertragen. “Sie versuchen immer schön zu spielen, den Ball ins Tor zu tragen”, monierte der diensthabende Experte. Sein Fazit: “Dieser Mannschaft fehlen ein bisschen Persönlichkeit und Charakter.”[45]

Nachdem alle Gazetten den Kommentar aufgegriffen und weitergesponnen hatten, äußerte sich auch Löw. Und wies Kritik an der Mannschaft vehement ab: “Als Außenstehender wäre ich da ganz ruhig.” Der Bundestrainer arbeitete sich an der Debatte als solcher ab, schien aber auch mit seiner Geduld dem ursprünglichen Unruhestifter gegenüber am Ende. “Wenn da irgendjemand jetzt was sagt…”[46]

Dieser Irgendjemand absolvierte 98 Länderspiele, holte insgesamt fünf Meisterschaften und sechs nationale Pokale. In drei Spielzeiten wurde er zum besten Fußballer des Landes gewählt, ein Jahrzehnt hindurch war er stets in der Verlosung. Und einige Zeit lang war er der einzige Lichtblick im ansonsten düsteren Fußballdeutschland.

Was Joachim Löw spitzzüngig formulierte, wirft in leicht geändertem Kontext eine interessante Frage auf: Welchen Stellenwert besitzt Michael Ballack im deutschen Fußball? Ist er aufgrund des fehlenden großen Titels ein Außenstehender, wenn es um die Ikonen des Sports geht? Verschwindet er zwischen den Europameistern von 1996 und den Weltmeistern von 2014 in der Bedeutungslosigkeit, wird so zu „Irgendjemandem“?

Im November 2016 wurde Jürgen Klinsmann als Ehrenspielführer der Nationalmannschaft ausgezeichnet. Die wenigsten deutschen Fans werden die ausgezeichneten Spieler aus dem Stegreif runterbeten können. Dafür ist der Titel zu selten Thema. Auch bei Klinsmann wurde die Verleihung nur als Nachricht versendet, fertig. Als eigens vom DFB vergebener Titel ist es natürlich PR, aber in seiner Seltenheit markiert Ehrenspielführer doch die prägenden Akteure einzelner Epochen: Walter, Seeler, Beckenbauer, Matthäus, Klinsmann; Wiegmann und Prinz bei den Damen.

Als nächste Spielergeneration ist die Reihe bald an den frühen Nullern, wenn sie denn geehrt werden sollten. Einzig Oliver Kahn könnte Ballack hier den Titel streitig machen, führte die DFB-Auswahl 50 Mal an und hat mit dem WM-Finale 2002 einen ähnlichen tragischen Schlüsselmoment wie Uwe Seeler 1966: Kahn sitzend an den Pfosten gelehnt, Seeler erschöpft und enttäuscht vom Platz gehend.

Für Ballack findet sich eine entsprechende historische Parallele möglicherweise in den Achtzigern: Karl-Heinz Rummenigge erzielte in 95 Länderspielen 45 Tore, die fünftmeisten. 1980 bereits Europameister geworden, führte Rummenigge anschließend die Nationalmannschaft von ‘81 bis ‘86 als Kapitän in zwei WM-Endspiele. Dort musste sich Deutschland Italien respektive Argentinien geschlagen geben.

Wer nicht ins Finale kommt, kann es auch nicht verlieren. Zwischen DFB-Pokal, FA und League Cup, Champions League sowie EM stand Michael Ballack in zwölf Endspielen auf dem Platz. Sieben Mal ging er als Sieger vom Feld, fünf Mal als Verlierer. Es ist das Schicksal des Mannschaftssportlers, dass er das Ergebnis, im Guten wie im Schlechten, nur zum Teil beeinflussen kann. Kehrte man alle Resultate um, wäre der Trophäenschrank immer noch voll. Und hätte den verdammten internationalen Titel.

Teil 1 und 2 lesen:

Tränen im Mai

Michael Ballack gilt in Deutschland als Unvollendeter. Das klingt episch, verkauft seine Karriere aber unter Wert. Dem größten Fußballer der Nation in den Nuller-Jahren haftet immer noch das Stigma des… Weiterlesen

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Ballack Begins

Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den… Weiterlesen

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Fußnoten und weiterführende Links

[1] http://www.sueddeutsche.de/sport/deutsche-nationalmannschaft-als-ballack-und-frings-noch-das-sagen-hatten-1.3005701-2

[2] http://sportbild.bild.de/fussball/nationalmannschaft/sport-bild-erklaert-ihn-und-nennt-namen-19687234.sport.html

[3] http://www.kicker.de/news/fussball/nationalelf/startseite/artikel/211281/

[4] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[5] http://www.rp-online.de/sport/fussball/em/dfb/ballack-legt-sich-mit-bierhoff-an-aid-1.1643937

[6] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[7] http://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/zoff-zwischen-bierhoff-und-ballack-eskaliert-boss-zwanziger-fordert-machtwort-von-loew

[8] http://www.spiegel.de/sport/fussball/ruecktrittsandeutungen-frings-fuehlt-sich-von-loew-gedemuetigt-a-584688.html

[9] http://www.spox.com/de/sport/fussball/dfb-team/1005/Artikel/torsten-frings-joachim-loew-nationalmannschaft-wm-enttaeuscht.html

[10] http://www.spiegel.de/sport/fussball/schuetzenhilfe-fuer-frings-ballack-legt-sich-mit-loew-an-a-585625.html

[11] http://www.augsburger-allgemeine.de/sport/Ballack-und-Frings-legen-im-Machtkampf-nach-id4376946.html

[12] http://www.smh.com.au/world/rebel-ballack-must-apologise-to-loew-says-klinsmann-20081024-58f1.html

[13] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/streit-in-der-nationalmannschaft-rummenigge-und-matthaeus-greifen-ballack-an-1710065.html

[14] http://www.abendblatt.de/sport/article107467016/Ballacks-Sorry-veraergert-Loew.html

[15] http://www.abendblatt.de/sport/article107467016/Ballacks-Sorry-veraergert-Loew.html

[16] http://www.abendblatt.de/brazil/article109033011/Wird-Lahm-Kapitaen-der-Nationalmannschaft.html

[17] http://www.abendblatt.de/sport/article107469709/Loews-Friedensbefehl-an-Ballack.html

[18] http://www.abendblatt.de/brazil/article108966905/Ballack-verteidigt-seine-Kritik-an-Loew.html

[19] http://www.telegraph.co.uk/sport/football/teams/chelsea/5674425/Former-Chelsea-manager-Luiz-Felipe-Scolari-points-finger-at-Drogba-Ballack-and-Cech.html

[20] http://www.espnfc.us/story/1050513/tom-henning-ovrebo-my-refereeing-errors-cost-chelsea-in-2009

[21] http://www.t-online.de/sport/id_21446882/nationalmannschaft-frings-laesst-loew-nach-zehn-minuten-einfach-sitzen.html

[22] http://www.spox.com/de/sport/fussball/dfb-team/1005/Artikel/torsten-frings-joachim-loew-nationalmannschaft-wm-enttaeuscht.html

[23]Insel des modernen Fußballs, Der vierte Stern, Raphael Honigstein

[24] http://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-wm-historie-kapitaene-des-dfb-von-regenmacher-bis-leitwolf-1.950666

[25] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/kritik-am-kritiker-isolierter-insulaner-1712751.html

[26] http://www.spiegel.de/sport/fussball/machtkampf-um-die-binde-kapitaenchen-gegen-capitano-a-704880.html

[27] https://www.welt.de/sport/wm2010/article8333838/Loew-und-Bierhoff-aergern-sich-ueber-Lahms-Attacke.html

[28] http://www.n-tv.de/sport/FussballWM/Hoeness-an-Ballack-Hoer-auf-article901523.html

[29] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/lothar-matthaeus-im-gespraech-die-mannschaft-braucht-ballack-nicht-mehr-11013100.html

[30] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-um-kapitaensamt-ballack-sagt-lahm-den-kampf-an-a-706480.html

[31] http://www.spiegel.de/sport/fussball/zukunft-der-dfb-elf-loew-haelt-sich-die-kapitaensfrage-offen-a-711085.html

[32] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-ums-kapitaensamt-michael-ballast-a-704993.html

[33] http://www.n-tv.de/sport/fussball/Loew-verspricht-Ballack-die-Binde-article2232561.html

[34] http://www.spiegel.de/sport/fussball/kurzpaesse-loew-will-mit-ballack-sprechen-diego-zurueck-auf-dem-trainingsgelaende-a-762642.html

[35] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/ballack-zurueck-nach-leverkusen-lieb-und-sehr-teuer-1997174.html

[36] http://www.n-tv.de/sport/fussball/Ballack-spaltet-Leverkusen-article2780066.html

[37] http://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-nationalmannschaft-loew-verzichtet-endgueltig-auf-ballack-a-768727.html

[38] http://www.spiegel.de/sport/fussball/fussball-nationalmannschaft-ballack-wirft-loew-scheinheiligkeit-vor-a-769119.html

[39] https://web.archive.org/web/20110620190427/http://www.kicker.de/news/fussball/nationalelf/startseite/554075/artikel_loew_weiss-was-besprochen-wurde.html

[40] http://www.spiegel.de/sport/fussball/ex-capitano-michael-ballacks-erklaerung-im-wortlaut-a-769274.html

[41] http://www.sn-online.de/Sport/Sport-ueberregional/Loews-Zukunftsplaene-weiterhin-ungewiss

[42] http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-ums-kapitaensamt-michael-ballast-a-704993.html

[43] 11Freunde, Heft #95 Oktober 2009

[44] http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/ballack-kontert-im-dfb-streit-nicht-entscheidend-ob-bierhoff-manager-ist-oder-nicht-1694735.html

[45] http://www.rp-online.de/sport/fussball/em/dfb/em-2016-sami-khedira-nennt-kritik-von-michael-ballack-comedy-aid-1.6060918

[46] http://www.fr-online.de/em-2016—hintergrund/nationalmannschaft–loew-laesst-ballack-abblitzen-,34308188,34388566.html

Beitragsbild: Michael Ballack on public viewing screen [_30th June 2008_]
/ Karl-Ludwig Poggemann via Flickr | CC-BY 2.0

Du hast auch ein Thema, das Dich bewegt und das gut zu 120minuten passen könnte? Dann wäre vielleicht unser Call for Papers etwas für Dich!

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https://120minuten.github.io/der-letzte-leitwolf/feed/ 1 3151
Buchbesprechung: Uwe Karte – Montreal Privat. Die unglaubliche Geschichte vom Olympiasieg der DDR-Fußballer https://120minuten.github.io/buchbesprechung-uwe-karte-montreal-privat-die-unglaubliche-geschichte-vom-olympiasieg-der-ddr-fussballer/ https://120minuten.github.io/buchbesprechung-uwe-karte-montreal-privat-die-unglaubliche-geschichte-vom-olympiasieg-der-ddr-fussballer/#respond Thu, 03 Nov 2016 15:00:22 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2570 Weiterlesen]]> Die Frage, die sich mir beim Lesen dieses Buches stellte, war, was man erwarten sollte vom Titel: Montreal Privat. Aussagen der Spieler der DDR, die in Montreal dabei waren? Private Fotos? Späte Bekenneraussagen, dass man doch lieber in Kanada geblieben wäre, sich aber – aus welchen Gründen auch immer – doch entschieden hat, zurückzukehren? Nichts von alledem. Vielmehr erzählt Uwe Karte uns die Vorgeschichte der DDR-Fußballnationalmannschaft auf dem Weg zu Olympia 1976 und spannt den Bogen vom Herbst 1973 bis zum Finale im Olympiastadion von Montreal bis zum Sommer 1977. Dabei begleitet ihn Hans-Jürgen ‘Dixie’ Dörner, die Ikone von Dynamo Dresden mit Erinnerungen und Anekdoten.

Eins ist festzuhalten: Der Titel ist etwas irreführend. Privat sind nur die Fotos der Spieler, die alles mögliche festhielten, sogar von der Ersatzbank aus knipsten! Der Text dagegen behandelt die Entwicklung der DDR-Fußballnationalmannschaft in der ersten Hälfte der 1970er Jahre bis 1976, bis zum Olympiasieg in Montreal gegen Polen. Dabei verfolgt Uwe Karte die Entstehung der Mannschaft, der Georg Buschner vertraute und untermalt diese mit Ausschnitten aus der Karriere einzelner Spieler. Zentrale Figur 1976 war Dixie Dörner, der Kapitän und Spielmacher dieser Elf und auch bei diesem Buch war er mit dabei und hat in kleinen Interviews seine Sicht der Dinge präsentiert. So entsteht ein unglaublich dichtes Bild des DDR-Fußballs in seiner erfolgreichsten Phase. Uwe Karte gelingt hierbei etwas, was wohl sonst nur Jonathan Wilson schafft. Stück für Stück erläutert, er wie sich die Mannschaft herauskristalliert, wie Spiel für Spiel die Bausteine besser in die Gesamtkonstruktion passten. So erscheint es schlüssig, dass der Erfolg nur möglich war durch den Umbau der Mannschaft; die Zeit des Magdeburger Blocks, der 1974 bei der WM und vorher im Europapokal noch für Furore sorgte, war vorbei. Dresden war an der Reihe. Kraftfußball wurde durch Spielfreude und Technik ersetzt. Es sind dies die besten Passagen des Buches, weil es eben diese Einsichten in die Genese dieser Mannschaft sind, die Spannung schaffen.

Olympiasieger bist Du ein Leben lang (S.152)

Ein Erinnerungsbuch würde in den meisten Fällen die unschönen Momente auslassen oder nur sehr kurz streifen. Der Autor dagegen schließt die Berichte der Presse mit ein und diese ließ wahrhaftig kein gutes Wort an den Spielern und ihren gezeigten Leistungen. Der Leistungseinbruch nach der WM war selbst für den Trainer Buschner überraschend gekommen, was er selber gegenüber den Parteigenossen unumwunden zugab; die Presse zerriss die Mannschaft förmlich. Die fuwo war dabei wohl noch am sachlichsten, wenn sie nach einer 3:1-Schlappe gegen die CSSR schrieb: ‘Was dabei enttäuschte, war das WIE dieses 1:3.’ (S.31) Dafür sind kritische Worte, sachlich und offen, scharf und helfend, durchaus angebracht.’ (S.33) Selbst während des olympischen Turniers waren die Schreiberlinge nicht zufrieden. ‘Endlich mal Tore’ (S.133), maulte etwa die fuwo nachdem Frankreich mit 4-0 geschlagen wurde. Immerhin spielte ein gewisser Michel Platini mit, der 1984 seine Mannschaft zur Europameisterschaft führen sollte.

Nicht unerwähnt lässt Karte ebenso die unschöne politische Situation im Hintergrund. Der DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund) und der DFV der DDR (Deutscher Fußballverband) lagen im Dauerstreit, die Gründe waren vielfältig. Der Erfolg von 1974 hatte auf beiden Seiten Begehrlichkeiten geweckt. Der DTSB sah im Fußball die Möglichkeit, doch Medaillen zu gewinnen, der DFV wollte mehr Unabhängigkeit. Dass dies logischerweise zu Konflikten führen musste, war klar. Eins der prominentesten Opfer war kein geringerer als Heinz Krügel, der den 1. FCM zwischen 1966 und 1976 zu 3 Meisterschaften, 2 Pokalsiegen sowie zum Europapokalsieg 1974 führte. Vorgeworfen wurde ihm eine mangelhafte Vorbereitung der Olympiakader; der wahre Grund waren sein Erfolg und seine politische Unangepasstheit.

Einen Schnitzer leistet sich Karte, indem er die erste Weltmeisterschaft 1930 von Uruguay nach Argentinien verlegt. Dem folgt ein kurzer Abriss über die Geschichte des Fußballs während der olympischen Spiele; leider kommt dieser mittendrin und unterbricht den Erzählstrang. Überhaupt würden dem Buch Zwischenüberschriften sehr gut tun. Dies würde dem Lesefluss helfen. Ohne jede Unterteilung geht es flott voran und man wechselt sehr häufig Szenario und Personal ohne Vorwarnung. So geht es von der Entlassung mit anschließendem Berufsverbot für Heinz Krügel im Frühsommer 1976 direkt ins vorolympische Trainingslager nach Kienbaum. Leider kommen diese Szenenwechsel ein wenig zu oft und unerwartet; eine Trennung würde hier gut tun. Nichtsdestotrotz ist Uwe Karte mit diesem Buch ein großartiger Wurf gelungen von einem Turnier und einem Olympiasieg, der heute gern vergessen und belächelt wird. Es ist kein Buch, welches in einen Ostalgieton verfällt oder in die Kategorie “Sicher gibt es bessere Zeiten, aber diese war die unsere” einzuordnen wäre.

Bei 120minuten haben wir uns dem Olympiasieg der DDR-Fußballer ebenfalls gewidmet – Autor Fedor Freytag lässt das olympische Fußballturnier Revue passieren:

Der vergessene Triumph

Bei den olympischen Sommerspielen 1976 konnte die Fußballnationalmannschaft der DDR ihren ersten und einzigen Titelgewinn feiern, der heute etwas in Vergessenheit geraten ist. Autor: Fedor Freytag, stellungsfehler.de 1976. Welch ein… Weiterlesen

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https://120minuten.github.io/buchbesprechung-uwe-karte-montreal-privat-die-unglaubliche-geschichte-vom-olympiasieg-der-ddr-fussballer/feed/ 0 2570
„Hättest du den Pokal doch ein bisschen länger hochgehalten!“ Bernard Dietz https://120minuten.github.io/haettest-du-den-pokal-doch-ein-bisschen-laenger-hochgehalten-bernard-dietz/ Thu, 11 Aug 2016 18:01:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2457 Weiterlesen]]> Ein Spieler des MSV Duisburg als Kapitän der DFB-Auswahl? Das gab es. Bernard Dietz erzählt im Interview, wie er zu seinem Spitznamen kam, wie er die DFB-Auswahl zum EM-Titel 1980 führte und wie es war, als Spieler vom kleinen MSV im illustren Kreis der Nationalmannschaft. Der Text stammt aus dem EM-Magazin 72809616 und wurde uns mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.

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50 Jahre Wembley-Finale: Die brave Klasse von 1966 https://120minuten.github.io/50-jahre-wembley-finale-die-brave-klasse-von-1966/ Tue, 19 Jul 2016 18:01:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2378 Weiterlesen]]> An der deutsch-englischen Rivalität auf dem Fußballplatz ist wohl das WM-Finale 1966 nicht ganz unschuldig. Markus Hesselmann blickt zurück auf das Finale von Wembley und sieht ein Team, das er vor allem mit einem Wort umschreibt: brav. Die Spieler von 1966 um Kapitän Uwe Seeler hatten nicht den Status von Helden wie die Weltmeister von 1954. Und in der Popkultur war der Fußball in Deustchland Mitte der 60er-Jahre auch noch nicht angekommen. Eine treffende Beschreibung und Einordnung in den historischen Kontext.

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“Die 66er WM war ja unglaublich brutal” – Interview mit Wolfgang Weber https://120minuten.github.io/die-66er-wm-war-ja-unglaublich-brutal-interview-mit-wolfgang-weber/ Fri, 25 Mar 2016 18:01:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2089 Weiterlesen]]> Als im Wembley-Stadion im WM-Finale 1966 das entscheidende Tor zum 3:2 fiel, hatte Wolfgang Weber beste Sicht. Dem Tagesspiegel gab er jüngst ein ausführliches Interview, das weit mehr als den fragwürdigen Treffer beleuchtet und viele Eindrücke vom Weltturnier in England liefert.

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Ballack Begins https://120minuten.github.io/ballack-begins/ https://120minuten.github.io/ballack-begins/#respond Tue, 22 Dec 2015 07:00:11 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1702 Weiterlesen]]> Michael Ballacks aktive Karriere ist mittlerweile Stoff für die Fußballgeschichtsbücher. Im Sommer 2012 hängte er seine Stiefel an den Nagel. Zwei Jahre später gewann die Deutsche Nationalmannschaft in Brasilien den langersehnten Weltmeistertitel – ohne den Capitano. Was bleibt nach eineinhalb Jahrzehnten Profitum? Eine Retrospektive in drei Teilen.

Autor: Sebastian Kahl

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“Michael Ballack” (via aquafisch/Flickr | CC BY-NC 2.0)

Prolog

Was sollte Urs Meier auch machen? Fast schon entschuldigend zückt er die gelbe Karte und zeigt sie dem Übeltäter. Was hätte der aber auch machen sollen? Zwanzig Minuten vor Schluss, beim Spielstand von 0:0, hatten sich die Südkoreaner zum Konter aufgemacht. Die deutschen Angreifer wünschten gute Fahrt und ihrer Hintermannschaft gutes Gelingen. Kurz vor dem Strafraum lässt der ballführende Chun Soo Lee mit einem Haken Carsten Ramelow aussteigen, sieht vor sich drei Rote gegen zwei Weiße… Und wird von hinten zu Fall gebracht. Urs Meier notiert sich in seinem Block die 71. Spielminute: Gelb für Nummer 13, Deutschland. Das Herz der Fußballnation sinkt, die Bauchbinde der Weltregie informiert die Uneingeweihten nüchtern, bürokratisch: „Michael Ballack – Misses next match“. 

In dem Sprint zurück liegen die Strapazen von 50 Saisonspielen für Bayer Leverkusen; elf Länderspielen: Kopf gesenkt, ungewohnt steif. Und trotzdem schneller als Torsten Frings, der als einziger Kollege den Weg mitgeht. Minuten später zieht er wieder einen Lauf übers halbe Feld an, dieses Mal in den gegnerischen Strafraum. Von rechts kommt die Flanke, er verwandelt den Abpraller zum entscheidenden 1:0. Michael Ballack ist im Sommer 2002, im Alter von 25 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Schaffens: physisch imposant, doch geschmeidig, beidfüßig, schussgewaltig, kopfballgefährlich; kurz: der komplette Spieler. 29 Saisontore für Verein und Land, allein drei in den Playoffs gegen die Ukraine. Folgerichtig „Fußballer des Jahres“, seine erste von insgesamt drei Auszeichnungen. Ein Versprechen in die Zukunft, dass eine darbende Nationalmannschaft vom Titel im eigenen Land träumen konnte. In Japan/Südkorea hievten Kahn und Ballack die Deutsche Auswahl bis ins Finale.

„Vielleicht ist es ein gutes Omen, dass ich nicht spielen kann.“

~ Ballack unmittelbar nach dem Halbfinale [1]

Heimat

Michael Ballack wird am 26. September 1976 in Görlitz geboren. In der Grenzstadt zu Polen verdienten sich u.a. so bedeutende Spieler wie Dixie Dörner, Heiko Scholz und Jens Jeremies ihre ersten Sporen. Familie Ballack zieht aber samt Filius im Frühjahr 1977 nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigem Chemnitz. Das Wohngebiet „Fritz-Heckert“, benannt nach einem hiesigem KPD-Politiker, wird Ballacks erste Spielstätte. Ein Viertel aller Einwohner von Karl-Marx-Stadt wohnt in der modernen Plattenbausiedlung. Betonwände und Wäschestangen dienen den Knirpsen als Tore. Mit sieben Jahren läuft er für die Jugendmannschaft des Lokalvereins BSG Motor Fritz Heckert Karl-Marx-Stadt auf. Die Herrenabteilung spielt immerhin in der zweitklassigen DDR-Liga. Ballack dominiert die Nachwuchsrunde: Als Zehnjähriger erzielt er 57 Tore in 16 Spielen, gegen Crimmitschau soll er zwölf Tore in fünfzig Minuten Spielzeit geschossen haben.

„Ich sah gleich, dass da ein außergewöhnlicher Spieler heranwächst. Er hatte von Anfang an eine gehörige Portion Talent und konnte schon damals mit rechts und links schießen. Ein Ballgefühl, als hätte er schon fünf Jahre Training hinter sich. So was nennt man wohl Naturtalent.“

~ Steffen Hänisch, Jugendtrainer Ballacks bei MFK Karl-Marx-Stadt [2]

Im System des DDR-Sport bleibt so ein Talent nicht unentdeckt. Noch weniger wird einem solchen Talent erlaubt, nicht im größten Verein der Stadt zu spielen. Ab 1988 streift er sich also das himmelblaue Trikot des FC Karl-Marx-Stadt über. Gleichzeitig besucht er die Kinder- und Jugendsportschule. Zwischen Schule und Verein sind Unterricht und Training abgestimmt, der Tag ist durchgeplant. Eine Infrastruktur, über die heute fast jeder Profiverein verfügt. In den 80er-Jahren war es modern. Stephan Ballack, Michaels Vater, beurteilte die Förderung später als vorbildlich: „Das gesamte System dort war gut durchdacht, das war vom Feinsten. Der ganze Unterricht hat sich am Fußball orientiert, ohne das Lernniveau zu vernachlässigen. Nicht nur die sportliche, auch die schulische Begabung musste stimmen.“ [3] Die Schule schließt Ballack mit dem Abitur ab.

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde sowieso Fußballprofi.“

~ Zehntklässler Ballack angesprochen auf mäßige Schulnoten, überliefert von seiner ehemaligen Lehrerin Margita Teuscher [4]
Michael Ballack und Kevin Meinel
Wie nah Glück und Unglück beieinander liegen, zeigt das Schicksal von Ballacks Teamkamerad Kevin Meinel. Gemeinsam spielten die beiden in der Jugend vom FCK/CFC, verstanden sich auf und abseits des Platz bestens. Bei einem Hallenturnier im Januar 1991 erleidet Meinel während eines Spiels einen Schlaganfall, ist anschließend zeitweise halbseitig gelähmt. Die Karriere des hoffnungsvollen Talents ist beendet. Auch Ballack – damals 14 – ist mitgenommen: „Er wollte sogar das Fußballspielen aufgeben – wegen meiner Krankheit“ so Meinel. „Der Micha sprach mir unendlich viel Mut zu. […] Er kümmerte sich um mich in dieser schweren Zeit.“ [5]

Mit 16 hätte für Ballack auch alles schon vorbei sein können, Diagnose: Knorpelschaden im linken Knie! Das Karriereaus drohte. Es folgten neun Monate Pause, Sondertraining, ein halbes Jahr Reha ganz ohne Ball. CFC-Jugendtrainer Ullus Küttner macht ihn wieder fit und führt ihn an die Herrenmannschaft heran. Der Lohn: Profivertrag beim Chemnitzer FC, mit 18. Ballack debütiert in der Zweiten Bundesliga gleich am ersten Spieltag (4.8.1995), kommt insgesamt fünfzehn Mal zum Einsatz. Ein Treffer bleibt ihm vergönnt. Den Abstieg des CFC in die drittklassige Regionalliga Nordost kann er nicht verhindern. Indirekt profitiert er aber davon, 15 Spieler verlassen den Verein.

Ballack wird in der Saison 96/97 Stammspieler, ist bei jeder Partie dabei und erzielt zehn Tore. Ab März ’96 bestreitet er außerdem 19 Spiele für die U21-Nationalmannschaft, trifft dabei sieben mal. Zu dieser Zeit schult man Spieler noch als Libero. Ballack glänzt in der Rolle. Das und sein aufrechter Laufstil, seine Spielübersicht bringen ihm den Spitznamen „Der kleine Kaiser“ ein, in Anlehnung an Franz Beckenbauer. Andere schimpfen ihn dafür einen „Schönspieler“. Der CFC landet auf Platz vier, verpasst den Aufstieg um 18 Punkte. Ballack nicht.

König Otto

Hans-Peter Briegel soll als Erster Ballack als potentiellen Neuzugang ins Gespräch gebracht haben. Briegel war von Sommer ’96 bis Oktober ’97 Sportlicher Leiter beim 1. FC Kaiserslautern. Gerade Kompetenzgerangel bei Spielerverpflichtungen schadete jedoch dem Verhältnis zwischen Briegel und Trainer Rehhagel, sodass Briegel zum Zeitpunkt von Ballacks Verpflichtung schon zurückgetreten war. Rehhagel hatte der Familie in Chemnitz einen persönlichen Besuch abgestattet und den Wechsel gen Westen schmackhaft gemacht. Der FCK war soeben mit zehn Punkten Vorsprung Zweitligameister geworden, ließ sich das Talent 150.000 DM kosten. Dass der Wind in der Belle Etage steifer weht, dürfte dem 19-jährigen Ballack klar geworden sein, als auf seiner Position ebenfalls Ciriaco Sforza verpflichtet wurde, für 6,7 Mio. DM. Der Schweizer trat zu seinem zweiten Stint in Kaiserslautern an. Rehhagel hatte ihn 1995 schon zu den Bayern geholt. Mit dessen vorzeitiger Entlassung verließ auch Sforza München. Bei Inter Mailand wurde er anschließend nicht glücklich, kehrte nach zwei Stationen in zwei Spielzeiten in die Pfalz zurück.

Für Ballack bedeutet das zunächst eine Reservistenrolle. Zudem fällt ihm der Sprung von der Regionalliga direkt in die höchste Klasse des deutschen Fußballs schwer. Sein Bundesliga-Debüt gibt er am siebten Spieltag in Karlsruhe, kommt bis Rundenwechsel lediglich auf 17 Spielminuten. In Bremen wird er eingewechselt und fliegt noch mit Gelb/Rot vom Platz. Wie beim CFC gelingt ihm in der ersten Spielzeit kein Tor. Immerhin ist er beim 4:0 gegen Wolfsburg am vorletzten Spieltag von Beginn an dabei. Der FCK macht da die Meisterschaft 1998 fest: als Aufsteiger, ein Novum der Bundesliga-Geschichte. Ballack beeindruckt die richtigen Leute: Im September wird er erstmals von Vogts für die A-Nationalmannschaft nominiert. Das mühsame 2:1 der Deutschen gegen Malta muss er von der Bank mitansehen.

In Chemnitz gelang ihm im zweiten Jahr der Durchbruch und der Sprung in die Stammformation. Im zweiten Kaiserslauterer Jahr ist er zunächst in der Hinrunde in jedem Spiel dabei. Rehhagel lässt ihn jedoch nur sieben Mal durchspielen. Insgesamt kommt er auf 39 Pflichtspieleinsätze und vier Tore. Dem sensationellen Meistertitel folgt auf dem Betze die Ernüchterung. Zwar übersteht man die Gruppenphase in der Champions League als Erster vor Benfica, Eindhoven und Helsinki. Im anschließenden Viertelfinale setzt es aber zwei Niederlagen gegen die Bayern (2:0 und 0:4). Die Bayern dominieren die Liga, stehen bis auf zwei Spieltage immer an der Tabellenspitze und werden mit fünfzehn Punkten Vorsprung Meister. In der Abschlusstabelle der Bundesliga landet der FCK auf einem guten fünften Platz.

Die 'Causa Sforza'
Doch innerhalb des Vereins stimmt es nicht. Der Unmut bricht sich in Form von Sforza Bann: Zum Saisonende kritisiert er die Sportliche Leitung und Kaderplanung. Das Politikum sollte noch die Folgesaison (99/00) überschatten. Sforza lederte im September nach, Rehhagels Trainingsgestaltung sei veraltet, die Mannschaftsführung fragwürdig. Rehhagel suspendiert den Schweizer zunächst, kommentiert das Verhalten seines nun ehemaligen Kapitäns so: „Er hat mich nicht kritisiert, sondern diffamiert und den Vereinsfrieden brutal verletzt. Noch niemals habe ich mich in einem Menschen so getäuscht.“[6] Sforza steht zwar kurz danach wieder im Kader, der Bruch ist aber nicht mehr zu kitten. Im Sommer 2000 wechselt er erneut zu den Bayern. Ein Kritikpunkt Sforzas: Rehhagels Umgang mit den jungen Spielern, u.a. Michael Ballack.

Ballacks Vertrag lief zum Ende der Saison 99/00 aus. Bereits im Frühjahr ’99 – also mehr als ein Jahr vorher – unterschrieb er bei Bayer Leverkusen einen Vorvertrag für die Folgezeit. Der FCK sah in der Vorgehensweise Bayers einen „eklatanten Verstoß gegen die Regeln der FIFA“. Rehhagel nahm ihn aus der Mannschaft, von allen Seiten wurde ein sofortiger Wechsel im Sommer ’99 angestrebt.

„Wie soll noch eine Zusammenarbeit möglich sein, wenn immer wieder neue Lügen über mich erzählt werden? Ich wollte hier nicht weg. Herr Rehhagel ließ mich nicht mehr regelmäßig spielen, als ich Leverkusen zugesagt hatte.“

~ Ballack im Juli ’99 [7]

Ballack wechselt somit im Sommer 1999 für 8,2 Millionen DM zu Leverkusen. Mit Boshaftigkeit könnte man ihm unterstellen, er habe den Wechsel forciert. Mit Wohlwollen, sein Stellenwert bei Kaiserslautern war einem Talent wie ihm nicht angemessen. Im gleichen Zeitraum – genau: am 28. April ’99 – kam er denn auch zu seinem ersten Auftritt im DFB-Dress. Unter der Ägide von Erich Ribbeck verliert Deutschland in Bremen gegen Schottland mit 0:1. Ballack wird nach einer Stunde für Hamann eingewechselt. Beim Confederations Cup im Sommer ist Deutschland als Europameister qualifiziert. Ballack steht im Aufgebot, gibt im Gruppenspiel gegen Brasilien sein Startelf-Debüt.

Wieder hatte er es geschafft, die richtigen Leute zu beeindrucken.

„Ich habe wesentlich lukrativere Angebote vom FC Chelsea und vom AC Florenz vorliegen gehabt. Auch Bayern wollte mich. Aber das Geld hat für mich keine Rolle gespielt. Allein das Sportliche zählt. In Leverkusen habe ich die besten Chancen, Stammspieler zu werden und in die Nationalelf zu kommen.“

~ Ballack nach seinem Wechsel zu Leverkusen [8]

Legendenbildung

Der 20. Mai 2000, 15.30 Uhr: Zum Anpfiff des letzten Bundesliga-Spieltags steht Bayer 04 Leverkusen an der Tabellenspitze. Der Vorsprung auf die Bayern beträgt drei Punkte. Die haben zwar das bessere Torverhältnis. Bayer reicht aber ein Unentschieden bei der SpVgg Unterhaching, um erstmals Meister zu werden. Haching war längst im Mittelfeld der Tabelle gesichert, sollte der Werkself also nicht im Weg stehen. „Millennium-Meister“ stand auf den mitgebrachten Plakaten der Gästefans geschrieben.

15.46 Uhr, unweit entfernt in München: Bayern führt nach einer guten Viertelstunde bereits 3:0 gegen Werder Bremen.

15.50 Uhr: Schwarz flankt den Ball für Haching aus dem rechten Halbfeld in den Leverkusener Strafraum. Ballack ist in die letzte Abwehrreihe eingerückt. Der Ball fliegt in seine Richtung, nicht mit viel Schnitt, aber er spürt in seinem Rücken Rraklli. Gleichzeitig kommt Torhüter Matysek aus seinem Kasten, Ballack ist schneller. Beim Versuch zu klären, wischt er über den Ball und bugsiert ihn aus acht Metern ins leere Tor.

Markus Oberleitner erhöht in der 72. Spielminute auf 2:0 für die SpVgg. „Unterhaching“ wird zum Synonym des Favoritensturz, Bayern mit einem 3:1-Sieg über Werder Bremen aufgrund der besseren Tordifferenz doch Deutscher Meister.

Dabei fing die Saison für Leverkusen im Duell mit Bayern so erfolgversprechend an: Bereits am zweiten Spieltag kommt es zum direkten Aufeinandertreffen. Leverkusen gewinnt das Heimspiel mit 2:0. Ulf Kirsten und Oliver Neuville besorgen die Tore. Ballack ist nicht dabei. Im ersten Spiel in Duisburg spielt er 90 Minuten. Danach zieht er sich jedoch einen Innenbandriss im Knie zu. Ein Rückschlag für den Verein, kam Ballack doch mit viel Vorschusslorbeeren. Er gilt als größtes deutsches Talent. Manager Rainer Calmund zieht ebenfalls die Parallelen zu Beckenbauer.[9] Trainer Christoph Daum befindet sein Neuzugang sei ein „unheimlich vielseitig verwendbarer Spieler“. Erst Ende November kommt er wieder zur Kurzeinsätzen. Derweil hadern die Bayern mit sich selbst. Im Training werden Matthäus und Lizarazu handgreiflich, Mario Basler gar in einer Schänke in Regensburg. Basler wird umgehend entlassen, Matthäus – mittlerweile auch 38 Jahre alt – im Winter gegangen.

Zwar grüßt München meist von der Tabellenspitze, der Vorsprung auf Leverkusen beträgt kaum mehr als zwei, drei Punkte. Zur Rückrunde mischt auch Ballack wieder voll mit. Ausgerechnet gegen die Bayern erzielt er sein erstes Tor für den neuen Verein. Sein Freistoßtreffer ändert allerdings nichts an der 4:1-Auswärtsniederlage. Dennoch: Leverkusen setzt in der Folge zu einer Serie von elf Siegen und zwei Unentschieden in 13 Spielen an. Darunter ein fulminantes 9:1 in Ulm, was Trainer Christoph Daum im Interview veranlasst zu deklarieren: „Leverkusen ist nicht aufzuhalten“. Um dann mit einem Lachen hinzuzufügen: „Da können Sie die Uhr nach stellen, dass der Herr Hoeneß versuchen wird, mich zu attackieren. […] Vielleicht ist es das, was die Bayern brauchen.“

Die ungeschlagene Serie von 13 Spielen bringt die Tabellenführung. Das vierzehnte Spiel findet in Unterhaching statt. Der Titel geht an Bayern.

Im Sommer steht die Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden an. Es wird die vielleicht dunkelste Stunde der Nationalmannschaftsgeschichte. Jammern auf hohem Niveau, aber: Deutschland ist Titelverteidiger und scheidet bereits in der Vorrunde aus. Noch dazu als Gruppenletzter. Gelingt zum Auftakt noch ein 1:1 gegen Rumänien, setzt es Niederlagen gegen England (0:1) und Portugal (0:3). Das einzige Tor: ein Freistoß von Mehmet Scholl. Ballack wird gegen England eingewechselt, gegen Portugal ist er von Beginn dabei. Die Portugiesen sind vor der Partie schon für die nächste Runde qualifiziert. Trainer Humberto Coelho schickt eine bessere B-Elf aufs Feld. Die deutsche Mannschaft ist ein Sammelsurium an Altgedienten: Matthäus, Linke, Bode. Auch Scholl und Rehmer gehen auf die 30 zu. Spielwitz und Esprit versprüht der 20-jährige Deisler. Es fehlt allgemein an Bewegung und Geschwindigkeit im deutschen Spiel. Ballack geht gegen Portugal ebenso unter wie der Rest. Mutmacher sind kaum in Sicht. Von der Bank kommen Jungspunde wie Kirsten und Häßler (beide 34). Ballack muss zur Pause gar Paulo Rink weichen. Der gebürtige Brasilianer würde noch zwei weitere Länderspiele bestreiten. Verwalter des Niedergangs war Erich Ribbeck. Am Tag nach dem Ausscheiden tritt er vom seinem Amt zurück, geht als erfolglosester Trainer der Nationalelf in die Annalen ein. Sein designierter Nachfolger: Christoph Daum.

Zum 1. Juni 2001 hätte der Leverkusen-Trainer beim DFB übernehmen sollen. Der gebürtige Oelsnitzer (Erzgebirge) wächst in Duisburg auf, wird Deutscher Amateurmeister mit der Zweiten Mannschaft des 1. FC Köln. Seine aktive Laufbahn endet früh, mit 27 macht er den Fußball-Lehrer des DFB. Er wird Trainer und Vorreiter einer neuen Garde: studiert, Wissenschaftler und Motivator. Als Trainer des 1. FC Köln pinnt er die Meisterprämie von 40.000 DM an die Kabinentür. Die Bundesliga-Krone holt er dann 1992 mit dem VfB Stuttgart. In Leverkusen baut er gemeinsam mit Manager Rainer Calmund über Jahre eine gestandene Mannschaft auf. Jens Nowotny, Robert Kovac, auch Carsten Ramelow reifen unter seiner Ägide zu Spielern gehobener oder internationaler Klasse heran. Calmund beweist mit Emerson, Zé Roberto, später Lucio den richtigen Riecher für den südamerikanischen Markt. Leverkusen war für Spieler aus der ehemaligen DDR schon kurz nach der Wende eine gute Adresse. Und auch zehn Jahre nach dem Mauerfall stehen noch Stefan Beinlich, Bernd Schneider, Ulf Kirsten und eben Michael Ballack im Kader. Medienwirksam lässt Daum seine Spieler über Glasscherben laufen. Doch der Erfolg gibt ihm recht: In seinen fünf Spielzeiten fährt Leverkusen drei respektable Vizemeisterschaften ein. Bayer löst Ende der 90er Dortmund als zweite Kraft neben den Bayern ab.

Christoph Daum und die Kokain-Affaire
Nach Ribbecks Abgang bei der Nationalelf sollte Rudi Völler interimsweise den Trainerposten füllen, im Sommer 2001 würde Daum übernehmen. Solange lief sein Vertrag in Leverkusen. Doch bereits im Oktober 2000 ist Schluss. Uli Hoeneß brachte den Stein ins Rollen. Die Fehde der beiden Fußballmacher geht bis Ende der 80er, in Daums Kölner Zeit zurück. Hoeneß kritisiert die Wahl des DFB, Daum zum Nationaltrainer zu machen vage, fragt wie das mit einer gleichzeitigen Antidrogenkampagne zusammenpasse. Daum weist die Vorwürfe des Drogenkonsums zurück, lässt sich kurz darauf doch auf einen Haartest ein. Seine Deklaration auf der zugehörigen Pressekonferenz geht in den allgemeinen Sprachgebrauch über: „Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe.“ Die Testergebnisse strafen ihn Lügen. Daum wird von seinem Amt bei Bayer Leverkusen entbunden. Der Vorvertrag mit dem DFB wird aufgelöst. Daum taucht in den USA unter, muss sich später vor Gericht verantworten.

Nach der Kokain-Affäre bleibt Daum lange Zeit Persona non grata in Fußballdeutschland. Ballack wird sich im Rückblick durchweg positiv äußern, nennt Daum einen „besonderen“, einen „Ausnahmetrainer“.[10] In den knapp eineinhalb Jahren unter Daum reift Ballack zum gestandenen Bundesligaspieler, findet seine Position im zentralen Mittelfeld. Gleichzeitig lässt ihm das taktische Konstrukt genügend Freiheiten seine später legendäre Torgefährlichkeit zu entwickeln.

“Christoph Daum hat als Erster diese [Leverkusener] Mannschaft geformt. Er war auch der vielleicht wichtigste Trainer in meiner Karriere, weil ich unter ihm mit 22 oder 23 Jahren den Durchbruch zum Stammspieler auf diesem Niveau geschafft habe.”

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Christoph Daum [11]

Ist die Mannschaft geschockt, so lässt sie es sich nicht anmerken. Leverkusen gewinnt fünf der nächsten sieben Spiele. Zunächst übernimmt Rudi Völler die Trainingsleitung, anschließend Berti Vogts. Das Meisterrennen ist eng wie selten. Noch Ende April liegen die ersten fünf in der Tabelle nur drei Punkte auseinander – Bayern, Schalke, Dortmund, Leverkusen und Hertha. Den längsten Atem haben erneut die Bayern, bis zur letzten Minute der Saison. Im Fernduell müssen die Schalker mitansehen, wie München in der Nachspielzeit noch den Ausgleich beim HSV erzielt. Erneut war Unterhaching am letzten Spieltag Gegner des Vizemeisters. Das Schalke sein Spiel mit 5:3 gewinnt ist dabei nur ein schwacher Trost.

Für Leverkusen bleibt nur Platz vier. Immerhin berechtigt das zur Teilnahme an der Qualifikation zur Champions League. Und es ist vielleicht auch ein Grund, dass Michael Ballack eine weitere Saison in Leverkusen verbleibt. Denn mittlerweile jagt halb Europa den 24-Jährigen. Real Madrid und Chelsea machen Angebote. Bayern München war schon vor seinem Wechsel zu Leverkusen dran. Ballacks Vertrag läuft eigentlich bis 2005, aber im Sommer 2002 greift eine Klausel, nach der er vergleichsweise billig wechseln kann. So soll es einen Vorvertrag mit den Bayern geben. Nationalmannschaftskollege Deisler – Neuzugang für ’02 – bekam für seine Zusage ein fürstliches Handgeld. Zudem kündigte Effenberg nach dem CL-Sieg seinen Abgang mit Ablauf seines Kontrakts an; ebenfalls im kommenden Sommer.[12] Bis dahin wird der Tiger zum Politikum, Sündenbock einer verkorksten Münchener Saison.

Bayer verstärkt sich nochmals punktuell. Yildiray Bastürk (22J.) kommt vom VfL Bochum und wirkt als kreatives Pendant im Mittelfeld zu Ballack und Ramelow. Zoltan Sebescen (25J.) kostet umgerechnet 6 Millionen Euro, kann mehrere Positionen in Abwehr und Mittelfeld einnehmen. Neue Nummer eins im Tor wird Hans-Jörg Butt. Er kommt mit der Empfehlung von 19 Elfmetertoren in drei Spielzeiten ablösefrei aus Hamburg.

Der wichtigste Neuzugang nimmt aber auf der Bank Platz. Klaus Toppmöller ist der neue Trainer. Der Pfälzer spielte knapp ein Jahrzehnt Erste Bundesliga für Kaiserslautern, später in der Zweiten und unterklassig für den FSV Salmrohr. Dort fungierte er zum Ende als Spielertrainer. Über weitere Stationen, u.a. Bochum, mit denen er in den UEFA-Cup einzieht, landet er als Nachfolger Vogts’ bei Leverkusen. Unter Toppmöller spielt die Werkself nochmal schneller, direkter, etabliert das Umschaltspiel. Das System mit offensiven Außenverteidiger prägt noch Jahre später den europäischen Fußball.[13] Ballack ist eine der wichtigen Säulen in einem Team, das mehr als nur die Summe seiner Einzelteile war.

„Toppi hatte seine Stärken in der Mannschaftsführung. [Er konnte ein] Vertrauensverhältnis zwischen Trainer und Spieler [aufbauen]. Das hat er mit Emotionalität, Charme und auch einer gewissen Witzigkeit hinbekommen.“

~ Ballack über seinen ehemaligen Trainer Klaus Toppmöller [11]

Vizekusen

Nach der durchwachsenen Vorsaison gehört Leverkusen nicht zu den Meisterfavoriten. Schalke war denkbar knapp dran, Bayern ist amtierender Champions League-Sieger. Dortmund wirft mit Geld um sich. Allein Marcio Amoroso kostete 50 Millionen DM. Doch bis zum Dezember verliert Bayer kein Ligaspiel. An Spieltag 13 steht man erstmals an der Tabellenspitze. Im gleichen Zeitraum gelingt der Einzug in die zweite Gruppenphase der Champions League. Nach Barcelona, Lyon und Fenerbahce warten nun Juventus, La Coruna und Arsenal. Zwischendurch schießt Ballack Deutschland zur WM. In der Quali-Gruppe belegte Deutschland hinter England den zweiten Platz, musste also in die Play-offs. Beim Hinspiel in der Ukraine (1:1) besorgt Ballack den Ausgleich. Im Rückspiel (4:1) steuert er zwei Treffer bei. Leverkusen wird Herbstmeister, Ballack hat mit bis dahin neun Toren entscheidenden Anteil. Am Ende wird er 17 auf seinem Konto haben, der Bestwert in seiner Mannschaft.

Das größte Weihnachtsgeschenk legt aber Uli Hoeneß den Bayern-Fans unter den Baum. Just zum Start der Winterpause wird der Wechsel von Ballack offiziell, für vergleichsweise schmale 28 Millionen DM. Das Timing ergibt Sinn: Der beste deutsche Feldspieler landet beim größten deutschen Verein. Einige Jahre zuvor wäre der Schritt möglicherweise zu früh gekommen, der junge Ballack im Münchner Starensemble untergegangen. Nun hätte er sich wohl den neuen Verein in ganz Europa selbst aussuchen können. Andere hätten sicher mehr Gehalt gezahlt. Sein Berater Michael Becker ließ sich zuvor schon zitieren: Ballack könne „allein nach sportlichen Aspekten entscheiden“.[14] Hoeneß machte ihm den Wechsel mit der anstehenden Weltmeisterschaft im eigenen Land zusätzlich schmackhaft, schwärmte ihm von seinen eigenen Erfahrungen 1974 vor. Im Vorfeld ins Ausland zu gehen, sei unsinnig, danach noch Zeit genug.

Zwar avancierte Ballack innerhalb weniger Jahre zum Shootingstar und Hoffnungsträger des deutschen Fußballs. In fremden Stadien wurde er deswegen jedoch nicht von allen geliebt. So ist der Wechsel zu den Bayern auch Wasser auf die Mühlen derer, die in Ballack ohnehin den Schnösel sehen. Seine Selbstsicherheit abseits des Platzes wird ihm als Arroganz ausgelegt.

So stehen in Leverkusen die Zeichen auf Abschied. Ballack tritt zu seiner letzten Runde in Leverkusen an. Und was für eine es werden sollte! Nach einer kurzen Schwächephase zum Jahreswechsel folgen zehn ungeschlagene Spiele. Am 24. Spieltag übernimmt Leverkusen nach einem fulminanten 4:0 gegen den bisherigen Primus Dortmund wieder die Tabellenspitze. Anfang März schlägt man im Halbfinale des DFB-Pokals die Rivalen vom 1. FC Köln (3:1 n.V.). Auch in der Champions League stehen K.O.-Spiele an: Im Viertelfinale muss Bayer zunächst auswärts an der Anfield Road antreten, verliert dort mit 1:0. Im Rückspiel besorgt Ballack zweimal die Führung, Leverkusen gewinnt 4:2. Erneut geht es im Halbfinale nach England. Manchester United wird mit zwei Unentschieden (2:2 und 1:1) ausgeschaltet. Ballack ist mit sechs Toren Bayers Toptorschütze im Wettbewerb.

Alles deutet auf einen triumphalen Saisonabschluss hin. Mit dem Ligaspiel gegen Bremen nimmt das Unheil seinen Lauf. Vor dem 32. Spieltag steht Leverkusen an der Tabellenspitze, hat fünf Punkte Vorsprung auf Dortmund, sieben auf Bayern. Bremen kämpft noch um den Einzug in den UEFA-Cup, schockt Leverkusen, siegt auswärts 1:2. In der Woche drauf muss Bayer nach Nürnberg. Der Club macht mit einem 1:0 den Klassenerhalt klar. Schlimmer noch: Dortmund gewinnt seine Spiele, übernimmt die Tabellenführung. Zwar schlägt Leverkusen am letzten Spieltag Hertha mit 2:1. Durch Dortmunds Sieg über Bremen (2:1) ist das nur Makulatur, der BVB wird Meister. Mit dieser Hypothek geht Leverkusen sieben Tage später in das DFB-Pokalfinale, Ballack angeschlagen. Bayer geht zwar in Führung. Mit Seitenwechsel nimmt Schalke Fahrt auf, bezwingt Butt viermal. Kirstens Treffer kurz vor Schluss ist nur noch Ergebniskosmetik. Leverkusen verliert 2:4.

Am 15. Mai 2002 macht Ballack in Glasgow sein (zunächst) letztes Spiel für Leverkusen. Nur vier Tage nach dem verlorenen DFB-Pokalfinale geht es um die nächste Trophäe. Ballacks Fuß ist aufgrund des Einsatz vom Samstag geschwollen. Doch wer irgends laufen kann, spielt auch ein Champions League-Finale. Der Werkself steht niemand geringeres gegenüber als Real Madrid. Zu dieser Zeit firmieren die Königlichen als die Galaktischen. Präsident Florentino Perez machte es sich zur Aufgabe, die besten Spieler der Welt nach Madrid zu holen. Koste es, was es wolle. Die Mannschaft hatte bereits 1998 und 2000 die CL gewonnen. Der Kader ist mit großen Spielern wie Fernando Hierro, Roberto Carlos, Claude Makelele oder Raul bereits bestens besetzt. Perez fügte ihr Luis Figo und Zinedine Zidane hinzu, später Ronaldo und David Beckham. Auf dem Papier war Real eine Übermacht. So geht Madrid bereits nach acht Minuten in Führung, Raul war Lucio entwischt. Doch Leverkusen ergibt sich nicht dem Schicksal, sondern hält dagegen. Ballack fordert die Bälle, ist überall zu finden. Nach einer Viertelstunde holt er auf der Außenbahn einen Freistoß heraus. Die anschließende Hereingabe verwandelt Lucio mustergültig zum 1:1. Bayer spielt schnell und direkt, der Stil ist ausgefeilt. Eine Halbzeit kann Leverkusen mehr als nur mithalten. Die Arbeitsteilung im Mittelfeld stimmt: Ramelow erobert die Bälle, Ballack schleppt und verteilt, Bastürk zaubert. Kurz vor dem Pausenpfiff zeigt Zidane, warum er mit 150 Millionen DM der teuerste Spieler der Welt, das Prunkstück der Galaktischen ist. Mit einem Geniestreich stellt er die Partie auf den Kopf. Auf links gewinnt Roberto Carlos ein Laufduell mit Sebescen, schnalzt den Ball zurück auf Höhe des Strafraums. Zidane ist ungedeckt, Zivkovic kommt zu spät aus der Kette, Ballack aus dem Mittelfeld. Zizou nimmt den Ball volley mit links, zieht ihn aus 16 Metern ins Kreuzeck.

Die weitere Partie wird eine Demonstration des dreimaligen Weltfußballers. Zidane gibt in Halbzeit zwei den Ton an, lässt Bayer am ausgestreckten Arm verhungern. Leverkusen kommt zwar noch zu Chancen, allein ein erneuter Ausgleich gelingt nicht. So gewinnt Real gewinnt den dritten CL-Titel in fünf Jahren. Leverkusen „verspielt“ den dritten Titel innerhalb weniger Wochen, erntet den Spitznamen „Vizekusen“. Dennoch: Bayer unterlag in einem großen Spiel einer großen Mannschaft. Die Art der Niederlage, die Art Fußball zu spielen bringen auch Sympathien. Die Saison als Ganzes war erfolgreich, auch wenn ihr die Krönung verwehrt blieb. Klaus Toppmöller wird Deutschlands Trainer des Jahres 2002. Ballack wird ins UEFA Team des Jahres gewählt.[15] Sechs Spieler der Mannschaft landen in Bayers Jahrhundertelf.[16]

Rainer Calmund würde später einmal sinngemäß sagen, er wird lieber fünf Jahre Vizemeister und spielt regelmäßig Champions League, als einmal Meister zu werden und dann abzusacken. Leverkusen verband beide Szenarien. Das Fenster, um Titel zu gewinnen war schmal. Wie so häufig für nationale Herausforderer der Bayern schloss es nach wenigen Jahren. In kurzer Folge wechselten Robert Kovac (’01), Zé Roberto (’02), Michael Ballack (’02) und später Lucio (’04) von Leverkusen nach München. Hinzu kommen schwere Verletzungen u.a. bei Nowotny und Sebescen, sodass Leverkusen in der Folgesaison nur knapp dem Abstieg entgeht und am Ende auf Platz 15 landet.

Japan/Südkorea

Ballacks Saison 2002 war damit noch nicht vorbei. Nach 50 Saisonspielen für Leverkusen reist er mit der Nationalmannschaft nach Japan und Südkorea zur Weltmeisterschaft. Dass dort noch viele Saisonspiele hinzukommen würden, dachten nach der desaströsen EM 2000 wohl die Wenigsten. Allein die Kadernominierung sorgte – naturgemäß – für Diskussionen. Teamchef Rudi Völler hatte eigentlich kaum Auswahl, ließ dennoch mit Martin Max den Torschützenkönig der Bundesliga daheim. Stattdessen fuhr Carsten Jancker mit, dem in 18 Saisonspielen für Bayern kein Treffer gelang.

Einigermaßen souverän, wenn auch nicht schön, überstand man die Gruppenphase. Saudi Arabien war im ersten Gruppenspiel der beste Aufwärmgegner. Miroslav Klose erzielt drei Tore beim 8:0-Kantersieg. Auch Carsten Jancker trifft. Das hohe Ergebnis trügt über die fußballerische Klasse. In den weiteren Spielen werden die spielerischen Defizite offensichtlich. Im zweiten Spiel leisten die Iren mehr Gegenwehr. Zwar geht Deutschland nach knapp zwanzig ordentlichen Minuten in Führung, wieder durch Klose. In der Folge lässt man sich jedoch immer weiter zurückdrängen, dass Irland schließlich in der Schlussminute noch zum Ausgleich kommt. Im letzten Gruppenspiel gegen Kamerun geht es für beide Mannschaften ums Weiterkommen. Dementsprechend ruppig wird es auf dem Platz. Schiedsrichter Lopez Nieto verwarnt insgesamt 14 Spieler, verweist zwei des Platzes. Bode und Klose sorgen auf Seiten Deutschlands für Jubel und den 2:0-Sieg. Kleine Rache für den Leverkusener Block in der Nationalmannschaft: Sowohl Titelverteidiger Frankreich rund um Zidane als auch Portugal mit Figo scheiden in der Vorrunde aus.

Völler hatte in der Vorrunde dreimal mit der gleichen Startelf begonnen, musste aber zum Achtelfinale nach der Kartenflut notgedrungen wechseln: Rehmer, Bode und Jeremies kamen für die gesperrten Hamann, Ziege und Ramelow. Neuville ersetzte zudem Jancker. Ballack hatte aufgrund von Wadenproblemen mit dem Training aussetzen müssen, konnte aber gegen Paraguay auflaufen.[17] Viel hätte er nicht verpasst. Beide Mannschaften agieren passiv, zuweilen müde. Auch Ballack schleppt sich durch die Partie, kann keine klare Linie ins Spiel bringen. Die besseren Chancen hat eher noch Paraguay, Kahn ist der Rückhalt. Als „typisch Deutsch“ beschreibt der große Cesare Maldini, Trainer der Paraguayer, dann das Weiterkommen der DFB-Auswahl. Bernd Schneider war die rechte Außenlinie durchmarschiert, flankte in die Mitte, wo sein Leverkusener Teamkollege Oliver Neuville aus kurzer Distanz vollendete; in der 88. Minute. Auch Teamchef Völler zeigte sich kritisch nach dem Spiel: „Wir haben in der ersten Halbzeit schlecht Fußball gespielt, eigentlich haben wir gar keinen Fußball gespielt.“[18]

Im Viertelfinale gegen die USA wird es wenig besser. Kehl hatte sich nach seiner Einwechslung im Achtelfinale festgespielt, sodass von den zuvor Gesperrten nur Hamann und Ziege zurück ins Team kamen. Auch Neuville wurde mit einer erneuten Startaufstellung belohnt. Die USA bestimmen das Spiel, verbuchen gleich zu Beginn mehrere Großchancen. Kahn klärt unter Bedrängnis. Erneut ist Deutschland zu passiv, kommt offensiv nur über Standards zur Geltung. Bezeichnenderweise fällt das 1:0 durch einen Freistoß. Ziege bringt ihn aus dem rechten Rückraum, Ballack verwandelt per Kopf (39′). Die Führung brachte kaum Sicherheit. Ein ums andere mal ließ sich die Hintermannschaft mit simplen Kombinationen aushebeln. Doch das späte Gegentor wie noch gegen Irland bleibt aus. Die Gazetto dello Sport titelt nach dem Spiel „Kahn bewirkt Wunder“.

Zurück auf Anfang: Seoul, Austragungsort des Eröffnungsspiels, sieht auch das Halbfinale zwischen Gastgeber Südkorea und Deutschland. Und den bis dahin besten Auftritt der deutschen Elf. Gleich von Beginn gibt die Truppe um Ballack den Ton an, wieder mit Ramelow statt Kehl. Zwar gescholten für seine bisherigen Auftritte, machte er nun auf der ungewohnten Abwehrposition eine gute Partie. Zumindest bis zur 71. Minute: Bei einem Konter der Koreaner geht Ramelow nicht entschieden genug in den Zweikampf, Ballack muss ausbügeln, sieht Gelb. Es ist die dritte im laufenden Wettbewerb, was eine Sperre für das nächste Spiel – das Finale – nach sich zieht. Doch dort sind die Deutschen noch nicht. Das Mittelfeld mit Ballack und Hamann harmonierte und dominierte das Spiel, das Chancenplus konnten sie aber noch nicht vergolden. Zumindest bis zur 75. Minute: Neuville treibt den Ball auf dem rechten Flügel tief in die gegnerische Hälfte, flankt blind in den Strafraum. Dort lauert Bierhoff, reagiert auf den kommenden Ball zu langsam. Aus dem Mittelfeld spurtet Ballack heran, nimmt den Ball aus dem Lauf mit rechts, trifft Torwart Lee. Der Abpraller landet wieder bei ihm. Dieses mal verwandelt er mit links zum 1:0-Siegtreffer, schießt die Deutschen damit ins Finale.

Epilog

„Einen Spieler der Klasse Ballack können wir nicht adäquat ersetzen, das trifft uns jetzt ganz brutal.“

~ DFB-Trainer Rudi Völler über Ballacks Sperre im Finale [1]

Es ist ein interessantes „Was wäre, wenn…?“-Szenario der deutschen Fußballgeschichte: Hätte die Nationalmannschaft gegen Brasilien im Finale gewonnen, wenn Michael Ballack dabei gewesen wäre? In der Erinnerung bleibt, wie Kahn Rivaldos Schuss nach vorne prallen lässt und Ronaldo abstaubt. Die Stunde zuvor hatte Deutschland stark gespielt, besser gestaltet, als man es ihr nach den bisherigen Auftritten zugetraut hätte. Bis zum Finale hatte Deutschland gegen mäßige Kontrahenten biedere Leistungen gezeigt. Die mannschaftliche Geschlossenheit glich die spielerischen Limitationen aus. Die individuelle Qualität von Kahn und Ballack sicherte das Weiterkommen. Brasilien war der stärkste Gegner und die deutsche Elf machte ihr bestes Spiel. Hamann und Jeremies – für den gesperrten Ballack – hielten im Mittelfeld die starken Kleberson und Ronaldinho zeitweise in Schach, entwickelten jedoch kaum Torgefahr. Neuville hatte die Führung auf dem Fuß bzw. Kopf. Ballack muss von außen mitansehen, wie Ronaldo Turniertreffer sieben und acht markiert. Brasilien gewinnt 2:0, wird zum fünften mal Weltmeister. „Brasilien [war] bei diesem Turnier die beste Mannschaft und ist deshalb auch verdient Weltmeister“, so Völler nach dem Spiel. Kahn, Ballack und Klose werden ins All-Star-Team des Turniers gewählt, Ballack außerdem zu Deutschlands Fußballer des Jahres 2002. Seine Kritiker ließ das nicht verstummen.

„Ein Weltstar ist er längst noch nicht. Er braucht noch eine Zeit, um so groß zu sein, wie er jetzt in den Medien dargestellt wird. Die ganz großen Spieler haben nämlich große Titel geholt, und daran muss er noch arbeiten.“

~ Otto Rehhagel nach Ballacks Auszeichnung zum Fußballer des Jahres 2002 [3]

In weiteren Teilen: Die Chelsea-Jahre und Michael Ballacks Abschied aus der Nationalmannschaft.

Beitragsbild: Wir bedanken uns bei aquafisch für das Foto zu diesem Beitrag. Mehr von aquafisch gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-NC 2.0

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