Paris St. Germain – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Tue, 06 Aug 2019 18:33:57 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Episode 28: “Thomas Tuchel – Ein Meister ohne Titel” https://120minuten.github.io/episode-28-thomas-tuchel-ein-meister-ohne-titel/ https://120minuten.github.io/episode-28-thomas-tuchel-ein-meister-ohne-titel/#respond Tue, 06 Aug 2019 18:33:57 +0000  

In Ausgabe 28 des 120minuten-Podcasts spricht Alex Schnarr aus der Redaktion mit Olaf (@footballyse) über Thomas Tuchel und sein erstes Jahr bei Paris St. Germain. Grundlage des Gesprächs ist ein Longread mit dem Titel “Thomas Tuchel – Ein Meister ohne Titel”, der im Juli 2019 auf 120minuten.github.io erschienen ist.

Im Gespräch geht es zunächst um die Frage, mit welcher Idee und unter welcher Perspektive Olaf an den Text herangegangen ist und welche Quellen er für seine Recherchen genutzt hat. Im weiteren Verlauf steht dann zunächst Thomas Tuchel als Trainertyp im Vordergrund, bevor es um besondere Rahmenbedingungen bei PSG, um Respekt, Perspektiven, Führungsstile und die Frage geht, ob ein Verein wie Paris St. Germain, der in der Liga im Prinzip konkurrenzlos ist, realistische Chancen auf den Gewinn der Champions League besitzt. Darüber hinaus geht es, wenn auch nur als kurzer Exkurs, um taktische Fragen.

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Thomas Tuchel – Ein Meister ohne Titel https://120minuten.github.io/thomas-tuchel-ein-meister-ohne-titel/ https://120minuten.github.io/thomas-tuchel-ein-meister-ohne-titel/#comments Mon, 08 Jul 2019 07:00:49 +0000 https://120minuten.github.io/?p=6331 Weiterlesen]]> Nicht Bayern München, sondern Paris St. Germain. So lautete Thomas Tuchels Entscheidung im Frühjahr 2018. Nach dem Aus bei Borussia Dortmund im Sommer 2017 gönnte sich der gebürtige Krumbacher zunächst ein Jahr Auszeit vom Profifußball, um dann den Sprung ins Ausland zu wagen, der ihm zu seiner aktiven Zeit als Spieler verwehrt blieb. In Paris soll er nun den langersehnten Champions-League-Titel gewinnen und PSG an die Spitze des europäischen Fußballes führen. Doch nicht nur sportlich wird Tuchel mit seinem Team an Grenzen stoßen, sondern auch mit der Gruppendynamik sowie menschlichen und teaminternen Problemen. Paris ist ein Zusammenschluss unterschiedlicher, teils exzentrischer Stars, die Tuchel in puncto Team- und Menschenführung alles abverlangen werden. Wir werfen einen detaillierten Blick auf sein erstes Jahr bei PSG und analysieren den Verlauf der Saison. Vorhang auf!

“PSG NANCY” von Philippe Agnifili via Flickr | Lizenz: CC BY-ND 2.0)

von Olaf (@footballyse) | Juli 2019

Eine Sache des Respekts

Mit seiner Antrittsrede bei Paris St. Germain im Sommer 2018 setzte Tuchel ein erstes Ausrufezeichen. In gepflegtem Französisch gab er sein erstes Statement als neuer Trainer ab und skizzierte der Öffentlichkeit sein Trainerbild. Dabei wurde deutlich: Respekt ist einer der wichtigsten Eckpfeiler, auf denen seine Arbeit mit der Mannschaft basiert. Aus Respekt vor dem Verein und den anwesenden Journalisten wählte Tuchel seine ersten Worte in der Landessprache und unterstrich auf diese Weise seine Dankbarkeit für das entgegengebrachte Vertrauen und die Freude, die erste Station im Ausland anzutreten.

Auch in Interviews und anderen Äußerungen bringt Tuchel immer wieder den Punkt Respekt zur Sprache und verdeutlicht dessen Wichtigkeit für ihn als Mensch und Trainer. So berichtet er beispielsweise 2013 in einem Vortrag zum Thema „Ausbruch aus den Routinen“ von seinen ersten Tagen als neuer Cheftrainer beim 1. FSV Mainz 05. Dort war er kurzfristig zum Nachfolger des zuvor entlassenen Jørn Andersen ernannt worden und musste schnellstmöglich seine neue Mannschaft und das Umfeld des Profiteams kennenlernen. Zuvor hatte Tuchel erfolgreich im Juniorenbereich der 05er gearbeitet und war vor allem in die dortigen Abläufe involviert gewesen. Die Erfahrungen, die Tuchel dann bei den ersten beiden Mittag- und Abendessen mit der ersten Mannschaft machte, brachten ihn dazu, dort Regeln zum gemeinsamen, respektvollen Umgang miteinander zu etablieren. Offenbar war es innerhalb des Teams nicht üblich, dass man zusammen zu einer vereinbarten Zeit isst und abwartet, bis auch das letzte Teammitglieder mit der Mahlzeit fertig ist.

Tuchel, der von dieser Art und Weise des Umgangs innerhalb einer Profimannschaft schockiert war, stellte ab diesem Zeitpunkt die Regel auf, dass das Team pünktlich zu den vereinbarten Zeiten im Essenssaal eintrifft und mindestens zwanzig Minuten zusammen verbringt. Er selbst beschreibt den Moment der Regelaufstellung als einen, in dem „der Anfang gemacht wurde“ und er selbst begonnen hat, sein Trainerprofil zu etablieren. Die Installation von Grundpfeilern wie Anstand und Respekt war somit eine seiner ersten, grundlegenden Amtshandlungen, die sich im weiteren Verlauf seiner Trainertätigkeit bei Mainz 05 noch weiterentwickelten. Tuchel begrüßte danach in Mainz jeden Spieler per Handschlag, um Offenheit und Freude darüber, mit ihm arbeiten zu dürfen, zu signalisieren. Bis 45 Minuten vor dem Training musste sich jeder Spieler in ein Buch eintragen und damit seine körperliche und geistige Anwesenheit bestätigen. Diese Beispiele verdeutlichen Tuchels Verständnis bzw. Vision von den Mechanismen einer Gruppe und zeigen zudem seine akribische und genaue Haltung bei diesem Aspekt.

Eine weitere Eigenschaft des Trainers Thomas Tuchel liegt in der Interpretation seiner Rolle innerhalb eines Mannschaftsgefüges. Er sieht sich und sein Trainerteam grundsätzlich als Dienstleister, die dem Team Hilfestellung und Unterstützung gewährleisten. Hierbei nimmt er eine klare Unterscheidung zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ vor. Er übernimmt die volle Verantwortung für das „Was“. Das bedeutet, dass die aufgestellten Regeln, das gespielte System, die Taktik etc. vollständig in seinem Verantwortungsbereich liegen und er dafür die Konsequenzen trägt. Das „Wie“ hingegen liegt vollständig im Verantwortungsbereich der Spieler. Hier sieht Tuchel das Team ganz klar in der Bringschuld und stellt hohe Anforderungen an seine Spieler. Wie beispielsweise bestimme taktische Muster erfüllt werden, muss somit von Team und Trainerteam gemeinsam erarbeitet werden. Tuchel gibt keine gebrauchsfertigen Anleitungen vor, die stupide von seinen Fußballern heruntergespielt werden. In dieser Art des Arbeitens wird auch eine Art Wechselspiel deutlich: Je intensiver das Team an den eigenen Aufgaben arbeitet und versucht, die Frage nach dem „Wie“ zu beantworten, desto stärker fällt auch Tuchels Dienstleistung gegenüber der Mannschaft aus. Die Initiative liegt aber eindeutig aufseiten der Spieler, die neben intensiver körperlicher Arbeit zudem in hohem Maße kognitiv beansprucht werden und inhaltlich gefordert sind.

Ziele und Ambitionen – mit einem enttäuschenden Ende

Wenngleich Tuchel in seiner Antrittsrede bei PSG noch nicht von Siegen und Titeln sprechen wollte, wurden dennoch zwei Ziele direkt und indirekt deutlich. Zum einen setzt er bestimmte qualitative Aspekte voraus, die unbedingt erreicht werden müssen. „Struktur“, „Teamgeist“ und „die tägliche Arbeit“ sind die konkreten Punkte, die Tuchel in diesem Zusammenhang im Sommer 2018 benennt. Das zweite Ziel wird zwar in dieser Antrittsrede nicht direkt adressiert, schwebt aber seit jeher wie ein Damoklesschwert über dem Hauptstadtclub: der lang ersehnte Gewinn der Champions League. Unzählige Millionen sind in den letzten Jahren in den Club investiert worden, und wie bei jeder Geldanlage fordern die dahinterstehenden Personen der katarischen Investorengruppe Qatar Sports Investments allmählich ihre Rendite. Der europäische Titel ist dabei gerade gut genug, um die hohen Ambitionen der Kataris zu erfüllen.

Doch insbesondere bei diesem Hauptziel konnte Thomas Tuchel in seiner ersten Saison 2018/2019 die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Paris scheiterte im Achtelfinale in letzter Minute an Manchester United, obwohl man in den Spielen zuvor durchaus zu überzeugen wusste. Die als Todesgruppe betitelte Gruppe C mit Liverpool, Neapel und Belgrad war zuvor mit 17 erzielten Treffern und elf Punkten als Tabellenführer abgeschlossen worden. Besonders im Rückspiel an Spieltag fünf der Gruppenphase gegen Liverpool zeigt sich PSG von einer bis dahin eher unbekannten Seite: Paris lag vor dem Spiel auf Platz drei der Gruppe C – ein Sieg war also Pflicht. Mit extrem viel Kampf und Defensivarbeit wurde die Liverpooler Offensive lahmgelegt und in Richtung Offensive setze Tuchel weniger auf Ballbesitz, sondern verstärkt auf Umschalt- und Konterspiel. Liverpool konnte auf diese Weise mit den eigenen Waffen geschlagen werden und es zeigte sich, dass Tuchel sein Weltklasse-Ensemble von einem kompletten Stilbruch überzeugt hatte.

Doch im Achtelfinalrückspiel gegen Manchester United waren weder das Spielglück noch eine konzentrierte Mannschaftsleistung auf Seiten der Pariser zu sehen. Individuelle Fehler von Kehrer und Buffon luden ManU zum Toreschießen ein, und mit einem äußerst unglücklichen Handspiel von Kimpembe auf der Strafraumlinie war das in der Summe letztlich zu viel für PSG. Nach dem 2:0 Auswärtserfolg im altehrwürdigen Old Trafford schied Paris mit der 1:3-Heimniederlage aufgrund der Auswärtstorregel aus der Champions League aus. Alle Primärdaten (Ballbesitz, Torschüsse etc.) lagen eindeutig bei PSG, doch letztendlich konnte Tuchels Team die Vorteile nicht in Zählbares ummünzen.

Woran es letzten Endes lag, dass die Champions-League-Saison nicht erfolgreicher abgeschlossen werden konnte, ist sicher einen eigenen Longread wert. Reflexartig bewertet man die Niederlage als „unglücklich“ oder „unverdient“. Gewiss hat Manchester stark von den individuellen Fehlern der PSG-Defensive profitiert, hat diese jedoch auch mit der eigenen Herangehensweise provoziert. Bevor Kehrer beispielsweise den zu kurzen Rückpass spielte, der zum 0:1 führte, wurde er beherzt von Marcus Rashford angelaufen und unter Druck gesetzt. Eben jener Rashford leitete später auch noch das zweite Tor von Manchester ein, indem er mutig aufs Tor schoss und dadurch einen technisch perfekten Aufsetzer produzierte, der von Buffon nur nach vorne abgewehrt werden konnte. Im weiteren Spielverlauf konnte Paris keinen entscheidenden Zug mehr zum Tor entwickeln und einen personell arg gebeutelten Gegner nicht bezwingen.

Die Performance in der heimischen Ligue 1 verlief dagegen planmäßig: Paris stellt mit 14 Siegen in Folge einen historischen Startrekord auf, der erst nach 21 Spieltagen durch die 1:2-Auswärtsniederlage bei Olympique Lyon sein Ende fand. Zuvor sammelte Paris 56 Punkte aus 18 Siegen und zwei Unentschieden. Diese Dominanz in der eigenen Liga hat jedoch auch eine Kehrseite der Medaille. Paris’ Titel war zu keinem Zeitpunkt der Saison in Gefahr, sodass sich ernsthafter Wettkampf nur bei Spielen in der Champions League einstellte. Ein Problem, mit dem sich auch schon Pep Guardiola in seiner Amtszeit bei Bayern München konfrontiert sah und das auch seinen Anteil daran hatte, dass Guardiola seine Trainertätigkeit im Süden der Republik nicht mit dem europäischen Titel krönen konnte.

Im Gegensatz zur Liga endete der französische Pokal wie die Champions League enttäuschend: Im Finale unterlag Paris Stade Rennes im Elfmeterschießen und zeigte insgesamt eine schwache Leistung.

Gestatten, Monsieur Schlendrian

Am Abend des 6. März 2019, an dem PSG gegen Manchester United ausschied, gesellte sich ein neues Teammitglied zur Mannschaft von Paris St. Germain, ein unliebsamer Gast namens Schlendrian, und führte zu einem spürbaren Spannungs- und Leistungsabfall. Das Google-Wörterbuch definiert den Begriff des Schlendrians mit einer „von Nachlässigkeit, Trägheit, einer gleichgültigen gekennzeichnete Art und Weise, bei etwas zu verfahren“. Gerade diese Punkte, die Tuchel laut seiner Antrittsrede mit Struktur, Teamgeist und täglicher Arbeit eigentlich hatte vermeiden wollen.

Es dauerte rund einen Monat, bis sich der Schlendrian vollumfänglich im Team von Thomas Tuchel entfaltet hatte und seine ersten Auswirkungen auch in den Ergebnissen spürbar machte. Ganze vier Niederlagen im April, darunter die schmerzhafte Pokalpleite gegen Rennes, setzten der Stimmung zu und ließen Zweifel an der Erfüllung der von Tuchel eigens definierten Zielen aufkommen. Mbappé kritisierte Mitte April öffentlich die Leistung der Mannschaft und sprach dem Team insbesondere Persönlichkeit ab. Auch Neymar schlug in eine ähnliche Kerbe und prangerte das Verhalten der jungen Spieler an. Den erfahrenen Spielern sei zu wenig Respekt entgegengebracht worden. Tuchel äußerte sich zu diesen Stimmen und gab zu Protokoll, dass im Team insgesamt zu wenige Spieler vorhanden seien, die es hassen, zu verlieren.

Hat Paris ein Mentalitätsproblem?

Während seiner Amtszeiten in Mainz und Dortmund sprach Thomas Tuchel gerne von Handlung- und Leistungszielen. Weg von Ergebnisorientierung und Fokus auf die Tabelle, hin zu bestimmten qualitativen Zielsetzungen, an denen ein Team sich messen lassen muss. Intensiver Einsatz, Kampf und Laufbereitschaft sind hier sicherlich einige von vielen durch Tuchel definierten Leistungsziele, die ein Team erreichen kann bzw. muss. In seiner Antrittsrede in Paris sprach er konkret von Struktur, Teamgeist und der täglichen Arbeit. Ist Thomas Tuchel an diesem Anspruch gescheitert?

Es ist sicher menschlich, dass nach einer Enttäuschung eine gewisse Motivationslosigkeit bei Trainer und Mannschaft eintritt. Das eigentliche und über allem schwebende Ziel konnte durch das Ausscheiden gegen Manchester United in der Champions League endgültig nicht mehr erreicht werden. Eben jenes Ziel, das der täglichen Arbeit eine gewisse Zweckmäßigkeit und Zielrichtung verliehen hat. Mbappés rohes Foul im Pokalfinale und Neymars Schlag gegen einen Fan nach demselben Spiel sind zumindest Indizien dafür, dass die Struktur des Teams einen Bruch durch das Ausscheiden in der Champions League erlitten hat. Einen tatsächlichen Beweis hierüber zu führen ist aber praktisch unmöglich, jedoch kann hieraus geschlossen werden, dass Paris den enttäuschenden Ausgang der Saison nicht optimal verkraftet hat. Tuchel wird dadurch sicherlich dazugelernt haben und wird in der kommenden Saison den Fokus verstärkt auf diese Problempunkte legen müssen.

In die gleiche Kerbe schlägt auch PSG-Präsident Nasser al-Khelaifi, der in der kommenden Saison eine komplett andere Mentalität von seinen Spielern verlangt. Insbesondere Starallüren sollen in Zukunft keinen Platz mehr im Team haben, wer sich nicht daran halten will, darf den Verein verlassen. Klare Worte also, die einige interne Probleme offenlegen und das Mentalitätsproblem der Mannschaft bestätigen. Durch die direkte Adressierung der Spieler wird hierbei Tuchels Position zwar gestärkt, indirekt wird der Druck auf den Trainer jedoch zugleich auch erhöht.

Empfehlung des Hauses: Tactique à la Tuchel

In dieser Analyse soll neben den bisher behandelten Aspekten auch der taktische Gesichtspunkt von Paris St. Germain unter Thomas Tuchel beleuchtet werden. Der Trainer von Paris gilt als Verfechter des Positionsspiels. Grob gesagt handelt es sich um eine Spielidee, bei der bestimmte Zonen und Räume beim Angriff besetzt sein müssen. Das Spielfeld ist dabei durch vertikale und horizontale Linien unterteilt und hat, je nach Trainer, bestimmte Vorgaben zur Besetzung dieser Zonen. Durch eine optimale Anordnung der Spieler entstehen auf diese Weise zahlreiche Dreiecke, bei denen der Ballführende stets zwei potenzielle Anspielstationen hat, wodurch das Team grundsätzlich über einen hohen Ballbesitzanteil verfügt. Wer diese Zonen letztendlich besetzt, ist dabei nicht entscheidend. Durch ständige Freilaufbewegungen der Spieler bleibt die Besetzung der Zonen variabel und führt auch dazu, dass eine mögliche Manndeckung des Gegners deutlich erschwert wird.

Besonders das Hinspiel im Achtelfinale gegen Manchester United ist ein geeignetes Beispiel für Tuchels Spielweise in der abgelaufenen Saison. Ein sehr flexibles und auf Ballbesitz ausgerichtetes System führte in Kombination mit einer sehr gelungenen Umsetzung seines Teams zu einem 2:0-Auswärtserfolg in England. Hier lässt sich auch die oben angesprochene Verknüpfung zwischen dem „Was“ und „Wie“ aufgreifen: Tuchels System gibt vor, was gespielt wird (3-6-1, 4-4-2), die Umsetzung, das Wie, bleibt jedoch zum Großteil in der Verantwortung des Teams.

Das folgende Schaubild skizziert die Offensivanordnung von PSG. Die sehr breit positionieren Außenbahnspieler Bernat und Dani Alves geben dem Spiel von Paris sehr viel Breite, die dazu führt, dass die gegnerischen Außenverteidiger diese Breite ebenfalls in der Defensive halten müssen und sich der Abstand zu den eigenen Innenverteidigern auf das Maximum vergrößert (siehe rot eingekreiste Bereiche). Draxler und di Maria besetzen dabei die enorm wichtigen Halbräume und halten sich stets flexibel. Hierbei können beispielsweise Überzahlsituationen erzeugt werden, wenn sich beide Spieler auf eine Seite konzentrieren und dort überladen.

Auch Mbappé ist in dieser Anordnung grundsätzlich nicht auf seinen Platz in der Sturmmitte beschränkt, seine Wirkungskreise fallen ebenfalls flexibel aus.

Defensiv fällt Paris bei dieser Offensivgrundordnung in ein 4-4-2:

Mit dem sich zurückziehenden Bernat und dem nach außen gehenden Kehrer als Außenverteidiger bildet PSG eine Viererkette in der Defensive. Marquinhos spielt in diesem System ebenfalls eine sehr wichtige Rolle, indem er stets ein Auge für die Raumbesetzung in der Defensive hat und sich etwaig auftuende Löcher situativ schließt.

Fakten auf den Tisch!

Tuchels erste Saison bei Paris St. Germain endete auf den ersten Blick nicht so erfolgreich wie erhofft. Das frühe Aus in der Champions League hat einen Bruch für Paris markiert, von dem sich der Club bis zum Saisonende nicht erholen konnte. Durch den Gewinn der heimischen Ligue 1 hat Tuchel das Mindestziel erreicht, die Niederlage im Pokalfinale trübt seine Bilanz jedoch zusätzlich.

Mit Tuchel verfügt Paris über einen sehr akribischen Fußballexperten, der insbesondere im Spielstil des Positionsspiels weltweit eine der führenden Rolle einnimmt. Durch die vorzeitige Vertragsverlängerung hat die Vereinsführung ein klares Signal gesetzt und Tuchels Position in Paris (zunächst) gestärkt. Weiteren Zuspruch erhielt er durch die Beendigung der Zusammenarbeit mit dem bisherigen Sportdirektor Antero Henrique. Zwischen den beiden Funktionsträgern waren dem Vernehmen nach in der abgelaufenen Saison deutliche Stimmungstiefs erkennbar, insbesondere in puncto Kaderzusammenstellung und Transferplanung. Tuchel bekommt nun mit Leonardo einen neuen sportlichen Direktor an die Seite gestellt, mit dem er im Optimalfall seine Spielerwünsche umsetzen kann. Denn nicht nur sportlich, sondern auch auf charakterlicher sowie mentaler Ebene ist deutlich geworden, dass bestimmte Spielertypen fehlen, die einen Schlendrian entschieden aus der Mannschaft drängen würden oder gar nicht erst einreißen lassen. Letztlich sind Fußballer auch nur Menschen (die fünf Euro für das Phrasenschwein werden im Anschluss überwiesen), die wie jede andere Gruppierung auch mit bestimmten gruppeninternen Problemen zu kämpfen hat. Jedes Team braucht einen gesunden Mix aus Führungstypen, Mannschaftsspielern und Individualisten. Betrachtet man den Kader von Paris, fällt die starke Konzentration von Individualisten auf, die natürlich auch den Reiz der Mannschaft ausmacht und die Fans ins Stadion strömen lässt, das Gruppengefüge jedoch schnell destabilisieren kann. Insbesondere in diesem Punkt steht Thomas Tuchel eine große Aufgabe bevor, die jedoch auch von der Vereinsführung klar und deutlich erkannt wurde und konsequent angegangen werden soll. Es ist Tuchel zu wünschen, dass er diese Probleme in den Griff bekommt und sich in den kommenden Jahren hauptsächlich auf den Fußball konzentrieren kann.

Bonne chance!

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Autoren-Information: Olaf verfasst seit September 2018 Analysen und Berichte im Fußball-Kontext. Neben taktischen Aspekten interessiert er sich zudem auch für verschiedenste Statistiken, die einen tieferen Einblick in die Funktionsweise des modernen Fußballs geben

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Der Pariser Fußball: Eine Spurensuche https://120minuten.github.io/der-pariser-fussball-eine-spurensuche/ https://120minuten.github.io/der-pariser-fussball-eine-spurensuche/#comments Wed, 10 Dec 2014 09:30:15 +0000 https://120minuten.github.io/?p=658 Weiterlesen]]> Carsten Pilger lebt in Paris und hat sich auf eine Spurensuche nach dem Fußball in Frankreichs Hauptstadt begeben. Zlatan und Co. spielen dabei eher in der zweiten Reihe und müssen das Spielfeld der Geschichte den kleineren Vereinen überlassen.

Autor: Carsten Pilger, Das FCSblog 2.0

Jeder, der erstmals die Périphérique überschreitet und nach Paris kommt, hat eine ganz eigene Vorstellung davon, was die Seele der Stadt ausmacht. Der Duft von frisch gebrühten Espressi auf dem Boulevard Saint-Germain, der Klang von Musik am Montmartre, die Kulturgüter Europas versammelt im Louvre, die Haute-Couture auf der Pariser Fashion Week. Mit etwas Glück entdeckt jeder für sich etwas von dieser Erwartung unter der dicken Schicht aus Einförmigkeit, Massentauglichkeit und Ruß, unter der Paris begraben liegt. Doch was ist mit Fußball? Es ist eine Suche nach der eigenen Pariser Identität. Ein Wühlen in der Geschichte, ein Verzweifeln an den französischen Eigenheiten, ein Entdecken und Vergessen. Dieser Text soll keine umfassende und allgemeingültige Beschreibung dessen werden, was der Pariser Fußball ist. Es ist vielmehr mein Versuch, einen kaum greifbaren Zustand für mich etwas besser zu verstehen.

Die Konkurrenz der England-Importe

Paris hätte die besten Voraussetzungen gehabt, zur Wiege des französischen Fußballs zu werden. Ende des 19. Jahrhunderts waren es in Frankreich lebende Engländer, die den vergleichsweise jungen Sport über den Ärmelkanal exportierten. Vor allem im Norden und in der Normandie wurde der Fußball nach Regeln der englischen „Football Association“ gespielt und eben auch in der Hauptstadt Paris. Unter dem Dach der Union des sociétés françaises de sports athlétiques (USFSA, dt. Verband französischer Athletiksport-Vereinigungen) wurden die ersten Meisterschaften ausgetragen – es nahmen ausschließlich Pariser Mannschaften teil. 1894 fand im Pariser Vorort Courbevoie das erste Endspiel um den Meistertitel statt. Nach einem 2:2 zwischen den White-Rovers und Standard AC im ersten Spiel, konnte Standard das Entscheidungsspiel mit 2:0 für sich entscheiden. Diese Klubs waren überwiegend mit englischen Spielern besetzt. Erst langsam entstanden auch französische Fußballvereine, die erst jedoch in separaten Wettbewerben antraten.

Nicht nur in Paris begeisterte der Fußball. Auch in anderen Städten fanden Fußballverrückte zu Vereinsgründungen zusammen. Als ältester französischer Verein gilt heute der AC Le Havre, 1872 von britischen Hafenarbeitern gegründet. In den ersten Jahren rollte der Ball allerdings nicht, sondern das „Ei“ wurde geworfen: Rugby breitete sich einige Jahre vor dem Fußball in Frankreich aus. Vor allem im Süden fanden die Menschen eher gefallen an Rugby – was den mitunter schwierigen Stand des „eleganteren“, weniger körperbetonten Fußballs bis heute erklärt.

1899 wurde die Meisterschaft der Pariser Vereine für die „Provinz“ geöffnet. Der AC Le Havre, 1884 zum Fußballverein geworden, erreichte auf Anhieb das Finale. Der Gegner, der Club français, weigerte sich gegen einen Gegner aus der Normandie anzutreten. Kampflos trug der erste nicht-Pariser Verein die französische Meisterschaft davon. Zum ersten Mal wurde der Fußball zum Ort der Auseinandersetzung zwischen Paris und dem Rest Frankreichs. Ein bis heute immer wiederkehrender Konflikt im zentralisierten Staat, der erst in den 1980er Jahren den politischen Willen entwickeln sollte, sich zu dezentralisieren.

Die Glanzjahre des Hauptstadtfußballs

Langsam bildeten sich in ganz Frankreich Fußballvereine – allerdings auch Konkurrenzverbände. Bis zur Gründung der landesweiten Verbands FFF, der Fédération Française de Football, am 7. April 1919, dauerte es noch einige Jahre. Sein erste Präsident, Jules Rimet, der später auch FIFA-Präsident und Namensgeber der ersten Weltmeister-Trophäe werden sollte, war erst mit der Gründung einer der bekannteren Pariser Vereine beschäftigt. 1897 erblickte im siebten Arrondissement der Red Star Club das Licht der Welt, kurze Zeit später sollte er vor die Tore von Paris nach Saint-Ouen ins Stade Bauer ziehen. Red Star, ein Verein im Geiste der Dritten Französischen Republik. Die neue Versammlungsfreiheit ermöglichte den humanistischen Werten folgenden Verein, der vor allem Jugendliche aus ärmeren Familien anzog. Und doch verband man dies mit christlichen Werten, einige Jahre bevor die Republik die Trennung von Staat und Kirche beschloss.

Rimet verließ Red Star, zu großer Funktionärskarriere berufen, nach einigen Jahren. Der Verein erlebte hingegen seine rosigen Zeiten und feierte in den 1920ern vier Pokalsiege feiern. Mit Einführung der Division 1, der Vorgängerin der Ligue 1, gehörte auch Red Star (nach Fusion nun Red Star Olympique) zum erlesenen Kreis der frühen Profivereine.

Red Star Football Club Saint-Ouen 1920
Red Star 1920 via Wiki Commons

Den ersten Pariser Meistertitel in der Division 1 durfte ein anderer Verein in die Höhe stemmen: Der Racing Club, der sich als zweiter Pariser Verein in den 1930ern in der höchsten Spielklasse etablierte. In der Saison 1935/36 feierten die „Pinguine“, so der Spitzname, erstmals den Ligatitel. Mit dabei als Spieler war Auguste „Gustl“ Jordan, späterer Nationaltrainer der kurzlebigen Saarländischen Nationalmannschaft. Es war der letzte Meistertitel einer Pariser Mannschaft für ein halbes Jahrhundert.

Der Abstieg des Pariser Fußballs begann in den Zwischenkriegsjahren. Da der Fußball selbst einer mangelnden Anerkennung seitens der Stadtpolitik und einem eher geringen gesellschaftlichen Anerkennung gegenüberstand, waren die Pariser Vereine im Vergleich zur aufstrebenden Konkurrenz aus der Provinz im Nachteil. Die Vereine konnten ihre Stellung im Fußball nicht halten – die Stadt war hingegen weiter Schauplatz von Pokalendspielen.

In der Besatzungszeit schloss die Division 1 ihre Tore, auf regionaler Ebene wurden die „Championnats de guerre“ ausgespielt. 1940/41 wurde Red Star Meister in der Staffel der besetzten Zone Frankreichs, vor Rouen und Bordeaux. Viele Vereine weigerten sich aufgrund des Krieges, an Wettkämpfen teilzunehmen.

Verfall und künstliche Vereinskonstrukte – der „rote Milliardär“ aus Toulouse

Nach Kriegsende wurde der Profibetrieb wieder aufgenommen. Für Red Star sollte der Platz im Profifußball aber von einer Dauer- zur Ausnahmeerscheinung werden. Sportliche und finanzielle Probleme veranlassten den Verein erst dazu, sich 1950 in den Amateurbereich zurückzuziehen. Die Rückkehr in die Zweitklassigkeit wurde zum Drama, als 1955 der sportliche Aufstieg am grünen Tisch scheiterte – Korruptionsvorwürfe gegen Offizielle und Spieler zogen Sperren nach sich. Erst 1965 gelang wieder der Aufstieg in die Division 1, da ist Red Star aber schon der Fahrstuhlklub der Liga. Nach dem erneuten Abstieg kommt es zu einem Vorgang, der vielleicht im Jahr 2014 nicht weiter für Aufsehen sorgen würde, aber damals vor allem beim Verband dafür sorgen würde, Vereinsfusionen strenger zu reglementieren.

Der Toulouse FC, der damals vom kommunistischen Politiker Jean-Baptiste Doumeng, Spitzname „der rote Milliardär“, als Präsident angeführt wurde, spielte zur gleichen Zeit in der Division 1. Allerdings herrschte zwischen dem roten Milliardär und dem obersten Stadtherren von Toulouse, Louis Bazerque von den Sozialisten, eine angespannte Stimmung. Doumeng belebte die französische Tradition des absolutistischen Herrschers neu, indem er 1967 kurzerhand entschied, seinen Toulouse FC mit dem gerade abgestiegenen Red Star fusionieren zu lassen, inklusive dem Startrecht in der Division 1 und dem Transfer aller Spieler nach Paris. Toulouse, die „ville rose“ an der Garonne im Süden Frankreichs, verlor aufgrund der guten Beziehungen Doumengs mit dem kommunistischen Saint-Ouen kurzerhand seinen Erstligisten. Eine Lücke, die erst in den 1970ern vom neu gegründeten Toulouse FC (der heute noch erstklassig spielt) gefüllt wurde. Die Finanzspritze des „roten Milliardärs“ für Red Star hatte aber nur den Effekt eines Strohfeuers und schob den erneuten Abstieg nur einige Jahre auf. Doumeng zog sich zurück und 1975 war das Kapitel Erstklassigkeit für Red Star abgeschlossen.

Dem Racing Club erging es nicht viel besser. Anfang der 60er Jahre stieg RC in die Division 2 ab, einige Jahre später gingen der sportliche Erfolg und die Zuschauer abhanden. Eine Fusion sollte auch hier die Notbremse ziehen, Partner sollte UA Sedan-Torcy werden. Die Pläne sahen vor, dass die Heimspiele mal in Paris, mal in Sedan (an der französisch-belgischen Grenze) ausgetragen werden sollten. Doch der Verband spielte nicht mit und lediglich einige Spieler, der Präsident und der Name wechselten zum „RC Paris Sedan“. Der Pariser Klub stieg in den Amateurbereich ab, sein „Nachfolger“ aus den Ardennen benannte sich 1970 in CS Sedan Ardennes um und spielt heute nach Jahren zwischen erster und zweiter Liga im viertklassigen CFA, Gruppe A.

Paris Saint-Germain – ein Nebenprodukt des Verbands

Frankreich, dessen Zentralisierung in Sachen Mode, Kultur und Bildung zwangsläufig zur Unterscheidung in Paris und Provinz führt, wurde in den 1960ern und 1970ern von Mannschaften wie Olympique Marseille, dem FC Nantes, den Girondins de Bordeaux oder dem Serienmeister AS Saint-Etienne bestimmt. Dieser Anachronismus im französischen Fußballsystem rief den Verband auf den Plan, der 1969 eine Studie in Auftrag gab, die – wenig überraschend – zu dem Schluss kam, dass Erstligafußball in Paris wünschenswert sei. Hastig wurde der Paris FC gegründet, der zunächst einfach nur existierte, aber nicht am Ligabetrieb teilnahm. Da der Verein auch hastig in die erste Liga wollte, ohne die Ochsentour durch den Amateurbereich mitmachen zu müssen, kam erneut die Idee einer Fusion mit einem Erstligisten auf den Tisch. Der einzige Erstligist in der Nähe von Paris war ironischerweise der CS Sedan Ardennes, der aufgrund der Erfahrung mit Racing ablehnte. Zwangsläufig musste Paris eine Liga tiefer suchen – und dort fand sich Stade Saint-Germain aus Saint-Germain-de-Laye, einem Vorort von Paris. Saint-Germain war eine feste Größe im Amateurbereich und 1970 als Dritter in der Amateurmeisterschaft dazu berechtigt, in die zweite Liga aufzusteigen. Die FFF schaltete sich nun ein, mit dem Ziel, den Pariser Fußball wieder auf ein hohes Niveau zu bringen: Der bislang „virtuelle“ Paris FC und Stade Saint-Germain fusionierten vor der Saison 1970-1971 zum Paris Saint-Germain FC. In der Debütsaison verlief alles nach Plan, es gelang der Durchmarsch in die Division 1.

Doch Paris wäre nicht Paris, wenn das nicht gewisse Probleme ergeben hätte. Denn eigentlich war der neue Paris Saint-Germain FC immer noch ein Vorstadtklub, der die Pariser daran erinnerte, dass die eigenen Versuche, im Profibereich Fuß zu fassen, kläglich gescheitert waren. Die Stadt, Besitzerin des „Parc des Princes“, dem großen Stadion im Westen der Stadt, verweigert dem Verein, innerhalb der Stadtgrenzen zu spielen. Die Lösung: Knapp 18 Monate nach der Zwangsehe die Scheidung. Der Paris FC durfte den Platz in der Division 1 behalten, PSG musste zurück in die Drittklassigkeit, wo bislang die Reserve spielte.

1198px-Maillots_du_PSGInteressante Trikotsammlung von PSG via Wiki Commons

Die Ironie der Geschichte: Obwohl der Planklub Paris FC alle erdenklichen Privilegien bekam, konnte er sich nicht als Pariser Aushängeschild im Profifußball etablieren. 1974 stieg der Paris FC in die Division 2 ab – im gleichen Jahr stieg der PSG ins Oberhaus auf. Geplant war alles anderes, dennoch sollte Paris nun endlich das bekommen, was es immer wollte: Einen Profiverein. Nun lenkte auch die Stadt ein und ließ den „Vorstadtklub“ im Prinzenpark spielen, wo der PSG heimisch werden sollte. Das Trainingsgelände ist dabei allerdings bis heute in Saint-Germain-en-Laye geblieben.

Von den Rosahemden über Canal+ ins Mittelmaß

1973 waren der Modeschöpfer Daniel Hechter, der Schauspieler Jean-Paul Belmondo, der Verleger Francis Borelli und weitere Mitglieder der Pariser High Society. Die Presse verlieh ihnen den Spitznamen „la gang des chemises roses“, die Bande der Rosahemden, als leichte Spöttelei gegen die Neulinge im Funktionärswesen. Doch die Größen aus der Pariser Schickeria legten den Grundstein für den Aufstieg des neuen Pariser Clubs. Hechter selbst entwarf das traditionelle Trikot der Pariser in blau-weiß-rot. Der PSG wurde damals der Verein des „show biz“, konnte sich aber auch im Ligaalltag bewähren. Für Präsident Hechter war das Kapitel PSG bereits 1978 wieder beendet: Eine Affäre um Eintrittskarten kostete ihn das Amt.

Francis Borelli übernahm den Verein und führte ihn 13 Jahre lang. Unter seiner Ägide gewann PSG seine ersten nationalen Titel. 1982 und 1983 gewann Paris den Coupe de France, den französischen Pokalwettbewerb. Maßgeblichen Anteil an den Erfolgen hatten der aus Saint-Etienne 1980 nach Paris gewechselte Angreifer Dominique Rocheteau und der algerische Stürmer Mustapha Dahleb, der bereits seit 1974 den Pariser Aufstieg mittrug. Der ganz große Triumph folgte 1986: 50 Jahre nach dem letzten Pariser Meistertitel durfte der mittlerweile von Gérard Houllier trainierte PSG die Saison als Erster beenden. Mit Spielern wie Luis Fernandez und Safet Susic war nun Paris erstmals seit Jahrzehnten das Zentrum des französischen Fußballs.

Die künstliche Feindschaft

Doch die Konkurrenz ließ nicht lange auf sich warten. In Südfrankreich übernahm der schillernde, wie berüchtigte Bernard Tapie das Ruder bei Olympique Marseille und dominierte Ende der 1980er den französischen Fußball. Zwischen 1989 und 1992 gab es vier Meistertitel in Folge für OM. In Paris herrschte Frust. Der Bezahlfernsehsender Canal+ witterte hingegen eine Chance: Mit einem Einstieg bei PSG würde der Ligafußball wieder an Spannung gewinnen. Canal + übernahm die Mehrheit am Hauptstadtklub und Michel Denisot wurde Präsident. Der Sender profitierte von der viel älteren, tiefer sitzenden Rivalität zwischen den Städten Paris und Marseille. Allein – die Rivalität zwischen beiden Klubs ist damit eher jungen Alters und fußte vor allem auf den ökonomischen Interessen der beiden großen Männer im Hintergrund, Tapie und Denisot.

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PSG Fans beim Pokalfinale 2006 via Wiki Commons

Vielleicht eine tragische Begleiterscheinung dieser Interessen: In den 1980er Jahren schwappte der Ultra-Gedanke von Italien auch nach Frankreich. Mit dem Commando Ultra (1984) aus Marseille und den Boulogne Boys (1985) des PSG fanden auch früh die fanatischen Anhänger beider Klubs ihre Gruppen nach italienischem Vorbild. Allerdings gab es zu dieser Zeit zwischen den Pariser und Marseillaiser Gruppen keine Rivalität – im Gegenteil: Wie das französische Fußballkulturmagazin SO FOOT 2014 berichtete, existierten durchaus freundschaftliche Kontakte auf persönlicher Ebene zwischen Ultras aus Marseille und Paris. Die spätere Rivalität der großen „dirigeants“ übertrug sich erst mit Canal+ auf die Fans – und trug damit zu den unschönen Seiten des französischen Fußballs bei.

Sportlich brachte die Zeit mit Canal+ den PSG zurück an die Spitze – auch begünstigt von einem Bestechungsskandal, der OM kurz nach deren Sieg in der Champions League zurück in die zweite Liga versetzte. Mit David Ginola und George Weah gewann PSG 1994 seinen zweiten Meistertitel. Danach sollte die Ligue 1 in Frankreich allerdings eine wechselhafte Angelegenheit werden. Bis 2002 gewann kein Team zweimal in Folge den Titel, Meister wie der AJ Auxerre, der FC Nantes oder der RC Lens konnten so zwar auf nationaler Ebene das Geschehen bestimmen, auf internationaler Ebene blieben die „Großen“ wie Marseille, Monaco oder eben Paris bestimmend. 1996 sicherte sich der PSG den Europapokal der Pokalsieger – sein bis heute einziger großer Titel auf europäischer Bühne. Es drohte jedoch eine schleichende Marginalisierung. Zwischen 2002 und 2008 hatte Olympique Lyonnais den Meistertitel abonniert.

Die neue Zeitrechnung ab 2011

Im Jahr 2011 änderte sich die Hegemonie im französischen Fußball endgültig, nachdem mit Bordeaux, Marseille und Lille die alten Größen Frankreichs wieder unter Beweis stellten, dass Lyon schlagbar ist. Der PSG, in der Zwischenzeit das Eigentum vom US-Investor Colony Capital, war hoch verschuldet. Das Qatar Sports Investments, ein staatlicher Fonds des Emirats Katar, übernahm die Mehrheit am Pariser Verein und dessen Schulden, um ihn wieder auf ein internationales Niveau zu heben. Nachdem 2012 überraschend der kleine südfranzösische Montpellier HSC das Double aus Meisterschaft und Pokalsieg gewann, stellte sich der erneute Planerfolg ab 2013 mit der ersten Meisterschaft seit 19 Jahren ein, die 2014 prompt verteidigt wurde. Möglich machten dies millionenschwere Neuzugänge wie Javier Pastore, Maxwell, Edinson Cavani und nicht zuletzt Zlatan Ibrahimovic. Sogar David Beckham ließ sich im Spätherbst seiner Karriere zu einem „Cameo“-Auftritt im Prinzenpark überreden, der sportlich kaum der Rede wert war und auch eher in die Abteilung Marketing gehört, da der ehemalige englische Nationalmannschaftskapitän sein Gehalt karitativen Einrichtungen spendete. International regt der Verein die Gemüter: Das finanzielle Engagement des WM-Gastgeberlandes 2022 Katar in Paris wird oft als „Whitewashing“ im Vorfeld des jetzt schon umstrittenen Turniers kritisiert. Zudem beschweren sich Konkurrenten auf internationaler Ebene, allen voran der FC Bayern München, darüber, dass der PSG die Regelungen zum „Financial Fairplay“ umgehe. Zuletzt schloss der PSG einen Sponsoringvertrag mit Katars Tourismusbehörde ab, der dem Verein bis 2016 600 Millionen Euro einbringen soll.

Stars statt Skandalklub

Die jüngsten Entwicklungen stellen die Frage nach dem Platz des Fußballs innerhalb der Stadt. Paris war und ist eine Stadt der Gegensätze, viele sagen sogar: Paris ist nicht das wirkliche Frankreich. Vielleicht geht die These zu weit, denn sie bildet die Gegensätze der französischen Gesellschaft ab: Die bürgerliche Elite, die Jahre ihrer Jugend opfert, um später leitende Positionen in Unternehmen und Behörden einzunehmen, aber auch Einwanderer und die „classe populaire“, die von steigenden Mietpreisen in den Pariser Norden und die Vorstädte gedrängt wird und für die der Alltag in Paris ein täglicher Kampf ist. Genauso war auch Paris Saint-Germain ein verbindendes Element aller Pariser und immer etwas, auf das die Einwohner zumindest in erfolgreichen Zeiten stolz sein konnten.

Allerdings sorgten andere Entwicklungen bereits vor dem Einstieg Katars bei PSG für ein Ende der Fankultur. Traditionell gab es mit dem Kop of Boulogne (KOP) eine rechts orientierte, mit Hooligans gefüllte Kurve, während in der Virage Auteuil (VA) Fans unterschiedlicher Hautfarbe und Religionszugehörigkeit zusammenfanden. Die Spannungen beider Kurven führten bei einem Heimspiel gegen Marseille im Jahr 2010 dazu, dass hunderte Hooligans der KOP Anhänger der Virage Auteuil attackierten – aus Marseille waren aufgrund eines Boykotts keine Ultra-Gruppierungen angereist. Die Angriffe endeten mit schweren Auseinandersetzungen, bei denen ein Hooligan der KOP so schwer verletzt wurde, dass er später verstarb. Für den Verein, der aufgrund früherer Vorfälle bereits auf Kriegsfuß mit seinen organisierten Anhängern stand, war das der Anlass mit dem „plan Leproux“ (benannt nach dem damaligen Präsidenten) praktisch alle bestehenden Ultra-Gruppierungen zu verbieten und künftigen Ultra-Aktivitäten strenge Auflagen vorzugeben.

Während der „plan Leproux“ 2010/2011 noch ernsthaft dazu geeignet war, dem Verein wirtschaftlich zu schaden, da die Zuschauerzahlen drastisch sanken, so erwies er sich mit der Ankunft Katars als Filter, um das Image des Vereins von Anfang an neu zu definieren. Die Nachfolger der verbotenen Ultra-Gruppen traten entweder in den Dauerboykott, die Lethargie oder gingen im nun weitgehend sterilen Prinzenpark akustisch unter. Für den Verein bot der plan Leproux die Möglichkeit, schon vor dem Stadionbesuch die künftigen Stadiongänger zu selektieren – sofern dies noch nicht über die gestiegenen Preise geschehen war. Mit den Transfers von Superstars wie „Zlatan“ nach Paris, stieg nämlich schlagartig auch wieder das Interesse am PSG.

Was bringt die Zukunft?

Die turbulente Pariser Fußballgeschichte scheint nun 2014 dort angekommen, wo sie sich immer wähnte: Ganz oben. Zum Preis einer vielfältigen Fankultur? Mal mehr, mal weniger treue Fans hat der immer noch im Stade Bauer spielende Red Star FC, den außerhalb Frankreichs noch immer der Ruf des „französischen St. Paulis“ ob seiner Fanszene ereilt. Nach Jahren der Pleite und der Bedeutungslosigkeit ist man zumindest zurück in der „National“, der dritthöchsten Liga. Altstars wie zuletzt Steve Marlet oder aktuell David Bellion nähren die Hoffnung der Red-Star-Anhänger auf einen Aufstieg in die Ligue 2. Der zweite Kampf, den die Anhänger selbst ausfechten müssen, ist der um das vom Verfall bedrohte Stade Bauer. Der Präsident Patrice Haddad würde gerne einen Neubau in den Docks von Saint-Ouen ansiedeln – die Fans drängen auf eine Modernisierung der traditionellen Spielstätte.

In einem modernen Stadion, dem Stade Charléty im 13. Arrondissement im Pariser Süden, spielt der ehemalige Planklub Paris FC. Obwohl der PSG aktuell den Platz einnimmt, der für den PFC vorgesehen war, scheint der Wille einiger Stadtherren, den Verein wieder in den Profibereich zu hieven, ungebrochen. Trotz weniger Sponsoren und einer durchschnittlichen Zuschauerzahl im dreistelligen Bereich darf der Verein das moderne Leichtathletik-Stadion nahe der Cité Universitaire nutzen und soll sich zumindest in der Ligue 2 etablieren. Aktuell ist der Paris FC in der Spitzengruppe der National und seinem ersten Etappenziel nahe.

Ob dies zu einer Renaissance der Fankultur führt? Mit Skepsis darf diese Aussicht hinterfragt werden: Als es beim Drittligaderby zwischen Red Star und dem Paris FC zu Auseinandersetzungen zwischen Fangruppen beider Vereine kam, machten lokale Politiker gleich ehemalige Ultras des PSG für die Gewalt verantwortlich. Fans sind in Paris nicht Teilnehmer am Geschehen, sondern seit 2011 vor allem Kunden und Zuschauer – die beim PSG das große Erlebnis bekommen und beim Paris FC vielleicht in ein bis zwei Jahren das entsprechend kleinere zum geringeren Preis. Ultras gibt es nur vor allem noch bei Red Star, in geringerem Maße beim Paris FC und beim von Fans neu gegründeten Ménilmontant Football Club, der von ehemaligen Mitgliedern der Virage Auteil besucht wird.

Obwohl der aktuelle Präsident des PSG, Nasser Al-Khelaïfi, eine Rückkehr der Ultras in den Prinzenpark nicht ausschließt, so hat er doch offen zugegeben, dass dieses Thema für den Verein derzeit keine große Rolle spielt. So verwirklicht am Ende vielleicht doch der Schwede Zlatan Ibrahimovic, längst Figur der Popkultur in Frankreich, wie kein Zweiter das Verhältnis der Pariser zum Fußball: Es geht vor allem darum, dem Rest Frankreichs die eigene, unumstrittene Klasse zu demonstrieren. Nach einer langen Zeit der Leiden.

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