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Buchbesprechung: 90 Minuten 1.FC Magdeburg

Wie soll, wie kann man die Geschichte des Herzensvereins in 90 Minuten oder 90 Momenten auch nur annähernd beschreiben, ohne dabei etwas zu vergessen? Oder anders gefragt, ist es denn überhaupt möglich, eine Vereinsgeschichte auf 90 Momente zu reduzieren? Reduktion bedeutet, etwas kompliziertes zu vereinfachen, um zum Kern durchzudringen. In Bezug auf dieses Buch besteht das Resultat darin, dass der 1. FC Magdeburg auf etwas mehr als 90 Momente reduziert wird, auf Leid und Freude, Euphorie und Schmerz. Hierbei werden Details ausgeblendet und im Mittelpunkt stehen die Spiele und die Momente.

Die Auswahl an Spielen des 1. FC Magdeburg ist sicher keine einfache gewesen, was noch einmal den Aufwand hinter diesem Buch unterstreicht. Wir erfahren, wie dicht Freud und Leid beieinander liegen. Nur ein Beispiel: 2001 steigt der Club in die Regionalliga, der damals dritthöchsten deutschen Spielklasse auf, um kurz darauf nur durch eine einmalige Spendenaktion der Fans und dank der Bürgschaft zweier Banken in der neuen Spielklasse überhaupt an den Start gehen zu können. Ein Jahr später folgt dann der Kollaps und die daraus resultierende Insolvenz.

Ein grober Schnitzer unterläuft dem Autoren doch. Der FC Bayern München kam 1974 nach Magdeburg um gegen den Club im Pokal der Landesmeister anzutreten, nicht im UEFA-Pokal. So ein Fauxpas wäre nicht weiter schlimm, würden sich nicht Geschichten um dieses Spiel aus den 1970ern ranken. Die Bayern hatten beispielsweise Angst vor Manipulation ihrer Mahlzeiten und hatten deswegen ihre eigene Verpflegung mitgebracht. Mehr noch, auch der Infrastruktur im Magdeburger Interhotel traute man nicht und zwang die Mannschaft, im Bus zu essen. Die Stasi ließ nichts unversucht, dem Klassenfeind eins auszuwischen und so wurde die Kabine der Bayern verwanzt und die Bänder wurden Heinz Krügel angeboten, welcher dankend ablehnte. Magdeburg schied aus. Die Revanche folgte allerdings fast 30 Jahre später als der Club die Bayern aus dem DFB-Pokal schoss. Dies sind nur zwei Momente, die im Buch festgehalten werden. Über den einen (1974) schüttelt man heute den Kopf, an den anderen (2000) erinnert man sich als Zeitzeuge gern zurück. Überhaupt ist die Mischung aus selbst Erlebtem und Historischem die Stärke dieses Bandes. Selbst die A-Jugend wird erwähnt nachdem sie 1999 den DFB-Pokal ihrer Altersklasse gewinnen konnte. Die zweite Mannschaft hat ebenfalls ihren Platz im Buch, legte sie doch den Grundstein für solche Abende, an die sich jeder erinnert: gegen Köln, Bayern und Karlsruhe 2000/01.

Hinzu kommen Fotos zu jeder einzelnen Spielminute, die das Spiel illustrieren und Erinnerungen hervorrufen. Alles in allem entsteht aus diesen ausgewählten Momenten ein facettenreiches Bild vom Club, welches die Geschichte der letzten 54 Jahre wunderbar darstellt. Dieses Buch reiht sich nahtlos ein in den wachsenden Literaturkanon zum 1. FC Magdeburg, dem einzigen Europapokalsieger der ehemaligen DDR und gehört in jede gut sortierte Bibliothek.

Infos zum Buch und Transparenzhinweise
Das Buch “90 Minuten 1. FC Magdeburg” ist im Verlag Die Werkstatt erschienen und zudem bei jedem gut sortierten Buchhändler erhältlich.

Der Autor des Buches, Alexander Schnarr ist Redaktionsmitglied von 120minuten. Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Ins Heft geschaut: ballesterer 146

Fußball in Berlin

Fußball in Berlin – Der Schwerpunkt der Ausgabe 146 des ballesterer Fußballmagazins. Pünktlich zum 30. Jahrestag des Mauerfalls blickt alle Welt wieder nach Berlin, so wie es einst Willy Brandt gefordert hat. Die Kolleg*innen vom ballesterer schauen sich dabei den Fußball vor und nach dem Mauerfall an und liefern eine Bestandsaufnahme 30 Jahre danach.

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Rezension: Reds

Die Geschichte des FC Liverpool

Der FC Liverpool scheint die Mannschaft der Stunde in England zu sein. In der vergangenen Saison wurden die „Reds“ hinter Manchester City mit 97 Punkten in der Premier League die beste zweitplatzierte Mannschaft in der Geschichte des englischen Fußballs. Nur wenig später gewann die Mannschaft von Jürgen Klopp zum sechsten Mal die Champions League. Mit 24 Punkten aus acht Spielen ist man zudem ungeschlagen Tabellenführer. Einzig der Auftakt im Europapokal 19/20 wurde mit einer 2-0 Niederlage in Neapel vergeigt; man kann nicht alles haben. Weiterlesen

Buchbesprechung: Miro

Das Gefühl, im Himmel zu stehen

von Luca Schepers (Pretty Little Movies)

Das Verhältnis eines Fußballfans zu seinem Verein und seinen Lieblingsspielern ist ein sehr diffuses und im Grunde genommen auch kaum zu erklärendes. Das macht das angemessene Schreiben über Fußball auch so schwierig, da man sich als Fan immer in einem Zwiespalt zwischen Analyse und Emotion befindet. Ronald Reng gelingt es in seinem neuen Buch „Miro“, in welchem er die Geschichte der eigentümlichen Karriere des Miroslav Klose erzählt, ein weiteres Mal, eine sprachliche Verbindung dieser beiden Pole des Fan-Daseins zu finden. Dabei begreift er das Phänomen „Miro“ als eine Mischung aus tatsächlicher fußballerischer Qualität und dem Gefühl, einen besonderen Menschen vor sich zu haben. Das wohl offensichtlichste Symbol ist der Salto, den Klose nach besonderen Toren zu vollführen pflegte und der in seiner formvollendeten und beruhigenden Schönheit bei gleichzeitiger technischen Perfektion die Stimmung, welche diese Biographie durchzieht, sehr gut abbildet.

Reng erzählt Kloses Geschichte chronologisch, von der Kindheit über den ewigen Traum, einmal auf dem Betzenberg zu spielen, bis hin zum WM-Finale 2014 und seiner heutigen Tätigkeit als Jugend-Trainer. Seine Erzählung ist klar strukturiert und sehr detailreich. Immer wieder kommen alte Weggefährten und vor allem Klose selbst zu Wort. Die vielen kleinen Geschichten, unter anderem der sehr genau beschriebene Wechsel zu Bayern München im Jahr 2007 oder auch die lang anhaltende Freundschaft mit Luca Toni, mit dem man nach der Lektüre des Buches gerne mal essen gehen würde, sind amüsant, interessant und schön erzählt.
Allerdings wird hier, ebenso wie im ebenfalls sehr tollen „Spieltage: Die andere Geschichte der Bundesliga“ (2013), nicht nur die Geschichte eines Menschen erzählt, sondern es ist vor allem eine Erzählung eines großen Umbruchs in der Fußballgeschichte, an dessen Wendepunkt Klose mit 20 Jahren aus der Bezirksliga in die Bundesliga kam. War dies Anfang der 2000er noch möglich, so ist dies heute vollkommen undenkbar. Dabei wirken sowohl Klose als auch Reng nicht wehmütig, wenngleich sie ihre Begeisterung für Olaf Marschall nicht verleugnen können, sondern eher fasziniert von dem Wandel, den der Fußball in den letzten zwei Jahrzehnten durchlaufen hat.

Das Großartige an diesem Buch ist, dass es gelingt, vom Kleinen auf das Große zu schließen, ohne das Kleine als reinen Funktionsträger zu betrachten. Man merkt Reng die Sympathie für seine Protagonisten an, dem man sich nach der Lektüre des Buches auch nur schwer entziehen kann. Miroslav Klose schaut so reflektiert und ruhig auf seiner Karriere zurück und erscheint als ein sehr höflicher und freundlicher Mensch. Dass es gelingt, seine Geschichte so analytisch klar und gleichzeitig von einer ganz eigenen Form der Poesie geprägt, zu erzählen, ist sowohl sprachlich als auch literarisch bemerkenswert.

„Miro“ ist daher in vielerlei Hinsicht ein sehr bemerkenswertes Buch und sollte nicht unter dem Label eines „guten Fußballbuches“ abgetan werden. Viel mehr findet sich hier, wie auch im restlichen Schaffen von Reng, ein sehr vielseitiges Werk, welches von einem tiefen Verständnis für Geschichte und deren Vermittlung geprägt ist. Und am Ende ist es auch die Geschichte eines Jungen, mit dem man selbst auf der Straße gespielt haben könnte. Die Zeit dieser Geschichten dürfte im Fußball wohl größtenteils vorbei sein. Aber das Gefühl, das einen beim Lesen dieser Biographie überkommt und das nicht nur aus Wehmut besteht, zeigt doch, dass Ronald Reng sich hier dem Kern dieses schönen Spiels angenähert hat.

Infos zum Buch
Ronald Reng: Miro. 448 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-492-05953-4, Preis: 22,00 Euro

Das Buch ist bei Piper erschienen und über den Online-Versand zu beziehen.

Uns wurde freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Buchbesprechung: Der Osten ist eine Kugel. Fußball in Kultur und Geschichte des östlichen Europa

Dieser Sammelband widmet sich dem Fußball im östlichen Europa aus wissenschaftlicher Perspektive. Bevor das jedoch eventuell zu schwer wird, haben die Herausgeber den Band mit Fotostrecken, Gedichten und Kurzgeschichten aufgelockert. Dies folgt dem Gedanken, dass Fußball für den tschechischen Autoren Bohumil Hrabal für “die Prosa das wichtigste Spiel ist” und Jewgeni Jewtuschenko ausführt, dass ihn der sowjetische Fußball “die Poesie gelehrt hat”. (S. 20) Beim Wort “Osten” im Titel stellt sich aber auch die Frage, wo dieser beginnt: hinter der Elbe, wie von Konrad Adenauer einst postuliert? Hinter Berlin oder doch erst hinter der Oder? Das Inhaltsverzeichnis gibt Aufschluss: selbst die Schweiz zählt zum Osten dazu, denn der Fußball, der in Österreich und Ungarn in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gespielt wurde, hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des eidgenössischen Fußballs. Auch die ehemalige DDR ist Bestandteil eines Kapitels. Das sind jedoch die Ausnahmen, liegt der Fokus dieses fast 500 Seiten starken Werkes auf Polen, den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Ex-Jugoslawien, der Ex-ČSSR, Ungarn und Rumänien.

Der Ursprung des Buches reicht bis ins Jahr 2010 zurück als sich das GWZO[1] in Leipzig auf der Jahrestagung mit dem Thema Fußball auseinandersetzte. Aus damals acht Mitstreiterinnen und Mitstreitern ist ein Team aus mehr als 30 Mitgliedern geworden, die an diesem Band mitgewirkt haben. Dies unterstreicht einmal mehr, dass der Fußball in Osteuropa eine ebenso große Rolle spielt wie in anderen Teilen des Kontinents, jedoch bisher eher stiefmütterlich, wenn überhaupt, behandelt worden ist.
Die Gedichte und Kurzgeschichten sind ausschließlich von osteuropäischen Autoren verfasst und werden hier zum ersten Mal in deutscher Sprache abgedruckt. Dazu gibt es biographische und bibliographische Informationen zum Autor. Auch bemerkenswert ist der hohe Anteil an Autorinnen: insgesamt acht Frauen haben an dem Buch mitgewirkt. Ein Punkt sei angemerkt als klitzekleine Kritik: Natürlich dürfen in so einem Werk auch die großen Spieler nicht fehlen und so wundert es wenig, dass Ferenc Puskas und Lew Jaschin mit einem Kapitel gewürdigt werden. Im Kreise dieser Großen fehlt dann aber mindestens ein Panenka oder auch Sindelar. Mit Ernst Willimowski wird in einem Abschnitt ein Grenzgänger beschrieben; Grenzgänger weil er sowohl für die polnische Nationalelf als auch die deutsche auflief.

Fazit: Fußball ist in Osteuropa genauso wichtig wie im Rest der Welt und dient ebenso als Vehikel für nationale Identität wie anderswo und ist deshalb keinen Deut schlechter oder niedriger einzustufen. Dieses Werk zeigt deutlich, welche Spuren der Fußball in den Staaten im Osten Europas hinterlassen hat und wie lebendig Geschichte nochimmer ist.

Anmerkungen

[1]Das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas widmet sich der Erforschung des Raumes zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria, vom Mittelalter bis in die Gegenwart.

Infos zum Buch
Christian Lübke, Dirk Suckow, Stephan Krause (Hrsg.) Der Osten ist eine Kugel. Fußball in Kultur und Geschichte des östlichen Europa. 492 Seiten, Hardcover, durchgehend farbig, ISBN: 978-3-7307-0388-5, Preis 29,90 Euro

Das Buch ist im Werkstatt-Verlag erschienen und über den Online-Versand zu beziehen.

Uns wurde freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Sammeln für einen guten Zweck: Das Tschutti Heftli

Was kann man eigentlich nicht sammeln? Die meisten sammeln irgendwann in ihrem Leben irgendetwas: Briefmarken, Tassen, Bücher, Musik. Fußballfans sammeln Trikots, Spieltagsprogramme und Eintrittskarten. Seit 1970 gibt es die Panini-Hefte zum Einkleben und natürlich, zum Sammeln. Seit nahezu 50 Jahren werden alle zwei Jahre die Hefte veröffentlicht und Jungs und Mädchen geben ihr Taschengeld für nichts anderes aus, als für kleine Fußballaufkleber. Es gibt aber auch Alternativen. In Deutschland und Frankreich geben Supermarktketten eigene Alben heraus. Wie das aber so ist bei Alternativen: es ist halt nicht das Original. Seit 4 Jahren gibt es jedoch eine Alternative, die durchaus anders ist. Der Schweizer Verein Tschutti hat sich auf die Fahnen geschrieben, Sammelalben mit einem guten Zweck zu verknüpfen. So gehen von jeder Tüte 9 Cent an Terre des Hommes. Das ist das eine. Das andere sind die Sticker selber. Jedes Land wurde und wird von einer Künstlerin oder einem Künstler entworfen und erhält somit einen sehr eigenen Charakter.
Hinzu kommt das Preis-Leistungsverhältnis. Eine Tüte von Panini kostet im Euroraum 90 Cents, ein Anstieg von 15 Cents seit der Europameisterschaft 2016. Der Preisanstieg in Großbritannien ist noch deutlicher: von 50 auf 80 Pence stieg der Preis eines Tütchen mit 5 Stickern. Eine Tüte für das Tschutti Heft hat 10 Aufkleber und kostet €1,50. Bedenkt man, dass davon 9 Cents abgehen, kommt man auf einen Stückpreis von 14,1 Cent pro Sticker; gegenüber 18 Cent für ein Paninitütchen eine klare Angelegenheit. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit Doppelte zu bekommen durchaus geringer. Klingt komisch, ist aber so. Von etwas mehr als 30 Paninitütchen, also 150 Sticker gibt es bereits mehr als 20 Doppelte. Beim Tschutti Heft ist es genau 1 Doppelter bei 13 Tütchen. Auch hier wieder klarer Vorteil für Tschutti. Allein die Verfügbarkeit der Tschutti-Tütchen lässt zu wünschen übrig. In Deutschland findet man sie ausschließlich an den Bahnhhofkiosk und nur in ausgewählten Läden in Hamburg oder Berlin etwa. Das ist schade. Der Versand nach Frankreich ist exorbitant und somit keine Option für die Nachbestellung.

Infos zum Tschutti Heftli
Mehr Informationen zum Heft gibt es auf der Webseite und Sticker Manager kann man tauschen, was das Zeug hält.

Hinweis: Die Agentur BeilQuadrat hat uns freundlicherweise ein Exemplar des Tschutti Heftlis zur Verfügung gestellt.

Mittendrin – Fußballfans in Deutschland – Kurzrezension

Der Fußballfan, das unbekannte Wesen. Wer ein Fußballspiel im Stadion besucht, der hat mitunter mit Vorurteilen und Pauschalisierungen zu kämpfen. Dabei ist das Publikum in einem Stadion vor allem eines – divers. Die Fans eines Vereins sind keine homogene Gruppe. Verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Motiven und Individuen mit ganz eigenen Einstellungen sind die Puzzelteile aus denen sich das zusammensetzt, was man als Außenstehender und aus der Entfernung als die Fans eines Vereins identifiziert, weil sie die gleichen Farben tragen.

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Buchbesprechung: Mirco von Juterczenka – Wir Wochenendrebellen

“Die Scheiße kannst du alleine fressen.”

Kapitel, die so beginnen, können nicht in schlechten Fußballbüchern enthalten sein – wobei “Wir Wochenendrebellen” von Mirco von Juterczenka eigentlich gar kein Fußballbuch im engeren Sinne ist. Der Untertitel (“Ein ganz besonderer Junge und sein Vater auf Stadiontour durch Europa”) lässt zwar eine Aneinanderreihung von Groundhopping-Episoden erwarten, schnell wird beim Lesen allerdings deutlich, dass das eigentliche Thema ein ganz anderes ist. Es geht um Autismus (genauer: um das Asperger-Syndrom von Sohn Jason), darum, wie die Diagnose den Alltag der Familie von Juterczenka beeinflusst (hat) und um die Rolle, die die gemeinsamen Stadiontouren von Vater und Sohn in dieser Gemengelage nicht nur für die Protagonisten, sondern für die ganze Familie spielen.

Besagte Touren und die damit verbundenen Erlebnisberichte in 17 Kapiteln dienen dementsprechend eher als Rahmen denn als Haupthandlung, was gleichzeitig aber auch eine besondere Stärke des Buches ist. So erfährt man beispielsweise nach dem eingangs zitierten Einleitungssatz, warum bereits die Bestellung einer Mahlzeit in einem ICE-Bordbistro unter den gegebenen Umständen für Jason, aber auch für Vater Mirco eine besondere Herausforderung darstellen kann. Oder warum der Besuch einer Pizzeria in Kiel schon auch mal eine abendfüllende Veranstaltung wird, an deren Ende ein überzeugendes Argument des Sohnes und ein völlig übersättigter Vater stehen. Oder was eine Bierdusche in Freiburg mit einem Vierbett-Abteil im Nachtzug und einem, nun ja, etwas anderen Toilettengang im Hamburger Millerntor-Stadion zu tun hat.

Besonders großartig ist “Wir Wochenendrebellen” an den Stellen, an denen die Leser*innenschaft die Stadionbesuche in Dortmund, Gelsenkirchen, Aue oder Hoffenheim aus der Perspektive von Jason erlebt bzw. an denen deutlich wird, auf welch besondere Weise Jason die Stadionerlebnisse wahrnimmt. Da können dann – aus guten Gründen – die Betonstufen in Hoffenheim oder die Fangesänge in Aue schon auch mal deutlich interessanter sein als das Spiel an sich. Gleichzeitig stellen genau diese Episoden Vater Mirco immer wieder vor Herausforderungen, sei es, weil das Verhalten des Sohnes mitunter für unwissende Umstehende nicht immer plausibel erscheint und durchaus auch mal in unschönen Formen der Selbsterniedrigung enden kann oder weil über allem ja irgendwie auch noch die Aufgabe steht, Jason seinen Lieblingsfußballclub finden zu lassen. Alles nicht so einfach, dafür aber schonungslos ehrlich erzählt, was beim Lesen zu herzhaftem Lachen, ungläubigem Kopfschütteln, aufrichtiger Bewunderung und ja, auch dem einen oder anderen feuchten Auge führt.

Müsste man “Wir Wochenendrebellen” in drei Sätzen zusammenfassen, ginge das eigentlich nicht besser als mit den Worten von Juterczenkas auf Seite 209:

“Die Welt braucht keinen weiteren weißen Mann, der Minderheiten und behinderten Menschen sagt, was sie dürfen und können oder gar wert sind. Mir war es ein Bedürfnis, meinen wunderbaren Sohn vorzustellen, die Behinderungen und “Behilflichkeiten” aufzuzeigen, vielleicht mit unseren Erlebnissen zu unterhalten, zu überraschen und klarzustellen, dass Fußballstadien mit ihren Fans ein Mikrokosmos der Gesellschaft sind, in dem man unabhängig von Nationalität, Hautfarbe oder sexueller Orientierung sehr viele großartige Menschen kennenlernen kann. Fußballfans, die uns auf unserer Suche halfen, und von denen einige heute Freunde sind.”

Nach der äußerst kurzweiligen Lektüre des 242 Seiten starken Buches lässt sich kurz und knapp festhalten: Dieses Anliegen ist vollumfänglich geglückt, zumal die Berichte durch ein Vorwort und ein ausführliches Glossar von Jason gerahmt werden und die Leser*innenschaft so auch die Gelegenheit bekommt, seine Perspektive einzunehmen.

“Wir Wochenendrebellen” ist bei Benevento Publishing erschienen und ja, das ist eine Marke der Red Bull Media House GmbH. Eine klare Kaufempfehlung gibt es trotzdem, und wer die 20 Euro investieren möchte, tue dies am besten über diesen Link: http://www.wochenendrebellen.de/bestellen. Jeder Kauf unterstützt so die Neven-Subotic-Stiftung.

Ein Exemplar des Buches wurde uns zur Rezension vom Autor kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Beitragsbild: (c) Sabrina Nagel, www.siesah.de

Buchbesprechung: Moritz Küpper – Es war einmal ein Spiel

“Es war einmal”, was klingt wie ein Märchen ist eine Bestandsaufnahme, die der Untertitel dieses Buches näher erläutert: Wie der Fußball unsere Gesellschaft beherrscht. Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass Küpper, der selbst einmal Sportjournalist war, kein Klagelied anstimmt, à la “Früher war alles besser”, sondern nüchtern analysiert, wie Fußball sehr viele Bereiche unserer Gesellschaft beeinflusst, bzw. diese bereits beherrscht. Dabei ist klar, dass Fußball die Sportmedien dominiert. Küpper zitiert aus der Welt des Sports, die da lamentiert:

“Die Leute bestimmen ja selbst, dass sie gerne Fußball schauen, es zwingt sie niemand. Also kann ich dem Fußball gar keinen Vorwurf machen. Trotzdem ist es so, dass der Fußball andere Sportarten erdrückt.” (Thomas Weickert, Chef des Internationalen Tischtennisverbandes), S.124.

Helmut Digl, der ehemalige Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes sprach sogar von einer “Diktatur des Fußballs.” (S.125) In der Tat ist diese Unwucht frappierend und wird durch Umsatzzahlen deutlich. Die 1. Bundesliga verbuchte in der Saison 2014/15 €2,6 Milliarden Umsatz, Liga 2 €504 Millionen und die 3. Liga kam noch auf €142,9 Millionen Umsatz. Erst danach kamen andere Sportarten wie Eishockey, Basketball und Handball. Das zieht natürlich die Sponsoren an und sorgt für die freiwillige Bereitstellung von Sendezeit für den Fußball zum Nachteil anderer Sportarten. So beschwerte sich Volleyball-Bundestrainer Vitali Heynen nach der Bronzemedaille durch die Männer 2014, “dass kein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender unsere Weltmeisterschaft überträgt. Dabei sollte es eine Pflicht für das gebührenfinanzierte Fernsehen sein.” (S.126)

“Fußball läuft immer” (S.126) so Thomas Horky, Sportjournalistik-Professor an der Macromedia-Hochschule in Hamburg. Dem kann man so zustimmen, denn es ist egal in welchem Bereich, der Fußball scheint einen Freifahrtschein zu besitzen. Dabei geht es hier nicht um das Spiel selber, sondern eher um das Drumherum. Es geht um Aufmerksamkeit und die bekommt der Fußball und davon nicht zu wenig. Die Schnittmengen, die Küppers im Blick hat, sind Politik, Kultur und Gesellschaft. Es ist schon witzig, dass der Tagesablauf des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer am 4. Juli 1954 das WM-Endspiel in Bern mit keiner Silbe erwähnt. Undenkbar fünfzig Jahre später als Angela Merkel UND Joachim Gauck nach Rio de Janeiro flogen, um dem Endspiel der WM beizuwohnen. Der Bann wurde 1990 gebrochen als Helmut Kohl nach dem Sieg im Finale von Rom, ebenfalls gegen Argentinien, die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer in der Kabine besuchte. Die Beziehung zwischen Fußball und Politik nimmt aber noch eine ganz andere Dimension ein, eine die den Fußball durchaus in ein fragwürdiges Licht rückt: nahezu alle Bundesligisten haben einen Berufspolitiker in Vereins-Gremien sitzen, zeigt Küpper anhand einer Grafik (S.33). Dadurch entstehen Möglichkeiten der Einflussnahme, die der Fußball zu nutzen weiß. Da sind zum einen die Großveranstaltungen für die der DFB ohne Zögern nach Steuerbefreiungen etc. fragt, ohne sich zu schämen. So geschehen bei einem Wahlhearing des DOSB vor der Bundestagswahl 2013. Die leise Antwort eines Anwesenden: “Ich müsste mich nur mal trauen, für meine WM nach so etwas zu fragen”, so zitiert Küpper einen Präsidenten eines kleineren Verbandes. Offen sagt er es nicht, die Angst vor dem Fußball ist zu groß (S. 61). Der Fußball darf alles und alle anderen schauen zu.

Etwas ambivalenter wird es wenn es um Stadionneubauen geht und die Zuschusspolitik von Kommunen. Die Stadt Magdeburg drücken €200m Schulden, beteiligt sich aber trotzdem mit €31m am Stadionbau. Hier ist eine andere Frage interessant: Muss in Zeiten klammer Kassen auf den Neubau eines Stadions verzichtet werden, wenn dringender Handlungsbedarf besteht? Immerhin sind €31m nicht viel im Vergleich zu den Milliarden und Billionen, die 2008 den Banken in den Rachen geworfen wurden, um diese vor dem sicheren Untergang zu bewahren. Dies ist umso obszöner, bedenkt man, dass die Finanzwirtschaft sich ähnlich heiß läuft wie 2007/08 und der nächste Crash sicher kommt und noch gravierender werden wird. Hier stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Küpper ist sich dessen bewusst: “Natürlich muss auch der Fußball unterstützt werden” (S. 67), insbesondere der Amateurfußball, denn hier gehen langsam die Lichter aus. Ein anderer Punkt: Das DFB-Museum in Dortmund. Dabei war die Stadt gar nicht erste Wahl, sondern Köln. Letztere weigerte sich ein Grundstück in bester Lage, nahe dem Dom kostenlos dem DFB zu überlassen. Für die Stadt Köln nicht vermittelbar. Nun steht das Museum in Dortmund, wo der DFB für 99 Jahre exakt null Cent Pacht bezahlt. Dortmund hat im Gegensatz zu Magdeburg “Schulden in Milliardenhöhe” (S. 68) und das Land NRW hat sich auch am Bau beteiligt, trotzdem geht man davon aus, dass das Museum für die Stadt sich auf die Dauer nicht rechnen wird, denn der DFB nur €250000 pro Jahr, alles was darüber hinaus anfällt an Miesen, zahlt die Stadt Dortmund. Das Museum benötigt also mehr als eine halbe Million Besucher pro Jahr um halbwegs rentabel zu sein. Es ist diese Selbstverständlichkeit, die verstört und Fragen aufwirft. Fragen nach Verhältnismäßigkeit und warum der Fußball durchgewunken wird.

Küppers untersucht ebenfalls Bereiche, die weit weniger suspekt erscheinen und doch vom Fußball eingenommen wurden, z.B. die Sprache. So wollen Unternehmen sich besser aufstellen und in der Champions League mitmischen. Verbales Foulspiel wird mit einer gelben oder roten Karte geahndet. Carolin Emcke nutzt den Begriff des Gegenpressings, um den nationalistisch-revanchistischen Bewegungen den Ball abzujagen (S. 200-201). Fußballsprache und -bilder findet – wer genau schaut und liest – häufig in der Alltagssprache wieder, wohl auch wegen ihrer Bildhaftigkeit und Verständlichkeit.

“Nur ein Spiel?” fragt Küppers und schreibt, dass dieser Spruch weit daneben liegt, denn Fußball ist mehr als das: Fußball ist eine Milliardenmaschine, die sehr viele Bereiche des täglichen Lebens ausfüllt, bzw dominiert. So sehr, dass einige Kommentatoren fürchten, dass der Fußball andere Sportarten verdrängt. Dieses Argument kann jeder selbst untermauern bei einer kurzen Recherche zu Sendezeiten sowohl in den öffentlich-rechtlichen wie auch privaten Sendern von Sportarten wie Volleyball oder Tischtennis. Das Ergebnis ist eindeutig: Fußball und dann lange Zeit nichts bevor sich am hinteren Ende andere Sportarten um den Krümel am Rand des vollen Fußballbanketts prügeln. Es war einmal ein Spiel ist keine Kampfschrift, sondern vielmehr enthält das Buch viele Beispiele, die zum Nachdenken und vielleicht gar ein Umdenken anregen könnten.

Infos zum Buch
Moritz Küpper: Es war einmal ein Spiel. Wie der Fußball unsere Gesellschaft beherrscht. Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2017.
ISBN: 978-3-7307-0320-5

Das Werk ist für €16,90 in jedem gut sortierten Buchhandel und direkt über den Verlag erhältlich.
NB: Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.