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Buchbesprechung: Helmut Schön – Eine Biografie

Nur selten bekommt man ein Buch zur Besprechung zugesandt, auf welches man sich freut und bei dem die Freude während des Lesens und nachher bleibt. Genau das ist Bernd M. Beyer mit seiner Biografie von Helmut Schön gelungen. Es wird alles beleuchtet: von früher Kindheit in Dresden bis zum Ende der Karriere als Nationaltrainer nach der WM 1978 in Argentinien. Dabei nutzt er sowohl private Aufzeichnungen Schöns, sowie seines Vorgängers im Amt des Bundestrainers, Sepp Herberger als auch Zeitungen und Magazine und zitiert aus TV-Interviews. Daraus entsteht ein sehr vielschichtiges Bild des Menschen, Spielers und Trainers Helmut Schön.

Helmut Schöns Leben lässt sich am besten mit der Vita des großen Historikers Fritz Stern (1926-2016) vergleichen, bzw. beschreiben: Fünf Deutschland und ein Leben. Genauso verhält es sich mit Helmut Schön. Geboren im Todeskampf des Deutschen Kaiserreichs, dem Ersten Weltkrieg, aufgewachsen in der Weimarer Republik und mit dem Fussball spielen begonnen zu einer Zeit als das Spiel in Deutschland an Popularität gewann. Während der Zeit des Nationalsozialismus kamen die ersten grossen Erfolge auch in der Nationalmannschaft und zwei Meisterschaften mit dem Dresdner SC 1943 und 1944. In der DDR war er Nationaltrainer, hatte Probleme mit der Parteiführung und verließ das Land. Danach war er Nationaltrainer des Saarlands und hätte um ein Haar seinem Mentor Sepp Herberger und der jungen Bundesrepublik das Wunder von Bern vermasselt; in der Qualifikation spielte die DFB-Auswahl gegen das Saarland. Schön war also Nationaltrainer aller Nachfolgestaaten des Dritten Reiches. Als Nachfolger von Herberger spielte die DFB-Nationalelf den besten und berauschendsten Fussball in der Nachkriegsgeschichte. Und war auch noch ziemlich erfolgreich dabei: WM-Zweiter 1966, WM-Dritter 1970, Europameister 1972, Weltmeister 1974, Vize-Europameister 1976. Wohl kaum ein Trainer hat solch eine Liste an Erfolgen vorzuweisen. Es war ihm leider nicht vergönnt, 1996 den ersten Erfolg einer gesamtdeutschen Mannschaft bei einem Turnier zu erleben, er starb im Februar 1996 80-jährig. Dennoch, allein dieser kurze Abriss zeigt, dass eine umfassende Biografie zwingend notwendig ist und dass es bisher ein weißer Fleck in der einschlägigen Literatur war, der nun durch Bernd M. Beyers umfassende Biografie mit Leben und Farbe gefüllt wurde.

Es war der große Bruder Walter, der Helmut Schön zum Fußball brachte und wie so oft stand das Familienoberhaupt dem ablehnend gegenüber, die Mutter dagegen unterstützte ihn, sorgte sich aber um den Zustand der Schuhe. Der frühe Tod seiner Mutter trifft ihn hart, wohl auch weil ihn eine gewisse Mitschuld trifft. Immerhin ist es Helmut, der sie mitnimmt zu einem Fackelzug der Nationalsozialisten. Es ist dort, dass sich die Mutter erkältet hat und an deren Folgen sie kurze Zeit später starb. In seiner Autobiografie schrieb er später, wie sehr ihn dieser Verlust schmerzte und er sich deswegen Vorwürfe machte. Wie er das frühe Ableben der Mutter verarbeitet hat, ist nicht überliefert; Beyer spekuliert, dass der Fußball half.

Der Durchbruch kam in den 1930ern, als er beim Dresdner SC zum Stammspieler und auch zum Nationalspieler reifte. Das lag zum einen am Talent des ‘Langen’ aber auch an den Trainern, die ihn begleiteten. Als junger Fußballer schaute er sich einiges bei Jimmy Hogan ab, dem legendären Trainerpionier aus Lancashire. Er war es, der den DSC zu einem erfolgreichen Verein machte. Er war nur vier Jahre in Dresden aber seine Arbeit wirkte lange nach. Die Früchte kamen erst in den Kriegsjahren als Dresden je zweimal Pokalsieger und Deutscher Meister wurde. Ebenso Otto Nerz und Sepp Herberger hatten Einfluss auf Schön und dessen Entwicklung. Vor allem Herberger, der dafür sorgte, dass ‘seine Nationalspieler’ nicht an die Front mussten. So auch Schön, der erst im Oktober 1944 als Grenadier eingezogen wurde. War Schön also ein Nutznießer des Nationalsozialismus? Beyer wertet nicht. Schön war nicht in der Partei, weder vor dem Krieg noch in der jungen DDR nach 1945. Obwohl die Nationalsozialisten ebenso auf einen Eintritt beharrten wie die SED, hatte Schön kein Parteibuch. Natürlich wäre es ein Leichtes, Schön damit als Sympathisanten der Nationalsozialisten darzustellen. Schöns Beharren auf der Trennung von Politik und Sport, spricht jedoch dagegen.

In der DDR sah sich Schön mit Problemen konfrontiert, die er irritiert wahrnahm, die ihn aber schlussendlich zur Abwanderung brachten. Man möchte sagen, glücklicherweise, denn ohne Schön in den Diensten des Saarländischen Fußballvervands und später des DFB wäre der deutsche Fußball ein ganz anderer geworden, wäre Fritz Walter Bundestrainer geworden, so wie es sich Herberger vorgestellt hatte. Dabei war Schön nicht politisch; seine Auswanderung hatte einzig und allein dem Fußball gegolten. Hinzu kam, dass er in der DDR nicht so arbeiten konnte, wie er es sich vorgestellt hatte, sondern wie die Parteispitzen es vorgaben.

Ein überraschender Aspekt ist die Rolle Dettmar Cramers. Weithin als Fußballlehrer bekannt und geschätzt, spielte er als Assistent von Schön einen nahezu teuflischen Part. Nimmermüde machte er deutlich, wen er für den besseren Bundestrainer hielt: sich selbst nämlich. Das war nicht fein und setzte Schön logischerweise zu. Auch sein Verhältnis zu Herberger war ambivalent. Fachlich schätzten sich beide, menschlich war es eher schwierig. Dies lag an Herberger, der Schön als aufdringlich bezeichnete. Auch nach der Stabübergabe maßte sich Herberger an, die Aufstellung zu kommentieren und sich munter einzumischen. Dies führte zwangsläufig zu einem Streit mit Herberger, welches eigentlich keiner war. Vielmehr ging es dabei um die Abnabelung des Einen bzw. das Loslassen des Anderen. Es war logischerweise ein schwieriger Prozess, der sich hinzog am Ende aber einschlief bzw. einvernehmlich beigelegt wurde. Der Erfolg gab Schön Recht. Bis heute ist seine Bilanz unerreicht. Nur ein erneuter Weltmeistertitel 2018 würde Jogi Löw auf Platz 1 der ewigen Liste deutscher Bundstrainer hieven. Da eine Titelverteidigung erst zwei Mannschaften gelungen ist, dürfte klar sein, wie schwer dieses Unterfangen wird.

Bernd-M. Beyer hat eine sehr lesenswerte und sehr gute Biografie verfasst, die sicher ohne Zweifel als Standardwerk zu bezeichnen ist. War bisher vieles bekannt über den Trainer, bietet Beyers Werk einen hervorragenden Einblick in das Leben des Spielers und des Menschen Helmut Schön. Eine Leseempfehlung nicht nur für den Sommer.

Infos zum Buch
Bernd-M. Beyer: Helmut Schön. Eine Biografie. Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2017.
ISBN: 978-3-7307-0316-8

Das Werk ist für €28 in jedem gut sortierten Buchhandel und direkt über den Verlag erhältlich
NB: Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Buchbesprechung: Marco Fenske (Hrsg.) – Diese eine Sekunde

Dieses Buch ist eine Sammlung von 50 Interviews, die allesamt den deutschen Fußball mehr oder weniger direkt betreffen. Der Begriff Sekunde wird dabei sehr weit gefasst. Vielmehr geht es um entscheidende Momente und Situationen: Triumphe, Tragögien und herbe Rückschläge. Große Spieler und Trainer werden zu ihren größten Momenten und schwersten Stunden befragt. Das ist natürlich ein leichtes Unterfangen, denn die deutsche Fußballgeschichte liefert reichlich Stoff für große Momente. So kommen beispielsweise Protagonisten aus den vier siegreichen WM-Finals zu Wort: Horst Eckel, Uwe Seeler, Andreas Brehme und Christoph Kramer. Letzterer fällt hierbei aus der Reihe als dass er sich nach seinem Knock-out beim Schiedsrichter erkundigen musste, ob er denn tatsächlich im Finale spiele. Oliver Bierhoff über sein Tor bei der EM 1996, Andreas Brehme und Paul Breitner über ihre Elfmeter in den Endspielen 1974 respektive 1990.
Bei den Trainern ist der Ansatz ein anderer, hier werden mehrere Punkte beleuchtet. Ottmar Hitzfeld spricht über die Kraftanstrengung als Trainer nach der Niederlage gegen Manchester United 1999. Ganz anders dagegen Christoph Daum, dem trotz reinen Gewissens Kokainkonsum nachgewiesen werden konnte und somit die Karriere abrupt endete.
Bei den Momenten aus Europa- und DFB-Pokal handelt es sich um Spiele, die in letzter Minute gewonnen oder verloren wurden. Die Bundesligamomente sind dann eher zusammenfassende Darstellungen einer Spielzeit, was dann wiederum gar nichts mit einer Sekunde oder einem Moment zu tun hat.
Das letzte Kapitel hat dann mit Fußball nichts mehr zu tun. Hier kommen Monika Lierhaus, Lutz Pfannenstiel, Ronald Reng und Rudi Assauer zu Wort. Das ist der interessanteste Abschnitt, denn es geht hier um sehr schwere Situationen, im Fall von Ronald Reng sogar um den Verlust seines Freundes, Robert Enke.
Ein durchaus interessantes Werk, welches unterhält und spannende Momente aus Sicht der Protagonisten festhält. Ob es dazu allerdings ein großformatiges Buch braucht, ist fraglich.

Infos zum Buch
Das Buch “Diese eine Sekunde” wurde von Marco Fenske in Zusammenarbeit mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland GmbH herausgegeben und kostet €18,90.

Buchbesprechung: Ronny Blaschke – Gesellschaftsspielchen

Dass der Fußball längst ein Milliardengeschäft ist, in dem es mitunter ziemlich, naja, eigentümlich zugeht, wissen wir nicht erst seit Football Leaks, Geschichten über den nächsten aberwitzigen TV-Gelder-Deal oder Debatten um neue Anstoßzeiten, um endlich auch den enorm wichtigen Markt in Nordsüdwestost-Lampukistan gewinnbringend erschließen zu können. Die Summen, die im Profifußball bewegt werden, sind vom gesunden Menschenverstand längst nicht mehr zu greifen, die Zugzwänge, die dadurch in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung offenbar entstehen, sowieso nicht. Gleichzeitig treten Verbände, Akteure und Vereine gern auch mal als brave Samariter auf, werden Stiftungen gegründet, Charity-Events veranstaltet und klar, auch Entwicklungshilfeprojekte realisiert. “Recht so!”, würde man denken, weil es bei den Gewinnen, die der Sport augenscheinlich abwirft, eigentlich ja ein Leichtes sein sollte, der Gesellschaft wieder etwas zurückzugeben. Die Frage ist dabei allerdings auch immer so ein bisschen, wie ernst es die Protagonisten mit ihrem Engagement wirklich meinen. Steht immer der soziale Gedanke im Mittelpunkt, oder dient Projekt X, Stiftung Y oder Initiative Z nicht vielleicht doch nur, überspitzt ausgedrückt, als Feigenblatt einer hochkorrupten Funktionärs- und Privilegierten-Elite?

Dem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Engagement im Fußball und potentiell heuchlerischen Maßnahmen, die eventuell ganz anderen Zwecken dienen, widmet sich Ronny Blaschke in seinem aktuellen Werk “Gesellschaftsspielchen”, das 2016 im Verlag Die Werkstatt aus Göttingen erschienen ist. In dem hervorragend recherchierten Buch gibt Blaschke in 18 Kapiteln, die auch gut für sich allein gelesen werden können, spannende und mitunter auch verstörende Einblicke in höchst unterschiedliche Aspekte des Themas. Liest man “Gesellschaftsspielchen” in einem Stück, fällt zunächst erst einmal die abwechslungsreiche Gestaltung auf: mal wird ein Ehrenamtlicher portraitiert, dann ein Projekt vorgestellt, ein Interview eingestreut, eine Stiftung kritisch hinterfragt oder eine Recherchereise dokumentiert. Ebenfalls auffällig: die Verknüpfung inhaltlicher Aspekte mit Hintergründen zu den Arbeiten am Buch selbst, aus denen man dann beispielsweise auch erfährt, wann Personen und Instanzen auf Interviewanfragen eben nicht reagiert haben. So erhält man nicht nur einen hintergründigen Einblick ins Thema, sondern auch in die Art und Weise, wie die “Gesellschaftsspielchen” im Profifußballgeschäft mitunter gespielt werden.

Auch wenn die einzelnen Kapitel notwendigerweise nur eine Auswahl möglicher Aspekte des Themas “gesellschaftliches Engagement im Fußball” darstellen können, wirken die Ausführungen ausgewogen. So wirft Blaschke beispielsweise einen kritischen Blick auf die widersprüchliche Gesellschaftspolitik des DFB oder die Medien als Katalysator und (Nicht-)Meinungsmacher in der Profi-Glitzerwelt, würdigt aber auch erfolgreiche Initiativen wie “Discover Football” oder “Champions ohne Grenzen”, blickt auf die gesellschaftlichen Aktivitäten von Bundesliga-Clubs wie Werder Bremen oder Mainz 05 und lässt politische (z.B. Claudia Roth), sportliche (z.B. Per Mertesacker) oder auf Funktionärsebene aktive Akteure (z.B. Reinhard Rauball) zu Wort kommen. Allgemeinplätze und glatt geschliffene 0815-Aussagen haben bei Blaschke keinen Platz, so werden Interviewpartner gern auch mal um konkrete Beispiele für allzu blumige Phrasen oder Ausführungen gebeten.

“Gesellschaftsspielchen” ist ein in allen Belangen wichtiges Buch. Es richtet sich an die über den reinen Fußballkonsum hinaus denkende, interessierte, kritische  Öffentlichkeit ebenso wie an Vereinsverantwortliche aller sportlichen Ebenen, Journalistinnen und Journalisten, ehren- oder hauptamtlich Engagierte und alle, die es vielleicht werden wollen. Darüber hinaus sei die Lektüre auch und besonders denjenigen ans Herz gelegt, die im Namen des Fußballs (sport)politische Entscheidungen treffen, sei es in der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt am Main oder anderswo.

Infos zum Buch
Ronny Blaschke: Gesellschaftsspielchen. Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei. Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2016.
ISBN: 978-3-7307-0254-3.

Das Werk ist für 16,90 Euro in jedem gut sortierten Buchhandel und direkt über den Verlag erhältlich.
NB: Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Buchbesprechung: Philipp Winkler – Hool

Bücher, die sich fiktional mit Fußball beschäftigen sind rar, was wohl zum einen daran liegen kann, dass die Materie Fußball schwer in Worte zu fassen ist, oder zum anderen weil der Sport eher nicht als literarisch betrachtungswürdig angesehen wurde. Bisher. Wie dem auch sei, Philipp Winkler ist mit “Hool” nicht der große Fußballroman gelungen, aber dennoch ein Buch über einen jungen Menschen, der Fußball nutzt, um seine Aggressionen auszuleben und dessen Leben irgendwie ins Negative abzugleiten scheint.

Die Figuren in Winklers Roman Hool sind zum größten Teil sogenannte Millennials, die oft als Zielgruppe beschworen werden, aber selten zu Wort kommen, bzw. ernst genommen werden. Das ist ein Fehler, sind diese Leute doch die Zukunft. Dabei könnte Winklers Hauptfigur Heiko Kolbe für so etwas wie eine Versinnbildlichung von Leuten stehen, die per se nicht politisch sind, eine Meinung gegen Nazis haben, die aber durch gezielte Falschinformation dem rechten Pöbel von AfD und Pegida auf den Leim gehen. Das Vakuum ist vorhanden in der Person Kolbes.

Dabei ist Heiko Kolbe kein Einzelfall; Leute wie ihn gibt es viele in Deutschland. Oftmals besteht ihre einzige Möglichkeit der öffentlichen Kommunikation in der Kommentarfunktion bei facebook oder anderen ähnlichen Netzwerken. Und das ist, was Hool so interessant macht. Winkler gibt denen eine Stimme, die keine haben oder deren Stimme gern überhört wird. Die Stimmen sprechen dabei im Dialekt der Hannoveraner Gegend, was durchaus schlüssig ist. Würde ein Fitnessstudiobetreiber in korrektem Hochdeutsch sprechen, fehlte dem Roman ein gehöriges Stück Authentizität. Ähnlich wie Clemens Meyer, dessen “Als wir träumten” die Verunsicherung der Wendezeit sehr gut beschreibt, schafft es Winkler mit seiner Figur des Heiko Kolbe ein Bild einer Generation zu skizzieren, die alles andere als nur auf Party aus ist, die genauso verunsichert ist und darunter leidet, dass man sie nicht ernst nimmt.

Hool beginnt mit einer Kampfszene und man befürchtet, dass dem eine Aufreihung von Kämpfen, Saufgelagen und Frauengeschichten folgt. Dem ist aber nicht so. Vielmehr erliest man einen Lebensabschnitt von Heiko Kolbe, dem Protagonisten und Ich-Erzähler der Geschichte. Hier geht es um Erinnerungen an die Kindheit als die Familie intakt und das Leben einfach waren. Ganz anders als die Realität, in der Kolbe sich als Aushilfe in der Muckibude seines Onkels finanziell über Wasser hält, seine Beziehung in die Brüche gegangen ist und er darunter leidet. So sehr, dass er des Nachts sogar vor ihrem Haus im Auto sitzt, nur um zu sehen, ob und dass sie zu Hause ist. Gleichsam ist die Familie ein Problem; der Vater ist Alkoholiker und bedarf stationärer Hilfe, die Schwester dagegen ist ein Musterbeispiel der Mittelklasse: Haus, Mann und Kind. In ihrer Mittelklasseexistenz ist aber keine Zeit für den Vater und dessen liebstes Hobby: Tauben. Letztere verpflichtet sich Heiko zu versorgen als dieser in einer Entzugsklinik ist. Dies geschieht mehr schlecht als recht. Die Mutter kommt nur in Erinnerungen vor. Diese Gemengelage machen es nicht einfach für Heiko Kolbe, das Leben zuversichtlich zu sehen. Sein Halt sind die Mitstreiter der Hannover 96 Firm, deren Anführer sein Onkel Achim ist.

Der Suizid von Robert Enke im Herbst 2009 kommt im Buch ebenso vor wie eine Diskussion über die Kommerzialisierung des Spiels. Ultras sind nur eine Facette davon, denkt sich Heiko. Für ihn ist es ein Greuel, sich im Stadion hinsetzen zu müssen; selbst stehen, ja das Spiel an sich, ist für ihn nur Nebensache. Es geht ausschließlich darum, sich mit anderen zu verabreden und zu kämpfen, ihre Stadt, ihre Farben zu vertreten und zu verteidigen. Sie sind Hooligans, haben nichts mit Nazis am Hut, Politik ist ihnen egal, sie wollen Spaß haben. Genau darauf werden sehr gern die Millennials reduziert: Spaß und sorgenfreies Leben. Was ist daran falsch fragt man sich? Gleichzeitig ist es eine groteske Fehleinschätzung, deren Folge Radikalisierung sein kann, egal in welche Richtung.

“Some guys come home from work and wash up,
And go racing in the street”*

So oder so ähnlich fühlt es sich auch für Heiko an: er wartet darauf, dass etwas geschieht, was, weiß er selber nicht. Während seine Freunde neue, sie erfüllende Aufgaben haben, tritt Kolbe irgendwie auf der Stelle. Er ist ein Bewahrer des Status Quo, dem jede Änderung zuwider scheint und doch weiß er sehr wohl, dass etwas geschehen muss. Ein letzter Kampf gegen Braunschweig und dann ist es vorbei. Als sein Vermieter, Arnim verschwindet, ist es Zeit für Heiko, die Zelte abzubrechen. Arnim hatte eine Vorliebe für seltene Tiere. Bei seinem fluchtartigen Abschied muss Heiko den Tiger erschießen, nur einer der Kampfhunde ist noch am Leben und Siegfried der Geier will trotz offenem Fenster nicht in die Freiheit. Und ist damit irgendwie auch Sinnbild für Heiko: er könnte, will aber nicht.

*Bruce Springsteen: Racing in the Street, Columbia Records, 1978

”Hool”
Philipp Winkler, Hool, Roman. Berlin: Aufbau-Verlag, 2016. ISBN: 978-3-351-03645-4. Der Roman ist in jedem gut sortierten Buchhandel und beim Aufbau-Verlag erhältlich.
NB: Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Buchbesprechung: Uwe Karte – Montreal Privat. Die unglaubliche Geschichte vom Olympiasieg der DDR-Fußballer

Die Frage, die sich mir beim Lesen dieses Buches stellte, war, was man erwarten sollte vom Titel: Montreal Privat. Aussagen der Spieler der DDR, die in Montreal dabei waren? Private Fotos? Späte Bekenneraussagen, dass man doch lieber in Kanada geblieben wäre, sich aber – aus welchen Gründen auch immer – doch entschieden hat, zurückzukehren? Nichts von alledem. Vielmehr erzählt Uwe Karte uns die Vorgeschichte der DDR-Fußballnationalmannschaft auf dem Weg zu Olympia 1976 und spannt den Bogen vom Herbst 1973 bis zum Finale im Olympiastadion von Montreal bis zum Sommer 1977. Dabei begleitet ihn Hans-Jürgen ‘Dixie’ Dörner, die Ikone von Dynamo Dresden mit Erinnerungen und Anekdoten.

Eins ist festzuhalten: Der Titel ist etwas irreführend. Privat sind nur die Fotos der Spieler, die alles mögliche festhielten, sogar von der Ersatzbank aus knipsten! Der Text dagegen behandelt die Entwicklung der DDR-Fußballnationalmannschaft in der ersten Hälfte der 1970er Jahre bis 1976, bis zum Olympiasieg in Montreal gegen Polen. Dabei verfolgt Uwe Karte die Entstehung der Mannschaft, der Georg Buschner vertraute und untermalt diese mit Ausschnitten aus der Karriere einzelner Spieler. Zentrale Figur 1976 war Dixie Dörner, der Kapitän und Spielmacher dieser Elf und auch bei diesem Buch war er mit dabei und hat in kleinen Interviews seine Sicht der Dinge präsentiert. So entsteht ein unglaublich dichtes Bild des DDR-Fußballs in seiner erfolgreichsten Phase. Uwe Karte gelingt hierbei etwas, was wohl sonst nur Jonathan Wilson schafft. Stück für Stück erläutert, er wie sich die Mannschaft herauskristalliert, wie Spiel für Spiel die Bausteine besser in die Gesamtkonstruktion passten. So erscheint es schlüssig, dass der Erfolg nur möglich war durch den Umbau der Mannschaft; die Zeit des Magdeburger Blocks, der 1974 bei der WM und vorher im Europapokal noch für Furore sorgte, war vorbei. Dresden war an der Reihe. Kraftfußball wurde durch Spielfreude und Technik ersetzt. Es sind dies die besten Passagen des Buches, weil es eben diese Einsichten in die Genese dieser Mannschaft sind, die Spannung schaffen.

Olympiasieger bist Du ein Leben lang (S.152)

Ein Erinnerungsbuch würde in den meisten Fällen die unschönen Momente auslassen oder nur sehr kurz streifen. Der Autor dagegen schließt die Berichte der Presse mit ein und diese ließ wahrhaftig kein gutes Wort an den Spielern und ihren gezeigten Leistungen. Der Leistungseinbruch nach der WM war selbst für den Trainer Buschner überraschend gekommen, was er selber gegenüber den Parteigenossen unumwunden zugab; die Presse zerriss die Mannschaft förmlich. Die fuwo war dabei wohl noch am sachlichsten, wenn sie nach einer 3:1-Schlappe gegen die CSSR schrieb: ‘Was dabei enttäuschte, war das WIE dieses 1:3.’ (S.31) Dafür sind kritische Worte, sachlich und offen, scharf und helfend, durchaus angebracht.’ (S.33) Selbst während des olympischen Turniers waren die Schreiberlinge nicht zufrieden. ‘Endlich mal Tore’ (S.133), maulte etwa die fuwo nachdem Frankreich mit 4-0 geschlagen wurde. Immerhin spielte ein gewisser Michel Platini mit, der 1984 seine Mannschaft zur Europameisterschaft führen sollte.

Nicht unerwähnt lässt Karte ebenso die unschöne politische Situation im Hintergrund. Der DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund) und der DFV der DDR (Deutscher Fußballverband) lagen im Dauerstreit, die Gründe waren vielfältig. Der Erfolg von 1974 hatte auf beiden Seiten Begehrlichkeiten geweckt. Der DTSB sah im Fußball die Möglichkeit, doch Medaillen zu gewinnen, der DFV wollte mehr Unabhängigkeit. Dass dies logischerweise zu Konflikten führen musste, war klar. Eins der prominentesten Opfer war kein geringerer als Heinz Krügel, der den 1. FCM zwischen 1966 und 1976 zu 3 Meisterschaften, 2 Pokalsiegen sowie zum Europapokalsieg 1974 führte. Vorgeworfen wurde ihm eine mangelhafte Vorbereitung der Olympiakader; der wahre Grund waren sein Erfolg und seine politische Unangepasstheit.

Einen Schnitzer leistet sich Karte, indem er die erste Weltmeisterschaft 1930 von Uruguay nach Argentinien verlegt. Dem folgt ein kurzer Abriss über die Geschichte des Fußballs während der olympischen Spiele; leider kommt dieser mittendrin und unterbricht den Erzählstrang. Überhaupt würden dem Buch Zwischenüberschriften sehr gut tun. Dies würde dem Lesefluss helfen. Ohne jede Unterteilung geht es flott voran und man wechselt sehr häufig Szenario und Personal ohne Vorwarnung. So geht es von der Entlassung mit anschließendem Berufsverbot für Heinz Krügel im Frühsommer 1976 direkt ins vorolympische Trainingslager nach Kienbaum. Leider kommen diese Szenenwechsel ein wenig zu oft und unerwartet; eine Trennung würde hier gut tun. Nichtsdestotrotz ist Uwe Karte mit diesem Buch ein großartiger Wurf gelungen von einem Turnier und einem Olympiasieg, der heute gern vergessen und belächelt wird. Es ist kein Buch, welches in einen Ostalgieton verfällt oder in die Kategorie “Sicher gibt es bessere Zeiten, aber diese war die unsere” einzuordnen wäre.

Bei 120minuten haben wir uns dem Olympiasieg der DDR-Fußballer ebenfalls gewidmet – Autor Fedor Freytag lässt das olympische Fußballturnier Revue passieren:

Der vergessene Triumph

Bei den olympischen Sommerspielen 1976 konnte die Fußballnationalmannschaft der DDR ihren ersten und einzigen Titelgewinn feiern, der heute etwas in Vergessenheit geraten ist.

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Besprechung: “Zwischen Eigentor und Aufstand. Ultras in den gegenwärtigen Revolten” (Ralf Heck)

Wer Begriffe wie “Gezi-Park” oder “Tahrir-Platz” hört, wird, sofern er oder sie in den letzten Jahren nicht völlig abgeschottet gelebt hat, vermutlich sofort an Konflikte, Ausschreitungen und das Aufbegehren von Menschen gegen die herrschenden Strukturen denken. Was einem tatsächlich aber auch in den Sinn kommen könnte, sind aktive Fußballfans, die bei Protesten wie denen in Istanbul oder Kairo mitunter eine wichtige Rolle gespielt haben. Genau diesen Aspekt beleuchtet Ralf Heck in seinem 2015 in der Zeitschrift “Kosmoprolet” erschienenen, 45seitigen Beitrag und schreibt einleitend:

“Der folgende Text versucht zu erklären, wie dieser oft im besten Fall als völlig unpolitisch oder kommerzabhängig bewertete Akteur [gemeint sind Ultras, AS] entstehen konnte und wie sein Wirken in den Klassenkämpfen einzuschätzen ist. Denn wenn es stimmt, dass wir uns gegenwärtig an der Schwelle zu einer neuen Epoche befinden, dann spricht einiges dafür, dass Teile dieses Milieus in den kommenden Revolten eine Rolle spielen werden.” (S. 159)

Die Wortwahl mag eigen erscheinen, erschließt sich aber über die Zeitschrift, in der der Beitrag veröffentlicht wurde und die am deutlich linken Ende des Medienspektrums einzuordnen ist. Lässt man die so notwendigerweise vorhandene politische Färbung beim Lesen des Textes außen vor, geht es aber vor allem um einen Überblick über die Wurzeln und die Entwicklung der Ultra-Bewegung und eben die Frage, in welcher Weise und Funktion organisierte Fußballfans bei verschiedenen gesellschaftspolitischen Protesten sichtbar wurden.

Dafür sucht Heck zunächst nach Zusammenhängen zwischen der Arbeiterklasse und dem Fußballsport, die sich, wie er anschaulich darstellt, bis ganz an die Anfänge des Spiels am Ausgang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Es schließt sich ein längerer, äußerst aufschlussreicher Abschnitt über die Entwicklung des Hooliganismus in England an, woran bereits früh eine ausgesprochene Stärke des Textes deutlich wird: Sämtliche Ausführungen zur Entstehung bzw. Entwicklung von Phänomenen und Gruppen werden immer zu den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Beziehung gesetzt. Abschnitte wie der nachfolgend zitierte rufen dabei schmerzlich in Erinnerung, dass Aspekte, die man als engagierter Fan heutigentags beklagt, alles andere als neu oder unbekannt sind:

“Ab Mitte der 1970er Jahre nahmen die Auseinandersetzungen zu. Vor allem gegen zu Auswärtsspielen reisende Fans ging die Polizei mit immer größerer Gewalt vor und trug so zu einem aufgeheizten Klima bei. Auch die Medienberichterstattung (viele Zeitungen publizierten Ligatabellen der Fangewalt und befeuerten so einen veritablen Ausschreitungswettbewerb) leistete ihren Beitrag dazu, dass sich immer mehr Jugendliche einer Bewegung anschlossen, bei der ihnen Spaß garantiert war.” (S. 167)

Wie sich Geschichte doch wiederholt…

“Prekäre Arbeiter, Schüler und unbeschäftigte Intellektuelle: Ultras in Italien” lautet dann ein Abschnitt des Textes, der für die heutige Ultra-Bewegung eigentlich Pflichtlektüre sein müsste, was für den nachfolgenden Teil zu “Ultramythen. Gemeinsamkeiten und Grenzen” ebenso gilt. Nicht nur stellt Heck überzeugend dar, aus welchen Beweggründen und vielerorts sicher auch Zugzwängen heraus sich Ultra in Italien entwickelte, er kritisiert vor dieser Hintergrundfolie auch – meines Erachtens zu Recht – bedenkliche Tendenzen, die man heute in so mancher Kurve feststellen kann. So hält er beispielsweise im Zusammenhang mit der gern genommenen und “zum Standardrepertoire gehörende[n] Kritik am passiven, konsumierenden Fan” fest: “Die Kritik verkommt zur Pseudo-Aktivität, wenn der erkämpfte Freiraum in der Kurve nicht Ausgangspunkt einer weitergehenden Revolte wird, sondern selbstreferenziell bleibt und damit im besten Falle an den schlimmsten Auswüchsen der Fußballindustrie herumkrittelt.” (S. 180) Gute Worte, die in der das Thema betreffenden Debatte leider im Schwarz-Weiß-Grundrauschen viel zu selten zu hören sind.

Mit einem (allerdings zur Hinführung notwendigen) ‘Anlauf’ von etwas mehr als 20 Seiten kommt Ralf Heck schließlich zum eigentlich als Kern seines Beitrags angekündigten Teil, in dem er sich mit der Entwicklung der Ultra-Bewegung in Ägypten, mit den “Hippie-Hools vom Gezi-Park” in Instanbul und mit den aktiven Fans in der Ukraine unter dem Titel “Vom Maidan an die Front” auseinandersetzt. Ohne an dieser Stelle bereits zu viel verraten zu wollen, eröffnen die Ausführungen eine spannende Perspektive auf die Rolle dieser Gruppen, die in der ‘regulären’, fußballbezogenen Berichterstattung oft genug nur eindimensional und häufig problembehaftet dargestellt werden und für die in Beiträgen über verschiedene internationale Krisenherde (wie den genannten) häufig genug überhaupt kein Platz ist.

Die Frage, ob die entsprechenden Aktivitäten der Ultras nun als Eigentor oder Aufstand zu beurteilen sind, reflektiert Heck im abschließenden Teil seines Textes. Dem Verfasser gelingt mit dem Beitrag insgesamt und abseits des einschlägigen politischen Vokabulars eine hervorragende Diskussion der eingangs aufgeworfenen Fragestellung, die in jedem Fall zum Nach- und Weiterdenken anregt. “Zwischen Eigentor und Aufstand. Ultras in den gegenwärtigen Revolten” richtet sich damit an alle, die auch abseits der spieltäglichen Fußballfolklore an Fankultur interessiert sind. Ein großartiger Text, der eine breite Leser*innenschaft verdient.

Ralf Heck (2015): Zwischen Eigentor und Aufstand. Ultras in den gegenwärtigen Revolten. In: Kosmoprolet, Heft 4, S. 158-203. Bezug über Syndikat-A.

Zur Besprechung des Textes wurde uns vom Autor freundlicherweise ein Exemplar des Heftes zur Verfügung gestellt. (as)

Buchbesprechung: “Damals auf dem Waldsportplatz…”

Wer an das mittelhessische Gießen denkt, einigermaßen sportbegeistert ist und nicht aus der Gegend kommt, dem werden vermutlich zuerst die BBL-Basketballer der Gießen 46ers einfallen. Mit Fußball bringt man die Stadt – zumindest überregional – nicht unbedingt sofort in Verbindung, und das, obwohl mit dem “ewigen Hessenligisten” VfB 1900 ein ausgewiesener Traditionsverein dort beheimatet ist. Man dribbelte nicht nur von 1951 bis 1982 durchgängig in Hessens höchster Spielklasse (der heutigen 5. Liga) auf, sondern maß sich in dieser Zeit im heimischen Waldstadion auch mit Mannschaften wie dem SV Darmstadt 98 oder dem FSV Frankfurt im Punktspielbetrieb. Uwe Bein (1997-1998) schnürte einst für die Mittelhessen die Töppen, ein gewisser Sonny Kittel begann dort seine fußballerische Ausbildung und mit Matthias Hagner stand 2011/2012 sogar ein Ex-Bundesliga-Spieler als Trainer an der Seitenlinie.

Dass es beim VfB 1900 viel um die Vergangenheit geht, kommt nicht von ungefähr, liegen die großen Zeiten doch deutlich hinter dem Club, heißt die Realität heute Verbandsliga und tragen die Gegner Namen wie FV 09 Breidenbach, TUS Dietkirchen oder TSG Wörsdorf. Derzeit ist man dabei, eine neue und deutlich günstigere Mannschaft aufzubauen als die, die 2015/2016 lange um den Aufstieg in die Hessenliga mitspielte. Der Grund: Ein spürbar kleinerer Etat, nachdem in der Winterpause (mal wieder) Gerüchte über finanzielle Probleme die Runde machten, man sich nunmehr auf die gute Jugendarbeit und Spieler aus der Region mit einem hohen Identifikationspotential konzentrieren wolle.

Um die Fußball-Vergangenheit Gießens im Allgemeinen und die Geschichte des VfB 1900 im Speziellen geht es auch in Christian von Bergs 336 Seiten starken und ausgiebig bebilderten Werk “Damals auf dem Waldsportplatz…”, das deutlich mehr ist als einfach nur eine Chronik über einen Verein, der 1963 Landesmeister war und seit mehr als 30 Jahren versucht, sich auf die überregionale Fußballlandkarte zurück zu arbeiten. Wenn der Autor die Geschichte des schönen Spiels in Gießen bis in die 1950er Jahre nachzeichnet, die Zeit in der Hessenliga ausgiebig würdigt, Hessenauswahl-, Pokal- und Freundschaftsspiele bespricht und den Weg des Clubs nach 1982 aufzeigt, erfährt man immer auch etwas über die Stadtgeschichte, die Form der Sportberichterstattung in den einzelnen Jahrzehnten und darüber, wie eng der Fußballsport auch auf regionaler Ebene mit dem gesellschaftlichen Leben verbunden sein kann. Von Berg, selbst gebürtiger Gießener, lässt in seine Darstellungen nämlich immer wieder Auszüge aus Spielberichten, Zeitzeugenaussagen und jede Menge Archivmaterial einfließen. Im Zuge der Aufarbeitung der Gießener Fußball- ist damit auch gleich ein äußerst interessantes Buch zur Regionalgeschichte entstanden, indem beispielsweise im über 100 Seiten starken Abschnitt zur Hessenliga-Zeit der Rückblick auf jede Spielzeit stets mit einem kurzen Schwenk darauf beginnt, was in jenem Jahr in Gießen und umzu sonst noch so wichtig war.

In ebenjener Verbindung von Stadt- und Fußballgeschichte liegt dann auch eine der Stärken des Werkes, wodurch es sich von manch anderer ‘reiner’ Vereinschronik deutlich unterscheiden dürfte. Eine andere liegt in der umfangreichen Darstellung des Spielbetriebs zwischen den Kriegen und während der NS-Zeit, über die man nicht nur einen guten Einblick in die Rolle des Sports in diesem eher düsteren Abschnitt der deutschen Geschichte erhält, sondern quasi nebenbei auch noch Wissenswertes darüber lernt, wie die politischen Verhältnisse und das Kriegsgeschehen die Ligenstrukturen und -zusammensetzungen immer wieder durcheinander wirbelten und wie es gerade auch der Fußball war, der den Gießenern nach der schlimmen Zerstörung der Stadt wieder ein wenig Hoffnung, Mut und Zerstreuung gab.

Auch wenn der Autor an der einen oder anderen Stelle etwas zu sehr ins Detail geht und – als Beispiel – der Mehrwert detaillierter Mannschaftsaufstellungen in Anekdoten über einzelne Spielzeiten und Begebenheiten nicht sofort ersichtlich ist, ist das Buch alles in allem interessant geschrieben und bietet auch Leserinnen und Lesern, die möglicherweise nicht aus dem mittelhessischen Raum stammen, ein anregendes Leseerlebnis. Empfohlen sei “Damals auf dem Waldsportplatz…” damit all jenen, die sich für die Entwicklung des Fußballs in Deutschland vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts bis heute interessieren und dabei nicht nur die großen Linien, sondern insbesondere auch den lokalen und regionalen Bereich in den Blick nehmen wollen. Auch Anhänger des Amateurfußballs kommen deutlich auf ihre Kosten, erzählt von Bergs Buch am Beispiel des VfB 1900 Gießen doch die Geschichte und die Entwicklung eines Traditionsvereins mit allen ihren Höhen und Tiefen, wie sie sich so oder so ähnlich mit einiger Sicherheit auch in anderen Regionen zugetragen haben könnte.

“Damals auf dem Waldsportplatz… Der VfB 1900 und der Fußball in Gießen” von Christian von Berg ist im Verlag Die Werkstatt erschienen und kostet im Hardcover 24,90 €. Bezogen werden kann das Buch unter anderem direkt über die Verlags-Homepage. (as)

Buchbesprechung: Die Helden von ’66

Während Fußballfans in England und sicher auch anderswo mit der Jahreszahl vor allem die WM 1966 in England assoziieren, gedenkt man in Dortmund im Mai dem Europapokalfinale der Pokalsieger 1966 gegen Liverpool. Dies wurde besonders deutlich vor dem Achtelfinalhinspiel gegen den FC Porto als auf der Südtribüne ein großes Banner mit dem Spruch

“Das Album vollenden – Ihr habt es in den Händen.”

hochgehalten wurde. Das spricht durchaus für Geschichstbewusstsein der Borussenfans, denn es dürfte den wenigsten bekannt, dass der BVB 1966 erstmals eine europäische Trophäe mit nach Hause brachte. Leider wird das Album auf unabsehbare Zeit weiterhin unvollendet bleiben und Borussia Dortmund wird dem erlauchten Kreis der Clubs nicht beitreten dürfen, die alle drei Europapokale gewonnen haben. Im Halbfinale hatten die Borussen mit West Ham den Titelverteidiger ausgeschaltet; diese wiederum hatten in der Runde davor den 1. FC Magdeburg in zwei durchaus packenden Spielen geschlagen. Im Finale dann war der BVB gegen Liverpool der krasse Außenseiter. So krass, dass selbst Billy Shankly der legendäre Trainer der Reds im Vorfeld sagte:

“Borussia Dortmund? Wer ist das schon? Das Finale in Glasgow ist für mich schon abgeschlossen. Mein neues Ziel ist das Finale der Landesmeister in der nächsten Saison.” (S. 119)

Wenn Die Dortmunder noch eine weitere Motivation benötigten, so hat Shankly sie ihnen frei Haus geliefert. Das Finale ist hart umkämpft, der Rasen durch Regen aufgeweicht. In der Verlängerung macht ausgerechnet der Spieler ein Tor, der sonst für seine Technik und seine Dribblings bekannt ist: Reinhard ‘Stan’ Libuda. Ein Torschuss von Held wird abgeblockt und fällt zu Libuda. Dieser, etwa 25m vom Tor entfernt, tut, was er sonst nie macht: er zieht ab. Die Bogenlampe wird lang und länger, geht gegen den Innenpfosten und die Hüfte von einem Verteidiger und vor dort ins Tor. Der Rest ist Geschichte und Libuda machte sich unsterblich. Vor der Saison von Schalke zum BVB gewechselt, um nach Schalkes Abstieg weiterhin in der 1. Liga zu spielen, ging er mit diesem Tor in die Annalen ein; sechs Jahre später gelang ihm dies mit den Knappen als er den DFB-Pokal gewann.
Das Buch von Gregor Schnittker beleuchtet die gesamte Saison im Europapokal, angefangen vom DFB-Pokalfinale 1965 gegen Alemannia Aachen, welches Dortmund 2-0 gewinnen konnte. Es folgen Kapitel für Kapitel die einzelnen Spiele in jeder Runde; insgesamt 4 Runden bis zum Finale im Hampden Park, der Heimspielstätte von Celtic. Soweit ist das auch gut.
In jedem Kapitel geht Schnittker auf den Gegner ein und beschreibt das Spielgeschehen. Jedoch, ehe es dazu kommen kann, werden wir mit Details überhäuft, die sich um Personalien oder Ereignisse in der Clubgeschichte des BVB drehen. Das ist etwas lang geraten und bedarf einer Kürzung bei einer zweiten Auflage.
Die interessanteste Frage wird gleich zu Beginn gestellt und soll hier kurz ausführlicher Platz finden. Kann man den Erfolg der deutschen Nationalmannschaft 1954 mit dem der Dortmunder von 1966 vergleichen? Schnittker bejaht diese Frage, wird doch Erinnerung und damit Identität viel eher im Lokalen als im Nationalen gestiftet. Es war vor allem ein Achtungserfolg, dass der deutsche Fußball eben nicht nur in München, Hamburg oder Köln sein zu Hause hat, sondern auch im Ruhrgebiet, mit Ausnahme der Blau-Weißen Rivalen des BVB und sicher auch den Fans einiger anderer Clubs. Einer, der es wissen muss, ist Aki Schmidt, Kapitän der Dortmunder Elf von 1966. Er war 19 als Rahn Herbergers Elf 1954 zum Sieg schoss und 31 als er Dortmund zwölf Jahre später zum Titel führte. Er sagt:

“Der Sieg über Liverpool hat aber nicht nur uns gefallen, sondern auch Schalkern, Essenern, Duisburgern, Bochumern, den Menschen in Erkenschwick und was weiß ich noch wo.” (S. 8)

Dabei ist das Jahr 1966 in der Tat wichtig für die alte BRD. Adenauer war Geschichte und sein Nachfolger Ludwig Erhard hatte mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, die man fast gar nicht mehr kannte. Das Wirtschaftswunder kam zu einem Ende und es begann der Prozess der De-Industrialisierung und machte vor den Zechen und Stahlküchen keinen Bogen. Damit brach der Region ein wichtiges Standbein weg, was blieb war Fußball. Und Bier und die Erinnerungen. Somit half der Fußball als identitätsstiftendes Vehikel dem Pott in dieser Periode des Wandels. Unter diesem Aspekt betrachtet, ist die These die Erfolge von 1954 und 1966 miteinander zu vergleichen, durchaus haltbar: beide Spiele wurden im Nachgang als Vehikel zur Identitätstiftung genutzt. Obschon auf sehr verschiedenen Ebenen, wird sowohl bei Deutschlands Sieg in Bern sowie Dortmunds Triumph in Glasgow, die Fähigkeit des Fußballs hervorgehoben, eine imaginäre Gemeinschaft zu kreieren: “Wir sind wieder wer.” Im dritten Anlauf einer deutschen Vereinsmannschaft schaffte es Borussia Dortmund, ein Finale zu gewinnen und somit den Stellenwert des deutschen Fußballs auch auf Vereinsebene zu untermauern.
Ein dickes Plus gibt es für die zahlreichen Zeitdokumente, seien es Fotos, Postkarten oder handschriftliche Notizen; dieses Buch füllt eine Lücke. Großer Kritikpunkt ist das unhandliche A4-Format des Buches, welches es nahezu unmöglich macht, es unterwegs zu lesen. Ein weiterer ist die Langatmigkeit der Kapitel. Weniger ist mehr, gilt einmal mehr. Es finden zu viele Nebensächlichkeiten Eingang in die Geschichte dieser Saison. Sicher sind das alles wichtige Puzzleteile im Gesamtbild dieser Saison, jedoch kommen diese Stücke oft zäh daher; die Protagonisten kommen ins Erzählen und dürfen das auch. Hier wäre ein etwas kritischerer Blick vom Lektor hilfreich gewesen.

Gregor Schnittker: Die Helden von ‘66. Erster deutscher Europapokalsieger Borussia Dortmund. Erschienen im Werkstatt-Verlag, 2016. ISBN: 978-3-7307-0250-5. Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Exemplar zur Besprechung zur Verfügung gestellt.

Buchbesprechung: Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland, 1933 – 1938

Trotz der rasanten Entwicklung der Sportgeschichtsschreibung in den letzten Jahren gibt es immernoch weiße Flecken. Einer dieser Flecken war die Geschichte jüdischer Fußballvereine. In einem Forschungsprojekt haben sich Lorenz Peiffer und Henry Wahlig dieses Themas angenommen und ein Standardwerk geschaffen, welches einen ersten Überblick auf die Entwicklung der jüdischen Fußballvereine zwischen 1933 und 1938 erlaubt. Diese Lücke vollends zu schließen wird dennoch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Der Untertitel “Eine Spurensuche” beschreibt sehr deutlich die Arbeit, welche die Autoren unternommen haben, um dieses Nachschlagewerk zu erstellen, welches nach Bundesland geordnet, die Vereine auflistet, kurz die Geschichte und Geschicke beschreibt, wichtige Persönlichkeiten hervorhebt und – wo möglich – auch Statistiken liefert. Neben den 16 Bundesländern der heutigen BRD sind auch die ehemaligen Gebiete Ostpreußen und Schlesien in diesem Buch erfasst. Diese Spurensuche begann 2010 und förderte um die 200 Vereine zutage. Neben dieser lexikalischen Funktion dieses Werkes erlaubt die Forschung ebenso Rückschlüsse auf die Bedeutung des Fußballs für jüdische Mitbürger während der Zeit der Nationalsozialisten. So zynisch es klingen mag und angesichts des bekannten Verlaufs der Geschichte auch ist, ohne die Nationalsozialisten und ohne die Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 und ohne die vorauseilende Gehorsamkeit vieler Vereine und allen voran des DFB, hätte es eine solche Blüte jüdischen Fußballvereinslebens nicht gegeben. Dies heben Peiffer und Wahlig in der Einleitung sehr deutlich hervor. Aus Briefen und Tagebuchnotizen zitieren sie und beschreiben so den Effekt, den die Aktionen des DFB auf die Personen und die Vereine hatten. So berichtet Julius Hirsch, wie er “bewegten Herzens” seinem “lieben KFV”, dem er immerhin seit 1920 angehörte, seinen Austritt anzeigte. Allerdings nicht ohne zu erwähnen, “daß es in dem heute so gehaßten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene Juden gibt.” (S.20)

9783730702215_cover_0Peiffer und Wahlig haben für diese Studie eine große Zahl an lokalen und überregionale jüdischen Zeitungen und Gemeindeblättern ausgewertet. Insgesamt waren das mehr als 5000 Seiten Material: “Eine in dieser Form bislang nicht zur Verfügung stehende Quellenbasis.” (S.9) Hinzu kommen Dokumente aus Archiven im In- und Ausland, wobei die ausländischen Archive weitaus ergiebiger waren, da geflüchtete Athleten Erinnerungen in diesen deponierten und so vor der Vernichtung bewahrten. Einführend gibt es einen kurzen Abriss der Geschichte des jüdischen Fußballs vor 1945. Dieser dient dazu, explizit darauf hinzuweisen, dass es Juden waren, die den Fußballsport förderten als dieser noch als “undeutsch, unelegant” (S.13) – also ganz ähnliche Stereotype, mit denen sich Juden konfrontiert sahen – oder als “englische Krankheit” bezeichnet wurde. Die wohl bekanntesten sind Kurt Landauer, Präsident des FC Bayern und Walther Bensemann, Gründer des Kicker und beteiligt an mindestens 8 (!!!) Vereinsgründungen wie beispielsweise Eintracht Frankfurt. Er war in die Gründung des DFB involviert organisierte das erste offizielle Länderspiel einer deutschen Nationalmannschaft 1908 gegen die Schweiz. Mit anderen Worten: ohne Bensemann sähe der deutsche Fußball heute anders, ganz ganz anders aus, gäbe es keine 4 Weltmeistertitel, derer man sich rühmt, vorzuzeigen. Angesichts dieser Tatsache war diese Forschungslücke nahezu grotesk; gepaart mit einzelnen Episoden aus der Geschichte des DFB post-1945 lassen sich hieraus unglücliche Rückschlüsse ziehen, die den DFB in die Verantwortung nehmen. Ohne Übertreibung kann man dem Buch das Siegel Pflichtlektüre aufdrücken. Jede und jeder, die/der sich mit deutscher Fußballgeschichte auseinandersetzt, sei es aus persönlichem Interesse oder im akademischen Rahmen sollte dieses Buch kennen.

Lorenz Peiffer, Henry Wahlig: Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland: Eine Spurensuche (Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2015) ISBN: 978-3730702215

Das Buch ist erhältich über den Verlag oder kann bei allen anderen anderen Verkausstellen bezogen werden.

Der Verlag hat uns freundlicherweise ein Exemplar zur Verfügung gestellt.