Taktik – 120minuten https://120minuten.github.io Lange Texte. Über den Fußball. Wed, 22 Aug 2018 09:07:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.2 73012590 Vom Kaiserreich zur Kommerzialisierung: Deutschland und der moderne Fußball https://120minuten.github.io/vom-kaiserreich-zur-kommerzialisierung-deutschland-und-der-moderne-fussball/ Thu, 23 Aug 2018 06:58:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=5228 Weiterlesen]]> „Moderner Fußball“ ist ein Schlagwort. Ein Schlagwort, das in Zeiten von wankendem 50+1, zunehmender Kommerzialisierung, zerstückelter Spieltage etc. vorwiegend negativ konnotiert ist. Aber war der Fußball vorher alt? Antik? Natürlich mitnichten. Etymologisch betrachtet, bedeutet modern nichts anderes als „modisch/nach heutiger Mode“. So gesehen geht es bei der Frage nach modernem Fußball um die Phase, in der Fußball bei der Masse der Bevölkerung und nicht nur ein paar Nerds beliebt und in der die ursprüngliche Form weiterentwickelt wurde.
Es soll hier nur um den Beginn des modernen Fußballs in England und Deutschland (genauer gesagt: im deutschen Kaiserreich) gehen und um die Frage, was oder wer verursachte, dass er modernisiert wurde. Der Beitrag ist ein in Fließtext gebrachtes Brainstorming, das ausdrücklich zum Kommentieren anregen soll. Hauptsächlich werden die Anfänge des Fußballs – 1820-1900 in England und 1870-1930 in Deutschland – untersucht

Der erste von zwei Teilen befasste sich mit dem Beginn des modernen Fußballs in England. Im nun folgenden zweiten Teil geht es um die Entwicklung des modernen Fußballs in Deutschland.

Von Petra Tabarelli (nachspielzeiten.de)

Fußball wird in Deutschland bekannt

Ein Spiel des Dresdner Fußball Clubs aus den Anfangstagen des Sports in Deutschland.

Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gab es in England football, in Frankreich soule, in Italien calcio. In Deutschland, genauer gesagt dem damaligen deutschen Kaiserreich, gab es vor dem 19. Jahrhundert kein Fußballspiel. Es konnte also nicht auf schon bekannte Formen zurückgreifen, die in der Folgezeit reguliert wurden. Fußball war unbekannt. Und daher musste er erstmal Fuß fassen, um modernisiert werden zu können. Denn das Wort modern setzt ja voraus, dass es schon eine Vorform, eine antike Form zuvor gab.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kamen die in England beliebten Sportarten wie Cricket, Baseball und beide Fußballvarianten, Rugby und (Assoziations-)Fußball, nach Deutschland. Denn die in Deutschland lebenden Engländer und englische Langzeittouristen wollten nicht auf die liebgewonnenen Sportarten verzichten, die auch die Kontaktaufnahme zu anderen Engländern der Umgebung sehr erleichterte. In diesen Jahrzehnten entwickelte sich das reglementierte Fußballspiel vom Schüler- und Studentensport zu einem in der englischen Gesellschaft verankerten Freizeit- und Bewegungsvergnügen.

Deutsche, die in Kontakt zu Engländern standen – beispielsweise Ärzte, Sprachlehrer, Uniprofessoren oder Journalisten – beobachteten den Sport der Engländer, fanden mitunter Gefallen an Fußball und imitierten ihn. Das passiert vor allem in den so genannten Engländerkolonien in Deutschland. Diese befanden sich vor allem in Residenzstädten wie Hannover, Braunschweig, oder Dresden, oder in Universitätsstädten wie Heidelberg oder Göttingen. Auch in im 19. Jahrhundert beliebten Kurorten – Wiesbaden, Baden-Baden oder Cannstatt sind hier Beispiele – und in Handelsstädten wie Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Leipzig waren häufig Engländer anzutreffen.

Soziale Herkunft der Fußball-Liebhaber
In der Forschung wird noch über die soziale Basis der Fußball-Liebhaber diskutiert – waren es Angestellte oder doch Arbeiter, die in Deutschland das Fußballfieber entfachten? Oder waren es Arbeiter, die als verdeckte Bezahlung einen Bürojob erhielten und sind diese dann als Arbeiter oder Angestellte zu zählen? Eggers merkt an, dass die Quellenlage über die Mitgliederstruktur des DFB vor dem ersten Weltkrieg sehr dürftig ist und viele Fußballspieler noch in den 1920er Jahren als Pseudobezahlung eine scheinbare Angestelltenstellung erhielten, aber aus dem Arbeitermilieu stammten. Als Belege nennt er Clubs im Ruhrgebiet und die Mannschaft von Bayern München 1925, deren Spieler vor allem aus dem Arbeitermilieu stammten und die mit Schein-Arbeitsplätzen und der dazu entsprechenden Bezahlung geködert wurden.

Engländer in Deutschland und Konrad Koch

Es waren aber nicht nur die in Deutschland lebenden Engländer, die den Fußball in Deutschland bekannt machten, sondern auch Konrad Koch, der Thomas Arnolds Ideologie und Leben profund während seines Studiums erforscht hatte. Koch muss von Arnold begeistert gewesen sein, denn er kopierte ihn und führte als Lehrer das Fußballspiel 1874 am Martino-Katharineum in Braunschweig ein, um die Jugendlichen fit zu machen und um die Basis für eine athletische Elite zu legen. Wie in England wurde Fußball als Winterspiel in den kalten Monaten des Jahres gespielt, während im Sommer Leichtathletik im Vordergrund stand. Übrigens hat Konrad Koch nicht Assoziationsfußball spielen lassen, sondern Rugby – wie Thomas Arnold als Schulleiter der Privatschule in Rugby. Da jedoch Assoziationsfußball in Deutschland wesentlich mehr und schneller Verbreitung fand als Rugby, unterstützte er diesen ab den 1890er Jahren. Koch versuchte, in Deutschland eine Fußballbegeisterung zu entfachen, wie es in England damals gerade passierte. Aber der Funke sprang in Deutschland nicht über. Als die erste Assoziationsfußballmannschaft in Deutschland gilt der Lüneburg College Football Club, bei dem den Namen der Spieler nach auch aus Deutschland stammende Schüler spielten. 

Vgl. Hock, Hans-Peter: Der Dresden Football Club und die Anfänge des Fußballs in Europa. Hildesheim 2016. S. 18-20. Wer mehr zu Konrad Koch wissen möchte, sei Malte Oberschelps 2015 erschienene Biografie über Koch sehr empfohlen.

Denn in Deutschland war das Turnen die Körperertüchtigung Nummer Eins. Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt geworden, war das Turnen eng mit studentischen Verbindungen und dem Einheits- und Nationalgedanken verbunden. Die aus England kommenden Sportarten wie Rugby oder Assoziationsfußball, Tennis oder Cricket wurden argwöhnisch beobachtet, weil sie eben aus England stammten und nicht deutschen Ursprungs, also nicht Teil der deutschen Kultur waren. Dazu kamen die Übersetzungsschwierigkeiten des englischen Begriffs sports, der letztendlich einfach in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wurde. Auch Fachbegriffe wie offside, hand, to center oder goal wurden zunächst übernommen.

Die Spielbewegung und der Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen

Im November 1882 erließ der preußische Kultusminister, Gustav von Goßler, den nach ihm benannten Spielerlass. Er ermunterte darin die preußischen Kommunen, Spielplätze zu bauen und Turnen (später auch Bewegungsspiele/Sport) als regelmäßigen Teil des Unterrichts zu integrieren. Gleichzeitig sollten schulfreie Spielenachmittage etabliert werden.

Gustav von Gossler

Neun Jahre später, am 21. Mai 1891, gründeten von Goßler und der preußische Abgeordnete Emil Freiherr von Schenckendorff den Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen (ab 1897 Zentralausschuss zur Förderung von Volks- und Jugendspielen), kurz ZA. Der ZA war dabei kein Zusammenschluss von Fußball-Liebhabern verschiedener sozialer Herkunft, sondern bestand vor allem aus Mitgliedern der Nationalliberalen Partei und dessen Alldeutschen Verbandes (gemeinsame Ziele: Stärkung des deutschen Nationalbewusstsein, Pro-Imperialismus), somit vor allem Politikern, Beamten und Armee-Angehörigen. Ihr vorrangiges Ziel war aber nicht, den Sport politisch zu vereinnahmen, sondern vielmehr eine philanthropische, erzieherische, militärische und sozialdarwinistische Mischung, eine „gesunde“ Elite an sportlichen Deutschen und damit potentiellen Soldaten heranzuziehen. Daher versuchten die engagierten Persönlichkeiten, die Gräben zwischen Turnern und Sportlern aufzufüllen und zwischen ihnen zu vermitteln. Turnen und Sport (zeitgenössisch auch Bewegungsspiele genannt) sollten parallel existieren und sich ergänzen. Um diese Absicht zu erreichen, versuchte der ZA, die einzeln wirkenden Kräfte in Deutschland zu bündeln, um so das gemeinsame Ziel schnell zu erreichen. Dazu gehörte der Zentralverein für Körperpflege in Volk und Schule, der Deutsche Bund für Sport, Spiel und Turnen, das Komitee für die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen zu Athen 1896 und später der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, in dessen Bundesleitung auch viele Mitglieder des ZA vertreten waren und der sich wie der ZA in der vormilitärische Ausbildung engagierte.

Wie versuchte man, die Ziele zu erreichen? Nun, durch einen intensiven Lobbyismus in Militärbehörden und Schul- und Stadtverwaltungen, Englandreisen, regelmäßige und verschiedene Zielgruppen ansprechende Veröffentlichungen und eine enorm große Werbetätigkeit. Die Geldmittel kamen aus dem preußischen Kultusministerium und anderen deutschen Landesregierungen.

Der ZA erreichte letztendlich seine Ziele der Verbreitung der Sportarten und die nationale Ausrichtung dieser.

Der Deutsche Fußballbund

Logo des Deutschen Fußballbundes von 1900

In den 1890er Jahren entstanden eine Reihe von neuen Vereinen und auch erste regionale Fußballverbände, zum Beispiel in Berlin (Bund Deutscher Fußballspieler 1890, Deutscher Fußball- und Cricketbund 1891). Doch während Vereine in England gewachsene Gemeinschaften waren, gab es in Deutschland eine hohe Fluktuation in den Vereinen und daher auch einen geringen Zusammenhalt der Spieler. Die Identifikation mit einem Club war also nicht gewachsen – das kam dem ZA ungelegen. Seine Versuche, einen gesamtdeutschen Verband zu gründen, scheiterten zunächst an Unstimmigkeiten zwischen den Verbänden. Nach einigen Jahren der Vermittlung gab es Ende Januar 1900 in Leipzig einen neuen Versuch, einen deutschen Verband zu gründen. Nun stimmten 60 der 86 Vereine für die Gründung des Deutschen Fußballbundes. Die Gründungsmitglieder waren sowohl regionale Verbände (Verband südwestdeutscher Fußballvereine, beide Berliner Verbände und der Hamburg-Altonaer Fußball-Bund) als auch einzelne Vereine aus Prag, Magdeburg, Dresden, Hannover, Leipzig, Braunschweig, München, Naumburg, Breslau, Chemnitz und Mittweida – also aus dem ganzen damaligen Deutschland. Der Spielausschuss des DFB erstellte in den kommenden Jahren einheitliche Statuten und Spielregeln nach englischem Vorbild (1906 herausgegeben) und es gab einen regelmäßigen Spielbetrieb um die Deutsche Meisterschaft (ab der Saison 1902/1903) und den Kronprinzenpokal (ab der Saison 1908/1909).

Im DFB entschied man sich für die nationale und gegen die kosmopolitische Ausrichtung. Denn so erhielten sie vor den Turnern den Vorzug, um die Exerzierplätze als Spielfeld benutzen zu dürfen. Als Wehrsport wurde der Stereotyp eines Fußballers mit soldatischen Idealen aufgeladen: Kampf und Opfermut bis zur letzten Minute, Pflichttreue und Treue zur eigenen Mannschaft sowie Charakterstärke und Idealismus. An diesem Ideal hat sich bis heute wenig geändert und es ist auch der Grund, weshalb in Deutschland die Legalisierung von entlohntem Fußball noch vehementer abgelehnt und stigmatisiert wurde als in England. Vieles ist in Deutschland wie in England verlaufen, nur etwa 50 Jahre später, aber nicht in diesem Punkt: Während Fußball in England modern wurde, als er legaler Profifußball wurde und viele Menschen direkt oder indirekt durch das Fußballspiel Erwerbsmöglichkeiten fanden, wurde Fußball in Deutschland durch das Militär und das soldatische Ideal, also durch das deutsche Amateurideal, modern. Das änderte sich auch nicht, als der Profifußball etwa 50 Jahre nach der Legalisierung in England auch in Deutschland legalisiert wurde. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb in Deutschland das Begriffspaar moderner Fußball mittlerweile stark negativ konnotiert ist und die 50+1-Regelung nicht schon längst über den Haufen geworfen wurde. Es ist aber vielleicht auch der Grund dafür, dass häufig und des Geldes wegen wechselnde Spieler als Söldner(!) beschimpft werden, weil sie nicht bis zu ihrem letzten Atemzug ihrer Mannschaft treu blieben – bewusst sehr pathetisch formuliert.

Währenddessen stieg die Mitgliederzahl des DFB rapide an und versiebzehnfachte sich zwischen 1904 und 1913.

Wie schon gesagt, Goßlers Idee ging also auf, Fußball wurde Wehrsport. Schon vor 1910 spielte die Marine ihre eigene Fußballmeisterschaft aus, ab 1911 auch das Landesheer. Der DFB wurde wie der ZA Mitglied in staatlichen, militärisch geprägten Jugendorganisationen wie dem 1911 gegründeten Jungdeutschland.

Als Wehrsport musste sich Fußball nun aber endgültig von dem Vorwurf des undeutschen Sportes lösen und Sprachbarrieren  beseitigen. Daher gab es ab den 1890er Jahren immer wieder Artikel in Zeitungen, Pamphlete und auch Bücher, die die englischen Begriffe eindeutschten.

Moderner Fußball: Die Fußballbegeisterung wird Teil der deutschen Gesellschaft

Viele deutsche Soldaten lernten das Fußballspiel erst als Wehrsport während des ersten Weltkrieges kennen; liebten und lebten ihn. Die Spiele dienten hier, in dem reinen Stellungskrieg, vor allem zur psychischen Stabilisierung von Truppeneinheiten und zur Hebung deren Stimmung, fand aber auch durch seinen klassennivellierenden Charakter allgemeine Beliebtheit bei den nichtadeligen Milieus. Diese Begeisterung endete nicht mit dem Kriegsende – im Gegenteil. Manche spielten Fußball fortan in Vereinen und viele weitere wurden begeisterte Zuschauer. 1920 hatte der DFB die 500.000er Marke seiner Mitglieder geknackt. Jetzt begann der Fußball, auch in Deutschland ein Massenphänomen zu werden.

In dieser Zeit, in der Weimarer Republik, nahm Fußball eine Mittlerrolle zwischen der deutschen Bevölkerung und der Reichswehr ein. Dabei war die Grenze zwischen zivilem und Militärsport fließend. Das Wort Kampf wurde in den 1920er Jahren zu einem Schlüsselbegriff: Kampfspiele, Kampfbahn, Kampfgemeinschaft, usw. Der Fußball diente als vormilitärisches Feld, um trotz dem Verbot einer Armee, die kommende Generation an die Tugenden der Soldaten heranzuführen. Außerdem tarnten sich viele paramilitärische Vereinigungen als Sportclubs wie die Box- und Sportabteilung der NSDAP. Diese wurde aber schon verhältnismäßig früh, nämlich im November 1921, von Hitler in Sturmabteilung, SA, umbenannt.

Waren Sportarten wie Fußball nach Ende des ersten Weltkrieges ein gutes Ventil, um die psychische Belastung der Kriegsjahre zu kompensieren, bargen sie damit aber in der Zwischenkriegszeit ein deutliches Gewaltpotenzial. Viele, die das Fußballspiel während des Krieges kennengelernt hatten, spielten einen derart unfairen Fußball oder benahmen sich als Zuschauer mit Platzstürmen und Gewaltandrohungen gegen Schiedsrichter und Gegner so rüde, dass Fußball zu Beginn der 1920er Jahre nicht nur breite Beliebtheit erfuhr, sondern gleichzeitig einen sehr schlechten Ruf erlangte. Der sehr angesehene Schiedsrichter Peter Joseph „Peco“ Bauwens legte 1925 wegen des Verhaltens der Spieler und Zuschauer in der Halbzeit des Spieles 1. FC Nürnberg gegen MTK Budapest schlicht sein Amt nieder.

Zu der Problematik von Fußball in der Weimarer Republik und Bauwens vgl. Eisenberg, Christiane: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999. S. 306-339.

 

Dabei entwickelte sich der Fußball durch die zahlreichen Zuschauer zu einem veritablen Wirtschaftsgut. Diesen verlorenen Respekt versuchte der DFB abermals durch die Verknüpfung mit dem soldatischen Ehrbegriff wiederherzustellen – erfolgreich.

Die ersten Radioübertragungen

Unterstützung erfuhr der Fußball in Deutschland wie in England durch Journalismus, Getränke- und Bauindustrie, Wettbüros, Fotografie und Sportartikelhersteller. Auch Zigarren- und Zigarettenfabriken sowie Schnapsbrennereien profitierten von dem Sport, denn es war auf den Zuschauerrängen üblich, sich zwischendurch mit einem Schluck aus dem Flachmann oder einer Zigarre zu stärken. Neu und in diesem Fall ganz elementar war für Sportinteressierte das moderne Medium Radio, dessen Verkaufszahlen sich zwischen 1923 und 1926 rapide anstiegen. Es war für Sport und Medium eine Win-Win-Situation: Das Radio beflügelte das Interesse, Sport zu verfolgen und die an Sport Interessierten kauften sich Radios. Wann das erste Spiel in Deutschland übertragen wurde, ist umstritten: War es das Spiel Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld am 1. November 1925 oder das vom Rundfunkpionier Bernhard Ernst kommentierte DFB-Endspiel zwischen der SpVgg Fürth und Hertha BSC (Ende 1925)? Wie dem auch sei, der DFB unterstützte zunächst die Rundfunkübertragungen von Fußballspielen, um 1928 stark zurückzurudern: Um nicht die Zuschauerzahlen und damit Einnahmen der Vereine zu gefährden, wurden die Übertragungsrechte nur für das DFB-Endspiel sowie drei Länderspiele vergeben. Diese deutlichen Einschränkungen führten zu heftigem Protest der Zuschauer und tatsächlich wurden ab 1932 wieder mehr Fußballspiele via Radio übertragen; vor allem solche Spiele, bei denen eine Reduzierung der Zuschauerzahl nicht zu befürchten war.

Der DFB war kein Einzelfall. U.a. auch England und Schweden ließen die Übertragungen teils verbieten (Schweden) oder diskutierten über ein generelles Verbot (England).

Moderner Fußball: Profifußball wird (zum ersten Mal) legal

Mitte der 1920er Jahre kam es in Deutschland zu den ersten ernsten Anläufen, dass Fußballspieler ein bezahlter Beruf wird. Denn durch den Dawes-Plan (1925) und seine Unterstützungen begannen viele Städte, neue Stadien zu errichten, um mit Hilfe der Fußballbegeisterung die städtischen Kassen zu füllen. Um die Hypotheken schneller zurückzuzahlen und das Stadion auszulasten, musste man attraktive Spiele bieten und daher Fußballergrößen in die Vereine der Stadt locken. Außerdem war ab 1925 die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen wieder möglich. Der Ehrgeiz , eine besonders schlagkräftige Mannschaft nominieren zu können, war deshalb groß. Unter der Hand gezahlte Zuwendungen waren längst die Regel.

Der DFB blieb bei seinem soldatischen Ideal des Fußballers, den der ehrenvolle Verdienst leitete, nicht der finanzielle . Bei Zuwiderhandlung drohte die Disqualifikation aus Meisterschaft und Pokalwettbewerb. Dabei war der Wunsch vieler Vereine, wettbewerbsfähig zu anderen Ländern zu sein. Bereits 1925 hatte der DFB eine Satzungsänderung verabschiedet, die es deutschen Vereinen stark erschwerte, gegen ausländische Profimannschaften zu spielen. (Der Boykott wurde erst 1930 auf Druck der FIFA aufgehoben.)

Durch die finanziellen Verluste der Weltwirtschaftskrise, die insbesondere die untere Mittelschicht (Angestellte, Facharbeiter) traf, gab es ab 1929 erneut deutliche Bemühungen, den Berufsfußball einzuführen. Bezahlungen der Fußballer unter der Hand waren mittlerweile die Regel, aber der DFB blieb weiterhin bei seinen Prinzipien. Mehr noch, im August 1930 sperrte er 14 Schalker Spieler und zudem mehrere Schalker Funktionäre und verhängte eine empfindlich hohe Geldstrafe von 1000 Reichsmark gegen den Verein. Der Grund: Schalker Spitzenspieler waren Arbeiter in der Schachtanlage Consolidation, wurden aber nur mit leichteren Aufgaben betraut und mussten also nicht unter Tage arbeiten, erhielten dafür aber deutlich mehr Lohn als ihre Kollegen. Die Bestrafung als abschreckendes Exempel für alle anderen Vereine ging für den DFB komplett nach hinten los: Viele weitere erfolgreiche Vereine bedrängten den Verband, die Strafen zurückzuziehen und drohten andernfalls mit dem Austritt. Der Westdeutsche Fußballverband forderte die Trennung in Amateurfußball und Berufsfußball. Noch lehnte der DFB ab, aber als es noch 1930 zur Gründung des Deutschen Professionalverbandes innerhalb des Westdeutschen Fußballverbandes und zu einer Reichsliga (gegründet von Sportjournalisten) kam, lenkte er ein. Schalke wurden die drakonischen Strafen erlassen. Aber der Profifußball wurde noch nicht legalisiert. Das Drängen der Vereine blieb und zwei Jahre später fürchtete der DFB die Spaltung des Fußballs wohl so sehr, dass er wie ca. 50 Jahre zuvor Alcock in England den Fußballsport legalisiert, um ihn dann besser kontrollieren zu können. Doch zu der für 1933 geplanten Reichsliga kam es nicht. Daran hatten nicht direkt die Nationalsozialisten Schuld; ihnen wären professionelle Sportler vielleicht sogar entgegengekommen. Nein, Felix Linnemann, seit 1925 Vorsitzender des DFB wurde 1933 mit der Leitung des Fachamts Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen betraut und machte direkt die in seinen Augen erzwungene Legalisierung des Profifußballs rückgängig.

Moderner Fußball: Profifußball wird (wieder) legal

1950, noch vor der Neugründung des DFB, beschloss die Delegiertenversammlung der Landesverbände, ein Vertragsspielerstatut zur Legalisierung des bezahlten Fußballs. Ein Spieler, der noch einem weiteren Beruf nachging, durfte dennoch nicht mehr als 320 DM monatlich erhalten, d.h. nicht mehr als den Lohn eines Facharbeiters. Aus dem Jahresgehalt errechnete sich die Ablösesumme. Zur der gehörte auch immer ein Gastspiel des neuen Vereines.

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Am Ziel der Träume? Fußball und der Nationalsozialismus

Der Fußball in Deutschland hat es in seinen Anfangsjahren nicht leicht. Gesellschaftliche Vorbehalte, Konkurrenz durch die traditionsreiche Turnerschaft, das unsägliche Geschacher um das Amateurgebot. Unter der Regie des machtbewussten DFB hat sich der Fußball dennoch zum Spiel der Massen entwickelt, wie ich in meinem ersten geschichtlichen Überblick für 120minuten aufgezeigt habe. Ideale Voraussetzungen für die Nationalsozialisten, das Spiel für seine Zwecke zu ge- und missbrauchen? Welche Rolle spielte der DFB dabei? Wie hat der deutsche Fußball auf die verordnete „Gleichschaltung“ reagiert? Und wie ging es in Sachen Profitum weiter?

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1954 wurde Deutschland überraschend Weltmeister. In den Folgejahren nahm die Bedeutung der Nationalmannschaft wegen fehlender Erfolge jedoch spürbar ab. Viele Spieler wechselten zu Vereinen ins Ausland, wo der Profifußball längst etabliert war und sie höhere Gehälter erhielten. Beispielsweise nach Italien, wo Helmut Haller (1962-1968 FC Bologna, 1968-1973 Juventus Turin), Karl-Heinz Schnellinger (1963-1964 AC Mantua, 1964-1965 AS Rom, 1965-1976 AC Mailand) oder auch Horst Szymaniak (1961-1963 CC Catania, 1963-1964 Inter Mailand, 1964-1965 FC Varese) spielten. Um dem Trend entgegenzuwirken, beschloss der DFB auf seinem Bundestag 1962 die Einführung einer Berufsspielerliga, der Bundesliga. Neben Amateurspielern und Vertragsspielern gab es nun auch Lizenzspieler, die ein dreimal so hohes Gehalt wie Vertragsspieler erhalten und einen Teil der Transfersumme kassieren konnte. Aber die Bestimmungen waren in den 1960er Jahren noch recht restriktiv, weshalb in der ersten Bundesligasaison nur 34 Spieler Fußball als Vollzeitberuf ausgeübt haben sollen. Sie brauchten einen guten Leumund, durften aber ihren Namen nicht für Werbezwecke zur Verfügung stellen und so weiteren Lohn erhalten und die Gesamtbezüge aus Lohn, Handgeld, Prämien und Ablösesummen durften nicht 1200 DM monatlich übersteigen.

Für den DFB lohnte sich die Einführung der Bundesliga: Die Nationalmannschaft hatte wieder Erfolg und da in den 1960er Jahren schon viele Haushalte über einen Fernseher verfügten, konnte sich der DFB durch Fernsehübertragungsgebühren, Werbeeinnahmen und Sponsorengelder finanzieren.

Für die Vertrags- und auch Lizenzspieler war das Fußballspiel innerhalb der vom DFB gesetzten Grenzen nicht rentabel und so verwundert es nicht, dass es in der Saison 1970/71 zu einem so großen Bestechungsskandal kam und der DFB abermals zum Umdenken gezwungen wurde. 1972 wurde der Markt geöffnet – seitdem steigen die Einkommen der Fußballprofis kontinuierlich. Die Liberalisierung der elektronischen Medien und das Bosmanurteil vom Dezember 1995 haben diesen Effekt noch einmal deutlich verstärkt.

Fazit: Moderner Fußball durch Eventisierung und Taktik

Doch wann hielt der moderne Fußball nun tatsächlich Einzug in Deutschland? Je nach Betrachtungsweise gibt es dafür drei Möglichkeiten:

  1. Macht man den modernen Fußball an der allgemeinen, nationalen Begeisterung fest, so war es der erste Weltkrieg.
  2. Verbindet man den modernen Fußball mit Profifußball und seinen Folgen, so waren es die 1960er und 1970er Jahren, da die erste Legalisierung 1932 nur wenige Monate Bestand hatte.
  3. Nimmt man den Begriff “moderner Fußball” dagegen als Ausgangspunkt, liegt der Beginn in den 1980er Jahren. Bis 1976 existierte dieser Begriff in der deutschsprachigen Literatur noch gar nicht. Seitdem gab es ein kurzes kleineres Maximum von 1987 bis 1988, das ab 2002 wieder erreicht wurde und mindestens bis 2008 übertroffen wurde.

Lag die erste Häufung des Begriffs Ende der 1980er Jahre an dem Wechsel von Trainer Arrigo Sacchi zum AC Milan und seiner dort etablierten Spielidee? Wurde dieses Ereignis in der deutschsprachigen Literatur tatsächlich so gewürdigt? Oder hat es eine andere Ursache? Darauf habe ich leider keine Antwort.

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Fußball als komplexer Sport https://120minuten.github.io/fussball-als-komplexer-sport/ https://120minuten.github.io/fussball-als-komplexer-sport/#comments Thu, 04 Aug 2016 07:00:18 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2383 Weiterlesen]]> Und warum manche das nicht wahr haben wollen

Autor: Lukas Tank, footballarguments.wordpress.com

Tagtäglich liefert uns die Sportberichterstattung Antwort auf die Frage, warum Mannschaft X gegen Mannschaft Y gewonnen hat und warum jener Spieler besser oder schlechter ist als ein anderer. Bei der Ursachenforschung gehen die Meinungen auseinander. Gibt es noch die einfachen Erklärungen? Oder ist Fußball eine hochkomplexe Angelegenheit, bei der man den Spielausgang nicht mit einem schnöden „Wir sind nicht in die Zweikämpfe gekommen“ abtun kann? Ein Debattenbeitrag.

rubik

Die deutsche Fußballöffentlichkeit teilt sich in zwei Lager: einerseits diejenigen, die verstehen, dass Fußball ein komplexer Sport ist, und andererseits diejenigen, die dies nicht verstehen (wollen). Dieses Schisma zieht sich durch alle Ebenen – Fans, Journalisten, Spieler, Trainer – und spiegelt sich in einer Vielzahl von Debatten wieder. Erinnert sei hier zum Beispiel an die von Mehmet Scholl entfachte Diskussion um die „Laptoptrainer“. Auch, als verhandelt wurde, wie die Arbeit von Pep Guardiola beim FC Bayern zu bewerten sei, kam diese Zweiteilung immer mal wieder an die Oberfläche des Fußballdiskurses. Und auch auf dieser Seite ging es schon einmal um die Frage nach der Komplexität des Fußballs, als Endreas Müller diskutierte, ob der Taktikblog Spielverlagerung.de sich einer unnötig komplizierten Sprache bediene. Ganz aktuell sprach Sami Khedira folgende Worte:

„Seit Pep Guardiola nach Deutschland gekommen ist, denkt offenbar jeder, er muss den Fußball neu erfinden, das ist ja irrsinnig. Fußball ist mehr als Taktik, es ist und bleibt ein einfaches Spiel.”

Ich vertrete die These, dass die Art, wie in Deutschland über Fußball gesprochen wird, mit der Entwicklung des Fußballs zu einer immer professionelleren und vielschichtigeren Sportart nicht mitgehalten hat. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass die Komplexität des Fußballs von allen unterschätzt wird. Wie in meinem Eingangsstatement gesagt, kann man grob zwei Lager abgrenzen. Die, die sich der Komplexität zumindest bewusst sind und die, die sie nicht sehen oder sie ignorieren.

Wie komplex ist Fußball überhaupt?

Zunächst ein paar Worte, um klar zu machen, was ich genau meine, wenn ich sage, Fußball sei komplex: Fußball ist offenkundig kein Spiel, welches nur sehr schwer und unter großen geistigen Anstrengungen gespielt werden kann. Das kann also schon einmal nicht gemeint sein. Fußball ist insofern komplex, als dass auf dem Platz enorm komplizierte Wechselwirkungen stattfinden, die zu verstehen tatsächlich große geistige Anstrengung fordert. Fußball ist also, so meine These, vielleicht nicht allzu schwer zu spielen, aber doch enorm schwer zu verstehen.

Aber sprechen die Engländer nicht sogar von „the simple game“? Was kann an ein paar Leuten, die auf einer grünen Wiese das Runde ins Eckige befördern wollen, schon so furchtbar verworren sein? Eine ganze Menge, möchte ich meinen. Mir fällt, ehrlich gesagt, kaum eine komplexere Sportart ein. Fußball ist u.a. deshalb „the simple game“, weil es mit wenigen Regeln auskommt. In diesem Sinne ist der Fußball tatsächlich ein recht einfaches Spiel. Aber andererseits begrenzen Regeln auch Komplexität. Fußball ist u.a. deshalb so vielschichtig, weil diese Eingrenzung recht spärlich ausfällt. Um sich die Komplexität begrenzende Funktion von Regeln vor Augen zu führen, lohnt ein Blick auf ein außersportliches Beispiel: Die deutsche Straßenverkehrsordnung ist ohne Zweifel sehr kompliziert. Und auch das Gewusel auf unseren Straßen, welches sich im Großen und Ganzen diesen Regeln unterwirft, ist sehr unübersichtlich. Aber man stelle sich vor, wie undurchdringbar das Geschehen auf unseren Straßen wäre, wenn die Straßenverkehrsordnung nicht oder nur rudimentär gelten würde. Ein Betrachter, der von oben eine große Kreuzung betrachten würde, sähe nur ein heilloses Durcheinander.

Fußball zu spielen, ist einfach – Fußball zu verstehen, ist kompliziert.

Die „Straßenverkehrsordnung“ für den Fußballplatz ist im Vergleich zu den Regelwerken anderer Sportarten recht simpel. Sie lässt viele Möglichkeiten offen und zwängt den Fußball nicht in einfache Schablonen. Man vergleiche den Fußball mit Sportarten, die sozusagen nur aus einer Handvoll Standardsituationstypen bestehen wie American Football oder Baseball. Die Regelwerke dieser Sportarten sind deutlich restriktiver und begrenzen damit die Komplexität der jeweiligen Sportart. In anderen Sportarten ist es so, dass die Komplexität dadurch begrenzt wird, indem die Menge der Erfolg versprechenden Strategien und Taktiken kleiner ist. Im Handball und Basketball wird z.B. eigentlich immer nur in der Nähe der beiden Tore bzw. Körbe gespielt. Die Spielfeldmitte dient nur dem Transit. Damit verringert sich die effektive Spielfeldgröße, was wiederum, so denke ich, tendenziell mit einem Komplexitätsverlust einhergeht. Im Fußball sieht die Sache anders aus. Da wird quasi der ganze Platz zu ungefähr ähnlichen Teilen bespielt. (Es sei denn man ist Guardiolas Barcelona. Dann bespielt man nur eine Zone um den gegnerischen Strafraum.)

Und nicht nur, dass im Fußball der gesamte Platz genutzt wird, dieser Platz ist auch noch riesig groß! Das wiederum ist eng damit verbunden, dass Fußball von vergleichsweise großen Mannschaften gespielt wird. Ich fasse zusammen: Fußball ist ein Sport, in dem sich sehr viele Spieler auf einem sehr großen und als ganzem genutzten Feld ziemlich free-flowing und nur von wenigen Regeln eingezwängt bewegen. Das schreit Komplexität! Ich würde behaupten, Handball ist weniger komplex, Basketball ist weniger komplex, jede Individualsportart ist weniger komplex, American Football ist weniger komplex und auch Schach ist weniger komplex als Fußball: tote Spielfiguren, Zeit zum Nachdenken zwischen den Zügen – wie simpel! Professionelle Schachspieler haben mit Sicherheit ein größeres Verständnis für die Komplexität des Schachspiels als der durchschnittliche Fußballer in Sachen Fußball. Aber ein Spielbrett mit festgelegten Pfaden ist nun mal etwas anderes als die unendlich vielen Varianten, die der Fußball bereithält. Mit der Vielschichtigkeit des Fußballs mithalten, können höchstens Sportarten wie Rugby und Aussie Rules Football. Zusammenfassend kann man festhalten: Fußball zu spielen, ist einfach – Fußball zu verstehen, ist kompliziert.

Warum wird Fußball unterschätzt?

Um die Komplexität einer Sache zu wissen, heißt noch nicht, dass man sie selbst vollständig durchschaut. Ich weiß zum Beispiel: Quantenphysik ist keine triviale Angelegenheit und ich habe quasi null Ahnung von Quantenphysik. Wenn man anerkennt, dass eine Sache unübersichtlich verflochten ist, sollte man daraus jedoch für sich einige Schlüsse ziehen. Zum Beispiel, dass es nicht angebracht ist, auf die Probleme der Quantenphysik zu reagieren, indem man kategorisch festhält, dass die Quantenphysiker nur die (Physiker-)Hymne fester mitsingen und allgemein mit mehr Herzblut bei der Sache sein müssten, damit sich alle Probleme dieses Teilgebiets der Physik endlich auflösen.

Warum wird die Komplexität des Fußballs von vielen unterschätzt? Hier einige Überlegungen:

Fußball als „low scoring game“ verleitet dazu, sich in der Betrachtung des Spiels auf Einzelereignisse zu beschränken und die tieferliegenden Strukturen zu ignorieren. In „high scoring games“ wie Basketball oder Handball erliegt man weniger schnell dieser Versuchung. Wenn ein Basketballspiel 110:99 ausgeht, erschließt sich jedem, dass keiner der vielen dutzend Würfe und schon gar nicht der Wurf, der zum Endergebnis führte, die ganze Story des Spiels ausmacht. „High scoring games“ verleiten zu einem strukturorientierteren Blick, welcher zumindest bessere Chancen hat, die Komplexität eines Spiels einzufangen. Man denke nur an die Allgegenwart von statistischen Analysen im Basketball und anderen US-Sportarten.

Ein weiterer Grund dafür, Fußball als relativ einfaches Spiel zu betrachten, liegt in der Tatsache begründet, dass Fußball im Vergleich zu anderen Sportarten ein extrem komplexes Spiel ist. Das mag nun erst einmal kurios klingen, aber ich denke, man kann die Logik hinter dieser Idee so plausibilisieren: Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, in dem man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Die Komplexität im Fußball ist so erschlagend groß, dass sie eher ignoriert wird als dies in anderen, weniger komplizierten Sportarten der Fall ist.

Der Fußball realisiert heute mehr von der ihm schon immer inhärenten Komplexität. Teile der Fußballöffentlichkeit sind diese Entwicklung nicht mitgegangen.

Der Fußball entwickelt sich stetig weiter und hierin könnte eine weitere Ursache liegen, warum die Komplexität des Fußballs von so vielen unterschätzt wird. Vor 30 Jahren war der Fußball einfacher und einfache Erklärungen hatten eine größere Chance, der Wahrheit zumindest nahezukommen. Wenn beide Mannschaften z.B. konsequent manndecken, wie es früher insbesondere im deutschen Fußball üblich war, und ein Manndecker seinen Gegenspieler verliert und daraus ein Tor resultiert, dann ist die Fehlerdiagnose in der Tat nicht allzu schwer. Man zeigt einfach auf den schlafmützigen Spieler in der Nähe des Torschützen und hat mit einiger Sicherheit den Schuldigen gefunden. Der Fußball hat sich jedoch immer weiter von so einfachen taktischen Mitteln weg entwickelt. Man könnte auch sagen: Der Fußball realisiert heute mehr von der ihm schon immer inhärenten potentiellen Komplexität. Teile der Fußballöffentlichkeit sind diese Entwicklung nicht mitgegangen und verwehren sich der Idee, dass sich der Gegenstand ihres Interesses verändert hat, während sie selbst auf der Stelle treten.

Ich sprach schon an: Fußball ist in mancher Hinsicht tatsächlich „the simple game“. Er hat wenige Regeln und benötigt wenig Equipment. Fußball ist daher ein einfach zu spielendes Spiel. Und auch als Fußballschauer versteht man sehr schnell die grundsätzlichen Charakteristika des Spiels: Das Runde muss ins Eckige. All dies verleitet zu der Annahme, dass sich hinter diesen Dingen keine allzu große Komplexität verbergen kann. Aber dies ist ein Fehlschluss. Nur weil die Grundrechenarten in Nullkommanix gelernt sind, heißt das noch nicht, dass Mathematik nicht etwas unendlich Kompliziertes ist. Ungefähr so verhält es sich auch mit dem Fußball.
(Wobei ich natürlich nicht sagen will, Fußball wäre so kompliziert wie Mathe! Analogien ≠ Gleichsetzung.)

Schlussendlich noch eine kulturelle Erklärung: Fußball hat in Deutschland immer noch (wenn auch nicht mehr so wie früher) das Image, der Sport des kleinen Mannes und der Arbeiterschicht zu sein. Dies wird leider oft verbunden mit einer großen Skepsis gegenüber allem, was nach Intellektualisierung klingt. Ich verstehe durchaus den Reiz, Fußball als ganz und gar nicht elitären Sport zu verstehen. Aber der Fußball ist, wie er ist. Man kann es sich nicht aussuchen. Er ist heutzutage zu einem sehr vielschichtigen Spiel geworden und dies zu ignorieren heißt, ihn zu verkennen.

sartre

Fußball ist komplex – so what?

So viel zur Diagnose. Ich habe versucht, zu zeigen, dass Fußball ein sehr komplexes Spiel ist und nach Gründen gesucht, warum dies von vielen nicht erkannt wird. Was nun? Will ich etwa behaupten, dass man nur noch wissenschaftlich-intellektuell über Fußball reden und schreiben darf? Muss jeder Sportteil zu einer Printausgabe von Spielverlagerung.de werden und muss am Stammtisch ab jetzt die Taktiktafel stehen? Nein, nichts von dem, was ich gesagt habe, sollte dies implizieren. Es gibt tausende Wege, über Fußball zu denken, zu reden und zu schreiben. Viele davon haben ihre Berechtigung.

Drei Folgerungen, so glaube ich, ergeben sich aber doch aus dem Gesagten: Die erste hat mit denjenigen Menschen zu tun, die versuchen, Fußball in all seiner Vielschichtigkeit zu verstehen. Es gibt keinen Grund, ihren Bemühungen grundsätzlich skeptisch gegenüberzustehen. Das heißt natürlich nicht, dass man Stil und Inhalt detaillierter statistischer Auswertungen oder auch von Taktikanalysen nicht hinterfragen soll – ganz im Gegenteil! Tut man dies mit guten Argumenten, so trägt man umso mehr dazu bei, den Fußball als komplexen Sport ernst zu nehmen. Man muss die Tatsache, dass Fußball ein komplexes Spiel ist, auch nicht mögen, aber das ändert nichts am Fakt, dass es so ist. Also: Don’t shoot the messenger.

Die zweite Folgerung hat mit den Menschen zu tun, die die Komplexität des Fußballs gerade nicht vollends oder auch nur zu relativ großen Teilen durchschauen – eine Gruppe, zu der ich mich selbst zählen würde. Wir sollten mit unseren Werturteilen vorsichtig sein. Wenn man von etwas nur beschränkt Ahnung hat, dann sollte man den eigenen wertenden Meinungen auch nur beschränkt trauen. Es besteht schließlich immer die Möglichkeit, dass die Dinge komplizierter sind als man denkt. Das heißt natürlich nicht, dass man nicht seine Meinung sagen sollte! Aber man sollte sich zumindest kritikfähig zeigen und die Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen, dass das Gegenüber mehr von der Materie versteht als man selbst.

Schlussendlich ein Punkt, der insbesondere Sportjournalisten betrifft. Journalistenschelte in einer Zeit, wo so etwas ein unseliger Teil des Zeitgeistes ist, bereitet mir zwar Bauchschmerzen, aber ich denke Folgendes lässt sich doch sagen: Wie über Fußball geschrieben wird, entbehrt zu oft einem Verständnis der Komplexität des Spiels. Und was schlimmer ist: dies wird sogar noch positiv konnotiert. Ich erinnere nur an die exzessive Guardiola-Kritik, die immer wieder mit anti-intellektualistischen Untertönen daherkam: Der katalanische Fußballprofessor soll nicht unseren einfachen Fußball kaputtmachen! Man stelle sich zum Vergleich Auto- oder Computerjournalisten vor, die strukturell ähnliche Thesen vertreten: Das neue MacBook macht uns unseren einfachen Computer kaputt! Absurde Vorstellung. Komplexität sollte der Freund des Fußballjournalisten sein. Nur weil der Sport, über den sie berichten, nicht einfach zu durchdringen ist, bedarf es ihrer Expertise, um ihn verständlicher zu machen. Fußballfans können machen, was sie wollen, aber Fachjournalisten sollten sich ein gewisses Maß an Fachkenntnis aneignen.

Fußball wird gespielt, um Ergebnisse zu erzielen, aber Ergebnisse sind nicht der einzige und oft auch nicht der beste Maßstab in der Bewertung.

Nun besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass die allermeisten Journalisten eigentlich eine hervorragende Kenntnis der Materie haben, diese aber in ihrer Berichterstattung nicht zeigen. Mir persönlich drängt sich dieser Eindruck häufiger in Gesprächen mit Fußballjournalisten auf Twitter auf.  Ich denke, hierzu lässt sich Folgendes sagen: Es gibt tatsächlich keinen Grund, die Komplexität des Fußballs stets mit in die Berichterstattung einfließen zu lassen. Wenn man über Fans, Spielerfrauen oder die neuesten Frisuren schreibt, dann tut es schlicht nichts zur Sache, dass Fußball eine komplizierte Angelegenheit ist. So viel sei zugegeben. Problematisch wird es jedoch, wenn man über das Spiel an sich schreibt. Und noch problematischer wird, wenn man wertend über das Spiel an sich, z.B. über Mannschaften, Einzelspieler oder Trainer, schreibt und gleichzeitig ausblendet, wie komplex der Fußball ist. Das wird dann schnell unfair gegenüber den Beteiligten. Ein Beispiel: der allgegenwärtige Ergebnis-Fokus in der Berichterstattung. Fußball wird gespielt, um Ergebnisse zu erzielen, aber Ergebnisse sind nicht der einzige und oft auch nicht der beste Maßstab in der Bewertung. Ein Trainer, der nicht das Triple gewonnen hat, kann hervorragend gearbeitet haben. Ein Stürmer, der getroffen hat, kann schlecht gespielt haben. Ein Spieler der Verlierermannschaft kann brilliert haben. Der Plan eines Trainers kann scheitern, aber die richtige Idee gewesen sein. Ein Schuss kann treffen und trotzdem eine schlechte Idee gewesen sein. Wer diese und ähnliche Komplexität des Fußballs ignoriert und trotzdem wertet, der handelt unfair und verkauft sich unter Wert. Besonders Letzteres gilt insbesondere für Fußballjournalisten.

Um Fußball zu verstehen und ihn zu erklären, sind tiefgreifende Analysen und Differenzierung notwendig. Wer nur Schwarz und Weiß kennt, wird selten zum Kern dessen vordringen, was auf dem Platz passiert. Kurz und prägnant zu schreiben und dabei die Vielschichtigkeit und die Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren – das ist der Balanceakt, der gelungene Fußballberichterstattung ausmacht. Fußball ist zu kompliziert für einfache Erklärungen. Oder nicht?

pablo

 

Weiterhören – der Podcast mit Autor Lukas Tank

Episode 1: “Fußball als komplexer Sport” mit Lukas Tank

In unserer allerersten Folge des 120minuten-Podcasts (keine Angst, er geht nur ungefähr eine handelsübliche Halbzeit) sprechen wir mit Lukas Tank über seinen Text “Fußball als komplexer Sport”. Lukas findet Ihr auf Twitter als @SergiXaviniesta, sein Blog “football arguments” erreicht Ihr unter https://footballarguments.wordpress.com/.

Wir freuen uns auf Euer Feedback zur Premierenfolge und selbstverständlich auch über weitere Kommentare zum Thema “Fußball und Komplexität” auf Facebook, Twitter oder direkt unter Lukas’ Beitrag auf 120minuten.github.io!

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Taktik ist überbewertet?!

Autor: Endreas Müller, endreasmueller.blogspot.de Wie viel Taktik steckt im Fußball bzw. wie viel Wahrheit in der Taktikanalyse? Unser Autor versucht es herauszufinden – im Selbstversuch und im Gespräch mit Taktikexperten.… Weiterlesen

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Beitragsbild: Wir bedanken uns bei Hernán Piñera für das Foto “Rubik” zu diesem Beitrag. Mehr von Hernán Piñera gibt es bei flickr. Lizenz CC BY-SA 2.0

By cchana from London, UK – Bill Shankly, CC BY 2.0

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https://120minuten.github.io/fussball-als-komplexer-sport/feed/ 19 2383 „Wir verabschieden uns mit einem guten Gefühl“ – Domènec Torrent über Pep Guardiolas wichtigstes Vermächtnis: taktische Variabilität https://120minuten.github.io/wir-verabschieden-uns-mit-einem-guten-gefuehl-domenec-torrent-ueber-pep-guardiolas-wichtigstes-vermaechtnis-taktische-variabilitaet/ Thu, 30 Jun 2016 18:01:55 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2299 Weiterlesen]]> Über Pep Guardiolas Einfluss auf das Spiel des FC Bayern wurde viel geschrieben. Ein Resümee zur Arbeit des Trainers in München bietet das Interview mit Guardiolas Co-Trainer Domènec Torrent. Welche Bedeutung hat die Rondo-Übung? Wie wurden Peps Ideen von den Spielern aufgenommen? Das Interview bietet interessante Einblicke.

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Interview mit Nikos Overheul https://120minuten.github.io/interview-mit-nikos-overheul/ Mon, 18 Apr 2016 18:01:54 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2201 Weiterlesen]]> Viele Mannschaften in Außenseiterposition tun es, aber auch Jogi Löw setzte während der WM 2014 auf sie – Standardsituationen. Keine Partie kommt ohne Freistöße, Ecken, Einwürfe aus. Da wundert es nicht, dass es längst Experten für dieses Fachgebiet gibt. Spielverlagerung konnte mit einem von ihnen, Nikos Overheul, ein langes Interview führen. 

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Die Lage der Bundesliga https://120minuten.github.io/die-lage-der-bundesliga/ Wed, 02 Mar 2016 18:01:58 +0000 https://120minuten.github.io/?p=2083 Weiterlesen]]> Wo steht die Bundesliga im europäischen Vergleich? Keine einfache Frage, aber eine oft gestellte. Miasanrot hat sich eingehend mit der Thematik beschäftigt und eine dreiteilige Beitragsserie zusammengestellt die den finanziellen Status Quo, den Erfolg in Europa und die Taktik in der Liga beleuchtet. 

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Taktik ist überbewertet?! https://120minuten.github.io/taktik-ist-ueberbewertet/ https://120minuten.github.io/taktik-ist-ueberbewertet/#comments Wed, 17 Feb 2016 08:20:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1893 Weiterlesen]]> Autor: Endreas Müller, endreasmueller.blogspot.de

Wie viel Taktik steckt im Fußball bzw. wie viel Wahrheit in der Taktikanalyse? Unser Autor versucht es herauszufinden – im Selbstversuch und im Gespräch mit Taktikexperten.

Früher war alles besser!

Es war alles so einfach. 2 Mannschaften, 22 Spieler, 1 Schiedsrichter, 1 Ball. Das Runde muss ins Eckige. Denkt man. Der Fußball erscheint rückblickend nachvollziehbarer, berechenbarer, langsamer. Kurz gesagt: schaut man sich heute eine ältere Aufzeichnung eines Fußballspiels an, kann man sich mitunter an dem ein oder anderen Ausnahmekönner erfreuen, die Subtilität und Schönheit des “einfachen” Fußballs bewundern oder sich langweilen, ob der Langatmigkeit. Standfußball, zuweilen. 

Es ist keine andere Sportart, die heute auf den Plätzen der Bundesliga gespielt wird. Aber der Sport hat sich gewandelt. Alles ist athletischer und schneller geworden. Die Bewegungsabläufe sind runder, die technischen Fähigkeiten besser. Der heutige Fußball wirkt, verglichen mit seinem älteren Ich, komplexer, schwerer durchdringbar. Die Torhüter stehen nicht mehr schreiend zwischen den Pfosten und warten darauf, dass der Mittelstürmer aufs Tor schießt. Die Torhüter leiten mit klugen Pässen die Angriffe ein und klassische Strafraumstürmer findet man schon lange nicht mehr in jeder Mannschaft. Auf dem Platz herrscht eine ungekannte Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die schwer zu erfassen ist. Was ist da los?

Wer Erklärungen für das sucht, was auf dem Platz passiert, dem bietet das Fernsehen die einfache Lösung. Schaltet man Sportschau und Co. ein, bekommt man oft einen Mix aus Unterhaltung, Küchenpsychologie und die auf einer eigenen Karriere im Profifußball beruhende “Expertenmeinung” präsentiert. Das ist leicht verdaulich für den Fernsehkonsumenten. Bloß nicht die Zuschauer überfordern. Würde man sich die Zeit nehmen, die Worthülsen zu überdenken, es bliebe vermutlich kaum etwas Zählbares übrig. Die Manifestation des Ganzen ist der sonntägliche Doppelpass. Zwei Stunden lang dürfen sich die Protagonisten launige Kommentare um die Ohren hauen: “Da stimmt die Einstellung nicht”.

Und auch Spieler und Verantwortliche verstecken sich nicht selten hinter leeren Worten. Jahrelanges Medientraining und die absurd anmutende Praxis des Field Reporting, also Interviews direkt nach dem Spiel, lassen die Profis Sätze sagen, auf die niemand gewartet hat: “Wir müssen jetzt nach vorn schauen…”

Das kann doch nicht der Kern des Fußballs sein. Es muss mehr dahinterstecken.

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Taktikanalyse – Fußball für Fortgeschrittene?

Wer nach anderen Erklärungen für die Niederlage seines Lieblingsklubs sucht, der wird seit ein paar Jahren fündig. Da starteten nämlich die ersten deutschsprachigen Websites, die sich explizit der Spielanalyse und Taktik widmeten. Daraus hat sich eine Art Gegenkultur zur Spielanalyse, wie man sie aus den Massenmedien kennt, entwickelt. Weiche Faktoren spielen bei den Analysen selten eine Rolle. Es geht nicht um Formtiefs, einen schlechten Lauf oder fehlende Gier auf Erfolg, wie sie so oft beschworen wird. Im Mittelpunkt steht die Formation, mit der eine Mannschaft aufläuft, die Bewegungen und das Verhalten der Spieler auf dem Platz.

Was man augenscheinlich als Nischenthema einordnen würde, ist auf dem Weg in den Mainstream. Spielverlagerung.de, die Vorreiter in Deutschland in diesem Themenfeld sind längst kein reines Hobbyprojekt mehr. Mehrere hundertausend Interessierte besuchen die Seite monatlich, damit ist man zwar weit entfernt von ausgewachsenen Onlinemagazinen mit finanzstarkem Verlag im Hintergrund, aber der Sportblogosphäre ist man damit deutlich entwachsen. In den Foren wird leidenschaftlich diskutiert. Es ist ein kleiner Kult entstanden, um die Spielanalyse. Wortneuschöpfungen sind an der Tagesordnung. Die Beiträge auf den einschlägigen Websites lesen sich manchmal wie in einer speziellen Insidersprache abgefasst. Sehr sachlich, das Geschehen auf dem Platz beschreibend, die Emotionen außen vor lassend. Sie sind die Vulkanier unter den Fußballberichterstattern.

Alles wird bis ins Detail analysiert. Als ich das erste Mal von kühlen Analysen, ganz ohne Blabla und Befindlichkeitssprech erfuhr, war ich begeistert. Genau das Richtige für einen emotionsvermeidenden Pragmatiker wie mich. Ich wollte mich einarbeiten in die Materie, Taktik verstehen, um dem Fußballkonsum noch mehr Unterhaltung abgewinnen zu können. Jedoch, ich scheiterte. Ein ums andere Mal. Ich biss mir die Zähne aus an den Erläuterungen. Den Ausführungen konnte ich immer nur für ein paar Zeilen folgen, danach verlor ich mich in den Spezialvokabeln. Ich zweifelte. An mir selbst, aber auch an den Analysen.

Bin ich zu doof, Fußball zu verstehen oder interpretieren die Analysten da etwas, wo es gar nichts zu interpretieren gibt? Einzelne Passagen hinterließen bei mir den Eindruck, dass sie zwar das Geschehen auf dem Platz schilderten, aber keinen Mehrwert lieferten. Wissen die Jungs auf dem Platz wirklich wie und wo sie sich bewegen?

Ein paar Beispiele:

Die Kraichgauer standen defensiv zunächst in einem herkömmlichen 4-4-2, verdichteten dann aber in der zweiten Phase des Verteidigungsvorgangs die Mitte, was durch die flexiblen Mannorientierungen im Zentrum sehr klassisch ausgeführt wurde.

FCB VS. TSG, 31.1.16

 

Der ballnahe Sechser sollte für den Flügelstürmer absichern und die Passoption auf den ballnahen Achter versperren, der Zehner orientierte sich wiederum am Stuttgarter Sechser und der ballferne Sechser besetzte die Mitte.

VFB VS. HSV, 30.1.16

 

Nachdem die beiden Sechser in den ersten Minuten bei Offensivversuchen noch – abgesehen von kleineren Flügelrochaden – sehr passiv geblieben waren und keine gute Rückraumbesetzung gezeigt hatten, kamen im weiteren Verlauf zunehmend aufmerksame und vielseitige Herausrückbewegungen, die mit gutem Timing die Tiefensicherung organisierten.

Wolfsburg vs. Eintracht, 25.1.16

Ich weiß, aus dem Zusammenhang gerissen, aber man versteht worauf ich hinaus will. Wenn man jeder Bewegung eine Bedeutung beimisst, klingt das für mich auch immer ein bisschen so, als wollte man aus dem Runden das Eckige machen.

Schließlich ist der Zufall ein entscheidendes Element im Fußball. Der Ball ist ein wankelmütiger Gesell. So detailliert die Matchpläne der Trainer auch sein mögen, entscheiden die Spieler doch letztendlich selbst, wohin sie laufen und passen. Und das Spielgerät folgt auch nicht immer exakt der Intention, mit der es von einem Spieler auf den Weg geschickt wird. Die Wege von 22 Protagonisten lassen sich wohl kaum planen, auch in Anbetracht dessen, dass sich beim Fußball potentiell jeder Spieler auf dem Platz hinbewegen kann, wo er will.

Die Schwergewichte der Fußballbranche versuchen den Zufall zu eliminieren. Sie kaufen die technisch besten Spieler zusammen, die schlafwandlerisch mit dem Ball umgehen und denen selten Fehler unterlaufen. Sie setzen auf eine durchorganisierte breitgefächerte Jugendarbeit, damit alle Jugendspieler die gleichen Fähigkeiten mitbringen und flexibel einsetzbar sind. Die Konkurrenz soll durch wirtschaftliche Überlegenheit ausgebootet werden, sodass die besten Spieler im eigenen Kader akkumuliert werden können. Die Taktik auf dem Platz dient selbstverständlich auch der Minimierung des Zufalls, aber es kann doch nicht jede Bewegung geplant sein. Was nützt es dann, so detailliert zu analysieren? Suggeriert mir die Taktikanalyse die Erklärung des nicht Erklärbaren?

Ich möchte der Taktikanalyse nicht ihre Daseinsberechtigung absprechen, aber sie befriedigt, zumindest sekundär, noch eine ganze Reihe anderer Gelüste. Schließlich kann man sich als Taktikkenner im Besitz eines Wissensvorsprungs wähnen und sich vom restlichen Fußballzirkus abgrenzen. Nicht umsonst wird den Taktikfreunden auch das Prädikat “Hipster” oder “Nerd” angehängt. Die Taktikanalyse als Nische bzw. Subkultur für Fußballkonsumenten, die mit den üblichen fankulturellen Ausschweifungen nichts anfangen können.

Kann man den Taktikanalysten Klugscheißerei unterstellen oder ist das eine Schutzbehauptung der Unwissenden (wie mir), weil ich mit den Analysen überfordert bin und mich nicht näher damit beschäftigen möchte?

Die Taktikanalyse treibt mitunter seltsame Blüten. Mir wurden schon Tweets in die Timeline gespült, in denen Spielern in 5-sekündigen Videoschnipseln für diese oder jene im Bruchteil einer Sekunde vorgetragene Körperzuckung und dem sich daraus eröffnenden Raum gehuldigt wird. Kontextbefreiter Molekularfußball. Fakt ist, wir können das inzwischen. Man kann sich heutzutage noch den uninteressantesten Kick über die volle Länge ansehen. Bei den wichtigen Spielen fangen unzählige Kameras das Geschehen aus allen Perspektiven ein. Jede Szene kann man sich, ausreichend Zeit vorausgesetzt, ansehen, so oft man möchte. Echtzeitstatistiken bilden den Fußball in Zahlenkolonnen ab. Doch nur weil wir all diese Informationen konsumieren können, muss das nicht heißen, dass sich damit der Fußball besser erklären lässt.

pfeil2

Wie viel Taktik steckt im Fußball? Ein Selbstversuch.

Ich will versuchen herauszufinden, wo die Grenze ist zwischen “jetzt verstehe ich den Fußball besser” und “kann man so machen, aber jetzt kapiere ich überhaupt nichts mehr”.

Ich starte einen Selbstversuch. Ein Bundesligaspiel will ich mir in voller Länge einzig und allein mit dem analytischen Auge ansehen. Ich will versuchen zu sehen, was die Taktik-Experten sehen und dann vergleichen inwieweit sich meine Beobachtungen mit denen der Spezialisten decken.

Ich beginne zumindest nicht ganz bei Null – Fußball konsumiere ich seit 20 Jahren und in meiner Jugend habe ich das Einmaleins des Spielens erlernt. Zehn lange Jahre trat ich mehrmals wöchentlich zum Training an und musste auch das ein oder andere Mal vor einer Taktiktafel Platz nehmen. Hängengeblieben ist davon jedoch erstaunlich wenig, vor allem was die praktische Umsetzung des Erlernten auf dem Platz anging. Aber ich bin nicht komplett pressing-renitent – soll heißen: ich gehe davon aus, dass ich die Grundzüge des Fußballs und seiner Taktik kenne – nur ob ich sie spielanalytisch zur Anwendung bringen kann? Zur Einstimmung lese ich noch den Grundkurs Fußballtaktik bei Spielverlagerung – nicht immer auf den Ball achten, Konzentration ist das A und O. Ich kann dem Ganzen einigermaßen folgen und muss erstmals bei Van Gaals Vier Phasen Modell grübeln. Ok verstanden.

Die Auswahl der Partie erfolgt willkürlich – ich muss an eine Aufzeichnung der Partie herankommen, es sollte ein Match sein, bei dem die Mannschaften sich einigermaßen auf Augenhöhe bewegen und es muss eine Vergleichsanalyse bei Spielverlagerung geben. Meine Wahl fällt auf Mainz – Gladbach, 19. Spieltag.

Es geht los, ich versuche mich zu konzentrieren – nicht immer nur auf den Ball schauen. Die Gladbacher wirken von Beginn an wie die Mannschaft, die sich vorgenommen hat, spielbestimmend zu sein. Die ersten Minuten sind ein Fehlpassfestival. Das ist dann wohl die “nervöse Anfangsphase” wie sie in herkömmlichen Spielberichten immer zitiert wird.

Im Spielaufbau der Mönchengladbacher erkenne ich ein Muster. Die Innenverteidiger verteilen den Ball auf die Außenverteidiger, dann kommt meistens schon ein langer Ball die Außenlinie entlang, der aber selten einen Abnehmer findet.

Die Gladbacher, so kommt es mir vor, greifen die Mainzer bei deren Ballbesitz früher, teilweise schon kurz vor dem Mainzer Sechzehner an – ich kann allerdings nicht erkennen, ob das nur in bestimmten Situationen, z.B. nach einem direkten Ballverlust, passiert.

Immer je ein Außenverteidiger der Gladbacher, meist der linke, rückt etwas höher auf beim Spielaufbau – ich sehe es, kann aber nicht sagen, warum – da geht mir die Erfahrung ab.

Die erste echte Torchance entsteht aus einer Ballstafette nach einem Einwurf. Die 2. Chance nach einer Ecke. Das waren aus meiner Sicht keine von langer Hand geplanten strategischen Schachzüge, eventuell einstudierte Spielzüge, die da zur Anwendung kamen.

Bei Gladbacher Ballbesitz erkennt man bei den Mainzern sehr deutlich das 4-4-2. Die beiden Viererketten der Mainzer stehen eng beieinander. Das ist dann wohl diese Kompaktheit von der immer die Rede ist.

Mönchengladbach versucht seine Angriffe über außen vorzutragen, wobei die Außenstürmer Flanken vermeiden und probieren, sich vor das Tor zu kombinieren – das ist mäßig erfolgreich. Ich denke an meine Erfahrungen auf dem Fußballplatz. Wenn ich als Außenverteidiger mit dem Ball auf dem Flügel auf Höhe des Sechzehners angekommen war? Flanken!

Linkliste Taktikanalysen

In dieser Linkliste haben wir eine Reihe deutschsprachiger Taktikblogs zusammengestellt.

Spielverlagerung.de – das Autorenteam veröffentlicht täglich aktuelle Analysen aber auch Trainer- und Spielerporträts sowie Texte zur Taktiktheorie

Aktueller Beitrag:

Die Autoren bei Twitter: @Spielvrlagerung /  /
 /  /  /  /  / @MomoFalco

Ballverliebt.eu – nicht nur auf Taktikanalysen hat sich das österreichische Team von Ballverliebt.eu spezialisiert. Neben Beiträgen zur heimischen Liga kommen auch Analysen zur deutschen Bundesliga oder aus England nicht zu kurz.

Aktueller Beitrag:

Die Autoren bei Twitter: @ballverliebteu / @schaffertom / @PEitzinger / @peorg

Konzeptfussballberlin.de – das Autorenteam veröffentlicht regelmäßig Taktikanalysen und Porträts. Die abgedeckten Ligen und Wettbewerbe sind mannigfaltig – hier finden sich auch mal Analysen aus Liga 2 und 3.

Aktueller Beitrag:

Die Autoren bei Twitter: @Konzeptfussbal1 / @KFCF7 / @NilsPoker / @Burrinho4 / @EduardVSchmidt / @AlexBelinger

Toorschuss.de – etwas boulevardesker kommt Toorschuss daher. Bei den Bundesliga-Analysen wird schon mal direkt gefragt, “Wie viel Schuld hat Schubert an der HSV-Pleite?”

Aktueller Beitrag:

Bei Twitter: @toorschuss

vfbtaktisch – ein Taktikblog rund um den VfB Stuttgart

Aktueller Beitrag:

Bei Twitter: @vfbtaktisch

Mia San Rot – ein Vereinsblog zum FC Bayern, das sich nicht nur mit Taktik sondern mit dem Verein als Ganzes beschäftigt.

Aktueller Beitrag:

Die Autoren bei Twitter: @miasanrot / @FelixHa18 / @rammc / @redrobbery / @jollinski / @Meyermit_ey / @DerBayernBlog / @kaesbrot

Niemalsallein – widmet sich ganz und gar Hannover 96 und veröffentlicht regelmäßig Taktikanalysen.

Aktueller Beitrag:

Bei Twitter: @niemalsalleinDE

Halbfeldflanke – hier dreht sich alles um Schalke 04

Aktueller Beitrag:

Bei Twitter: @Halbfeldflanke / @Karstenzio

Eiserne Ketten – ist das Taktikblog, das sich mit Union Berlin beschäftigt.

Aktueller Beitrag:

Bei Twitter: @eiserne_ketten

Und sonst so bei Twitter:

@halbraumrandale / @MomoFalco

Vorschläge zur Erweiterung der Liste gern in den Kommentaren oder via Twitter.

Bei Mainzer Ballbesitz fällt mir auf, dass wenig Verbindung zwischen Mittelfeld und Abwehr besteht – die Lücken sind zu groß und von Gladbachern zugestellt. Was mir auch auffällt – ich halte die Aufzeichnung an, um mir eine Notiz zu machen. Ich blicke auf den Bildschirm. Die Situation sieht aussichtslos aus. Die Mainzer haben den Ball, aber der Ballführende und alle Anspielstationen sind umstellt, das scheinen die Gladbacher gut zu machen. Ich lasse weiterlaufen. Fünf Sekunden später haben sich die Mainzer aus der Umklammerung befreit und sich eine Torchance erspielt – Standbilder sind trügerisch.

Im Spielaufbau lässt sich bei beiden Teams immer wieder ein Mittelfeldspieler situativ nach hinten fallen, um besser angespielt werden zu können. Situativ – auch so ein Wort. Ich frage mich: ist das intuitiv-situativ oder geplant-situativ? Beim Zuschauen macht das keinen Unterschied, beim Niederschreiben des Spielgeschehens ebenso wenig, aber ob es für das situative Zurückfallenlassen einen Plan oder einen bestimmten Trigger gibt, würde mich schon interessieren – ich erkenne erstmal keinen.

Die Gladbacher versuchen das Spiel zu kontrollieren, aber die Mainzer gewinnen mehr Zweikämpfe, der Phrasenautomat würde wohl ausspucken, dass die 05-er “wacher” sind und die Gladbacher “noch nicht im Spiel angekommen”.

21. Minute. Die Mainzer machen das 1:0. Gladbach verliert den Ball, von Mainz unter Druck gesetzt, an der Mittellinie. Jairo kommt an den Ball. Mit seiner Einzelaktion, einem Dribbling von links außen in die Mitte, zieht er vier Gegenspieler auf sich, die ihn nicht vom Ball trennen können. Jairo passt zu Clemens, der etwas unvermittelt aus zentraler Position schießt. Ein Flatterball. Yann Sommer im Tor der Gladbacher wirkt passiv – der sah haltbar aus. Ich kann mir vorstellen, dass das Vorgehen im Moment des Ballgewinns geplant war, aber das Danach. Kann ja nicht der Matchplan sein, aus mehr als 20 Metern abzuziehen und auf einen passiv-überforderten Keeper zu hoffen. Solcherlei kenne ich nur aus der Kreisklasse, wo die Torhüter des Gegners argwöhnisch beäugt und mit “da müsst ihr nur aufs Tor schießen” abgeurteilt werden.

Nach dem Tor gehen die Gladbacher früher drauf. Sie scheinen in einen aggressiveren Modus gewechselt zu sein. Am Mainzer Spiel fällt mir auf, dass dort eher mal zur Flanke gegriffen wird. Gladbach hat weiterhin mehr Ballbesitz, erreicht aber wenig Zählbares. Immer noch werden viele lange Bälle geschlagen, die meist von den Mainzern erkämpft werden.

Der nächste größere Aufreger ist ein kleiner Zupfer an Hofmann im Strafraum der Mainzer, der gerade versucht einen nicht erlaufbaren Pass zu erlaufen. Kein Elfmeter. Hätte der Schiedsrichter anders entschieden – dieser Zufall hätte den Spielverlauf konterkariert.

Nun muss Karius das erste Mal ran nach einem Gladbacher Konter, der trotz Unterzahl der Grünen gut zu Ende gespielt wurde. Gladbach erspielt sich zwei weitere Chancen nach einem Freistoß und einer Einzelaktion von Stindl.

Die nächste gefährliche Aktion nach einem Freistoß. Das nächste Mal erobert Mainz den Ball wieder an der Mittellinie und erarbeitet sich eine Torchance. Ich kann nicht sagen, warum sich Gladbach nun mehr Chancen erspielt, vieles wirkt zufällig, die langen nutzlosen Bälle vom Anfang sieht man zum Ende der ersten Hälfte seltener. Die Mainzer machen ihre Sache gut, finde ich. Sie spielen geradlinig und sind zweikampfstark. Plus, sie haben ihre Chancen besser genutzt, obwohl das Tor in Anbetracht der Entfernung keine hochkarätige Chance war.

Halbzeit. Ich erkenne das große Ganze und ein paar Besonderheiten. Bewegungsmuster – schwierig. Formationsveränderungen – puh. Als Taktikanalyst sähe ich wohl keinen Stich. Zum tickernden Aushilfsvolontär würde es vielleicht noch reichen. Ich brauche einen Kaffee.

2. Halbzeit und zunächst das gleiche Bild, aber die Pässe der Außenverteidiger an der Außenlinie entlang, meist über die linke Seite, finden oft keinen Abnehmer. Die erste Torgefahr entsteht eher zufällig nach einem Ballgewinn nach Einwurf.

Jetzt erst fällt mir auf, wie aggressiv die Mainzer einzelne Spieler der Gladbacher umstellen – Raffael bekommt Dreifachbewachung und das merkt man. Am Ende wird er keinen Torschuss abgegeben und nur eine Torschussvorlage beigesteuert haben.

Die Mainzer ziehen sich jetzt öfter die Stutzen hoch. Bälle werden vor Freistößen sehr akkurat ausgerichtet. Das dauert. Schön, dass es das noch gibt. Von der Kreisklasse bis in die Bundesliga existieren diese kleinen Versatzstücke seit mehreren Jahrzehnten – die Zeitschinderei, mag dem ein oder anderen ein Dorn im Auge sein, ich sehe sie als ein verbindendes generationen- und klassenübergreifendes Spielelement.

Traore, von dem man zu Beginn viel gesehen hat, geht runter. Hazard kommt und wechselt die Seite. Auch scheint er situativ mehr vom Flügel ins Zentrum zu rücken bei Angriffen der Gladbacher. Johnson bewegt sich dafür öfter mal aus dem Zentrum auf den Flügel.

Es folgen weitere Auswechslungen, die ich aber aufgrund fehlender Kenntnis der Spieler schwer einordnen kann. Trotz Führung behält Mainz seinen Spielstil bei und zieht sich nicht weiter zurück. Die nächste große und vermutlich größte Chance der Gladbacher ergibt sich nach einem Einwurf und einem schnellen Seitenwechsel. Aus dem Spiel heraus finden solche Flügelwechsel selten statt.

Immer, wenn Mainz sich in seinen zwei Viererketten positionieren kann, gibt es für Gladbach kaum ein Durchkommen. Die Zusammensetzung der Ketten verändert sich je nach Situation – das fällt mir erst nach über einer Stunde auf.

75. Minute – ein Mainzer sucht das erste Mal den Weg Richtung Eckfahne. Die Taktik der Mainzer im Angriffsspiel würde ich als Unsortiertheitvermeidungstaktik beschreiben. Das Team sucht lieber den schnellen, manchmal überhasteten, Abschluss und legt nicht unnötig quer. Sollen so Ballverluste im Angriff vermieden werden? Und folgte Clemens auch dieser Maxime, als er das Tor erzielte. In der Verteidigung legen die Mainzer eine energische Zweikampfführung an der Grenze des Erlaubten an den Tag – der Phrasenautomat würde wohl ausspucken: Mainz zielstrebig, Gladbach fahrig.

Drmic kommt für Korb – das ist jetzt wohl eher ein verzweifelter “Alle nach vorn” Move.
Mainz erspielt sich noch eine Riesenchance, wieder nach einem Ballgewinn an der Mittellinie. Gladbach kommt nochmal nach einem Freistoß vors Tor.

Die Mainzer sind von Verletzungen geplagt. Sampero bekommt just vor seiner Auswechslung einen Krampf. Schlimm. Die Gladbacher belagern noch ein paar Minuten das Tor, aber das war’s. Mainz gewinnt, wie ich finde, nicht unverdient. Bei den Gladbachern konnte ich kein durchschlagendes Konzept erkennen, sich Chancen herauszuspielen. Die Mainzer haben diszipliniert und gut verteidigt und über Konter ständig Gefahr erzeugt. Eine tiefentaktische Analyse sieht anders aus. Aber ich habe es geschafft, das Spiel etwas analytischer zu rezipieren. Das Gemecker der Spieler, die Emotionen auf dem Platz, ließen sich ausblenden, ein paar Muster habe ich erkannt und hier beschrieben. Aber was jetzt der Gladbacher Plan war und warum er nicht funktioniert hat – keine Ahnung. Wer wann wohin aus der Formation herausrückte um dies oder jenes zu tun – keine Idee. Viele der Situationen, in denen Torgefahr entstand, erschienen mir zwar nicht vollends zufällig, aber eben auch nicht wie auf einem Masterplan basierend.

Jetzt wird abgerechnet. Ich vergleiche meine Wald-und-Wiesenanalyse mit der Einschätzung der Taktikspezialisten

Ich verstehe kein bisschen von Fußballtaktik. Zu diesem Schluss komme ich nach der Lektüre bei Spielverlagerung. Einsteiger-Guide hin. Erfahrung auf dem Platz her. Den Aspekt, den ich kein bisschen erfassen konnte, widmet sich die Betrachtung bei Spielverlagerung fast ausschließlich – der Formation. Autor RM vertritt eine zu meiner Analyse konträre Auffassung:

Gladbach spielte grundsätzlich sehr gut mit dem Ball.

Die weiteren Beobachtungen des SV-Manns kann ich erstmal nachvollziehen – das habe ich auch gesehen, vor allem fehlende “Erfolgsstabilität […] in den vorderen Zonen”, wenn ich das richtig verstehe.

Das Mainz mit seinem Pressing das Spiel der Gladbacher nach außen lenkte, darüber würde ich eventuell sogar eine Diskussion mit einem Taktikpapst anfangen – Stichwort: Ursache und Wirkung. Die Analyse erläutert weiter welche Passwege von den Mainzern zugestellt wurden und die Bogenläufe sowie weitere Kapriolen der Flügelstürmer. Ich komme mir vor, als hätte ich nur einen kleinen Ausschnitt dessen gesehen, was RM gesehen hat. Mein Bildschirm muss bis auf ein kleines Quadrat um den Ball herum abgeklebt gewesen sein. Ein paar Parallelen in den Beobachtungen kann ich noch erkennen, aber den Knackpunkt, nämlich warum Gladbachs Ballbesitz nicht zum Erfolg führte, hat der SV-Mann besser beschrieben bzw. überhaupt erstmal mit seiner Analyse eingekreist:

Gladbach konnte in tieferen Zonen nie den freien Spieler finden, weil Mainz gut übergab und eine gute Mischung im Deckungsverhalten hatte. In vorderen Räumen fehlte es wiederum an den nötigen Staffelungen und Mainz stellte immer wieder Überzahl her; auch dank der hervorragenden Mitarbeit der Stürmer.

Ich konnte beim Analysieren zwar ein paar der üblichen Dinge ausblenden, aber nicht alle. Wo ich den Mainzer Erfolg in der Zweikampfführung begründet sehe, sieht RM gute Mitarbeit der Mainzer Stürmer und gutes Deckungsverhalten. Damit ist er wohl näher an der Wahrheit als ich mit meiner Zweikampfhypothese. Denn wer nicht gut gestaffelt nah am Gegner ist, kommt nicht in den Zweikampf. Vor allem nicht gegen Spieler wie Raffael. Ich hätte mir etwas mehr Selbsterkenntnis von meinem Versuch erwartet. Nachdem ich das Spiel in Gänze gesehen und zumindest versucht habe, mit dem analytischen Auge hinzusehen, kann ich die SV-Analyse besser nachvollziehen als sonst.

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Nachgefragt bei den Taktikspezialisten

Aber wenn es in diesem Text schon um die Taktikanalyse geht, dann soll nicht nur ich, der taktikblinde Laie zu Wort kommen sondern auch einer, der etwas davon versteht. Nach meinem Selbstversuch und mit meinen bisherigen Eindrücken, formuliere ich ein paar Hypothesen und Fragen, die ich Tobias Escher stelle, einem der Gesichter hinter spielverlagerung.de und eine der Koryphäen im deutschsprachigen Raum.

120minuten: Wie behält man beim Analysieren einer Liveübertragung den Überblick? Insbesondere was die Positionierung und Laufwege der einzelnen Spieler angeht.

Tobias Escher: “Das ist letztlich in “normalen” Situationen gar nicht so schwer. Plötzliche oder wirre Laufwege kommen im Profifußball nur noch höchst selten vor. Oft sind es Muster, die sich wiederholen, gerade im Spiel der Defensive. Und diese Muster erkennt man irgendwann.”

120: Zu wie viel Prozent passiert das, was auf dem Rasen vor sich geht, unwillkürlich? Erkennt man immer, dass die Spieler auf dem Platz mit ihren Bewegungen, ihrer Positionierung und ihren Laufwegen einem größeren Plan folgen (wollen)?

TE: “Willkürlich und unwillkürlich sind keine guten Kriterien für eine Analyse. Letztlich ist der Anspruch einer Taktikanalyse, keine Kaffeesatzleserei ala “Die Spieler waren nicht motiviert” zu betreiben. Ob Sane am vergangenen Wochenende nun mehrmals vom rechten Flügel in den Strafraum gesprintet ist, weil Breitenreiter ihm das gesagt hat oder weil er selber das geplant hatte oder weil auf seiner Seite ein Hornissennest war und er davon weglief, kann ich nicht erklären. Ich kann nur sagen: Sane lief in die Schnittstelle, die Gegenspieler kamen nicht hinterher, Meyer bediente ihn, Sane war durch diesen Laufweg an zwei Toren beteiligt. Daher kann ich auch keine Prozentzahl sagen, wie viel geplant und wie viel Zufall ist – es wäre Kaffeesatzleserei. Fakt ist: Jede Aktion provoziert eine Reaktion, und darum dreht es sich bei einer Taktikanalyse.”

Der Fußball in der Vergangenheit war nicht so unkomplex, wie er manchmal dargestellt wird.

Tobias Escher

120: Gibt es Partien, die nicht analysierbar sind?

TE: “Es gibt Partien, in denen Taktik eine wichtigere Rolle spielt, und es gibt Partien, in denen Taktik eine unwichtige Rolle spielt. Gerade bei Partien aus der Vergangenheit gab es häufig den Fall, dass ein Team nach 60, 70 Minuten offensichtlich körperlich am Ende war. Das hatte natürlich wiederum taktische Folgen, aber niemand würde behaupten, die Taktik habe das Spiel entschieden. Es geht eher in die andere Richtung: Es gibt Partien, die sind so komplex, da hat man Probleme, mitzuhalten.”

120: Ständiges Herausrücken, Zurückfallenlassen und situatives Pendeln – hat die taktische Grundformation (noch) eine große Bedeutung? Oder ist Fußballtaktik inzwischen Einzelfallmanagement?

TE: “Einzelfallmanagement ist ein schönes Wort. Die Grundformation ist in der Tat nur ein Richtwert. Letztlich kommt es darauf an, wie dieser Richtwert interpretiert wird.”

120: Ist der Fußball heute um ein Vielfaches komplexer als noch vor, sagen wir, 30 Jahren oder lässt er sich durch die vielen neuen Statistiken, Kamerawinkel und permanente Liveübertragungen einfach nur besser einfangen? Macht die Komplexität des heutigen Fußballs die tiefgründigen Analysen notwendig oder macht der Stand der Technik die Analysen erst möglich?

TE: “Ja und nein. Der Fußball in der Vergangenheit war nicht so unkomplex, wie er manchmal dargestellt wird. Die Trainer haben sich schon in den 50ern und 60ern viele Gedanken gemacht, welche Spieler sie aufstellen und welche Formationen sie wählen. Mit den steigenden athletischen und auch finanziellen Möglichkeiten vervielfacht sich aber auch die Möglichkeit für die Trainer, ihr Team zu beeinflussen. Man kann heute, dank mehr Trainingseinheiten und besserer Leistungsdiagnose, viel stärker ins Detail gehen, als es früher der Fall war.”

120: Wohnt der Taktikanalyse auch eine Bedeutung inne, mit der sich Fußballfans identifizieren können? D.h. siehst du darin eine Art Subkultur der sachlichen Analyse, um sich gewissermaßen vom teils emotionsgeleiteten Fantum und mitunter tendenziöser Berichterstattung abzugrenzen?

TE: “Ja, ja und ja. Fußball ist omnipräsent mittlerweile, und das sieht man auch an den vielen verschiedenen Formen, in denen über Fußball berichtet wird. Manch einer schaut fünfmal täglich auf Transfermarkt.de – der andere will lieber Taktikanalysen lesen.”

120: Gibt es eine Grenze der Interpretation – d.h. Dinge, die du zwar auf dem Platz erkennst, jedoch nicht analysierst, weil sie zu kleinteilig und zufällig sind?

TE: “Man könnte jedes Spiel sehr kleinteilig analysieren, verliert sich dadurch aber oft im Detail. Manche Kollegen machen das, ich mache das eher ungerne. Zufall ist aber, wie gesagt, keine Komponente – selbst der Zufall hat ja Auswirkungen in taktischer Hinsicht.”

Wo ist die Grenze zwischen Interpretation und Überinterpretation?

Der Zufall ist immer präsent. Taktikanalysen für hinfällig zu erklären, weil es den Zufall auf dem Platz gibt, ist kein Argument. Schließlich bedeutet Taktik auch, dem Zufall auf die Sprünge helfen. Indem sich die Spieler in bestimmten Situationen in definierte Zonen bewegen, wird es wahrscheinlicher, dass sie an den Ball kommen oder den Gegner in einen Zweikampf zwingen können.

Die Neu- und Andersartigkeit der detaillierten Taktikanalyse macht Sie zu etwas Besonderem. Sie erlaubt eine Abgrenzung von herkömmlichen und oft eindimensionalen Erklärmustern. Aber: Sie ist nur ein Teil der Erklärung – nicht DIE Erklärung. Die analytische Herangehensweise ist eine Möglichkeit Fußball anders zu konsumieren, reduziert auf den Kern des Spiels. Ich kann verstehen, dass man daran Gefallen finden kann. Mir fehlt allerdings etwas, wenn ich mich nur auf Bewegungen, Formationen und Anlaufverhalten konzentriere – vielleicht weil ich es nicht komplett durchschaut habe. Eine Taktikanalyse kann helfen, das Geschehen auf dem Fußballplatz zu verstehen. Kritik die den Analysten und ihren Lesern entgegenschlägt, und da möchte ich mich nicht ausnehmen, kann auch darin begründet sein, dass die Kritiker die Analysen ganz einfach nicht verstehen und sich bevormundet fühlen. Und zwar dahingehend, dass jemand kühl ihr heißgeliebtes Lieblingsspiel in seine Einzelteile zerlegt, gewissermaßen entzaubert und suggeriert, es besser zu verstehen, als man selbst.

Der Vorwurf der Überinterpretation, den ich hier ebenfalls ins Feld geführt habe, ist nicht neu. Das Argument, dass Taktikanalyse nun mal einfach beschreibt “was ist”, egal ob auf dem Platz gewollt oder nicht, kann ich akzeptieren. Die Unwillkürlichkeit der Ereignisse ist integraler Bestandteil des Fußballs. Was mein eigenes Verständnis des Spiels angeht, bleibe ich skeptisch, bis zu welchem Grad eine Analyse ein Match aufdröseln kann, um mir noch einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu liefern. Das mag zum einen an meiner Unkenntnis liegen, aber vielleicht auch ein bisschen daran, dass sich im Fußball nicht alles planen lässt.

Update - eine Replik von RM
RM von Spielverlagerung hat sich kurz nach der Veröffentlichung dieses Texts mit dem Autor in Verbindung gesetzt und eine treffende Replik formuliert, die bei Spielverlagerung.de zu finden ist:

Eine Analyse der Analyse der Taktikanalyse

Danksagung: Besonderer Dank geht an Tobias Escher für die Beantwortung unserer Fragen, RM für seine umfassende Replik und an @halbraumrandale für die Unterstützung bei der Zusammenstellung der Linkliste.

 

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https://120minuten.github.io/taktik-ist-ueberbewertet/feed/ 12 1893
László Kubala, “Erbauer” des Camp Nou. https://120minuten.github.io/laszlo-kubala-erbauer-des-camp-nou/ Tue, 01 Dec 2015 19:01:51 +0000 https://120minuten.github.io/?p=1836 Weiterlesen]]> Spielverlagerung ist die deutschsprachige Anlaufstelle für alle Fußballtaktik-Begeisterten. Dort erscheinen aber auch immer wieder Porträts von Fußballern und Trainern, die tiefe Einblicke in den Werdegang herausragender Fußball-Persönlichkeiten liefern. Im Dezember 2015 ließ es sich das SV-Team nicht nehmen, täglich ein Porträt zu veröffentlichen.

Im ersten Text dieser Reihe widmet sich Constantin Eckner László Kubala. Der Ungar war die prägende Figur des FC Barcelona der 50er-Jahre. Das Porträt verrät, wie er in Katalonien landete und warum er auch als “Erbauer” des Camp Nou bezeichnet wird.   

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In-Depth-Spieleranalyse: Manuel Neuer https://120minuten.github.io/in-depth-spieleranalyse-manuel-neuer/ https://120minuten.github.io/in-depth-spieleranalyse-manuel-neuer/#respond Wed, 24 Dec 2014 11:27:39 +0000 https://120minuten.github.io/?p=698 Weiterlesen]]> Rene Maric mit einer ausführlichen Analyse von Manuel Neuer. Ein Traum für jeden Taktik- und Zahlenfreund. Mit mehr als 12.000 Wörtern beschreibt er den Spielstil und die Stärken des Bayern-Torhüters und belegt damit die Extraklasse seines Spiels. Den Leser erwartet eine ganze Reihe von Statistiken und die Wortneuschöpfung “Umschaltmomentdestabilisationsverlängerungen”.

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Eine Abrechnung: Die Probleme des englischen Fußballs https://120minuten.github.io/eine-abrechnung-die-probleme-des-englischen-fussballs/ https://120minuten.github.io/eine-abrechnung-die-probleme-des-englischen-fussballs/#respond Tue, 18 Nov 2014 16:15:36 +0000 https://120minuten.github.io/?p=647 Weiterlesen]]> Wirtschaftlich macht der Premier League niemand etwas vor. Auf sportlicher Ebene ist der englische Fußball in Europa aber nicht die allererste Adresse. Die Taktikexperten von spielverlagerung begeben sich auf Spurensuche und beleuchten Defizite in der taktischen Ausrichtung bei Teams von der Insel und deren Ursachen.

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Passspiel nicht als Selbstzweck https://120minuten.github.io/passspiel-nicht-als-selbstzweck/ https://120minuten.github.io/passspiel-nicht-als-selbstzweck/#respond Thu, 21 Aug 2014 17:39:44 +0000 https://120minuten.github.io/?p=376 Ein langes Interview mit DFB-Mann Frank Wormuth bei spox zu den taktischen Trends bei der WM 2014.

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