Die Fußball-WM in Russland wirft ihre Schatten voraus. Ab 14. Juni wird sich wieder fast alles um Fußball drehen. Und das überall auf der Welt. Während im Vorfeld einer WM häufig über die negativen Seiten des Turniers gesprochen wird, dominieren während der Weltmeisterschaft die Spiele und Emotionen. Fast jedes Spiel schreibt eine Geschichte, die irgendwo auf der Welt noch lange erzählt wird. Und jede WM liefert Momente, die sich in das kollektive Gedächtnis einer Nation einbrennen. Wir haben Menschen auf der ganzen Welt gebeten, uns ihre persönlichen WM-Erinnerungen und besondere Fußball-Storys aus ihren Ländern zu schicken. Herausgekommen sind 32 von der Welt erzählte WM-Geschichten.
Mit einem Klick auf das jeweilige Land geht es direkt zum entsprechenden Beitrag. Bei den Texten, die uns in englischer Sprache erreicht haben, finden sich die Original-Versionen in einer Klappbox unter unserer deutschen Übersetzung.
Gruppe A |
Gruppe B |
Gruppe C |
Gruppe D |
Russland |
Portugal |
Frankreich |
Argentinien |
Saudi-Arabien |
Spanien |
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Ägypten |
Marokko |
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Kroatien |
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Iran |
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Gruppe E |
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Gruppe G |
Gruppe H |
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Deutschland |
Belgien |
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Schweiz |
Mexiko |
Panama |
Senegal |
Costa Rica |
Schweden |
Tunesien |
Kolumbien |
Serbien |
Republik Korea |
England |
Japan |
Russland – Das Problem der Größe
von Katrin Scheib (@kscheib)
Egal, ob man selber zur Fußball-Weltmeisterschaft nach Russland reist oder sie nur im Fernsehen verfolgt: Von der Größe Russlands bekommt man dabei nur ein unvollständiges Bild. Jekaterinburg, der östlichste Austragungsort, liegt rund zwei Flugstunden von Moskau entfernt. Um zum anderen Ende Russlands zu kommen, nach Wladiwostok am Pazifik, muss man noch einmal sechs Flugstunden dranhängen. Warum das WM-Zuschauer interessieren sollte? Weil diese riesigen Distanzen den Fußball in Russland prägen.
Ein Blick auf die FNL, die zweite russische Liga: Wer von den Spitzenclubs aus Krasnojarsk, Orenburg oder Samara in der Tabelle runterscrollt, stößt erst auf Baltika Kaliningrad und dann, nach weiterem Scrollen, auf Lutsch-Energija Wladiwostok. Luftlinie liegen zwischen den beiden Städten mehr als 7000 Kilometer. Anders gesagt: Fans aus Wladiwostok, die ihr Team zum Auswärtsspiel in Kaliningrad begleiten wollen, müssen mit mindestens zwölf Flugstunden rechnen, in eine Richtung. Ein Schalke-Fan würde es im selben Zeitraum nach Dortmund und zurück schaffen – zu Fuß.
Gibt es Fans, die sich diese Ochsentour antun? Vergangenes Jahr ist ein britischer Journalist dieser Frage nachgegangen und hat tatsächlich ein paar versprengte Lutsch-Fans im Kaliningrader Stadion gefunden. Dort sahen sie ein Spiel, das torlos endete. Kein allzu großer Anreiz in einem Land, wo selbst Erstligavereine regelmäßig Probleme haben, das Stadion vollzukriegen.
Wenn die langen Reisen für Fans kostspielig und zeitraubend sind, sind sie für die Clubs sogar existenzbedrohend. Das gilt vor allem in der zweiten Liga, wo die Sponsoren nicht gerade im Rudel vor der Tür zum Vereinsheim stehen und warten, dass sie endlich jemand reinlässt. Mit einem Zweitliga-Budget ständig lange Flugreisen und Unterkünfte am Spielort bezahlen zu müssen, brachte Lutsch-Energija Wladiwostok immer wieder in finanzielle Nöte, Spieler mussten auf ihre Gehälter warten.
„Während des Spiels vergessen die Fußballer die Schulden, aber sie haben Familien, sie haben Kinder,“ brachte es Trainer Oleg Weretennikow 2015 auf den Punkt. Nach einem Auswärtsspiel in St. Petersburg sagte er, die Mannschaft mache sich nun auf den Heimweg, ohne zu wissen, wie es dann weitergehe: „Wir fliegen jetzt nach Wladiwostok und wissen nicht, wo das Team dort dann ansässig sein wird. Da, wo die Mannschaft bisher ihre Basis hatte, sind wir rausgeworfen worden.“
Raus aus der Komfortzone
Es gibt Vereine, die sich angesichts der drohenden logistischen und finanziellen Probleme gegen einen Aufstieg in die FNL entscheiden, auch wenn er ihnen der Leistung nach zustände. Andererseits ist der Weg durch die zweite in die erste Liga die einzige Chance, sich auch regelmäßig mit ausländischen Clubs zu messen und so im Idealfall die eigene Leistung zu verbessern. Denn auch das ist ein Problem des russischen Fußballs: Er kocht zu sehr im eigenen Saft.
Aus dem aktuellen Kader der Nationalmannschaft sind gerade mal drei Spieler bei Vereinen außerhalb Russlands unter Vertrag: Wladimir Gabulow beim FC Brügge, Roman Neustädter bei Fenerbahçe Istanbul, Denis Tscheryschew beim FC Villareal. Zum Vergleich: Neun deutsche Nationalspieler sind derzeit außerhalb Deutschlands unter Vertrag. Neulich hat die russische Zeitung „Iswestija“ Oliver Kahn interviewt, der Mann war voll des Lobes für Russlands Nationaltorhüter Igor Akinfejew und sinnierte laut, warum der bisher nicht den internationalen Durchbruch geschafft hat: „Er muss sich die Frage stellen, wie weit er im russischen Fußball sein Potenzial realisieren kann. Um sich völlig zu entwickeln, muss er raus aus seiner Komfortzone.“
Komfort, das heißt für Russlands Spitzenspieler nicht nur, sich nicht mit einem fremden Land, einer fremden Sprache, einer fremden Spielkultur auseinandersetzen zu müssen. Komfort, das heißt auch ganz schlicht: Geld. Wo Zweitligavereine knapsen müssen, sind die Klubs der Premjer-Liga oft üppig ausgestattet, viele von ihnen sind im Besitz staatlicher Unternehmen oder sogar des Staates selbst. So gehört Zenit St. Petersburg der Gazprombank, Lokomotive Moskau – nur konsequent – der staatlichen russischen Eisenbahn. Besitzer des FK Rostow ist der Bezirk Rostow, Achmat Grosny gehört der Republik Tschetschenien.
Hinter solchen Eigentümern steckt einiges an Zahlungskraft – warum also ins Ausland wechseln, wenn dort nur eine Stelle als mittelwichtiger Spieler bei einem mittelstarken Verein mit mittelgutem Gehalt winkt? Das Ergebnis des mangelnden Austausches im Vereinsfußball mit anderen, stärkeren Ligen sieht man beim Blick auf die Nationalmannschaft und ihr FIFA-Ranking: Russland auf Platz 63, kaum ein WM-Teilnehmer schneidet schlechter ab. (Allerdings ist das Ranking auch so ausgelegt, dass es Turnier-Gastgeber benachteiligt.)
Was tun also, um die beiden Grundprobleme des russischen Fußballs anzugehen? Was hilft gegen endlose Anreisen zu Spielen und gegen überbezahlte Spieler? Sollte man die Liga in regionale Konferenzen und Divisionen aufteilen wie beim Eishockey? Die Gehälter deckeln? Es sind Fragen, die Russland und seinen Fußballfans über die WM hinaus erhalten bleiben werden.
Zur Person: Katrin Scheib ist Journalistin und lebt in Moskau. Unter kscheib.de bloggt sie über ihren Alltag in Russland und veröffentlicht einmal pro Woche den „Russball“-Newsletter mit Informationen rund um den russischen Fußball und die WM-Vorbereitungen.
Saudi-Arabien – Zur WM im Wandel
von Wael Jabir (@waeljabir)
Wenn am 14. Juni das Eröffnungsspiel angepfiffen wird, wird es das erste Mal sein, dass eine asiatische Mannschaft beteiligt ist. Obendrein ist es für die 30 Millionen Saudis die lang ersehnte Rückkehr auf die große Fußballbühne. Die Grünen Falken waren vor 12 Jahren letztmalig Teilnehmer einer Weltmeisterschaftsendrunde, was bedeutet, dass viele Jüngere die WM-Geschichte ihres Landes nur via YouTube kennen. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie die ganze Nation 1994 im WM-Fieber war, als unser Land sich erstmalig qualifizieren und endlich an einer Endrunde teilnehmen konnte. Zu dieser Zeit hatte Saudi Arabien bereits zweimal die Asienmeisterschaft gewonnen und einige der besten Spieler trugen das grüne Trikot. Logischerweise machte uns die Qualifikation für die WM sehr stolz, wenn man bedenkt, dass unsere Nachbarn Iran, Irak und sogar das kleine Kuwait vor uns schon einmal an einer WM teilgenommen haben. Die Qualifikation ist eine Sache, aber das “wie” noch eine ganz andere. Saudi-Arabien hat sich 4:3 gegen den Rivalen Iran durchgesetzt, vor 40000 Zuschauern. Beim Turnier 1990 in Italien hatte Saudi-Arabien sogleich einen Andy-Warhol-Moment durch das Tor von Saeed Al Owairan, der die halbe belgische Mannschaft umdribbelte, bevor er abschloss. Übertroffen wurde dieses Tor nur durch das Spiel gegen Marokko, welches mit 2:1 geschlagen wurde. An einer WM teilzunehmen ist eines, doch gleich bei der ersten Teilnahme ein Spiel zu gewinnen, etwas ganz anderes. Es herrschte große Freude im Land.
Tor der Hoffnung
Mein persönlich bester WM-Moment ist und bleibt aber Sami Al Jaber bei der WM 2006, als er als Einwechselspieler ein Tor zum 2:2 gegen Tunesien machte. Im Alter von 34 Jahren war seine Zeit im Nationaldress abgelaufen. Sein Tor war aber dennoch ein Zeichen der Hoffnung für die Mannschaft und das Land. Die Hoffnungen wurden enttäuscht, denn in den folgenden Spielen gegen Spanien (0:1) und die Ukraine (0:4) gab es zwei Niederlagen und Al Jabers Tor war das letzte WM-Tor Saudi-Arabiens. Nach dem gelungenen Debüt 1994 kam die Ernüchterung 1998 und 2002, als man jeweils Gruppenletzter wurde. 2002 gab es eine herbe 0:8 Niederlage gegen Deutschland. Somit war 2006 die Hoffnung wieder da, leider wurde sie enttäuscht.
Umbrüche
Die WM 2018 in Russland kommt zu einer sehr kritischen Zeit, denn das Land durchläuft einen wirtschaftlichen und sozialen Wandlungsprozess und die Mannschaft erlebt eine sportliche Revolution. Erstmals in der Geschichte des saudischen Fußballs hat es ein Spieler geschafft, in einer der Topligen Europas zu spielen. Fahd Al Muwallad wurde im Spiel seines Clubs Levante gegen Espanyol eingewechselt. Der Defensivspieler Salem Al Dawsari stand für Villareal im letzten Ligaspiel gegen Real Madrid auf dem Platz. Der Transfer beider Spieler war Teil einer Abmachung zwischen dem saudischen Fußballverband und der spanischen Liga. Weitere Wechsel werden erwartet. Al Muwallad ist Saudi-Arabiens beste Hoffnung, in Russland ein Tor zu machen. Er kann auf dem rechten Flügel oder als zweite Spitze spielen. Den 23-jährigen zeichnet insbesondere seine Schnelligkeit aus. Im Play-Off gegen Japan erzielte er das Siegtor, welches die Teilnahme an der Endrunde besiegelte. Werft ein Auge auf ihn.
Zur Person: Wael Jabir ist Mitbegründer von AHDAAF – The Home of Middle Eastern Football in English.
Ägypten – Mo, der Pharao
von Omar Hassan
In der WM-Qualifikation 2018 gab es für die Ägypter sehr gemischte Gefühle, die Qualifikationssituation war tatsächlich eine cineastische, die so niemand erwartet hatte. Das letzte Mal hatte sich Ägypten 1990 für eine WM-Endrunde qualifiziert, allerdings schieden wir nach zwei Unentschieden gegen die Niederlande und Irland und einer Niederlage gegen England frühzeitig aus. Jene Mannschaft wurde von einem Mann trainiert, den viele Ägypter für den besten Nationaltrainer aller Zeiten halten: Mahmoud El Gohari. Und seit 1990 war Ägypten immer nur einen Schritt vom großen Traum entfernt, dieser entglitt uns jedoch stets in letzter Minute.
Die Pharaonen dominieren Afrika
Ägypten kann seit dem Start des Afrikacups 1957 sieben Turniersiege vorweisen, die meisten aller afrikanischen Länder. In den 90er Jahren wurden wir zweimal im letzten Qualifikationsspiel besiegt, 1994 und 1998. In den 2000ern haben wir Afrika dominiert und konnten 2006, 2008 und 2010 drei Afrikameisterschaften in Folge gewinnen, gleichzeitig schafften wir es allerdings in dieser Zeit nicht bis zur WM, obwohl wir, wie gesagt, über die beste Spielergeneration unserer Geschichte verfügten. Diese Mannschaften schlugen Italien im Confed-Cup 2010 in Südafrika und spielten auf Augenhöhe mit Brasilien und ihrem Star-Team um Kaka, Robinho und Silva. 2010 waren wir so nah dran an der Qualifikation, dass wir sogar schon vor dem Spiel gegen Algerien mit dem Feiern begannen. Wie immer verloren wir das Spiel auf enttäuschende Art und Weise; gleichzeitig endete für unser außergewöhnliches Nationalteam seine beste Zeit, weil viele Spieler zurücktraten. In der 4-Jahres-Leidenszeit des ägyptischen Fußballs, wie wir es nennen, konnten wir uns nicht einmal für die Afrikameisterschafts-Endrunde qualifizieren und verloren gegen Ghana in der Qualifikation zur WM 2014 mit einem entwürdigenden Ergebnis von 1:16 Viele von uns verloren die Hoffnung, dass wir in der nächsten Zeit wieder zur WM zurückkehren könnten.
Auferstanden aus Ruinen
Wegen der instabilen politischen Umstände in Ägypten seit 2011 wurde der Ligabetrieb für längere Zeit ausgesetzt und als es wieder losging, wurde vor leeren Rängen gespielt. Die 4 Jahre von 2011 bis 2015 waren also eine Periode des Niedergangs. Allerdings gibt es in jedem Märchen auch einen Helden und in unserem Fall ist das Mo Salah. 2015 waren wir überrascht, dass Salah, der von Al Zamalek, einem der größten Clubs des Landes, einst als nicht gut genug abgelehnt worden war, zum besten Spieler in der Schweiz wurde und auf Jose Mourinhos Wunsch zu Chelsea wechselte. Zu dieser Zeit begann seine Legende, Formen anzunehmen, und mit Mo entwickelte sich eine Gruppe junger Spieler, von denen vorher kaum jemand gehört hatte und die kaum Aufmerksamkeit bekamen, bis sie begannen, mit ihren Teams bemerkenswerte Erfolge zu erzielen. Als Mo zu Chelsea wechselte, begann jeder Ägypter, seine Aufmerksamkeit auf diesen jungen Mann zu lenken und seine Spiele zu schauen, als wären es Spiele für die Nationalmannschaft. Nach seinem Wechsel zu Florenz und weiter nach Rom und dem besonderen Spielniveau, das er in der Serie A an den Tag legte, begann unser Vertrauen zu wachsen, dass seine Mannschaft etwas besonderes erreichen könnte. Und ihr Moment kam, als sie 2016, 6 Jahre nach unserer letzten Teilnahme an diesem Wettbewerb, das Finale der Afrikameisterschaft erreichten. Niemand hatte je erwartet, dass sie es in diesem Turnier so weit bringen würden. Nach dem Finale wechselte unser Held Mo Salah nach Liverpool, diesmal aber mit dem Rückhalt aller Ägypter, Chelsea zu zeigen, dass sie einen Fehler begingen, als sie ihn zwei Jahre zuvor aufgegeben hatten. Dieser phänomenale Junge konnte sich nicht zurückhalten und begann, Tor um Tor zu erzielen und Rekorde zu brechen bis zu dem Moment, in dem er Torschützenkönig der Premier League wurde.
Mo, der Größte der Pharaonen
Mit der Entwicklung von Mo zum Anführer unserer Nationalmannschaft begannen wir, unseren alten Traum zu träumen, waren aber vorsichtig. Niemand wollte die Enttäuschung und die Wut von 2010 noch einmal spüren, aber überraschenderweise begann unsere Mannschaft, ein Spiel nach dem anderen zu gewinnen und zum ersten Mal hatten wir die Möglichkeit, uns vorzeitig zu qualifizieren. Und es ging uns nicht nur darum, sondern wir wollten auch Rache nehmen an Ghana, die uns 2013 in entwürdigender Weise aus dem Wettbewerb warfen. Tatsächlich schlugen wir diese Mannschaft in Kairo; es war ein unbeschreiblicher Moment, alle feierten in den Straßen der Stadt. Dann kam das letzte Spiel, gegen den Kongo, und es war klar: sollten wir das gewinnen, hätten wir uns direkt für die WM 2018 in Russland qualifiziert. Wir begannen die Partie vorsichtig, keiner wollte die Hoffnung zu sehr schüren, aber diesmal traf Mo in der ersten Halbzeit und unsere Mannschaft kontrollierte das Spiel ab diesem Zeitpunkt. Um die 83. Minute herum erzielte der Kongo ein Tor, das unseren Traum in Stücke schlug. Just in dem Moment, in dem jegliche Hoffnung verschwand und wir begannen, das Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Mannschaft zu verlieren, sich jemals wieder für eine WM zu qualifizieren, kam Mo Salah und tat das, was er eben tut. Er traf in der letzten Minute und ich kann nicht beschreiben, was ich danach tat.
Ich heulte wie ein Kind, während einer meiner Freunde Luftsprünge machte und ein anderer mit der ganzen Kraft seiner Lungen schrie. Ich weiß, dass es nicht fair ist, dass sich der Traum eines ganzen Landes auf einen Menschen fokussiert, aber in unserem Fall war das so. Mo Salah erreichte etwas, wovon wir 28 Jahre lang träumten. Er wurde unsere Legende in einer Zeit, in der wir jedes Vertrauen in Legenden verloren hatten. Die Geschichte, wie Ägypten die WM 2018 erreichte, mag wie ein Märchen wirken, aber es ist auch eins und wir sind wirklich aufgeregt und sehr optimistisch bezüglich dessen, was wir in Russland erreichen werden. Und an alle anderen Teams: Die Pharaonen kommen und wir haben die Absicht, einen unvergesslichen Eindruck zu hinterlassen.
Zur Person: Omar Hassan ist Ägypter und studiert derzeit an der Otto-von-Guericke- Universität in Magdeburg. Aus der Ferne verfolgt er gespannt die Entwicklung der ägyptischen Nationalmannschaft und des Superstars Mo Salah.
Uruguay – Wenn David zwei Goliaths besiegt
von Jérôme Grad (@Mr_Degree)
Seit Jahrzehnten steht Uruguay im Schatten der zwei großen südamerikanischen Fußball-Nationen Brasilien und Argentinien. Doch das war mal ganz anders.
Wenn Menschen in die Vergangenheit blicken, erinnern sie sich meist an wichtige, emotionale Momente. Gute wie schlechte. Und je weiter ein Ereignis weg ist, desto bedeutender muss es gewesen sein, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Fotos helfen dabei, Momente in Erinnerung zu behalten. Erzählungen auch. Und Schriften. Aus all diesen Hilfsmitteln lässt sich dann eine Geschichte formen. Im Fall von Uruguays Fußball kann man diese anhand von vier goldenen Sternen ablesen.
Bei der Recherche zu Uruguays Fußball springen einem schnell die erfolgreichsten Zeiten zwischen 1920 und 1950 entgegen, auf die die Menschen im ganzen Land noch heute stolz sind, auch wenn sie die Zeit nicht miterlebt haben. Denn im zweitkleinsten südamerikanischen Land überhaupt sind die Menschen genauso fußballverrückt wie in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien. Fußball ist allgegenwärtig, ob in der Schule, auf der Straße oder in der Bar bei einem Mate. Wer in den Genuss kommt, das himmelblaue Nationalmannschaftstrikot zu tragen, der tut das mit viel Liebe und Leidenschaft. Fußball schafft und ist Teil der uruguayischen Identität.
Erfolge zwischen 1924 und 1950
Und so ist ein gesamtes Land stolz auf die Erfolge, mögen sie noch so lange her sein. Die Geschichte des WM-Turniers 1930 ist dem belesenen Fußballfan wohl hinlänglich bekannt. Uruguay richtete die erste Weltmeisterschaft der FIFA aus, an der 13 Teams teilnahmen. Mit einem 4:2 gegen Argentinien kürte sich die Mannschaft des damals 31-jährigen Alberto Supici, dem bis heute noch jüngsten Weltmeistertrainer, zum ersten Titelträger. Auch wenn der große Nachbar aus dem Süden nicht als Underdog ins Turnier gestartet war – der Titel für die Celeste kam nicht unerwartet, hatte Uruguay doch zuvor schon Olympisches Gold 1924 und 1928 geholt.
Anders verhielt es sich beim zweiten WM-Erfolg. 1950 gelang den Uruguayern der wohl größte Coup der Fußball-Geschichte des Landes, in Brasilien noch heute als Maracanaço bekannt. Am letzten Spieltag kam es zum Duell mit dem WM-Gastgeber Brasilien.
Brasilien, der haushohe Favorit, dazu waren knapp 200.000 Menschen ins Maracana-Stadion gekommen, um mit ihrer Mannschaft den WM-Titel zu feiern. Alles war angerichtet, bis in der 78. Minute Alcides Ghiggia zum 2:1 für Uruguay traf. Die frenetischen brasilianischen Anfeuerungen, die ausgelassenen Samba-Tänze und -Gesänge, die gesamte Party-Stimmung – das alles war wie weggeblasen. 200.000 Menschen hielten den Atem an. Die Blauen hatten die Party der Gelben gecrasht. Fast wie, wenn der VfL Bochum im Dortmunder Westfalenstadion dem BVB unverhofft noch die Schale weggeschnappt hätte. Die Namen der beiden Finaltorschützen Alberto Schaffino und Ghiggia kann auch heute, 68 Jahre nach dem Überraschungserfolg, noch jedes Kind im Schlaf problemlos aufsagen.
4 Sterne auf dem Wappen
Der Triumph im Maracana bedeutet zugleich einen weiteren goldenen Stern auf dem himmelblauen Trikot der Celeste, den insgesamt vierten. Die ersten beiden für die Olympischen Siege, die beiden letzten gegen Brasilien und Argentinien errungen. Als die FIFA später festlegte, dass goldene Sterne nur noch für WM-Titel auf das Nationalmannschaftstrikot genäht werden dürfen, integrierte der uruguayische Fußball-Verband die vier Sterne kurzerhand ins offizielle Wappen, weshalb die Celeste heute noch mit vier Sternen aufläuft.
Ein 3,5-Millionen-Einwohner-Land, das zwischen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires und der 13-Millionen-Metropole Sao Paulo gequetscht ist. Ein Land, das zwischen 1930-50 um die 2 Millionen Einwohner zählte, während Argentinien 1930 mehr als das Vierfache hatte und Brasilien 1950 gar 54 Millionen Einwohner und so über einen wesentlich größeren Fundus an Spielern verfügte. Da scheint der oft bemühte Vergleich David gegen Goliath legitim. „Jeder in Uruguay liebt Fußball und spielt bereits im Kindesalter. So kommen immer wieder gute Fußballer hervor“, verriet einst Ghiggia das simple Geheimnis über den bemerkenswerten Output an Fußballern, der dazu führte, dass das zweitkleinste südamerikanische Land neben Brasilien und Argentinien der einzige Weltmeister des Kontinents ist, sondern auch mit 15 Titeln Rekordsieger der Copa America, der südamerikanischen Meisterschaft.
2011 – der zweite Streich
Beim letzten Triumph 2011 gelang den Urus, 61 Jahre nach Maracanaço, erneut ein Überraschungscoup in einem anderen Land. Dieses Mal verdarben die „Bochumer Südamerikas“ anderen Blau-Hemden das Heimturnier. Der Stachel bei den Argentiniern saß tief, als sie im Viertelfinale ausgeschaltet wurden und die Mannschaft um Luis Suarez, Diego Godin und Diego Forlan in Buenos Aires im Endspiel gegen Paraguay den Sieg holte. Bis in die frühen Morgenstunden stand die Hauptstadt Kopf und feierte in Montevideo den ersten internationalen Titel seit 26 Jahren. Dass Penarol Montevideo im selben Jahr die Copa de Liberatores gewann, vervollständigte das große uruguayische Fußball-Jahr. Diese Erfolge taten den Urus gut.
Nicht, weil sie es sportlich mehr verdient hätten als andere Nationen. Nein, weil Uruguay nach Jahren der sportlichen Belanglosigkeit in der Weltspitze nach Erfolgen lechzte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren neben der Nationalmannschaft auch die uruguayischen Vereine bei südamerikanischen Wettbewerben wesentlich erfolgreicher. Heute wechseln begabte Kicker frühzeitig aus der heimischen Liga, die meist nur aus Vereinen aus der Hauptstadt besteht, nach Brasilien und Europa. Umso wichtiger ist der Erfolg der Celeste für den Stolz der ganzen Nation.
Das letzte Hurra einer Generation?
Mit Stolz laufen auch die mittlerweile über 30-jährigen Suarez, Diego Godin, Maxi Pereira, Martin Caceres, Edison Cavani und Fernando Muslera im Trikot des Copa-America-Rekordsiegers auf. Es dürfte die letzte WM auf absolutem Top-Niveau für die Helden von 2011 sein, die noch immer das Gerüst der Mannschaft bilden. Einer Mannschaft, die vom 71-jährigen Oscar Tabarez seit 2006 betreut wird, dem zusammen mit Joachim Löw dienstältesten Trainer aller WM-Teilnehmer 2018 und dem ältesten Übungsleiter im Teilnehmerfeld überhaupt.
Wie bei den WM-Helden von 1930 und 1950 wird auch diese Ära mal vorbei sein. Doch das kleine Land zwischen den Riesen Argentinien und Brasilien hat jetzt schon wieder seine besten jungen Spieler an europäische Topklubs verloren. Rodrigo Bentanur kickt bei Juventus Turin und José Maria Gimenez bildet mit Godin bei Atletico Madrid eine der besten Innenverteidigungen der Welt. Sie werden ihre Landsleute ebenso mit Stolz erfüllen, wie es ihre zahlreichen Vorgänger im Nationaldress getan haben. Ob es dann wieder reicht, um einen Rivalen der beiden großen Nachbarn in einem Endspiel zu ärgern? Das wird auch davon abhängen, ob Ghiaggias Satz noch immer Gültigkeit besitzt.
Zur Person: Jérôme Grad bewegt sich zwischen Fußball und Kultur. Pendelt seit Jahren mit dem 1. FC Nürnberg zwischen den Ligen. Für 120minuten ist er seit 2018 im Einsatz. Bei Twitter ist er als @Mr_Degree zu verfolgen.
Portugal – Staub aufwirbeln gegen die Großen
von Marino Peixoto (@Marinovpeixoto)
Wie nimmt Portugals Öffentlichkeit die diesjährige WM wahr?
Der generelle Konsens in Portugal ist, dass dies sehr wahrscheinlich die beste Chance des Landes ist, die Welt zu erobern. Sie gehen als amtierender Europameister in das Turnier, mit einem der besten Spieler, der jemals gespielt hat und mit einer vielversprechenden Mischung aus jugendlichem Flair, Geschwindigkeit und Überschwang, gepaart mit älteren, erfahrenen Veteranen des Spiels. Allerdings gibt es trotz aller Hoffnung auch Bedenken, was insbesondere die Innenverteidiger-Positionen und die Frage betrifft, ob sie mit den weltbesten Spielern zurechtkommen werden. Bruno Alves (36), José Fonte (34) und Pepe (35) sind alle am Ende ihrer Karrieren und was besonders bedenklich ist, ist der Umstand, dass zwei der drei alten Knochen turbulente Spielzeiten hinter sich haben. Trotzdem haben die Portugiesen größtes Vertrauen in Fernando Santos’ Urteilsvermögen. Tatsächlich ist ihnen seine Dickköpfigkeit sehr bewusst – allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie einen Mann in Frage stellen werden, der die Europameisterschaft gewann und Portugals erste große Trophäe nach Hause brachte. Trotz dieser Aussage ist den Menschen in Portugal natürlich klar, dass die Seleção keinesfalls zu den Favoriten gehört, aber sie erwarten definitiv, dass die Mannschaft gegen die großen Jungs ein wenig Staub aufwirbelt.
Welche fußballbezogene Geschichte in Portugal wurde noch nicht erzählt, ist es aber wert, mit der Welt geteilt zu werden?
Portugal hat kürzlich zum ersten Mal in seiner Geschichte gegen die iberischen Nachbarn aus Spanien die Europameisterschaft im Futsal gewonnen. Vor dem Anpfiff war Portugal ohne Zweifel der Außenseiter. Allerdings kämpfte die Mannschaft, ähnlich wie im EM-Finale 2016, hartnäckig und holte einen so wundersamen wie überraschenden Sieg. Nicht nur das, Portugals Futsal-Team hat sogar seinen eigenen Ronaldo in seinen Reihen – Ricardinho. Und ähnlich wie bei der EM 2016, als Ronaldo früh wegen einer Verletzung ausgewechselt werden musste, ereilte Ricardinho das gleiche Schicksal, sodass er seinen Mannschaftskameraden von der Seitenlinie beim Kämpfen zuschauen musste. Obwohl Futsal weit davon entfernt ist, Portugals größter Sport zu sein, war diese Geschichte für die Portugiesen besonders schön, weil sie das Herz und den Kampfgeist zum Ausdruck brachte, was die nationalen Vertreter auszeichnet, wenn sie in den Kampf ziehen. Innerhalb von zwei Jahren sowohl die Europameisterschaft im Fußball als auch im Futsal zu gewinnen, ist für ein Land mit 11 Millionen Einwohnern eine überragende Leistung.
Was war Portugals wichtigster (emotionalster, bester, tragischster) WM-Moment und warum?
Ich denke, dass die Halbfinalniederlage bei der WM 2006 gegen Frankreich wegen einer ganzen Reihe von Gründen besonders enttäuschend war. Über das gesamte Turnier hatte Portugal vor Geist sprühenden Fußball gespielt und dabei Siege eingefahren – ein Kunststück, das portugiesische Teams in der Vergangenheit kaum zustande gebracht hatten. Sie sind durch ihre Gruppe gerauscht, besiegten die Niederlande in einer Achtelfinalpartie, die mehr von einem UFC-Match als einem Fußballspiel hatte und schlugen dann England im Elfmeterschießen. Im Halbfinale gegen Frankreich spielte Portugal bewundernswert und durchaus besser als der Gegner. Allerdings beendete ein Elfmeter von Zinedine Zidane die Hoffnung der Seleção und besiegelte einen 1:0-Erfolg für die Franzosen. Dieses Turnier an sich verhalf dem portugiesischen Nationalteam zu einem anderen Stellenwert und zementierte es als eine der Weltmächte im Fußball – und nicht als eine unterhaltsame Mannschaft, der es nicht gelingt, Ergebnisse zu erzielen.
Portugals tragischster Moment der letzten Jahre bezieht sich auf das letzte Turnier in Brasilien. Natürlich war der Kader, den die Seleção vor vier Jahren zur Verfügung hatte, weniger talentiert als der heutige. Allerdings verfügten sie auch damals über genügend Spieler, die es hätten möglich machen sollen, die Gruppenphase mit Leichtigkeit zu überstehen. Tatsächlich aber verloren sie 0:4 gegen Deutschland, erzielten in der Nachspielzeit das Siegtor gegen die USA und vermieden so das frühe Aus, um dann ein merkwürdiges Ghana 2:1 zu schlagen, was bedeutete, dass sie in der Gruppe den dritten Platz belegten. Angesichts des Erfolgs bei der Euro 2012, als sie erst im Halbfinale im Elfmeterschießen gegen den späteren Sieger Spanien unterlagen, war ein Vorrunden-Aus mit dem gleichen Stamm an Spielern nicht akzeptabel.
Portugals bester WM-Moment kam wahrscheinlich 1966 in einem fesselnden Spiel gegen Nordkorea. Es handelte sich um das Viertelfinale im Goodison Park in Liverpool und viele erwarteten, dass Portugal mit größter Leichtigkeit weiterkommen würde. Allerdings ging Nordkorea überraschend mit 3:0 in Führung und es sah so aus, als würden die Portugiesen die Köpfe hängen lassen – mit Ausnahme eines Spielers, Eusebio. Benficas tödlicher Stürmer erzielte vier Treffer, Portugal gewann schließlich 5:3 und zog ins Halbfinale ein.
Zur Person: Mariano Peixoto schreibt für das Online-Magazin PortuGOAL. Dort ist er Experte für die Nationalmannschaft.
Spanien – wie ein Baske Spanien vereinen könnte
von Jérôme Grad (@Mr_Degree)
Oder: Wie der Sohn eines Steinhebers Guardiola etwas voraus hätte
Spanien gehört, wie in den vergangenen Jahren, zu den Titelfavoriten. Spieler wie Ramos, Iniesta, Koke, Silva sind weltweit bekannt. Der Trainer Julen Lopetegui hingegen ist den wenigsten ein Begriff. Dabei ist er kein unbeschriebenes Blatt und scheint perfekt auf das Anforderungsprofil zu passen.
Wo Julen Lopetegui am 29. Juni 2008 war, ist nicht übermittelt. Vielleicht im Urlaub, vielleicht im Büro oder auf dem Trainingsplatz seines Arbeitgebers Real Madrid. Vielleicht war er auch in Wien, wo er, wie Millionen von Zuschauern im Stadion und am Fernseher, das Europameisterschaftsfinale zwischen Spanien und Deutschland verfolgte. Fest steht: Dank Fernando Torres‘ Treffer holte die spanische Herren-Nationalmannschaft an diesem Abend erstmals einen Titel – Andres Iniesta und Sergio Ramos feierten zusammen mit den Mannschaftskollegen auf dem Rasen.
Damals, nach dem 1:0-Erfolg der Furia Roja, wie die spanische Elf genannt wird, war die Freude im ganzen Land riesengroß. Die Sehnsucht nach einem Erfolg endlich gestillt. Nach Jahren und ebenso endlosen wie erfolglosen Versuchen, ein Turnier zu gewinnen. Dabei war Spanien gefühlt schon immer als einer der Mitfavoriten gehandelt worden. Schon allein, weil die Iberer es immer wieder verstanden, bei den Wettbewerben der Juniorennationalmannschaften zu überzeugen und viele Talente hervorbrachten, weil die mit vielen Spaniern gespickten Großklubs FC Barcelona und Real Madrid regelmäßig in der Champions-League eine wichtige Rolle spielten, weil sie nach Jahren der Titellosigkeit doch endlich mal dran sein müssten.
An diesem Tag, so schien es, feierte ganz Spanien eine einzige fiesta. Jung und alt, Madrilenen und Barca-Anhänger, Andalusier wie Galizier. Das, was in den Jahren danach noch oft als Tiki-Taka von Fußballfans weltweit bewundert werden sollte, brachte 2008 den Spaniern den ersten Titel. Auch Lopetegui dürfte sich gefreut haben. Ob nun auf der Tribüne, im Kreise von Arbeitskollegen oder auf dem Sofa zu Hause.
Lopetegui: der perfekte Mann?
Heute, zehn Jahre später, ist der Baske Julen Lopetegui der Nationaltrainer, der die Spanier nach einer völlig verkorksten Weltmeisterschaft in Brasilien wieder zum Erfolg führen soll. 2014 scheiterte der amtierende Weltmeister, der immerhin drei Turniere lang keine Niederlage in K.O.-Spielen einstecken musste, sang- und klanglos nach einem 1:5 gegen die Niederlande und 0:2 gegen Chile in der Vorrunde. Die Freude über das 3:0 gegen Australien zum Abschluss? Hatte die Haltbarkeit einer caña.
Der Sohn eines Steinhebers, einem baskischen Volkssport, übernahm im Juli 2016 das Amt von Vicente del Bosque. Der nahe von San Sebastian geborene Coach scheint perfekt auf das Anforderungsprofil des spanischen Verbands zu passen. Seine bevorzugte Spielweise ist ein agierendes 4-3-3, ganz nach dem Credo Pep Guardiolas, mit dem er einst die Cruyff-Schule während seiner Zeit als Barca-Spieler genoss: Wer den Ball besitzt, kann angreifen und der Gegner währenddessen nicht wehtun.
Dazu eine Prise vom Real Madrid zu Hugo Sanchez‘ Zeiten, zu denen er bei den Königlichen unter Vertrag stand. Und schon ist Lopeteguis Mischung perfekt. Zielgerichteter Ballbesitz, Positionsspiel, situatives Pressing und offensiv-attraktive Spielweise finden eine hohe Beachtung bei Lopetugui, der in der Öffentlichkeit sehr bodenständig, beinahe schüchtern auftritt. Eine Art Tiki-Taka 2.0, die Weiterentwicklung des Spielstils, der Spanien wirklich zur roten Furie werden ließ. Dafür kann er mit Piqué, Sergio Busquets und Iniesta auf ein Korsett von Barca-Spielern setzen, die diese Philosophie bereits in der Jugendakademie La Masia eingeimpft bekamen. Dazu gesellen sich einige Spieler, die diese Ausbildung auch genossen haben und mittlerweile in anderen Ligen beheimatet sind. Bayerns Thiago beispielsweise.
Evolution statt Revolution
Nach dem Abschied von Luis Aragones 2008 verstand es del Bosque, auch die Rivalität zwischen Barca und Real in der Nationalmannschaft nicht zum Thema werden zu lassen und private Fehden in positiver Energie zu vereinen. Lopetegui spielte nie eine tragende Rolle bei einem der beiden bedeutendsten Vereine des Landes. Und doch sind seine Stationen als Spieler (bei Real Madrid und der Amateurmannschaft La Castilla 1985-1991, bei Barca 1994-1997) sicherlich nicht nutzlos, um im aktuell wieder aufflammenden Konflikt um die Unabhängigkeit Kataloniens die Gedanken aller Spieler zu verstehen und sie auf das gemeinsame Ziel zu fokussieren. Denn nichts anderes als der Weltmeister-Titel soll es in Russland sein.
Feliz año a todos. Estamos seguros de que 2018 será un año apasionante. pic.twitter.com/D30P3CQziP
— Julen Lopetegui (@julenlopetegui) 31. Dezember 2017
Dafür hat der Baske, der auf dem Trainingsplatz aufgrund seiner Sonnenallergie immer eine Sonnenbrille trägt, in den vergangenen zwei Jahren einen sanften, aber notwendigen Umbruch vollzogen. Keine Revolution, sondern eine Evolution, wie er selbst einmal sagte. Spieler wie Fabregas und Casillas waren nicht mehr gefragt. Atleticos Koke, Reals Daniel Carvajal und Marco Asensio kamen zu immer mehr Einsätzen. Lopetegui kennt sie aus seiner Zeit als Juniorentrainer Spaniens, mit einigen wurde er U19- bzw. U21-Europameister.
Auch beim FC Porto, seiner zweiten und bislang letzten Vereinstrainer-Station, unterstrich er, dass er mit jungen Spielern gut zusammenarbeiten kann und seine Idee von Fußball gnadenlos verfolgt. Er sortierte Publikumsliebling Ricardo Quaresma aus und formte aus einer Startelf von durchschnittlich 22 Jahren einen Champions-League-Viertelfinalisten. Der medial viel mehr beachtete Guardiola lobte ihn für seine Arbeit vor dem Aufeinandertreffen, doch für die Sensation reichte es nicht. Bayern München setzte sich durch. Eine verpasste Chance auf mehr Aufmerksamkeit für Lopetugui?
Trikotskandal und Unabhängigkeit? Wäre alles vergessen
Das Rampenlicht ist eher nicht seine Sache. Er ist kein Feierbiest, kein Lautsprecher. Pressekonferenzen mit ihm erhalten nicht die Aufmerksamkeit wie die von Entertainer Jürgen Klopp. Lopetegui kann aber durchaus enthusiastisch werden. Dann nämlich, wenn er über Fußball, Taktik, und eine Spielidee befragt wird. Weniger interessieren ihn Fragen, wie die um den Trikotfarbe Ende 2017, als sich der politische Konflikt zwischen Linken und Konservativen in der Spielkleidung entlud. Bei der WM in Russland sollen die Spanier im Retro-Look von 1994 auflaufen, ein rotes Trikot mit einem gelben und blauen Zick-Zack an der Seite. Doch weil der Abstand der Zacken dieses Mal geringer ausfiel, wirkte das Blau wie Violett. Die linken Podemos-Unterstützer, deren Logo violett beinhaltet, und die Monarchie-Gegner feierten, die konservative Regierung und ihre Anhänger schäumten vor Wut. Die Trikot-Vorstellung wurde abgesagt.
Solch hitzige Diskussionen könnten mit einem erfolgreichen Turnier für eine Zeit zumindest zweitrangig werden. Ob das gut ist, muss jeder selbst für sich entscheiden. Je nachdem, ob man an die integrative Kraft des Fußballs glaubt oder aber an die betäubende, realitätsverdrängende.
Für Lopetegui zählt in jedem Fall der sportliche Erfolg. Die Mischung dafür aus erfahrenen Spielern und jungen, hungrigen, sie stimmt. Ob es am Ende für den zweiten spanischen WM-Titel reicht, vermag niemand zu prognostizieren. Doch eines ist gewiss: Krönt sich die Mannschaft von Lopetegui am 15. Juli 2018 erneut zu den Besten der Welt, wird wohl der Konflikt zwischen Katalonien und Madrid und die Frage der Farbe des Trikots weit in den Hintergrund rücken. Wahrscheinlich werden die 2008er Helden Ramos, einer der besten Verteidiger der vergangenen Jahre und Iniesta, der wohl beste Mittelfeldspieler der vergangenen Dekade, ihren Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklären. Zehn Jahre nach dem ersten Titelgewinn überhaupt würde dies das endgültige Ende einer Ära einläuten. Klar ist für den Fall der Fälle definitiv: Lopetegui wird an diesem Abend nicht irgendwo stillheimlich feiern, sondern unter den Augen von Millionen von Zuschauern, darunter auch denen von Pep Guardiola, dem er dann einen Titel voraushätte.
Zur Person: Jérôme Grad bewegt sich zwischen Fußball und Kultur. Pendelt seit Jahren mit dem 1. FC Nürnberg zwischen den Ligen. Für 120 Minuten ist er seit 2018 im Einsatz. Bei Twitter ist er als @Mr_Degree zu verfolgen.
Marokko – Die Löwen vom Atlas
von Hakim Amalou (@amalouhakim)
Der marokkanische Fußball erlebt derzeit eine Blüte: Die Nationalmannschaft hat sich das erste Mal seit 20 Jahren wieder für die WM qualifiziert, die B-Mannschaft, die ausschließlich aus Spielern besteht, die nur in Marokko spielen, hat die African Nation Championship gewonnen und die Ergebnisse der Clubs in den kontinentalen Wettbewerben werden von Jahr zu Jahr besser: 2017 konnte der Wydad AC aus Casablanca die afrikanische Champions League sowie den Supercup gewinnen. Die Zukunft des Fußballs in dem nordafrikanischen Königreich kann man also als rosig beschreiben. Allerdings gibt es auch Grund zur Nervosität, denn Marokko spielt mit Spanien, Iran und Portugal in Gruppe B während der WM in Russland. Bevor es aber um die Nationalmannschaft geht, noch einmal ein kurzer Blick auf die Geschichte der Mannschaft und die Lage des Fußballs in Marokko im Allgemeinen.
Marokko war nie eine Top-Mannschaft im internationalen Fußball, lediglich auf dem Kontinent gab es gute Zeiten. Vor vierzig Jahren gewann die Mannschaft den African Cup of Nations und 1988 spielte man im Halbfinale. Besonders schmerzhaft war aber das Finale von 2004, als Marokko gegen den Nachbarn und Erzrivalen Tunesien verlor. Mit der WM 2018 hat sich das Nationalteam insgesamt viermal für eine Endrunde qualifizieren können. Ältere Leser in Deutschland werden sich an ein überraschendes 0:0 von 1970 erinnern. Damals wie heute eine Überraschung. Bei der nächsten Begegnung mit dem DFB-Team 1986 sicherte erst ein Freistoß von Lothar Matthäus in den letzten Spielminuten den Sieg für Deutschland. Das war auch das einzige Mal, dass Marokko die Gruppenphase überstanden hat. Dann waren da noch 1994 und 1998. Letzteres ist erwähnenswert, weil man eine starke schottische Mannschaft mit 3:1 geschlagen hat.
Botola
Wie soll ich über die Liga (auch liebevoll Botola genannt) sprechen, so dass es auch für alle verständlich ist? Die Botola kann mit zwei europäischen Ligen verglichen werden. Zum einen mit der italienischen Serie A mit exzentrischen Clubpräsidenten, die die Clubs dirigieren, wie es ihnen passt. Auf dem Platz erinnert es eher an die französische Ligue 1: viel Verkehr im Mittelfeld, langsamer Spielaufbau und schnelle Konter. Die meisten Tore fallen nach Standards und die Ergebnisse lesen sich wie Binärcode: viele Einsen und Nullen im Wechsel. Doch diese Spielweise hat auch Erfolge gebracht: So hat 2017 Wydad die Champions League gewonnen und 2013 erreichte Raja AC das Finale der Club-WM, wo man den Bayern mit 0:2 unterlag. Beide Clubs, Raja und Wydad, sind die größten im Land und es ist DAS Derby in Marokko. Es ist laut, intensiv, farbenfroh und manchmal auch blutig. Nein, es ist immer blutig, was eigentlich sehr ironisch ist, denn Raja bedeutet übersetzt Hoffnung und Wydad ist Freundlichkeit.
Afrikanischer Fußball französischer Prägung
Die Löwen vom Atlas haben sich für Russland qualifiziert, ohne ein Tor zu kassieren, was viele dem französischen Trainer, Hervé Renard zuschreiben. Er ist ein Afrika-Experte, hat bereits zweimal den African Cup of Nations gewonnen mit Zambia und der Elfenbeinküste. In seiner Heimat aber bekam er in mehreren Versuchen kein Bein auf den Boden. Seine Spielweise beruht auf Pressing, schnellen Kontern und ehrlich gesagt, einer negativen Spielanlage. Dieser Ansatz hat sich ausgezahlt, da die marokkanischen Spieler schneller und taktisch besser geschult sind als die meisten afrikanischen Spieler. Die Spiele waren vielleicht ein wenig langweilig und die Mannschaft etwas zu passiv, aber die Resultate sprechen für sich. In einer Gruppe mit Mali, der Elfenbeinküste und Aubameyangs Gabun war Marokko der Außenseiter. Doch Hervé mag genau solche Situationen und war vielleicht einer der Faktoren, warum nun Marokko zur WM fährt.
Der Mesut Özil des armen Mannes: Die Aussichten für Marokko
Deutschen Lesern wird der Name Medhi Benatia etwas sagen nach seiner kurzen Zeit beim FC Bayern München. Er ist der Kapitän. Seine Karriere ist bemerkenswert wurde sie doch durch die Nationalmannschaft geprägt und nicht durch eine Clubkarriere, wie es meist der Fall ist. Benatia war ein vielversprechender Youngster bei Olympique Marseille, doch die Karriere bekam einen Knick und er spielte fortan in der zweiten französischen Liga bei Clermont Foot, als er in die Nationalmannschaft berufen wurde.
Er wurde von Udinese verpflichtet und die Karriere begann ein zweites Mal. Seine Stärken sind die Ballkontrolle, seine physische Präsenz und die Fähigkeit, Gegenspieler in Manndeckung zu nehmen, was in Zeiten von Raumdeckung und Gegenpressing wie ein Anachronismus erscheint. Er ist Kapitän einer Mannschaft, deren Spieler auf drei Kontinenten und in zehn Ligen spielen, was Segen und Fluch zugleich ist. Die meisten Spieler sind Migranten der zweiten Generation und so sind Kommunikationsschwierigkeiten ein großes Problem.
Es gibt noch einige andere Namen in der Mannschaft: Hakim Ziyech (Ajax), der Mesut Özil des armen Mannes. Achraf Hakimi (Real), der aus der Akademie der Königlichen gekommen ist und sich in der Abwehr einen Namen gemacht hat. Dann ist da noch Amine Harit (Schalke 04) ein Talent und Grund, dass die Veltins-Arena in den marokkanischen Cafés sehr bekannt ist. Boutayeb ist der Niklas Bendtner Marokkos oder einfach nur der neue Chamakh: ein Spieler, der ein sehr gutes Kopfballspiel hat, gutes Pressing spielt, jedoch etwas unbeholfen wirkt und dadurch Auslöser für Memes im Internet ist. Er ist ein Spätstarter und erinnert dadurch ein wenig an einen gewissen Jamie Vardy.
Marokko wird gegen Spanien, Portugal und Iran spielen. Für manche ein Himmelfahrtskommando, für andere eine interessante Herausforderung und eine Möglichkeit, sich zu beweisen. Ich zähle mich zu keiner der beiden Gruppen. Für mich ist es wichtig, dass das Team guten Fußball spielt und das beste aus sich rausholt, auch wenn es am Ende nicht reichen mag. Gegen diese Fußballgiganten … und Iran … zu spielen, mag einschüchtern, doch die Leidenschaft unserer Spieler, was die Italiener grinta nennen (sehr zum Leidwesen der Deutschen) kann genau die Stärke sein, die dieses Team braucht, um vielleicht aber nur vielleicht eine grandiose WM zu spielen.
Zur Person: Hakim Amalou ist 22 Jahre, Student, spricht fünf Sprachen und lebt in Agadir. Unter hakimamalou.wordpress.com hat er vor Kurzem begonnen zu bloggen.
Iran – Das politischste Spiel aller Zeiten
von Art Eftekhari (@teammellitalk)
Die WM in Russland nähert sich mit großen Schritten und die Anhänger des Iran – im Farsischen besser bekannt als Team Melli – können ihre Vorfreude kaum noch verbergen. Sie sind bereit, ihr Team in Russland zu unterstützen. Es wird der fünfte Auftritt des Iran beim größten aller Fußballspektakel und die Fans von Team Melli hoffen, dass ihre Mannschaft es endlich einmal ins Achtelfinale schafft. 1978 konnte sich der Iran erstmals für eine Weltmeisterschaft qualifizieren. Diese fand in Argentinien statt. Die Niederlagen gegen Peru und die Niederlande wurden zu Hause kaum zur Kenntnis genommen, doch zumindest ein Unentschieden gegen Schottland lieferte Grund für Optimismus. In der Folge warfen Revolution und Krieg den Fußball im Iran jedoch weit zurück und so dauerte es 20 Jahre, bevor das Land wieder am größten Turnier des Fußballs teilnehmen konnte.
USA – Iran 1998: Die Politik spielt Fußball
1998 in Frankreich spielte der Iran in einer Gruppe mit Deutschland, Jugoslawien und den USA. Experten trauten dem Team keine großen Überraschungen zu. Dabei spielten einige der besten Kicker, die der Iran je hervorgebracht hat, für die Nationalmannschaft: Ali Daei, Karim Bagheri, Khodadad Azizi, Mehdi Mahdavikia, und Ahmadreza Abedzadeh. Zwar gab es im ersten Spiel eine 0:1-Niederlage gegen Jugoslawien, doch der Iran bewies, dass er gegen Weltklassespieler wie Predrag Mijatovic mithalten konnte. Das nächste Spiel fand am 21. Juni in Lyon statt. Gegner waren die USA. Bis heute gilt der Vergleich als das vielleicht politisch aufgeladenste Fußballspiel aller Zeiten. Neben aller politischer Relevanz war es jedoch ein großer Moment der Sportgeschichte für den Iran. Der Iran schockte die USA und gewann durch Tore von Hamid Estili und Mehdi Mahdavikia 2:1. Ein Moment, den iranische Fans wohl nie vergessen werden, denn bis heute ist es das einzige Spiel, dass ihre Mannschaft bei einer WM gewinnen konnte. Es ist der bisherige Höhepunkt der WM-Geschichte des Landes. Die Spieler wurden zu Hause anschließend als Helden empfangen.
Acht Jahre später nahm der Iran an der Weltmeisterschaft in Deutschland teil. Die Fans des Team Melli hofften inständig, dass ihre Nationalmannschaft endlich die zweite Runde erreichen möge. Gegner in der Gruppenphase waren Portugal, Mexiko und Angola. Mahdavikia und Daei waren als einzige der erfolgreichen 98er-Mannschaft noch dabei. Doch vor allem die Nominierung von Daei sorgte für reichlich Diskussionen. Viele Fans glaubten, dass er seinen Zenit längst überschritten hatte und der Mannschaft nicht mehr helfen könne. Das Auftaktspiel gegen Mexiko fand in Nürnberg statt. In der ersten Halbzeit präsentierte sich Team Melli gut, zur Pause stand es 1:1. In der zweiten Hälfte verlor die iranische Mannschaft den Faden und schließlich auch das Spiel. Ein schlimmer Abwehrpatzer half Mexiko zur Führung, ein weiteres Tor beerdigte die Hoffnungen auf ein Unentschieden. In der Folge gab es viele Spekulationen, was zur Halbzeit in der Kabine geschehen sein möge. Gerüchten zufolge gab es eine Auseinandersetzung zwischen Daei und dem Mittelfeldspieler Ali Karimi. Letzterer spielte zu der Zeit beim FC Bayern und viele sahen in dem Streit ein Aufeinanderprallen der größten Egos im Team. Es gibt verschiedene Erzählungen, was damals tatsächlich passiert ist. Fakt ist jedoch, dass Daei – damals 37 – überzogen hatte und seinen Stellenwert damit einbüßte. Im folgenden Spiel, das Portugal 2:0 gewann, stand er nicht auf dem Platz. Das letzte Gruppenspiel gegen Angola endete 1:1 und es war ausgerechnet Daei, der eine gute Chance vergab. Im gleichen Spiel verweigerte Karimi seine Einwechslung mit einem Kopfschütteln.
Seit 2011 ist der Portugiese Carlos Queiroz für die Geschicke der Nationalmannschaft zuständig. Der frühere Torwart genießt im Iran Heldenstatus und ist der einzige, der das Land zu zwei aufeinanderfolgenden Weltmeisterschaften führen konnte. Der Iran spielte eine starke Qualifikation. Wie schon vor der WM 2014 in Brasilien konnte auch diesmal die Teilnahme frühzeitig gesichert werden. Ausschlaggebend dafür war vor allem die disziplinierte Spielweise in der Defensive. Die Fans von Team Melli glauben fest daran, dass ihrer geliebten Nationalmannschaft diesmal endlich der Sprung in die zweite Runde gelingt. Wobei die Aufgabe mit Spielen gegen Spanien, Portugal und Marokko alles andere als einfach wird. Doch im Iran will niemand den Gedanken akzeptieren, dass sich die Geschichte in Russland ein weiteres Mal wiederholen könnte.
Das Erfolgsrezept von Iran: Carlos Queiroz
Vor vier Jahren fehlte dem Kader die nötige Tiefe. Trainer Queiroz hatte vor dem Turnier in Brasilien Schwierigkeiten, eine qualitativ hochwertige Mannschaft zusammenzustellen. Vor der WM in Russland steckt der iranische Trainer wieder im Dilemma – diesmal allerdings positiver Natur. Denn diesmal stehen so viele gute Spieler zur Verfügung, dass es wohl fünf oder sechs von ihnen nicht in den 23-Mann-Kader schaffen werden. Das beflügelt die Hoffnungen der Fans, die glauben, am 15. Juni gegen Marokko die beste iranische Mannschaft aller Zeiten zu sehen zu bekommen. Carlos Queiroz hat dem Iran personelle Kontinuität und defensive Stabilität gebracht. Hinzu kommt nun die Offensivpower von Alireza Jahanbakhsh, Saman Ghoddos, und Sardar Azmoun. Jahanbakhsh ist beim AZ Alkmaar womöglich einer der besten Spieler der Eredivisie und Ghoddos hat dabei geholfen, den schwedischen Klub Ostersund in die KO-Phase der Europa League zu schießen.
Die Iraner glauben, das Azmoun beim russischen Klub Rubin Kasan bisher nicht sein volles Potenzial abrufen konnte. Dennoch ist er mit 23 Toren in 31 Länderspielen einer der besten Vollstrecker, der je für den Iran auflief. Marokko, Portugal und Spanien sind sicher keine leichten Aufgaben. Doch Carlos Queiroz wird in Russland einen guten Plan haben und die Fans wollen alles dafür tun, eine Heimspielatmosphäre zu schaffen. Die Tage, in denen der Iran mit einem Punktgewinn oder ein paar Toren bei der WM zufrieden waren, sind vorbei. Die Team-Melli-Fans glauben an ihre Mannschaft. Vor allem aber glauben sie an Carlos Queiroz.
Zur Person: Art Eftekhari ist Fußball-Autor und Kommentator. Seine Leidenschaft wurde praktisch, als er 2016 Team Melli Talk startete, einen Podcast, der sich ausschließlich auf iranischen Fußball konzentriert. Art ist ein begeisterter Anhänger der iranischen Nationalmannschaft; Team Melli Talk ist auf YouTube verfügbar.
Frankreich – Im Jahre Zwanzig nach 1998
von Julien Duez (@Fluxke)
Viel Wasser ist die Seine, die Loire, die Rhône oder die Garonne hinabgeflossen seit dem 12. Juli 1998. Zwanzig Jahre nach dem Triumph Frankreichs bei der Heim-WM wünscht sich natürlich jeder ein neues Wunder. Frankreich, sagt man, ist das Land der sechzig Millionen Nationaltrainer. Kurz nachdem der Nationaltrainer Didier Deschamps seinen Kader bei einer Nachrichtensendung des Fernsehsenders TF1 ankündigte, kamen schon tausende Kommentare in den sozialen Netzwerken. „Mensch! Kein Bouna Sarr? Der Typ ist aber der beste Rechtsaußen Frankreichs! Dies hat er im Europa League Finale mit Olympique Marseille bewiesen!“ oder „Benjamin Pavard? Der Junge aus Stuttgart? Alter, den kennt doch keiner und sein Klub ist auch kein Topverein! So blöd!“ Und dennoch glaubt jeder, dass Frankreich, zu den Topfavoriten gehört.
Wie bei jedem Wettbewerb. Denn bei uns herrscht diese Art Arroganz, die typisch für die französische Mentalität geworden ist: Frankreich ist Frankreich, mit seiner Geschichte, seinen Sehenswürdigkeiten, seiner Kultur, seinem Image. Und deswegen muss Frankreich gewinnen, egal, ob die anderen stärker sind. Im Hexagon, gibt es keine andere Option als den Sieg. Eine solche Mentalität ist natürlich sehr motivierend. Dennoch hilft es auch nicht, alles schön zu reden. Nehmen wir beispielsweise die WM von 2002. Frankreich kommt als amtierender Weltmeister zur ersten Endrunde nach Asien. Die Zidane-Truppe scheint unbesiegbar; Senegal, Uruguay und Dänemark sind bessere Sparringspartner. Seien wir ehrlich, der erste Platz ist für uns. Das Ergebnis: kein Sieg, ein Remis, zwei Niederlagen und am Ende, Tabellenletzter. Schande! Skandal! Die Spieler sind so schlecht! Und plötzlich werden die Helden die Allerletzten. Wie immer in Frankreich. Ein Land, dass seine Spieler nicht mag und eine sehr besondere Sicht auf den ballon rond hat. Nach dem Fiasko von Südafrika 2010 und der ziemlich guten Kampagne von Brasilien 2014 muss Frankreich sich mit Australien, Peru und Dänemark (oje, nicht schon wieder!) auseinandersetzen. Ohne Herablassung, ohne Vorurteile.
Der besondere Fall des Paul Pogba
Bei jeder Krise muss man Sündenböcke finden. In Frankreich sind das die Spieler – seltener der Trainer selbst. Nach der Pleite von 2002 wurden die Helden von 1998 schwer kritisiert. Sie seien dilettante Stars geworden, ohne echte Liebe für die Fahne, das Land und das Publikum. Dann kam 2010 und der peinliche Streik von Knysna. Die Täter waren insbesondere Spieler mit Migrationshintergrund, zum Beispiel Nicolas Anelka, Patrice Evra und Eric Abidal, aber auch Franck Ribéry, der zwar in Frankreich geboren wurde und aufgewachsen ist, der aber 2006 zum Islam übertreten ist. Von den sogenannten „Racailles“ (Gesindel auf Deutsch) hatte plötzlich das ganze Land – sogar die Politiker – die Nase voll von all diesen Millionären aus der Banlieue, die ihr Land nicht respektieren. Wie immer war die Situation etwas schwieriger, als nach außen hin es schien. Aber wie gesagt, Frankreich ist ein Land, das seine Spieler nicht wirklich mag, besonders wenn sie schlecht sind.
Seitdem hat der französische Verband FFF probiert, den Kader zu sanieren und ein frischer Wind weht. Didier Deschamps hat einen neuen starken Kader aufgebaut und gute Ergebnisse gehabt. Hinzu kommen neue Idole: zuerst der Stürmer Olivier Giroud, der den Real Madrid-Angreifer Karim Benzema verdrängt hat. Dann, Linksaußen Antoine Griezmann. Der Hübsche von Atlético Madrid sieht aus wie der ideale Schwiegersohn: klug, höflich, stark und erfolgreich. Und auch ist er weiß, wie sein Kumpel Giroud. Kein Missverständnis: Frankreich ist kein rassistisches Land, aber der Gedanke, dass zu viele Spieler mit Migrationshintergrund die Grande Nation vertreten, ist leider immer noch präsent. Diesmal blicken alle Augen auf Paul Pogba. Mit 25 Jahren gilt er als einen der kreativsten Spielführer seiner Generation. Der Mittelfeldspieler von Manchester United ist auch für seine ausgefallenen Outfits sowie seine verrückten Frisuren bekannt. Er besitzt obendrein ein außergewöhnliches Talent und kann den Unterschied auf dem Feld machen. Deswegen sind alle Augen auf ihn gerichtet. Denn wenn er gut spielt, wird er zum Helden der Nation. Aber wenn Frankreich zu früh ausscheidet, wird Pogba zum neuen „Racailles“, zum Sündenbock, der sich zu viel um seine Frisuren kümmert und sich nicht genug auf das Spiel konzentriert. In Frankreich ist die Geschichte immer die gleiche. Und sie wiederholt sich wieder und wieder. Leider zu oft wegen schlechter Gründe.
Zur Person: Julien Duez ist ein Pariser, lebt aber in Brüssel, wo er für das Neue Deutschland und So Foot schreibt. Er ist ein Fan von AJ Auxerre und schreibt gelegentlich über den Fußball östlich der Elbe.
Australien – Die Bürde der Socceroos
von Lennart Birth (@LennartBirth)
Oft versucht, oft gescheitert. Neun Mal hat das Australische Nationalteam im Versuch, sich für eine WM zu qualifizieren, versagt. In den letzten Jahren scheint sich dies zu ändern, seit 2006 konnte man sich vier Mal in Folge in die Endrunde spielen. Ihre wohl größte Fußball-Glanzstunde erlebten die Australier in Deutschland. Doch diese offenbarte auch eine zerrissene Sportnation.
Was verbindet den australischen Fußball mit Deutschland?
Zwei markante Jahreszahlen haben sich in die Historie der Nationalkicker von „Down Under“ eingeprägt – beide sind mit unserer Nation verknüpft. 1974 konnten sich die Socceroos (ein charmanter Spitzname, der das Wort „Soccer“ und das Nationaltier Känguru miteinander verknüpft) erstmals für eine Fußballweltmeisterschaft qualifizieren. Zuvor hatte die Ländervertretung, die 1922 ihr erstes Spiel bestritt, entweder gar nicht an dem Turnier teilgenommen oder war schlichtweg in der Qualifikation gescheitert. Als dann auf deutschem Boden zum ersten Mal eine Teilnahme möglich wurde, musste man sich schon in der Gruppenphase mit dem späteren Weltmeister BRD messen und unterlag in Hamburg mit 0:3. Weil es schon zuvor gegen die DDR eine 0:2-Pleite gab und das Team gegen Chile nicht über ein torloses Remis hinweg kam, war der erste Ausflug auf das große internationale Fußballparkett bereits in der Gruppenphase beendet.
„Während Australiens erstes internationales Spiel gegen Neuseeland im Jahr 1922 ausgetragen wurde, dauerte es bis zum ersten Qualifikationsversuch für eine Weltmeisterschaft bis 1965 und erst 1974 war ein solcher von Erfolg gekrönt. Bekanntermaßen dauerte es weitere 32 Jahre, bevor die Socceroos erneut der Weltelite beitreten konnten.“- offizielle Seite der Socceroos
Mehr als drei Jahrzehnte später gelang nach vielen verpatzten Versuchen eine erneute Qualifikation für die WM, die wieder in Deutschland stattfand. Und dieses Mal sollte es für die Socceroos ein überraschend erfolgreiches und letztlich schmerzhaftes Turnier werden. Unter der Leitung des niederländischen Coaches Guus Hiddink, der schon 2002 mit Fußballzwerg Südkorea für Furore sorgte, startete das Team in das Turnier und kämpfte sich bis in das Achtelfinale vor. Was dort geschah, beschrieb die FAZ als „[eine] der folgenschwersten Fehlentscheidungen dieser WM“. Über 90 Minuten schlugen sich die Australier gegen Italien mehr als wacker, um in der vierten Minute der Nachspielzeit aufgrund eines zweifelhaften Elfmeters und dem daraus resultierenden 0:1 in der K.O.-Runde auszuscheiden. Was wäre das wohl für eine Sensation gewesen, wenn die Mannschaft den späteren Weltmeister aus dem Wettbewerb geworfen hätte? Nach dem Spiel war die Enttäuschung auf australischer Seite ob des ärgerlichen Ausscheidens zunächst groß. Doch schnell fand Trainer Hiddink die passenden Worte für das beachtliche Abschneiden seiner Elf:
„Trotzdem bin ich sehr, sehr stolz auf mein Team.“ – Guus Hiddkink nach dem 0:1 gegen Italien 2006
Ganze zehn Spieler des Kaders von damals waren bei einem englischen Verein aktiv, nur zwei der Nationalspieler kickten in ihrem Heimatland. Diese Zahlen unterstreichen, dass in Australien dem Fußball eher eine untergeordnete Rolle zukommt. Australian Football, Rugby und Cricket können wohl zu den wichtigsten Sportarten des Kontinents gezählt werden.
Geringe Erwartungen an das aktuelle Nationalteam
Hinzu kommt ein Phänomen, das wohl in direkter Beziehung zur Geschichte des Einwanderungslandes Australien steht. Viele der Menschen, die sich für den viertgrößten Sport des Landes begeistern, verfolgen vor allem die Teams der großen Ligen, so etwa in Europa, da sie eine Verbindung zu ihren Herkunftsländern bedeuten. Einer von ihnen ist der dreißigjährige Vito Doria, Australier mit italienischen und philippinischen Wurzeln, der 120minuten mehr über Sport und Gesellschaft in seiner Heimat erzählt hat. Als Mitwirkender der Seite Forza Italian Football verfolgt er in erster Linie den Sport im Land seiner Vorfahren, wirkte aber mehrmals auch als Gast im Football Nation Radio in Australien mit. Angesprochen auf die Rolle des Fußballs im Allgemeinen erläutert er:
“Obgleich Australien eine leidenschaftliche Sportnation ist, steht der Fußball wohl nur an vierter Stelle in diesem Land. Trotz des multikulturellen Charakters des Landes ist die Bevölkerung vordergründig anglo-keltisch [von britischen Einwanderern] geprägt und die Hauptsportarten sind Australian rules football, Rugby und Cricket.“
Er ist sich ziemlich sicher, dass die Weltmeisterschaft in seinem Land nicht eine solche Euphorie entfachen wird, wie etwa in Europa, meint aber dennoch, dass ein gewisser Anteil der Australier die Spiele verfolgen oder zumindest wahrnehmen wird. Auch erzählt Doria, dass es ähnlich wie in den großen Fußballnationen öffentliche Liveübertragungen gäbe und dass viele Australier von ihrer Mannschaft erwarten würden, dass diese „das Maximum aus sich heraushole“. Geht es um die Erwartungen von Experten und Fans wird jedoch schnell klar, dass wohl kaum jemand an einen Erfolg wie 2006 glaubt und dass die Erwartungen an das Turnier im Sommer eher niedrig sind.
„Auf dem Papier ist das momentane Team wohl das schwächste seit der WM 1974, wenn nicht gar aller Zeiten. Es gibt nicht viele Stärken, von denen man sprechen könnte, aber viele Menschen erwarten von australischen Mannschaften, hart zu kämpfen und für 90 Minuten zu spielen. Das Weltmeisterschaftsteam von 2006 bestand aus zahlreichen Spielern, die in Europas Topligen aufliefen und gilt heute als Australiens ‚Goldene Generation‘. Zu Spielern wie Mark Schwarzer, Lucas Neill, Harry Kewell, Mark Bresciano und Mark Viduka kam mit Guus Hiddink ein exzellenter Trainer, der aus solchen Spielern das Maximum herausholen konnte. Eine derartige Überraschung wird vermutlich so schnell nicht wieder passieren, da der aktuellen Mannschaft Spieler aus den europäischen Ligen fehlen. Es bedarf außerdem einer Erneuerung in Australiens Nachwuchsentwicklung und die Trainer müssen die vorhandenen Stärken der Spieler besser mit neuen Fertigkeiten kombinieren.“
Birgt der australische Fußball ernsthaftes Konfliktpotential?
Für ihn persönlich sei das Spiel gegen Italien 2006 ein ganz besonderes gewesen, traf Australien doch auf das Land, aus dem seine Familie nach dem 2. Weltkrieg ausgewandert ist und dem er sich heute wie viele Italo-Australier noch sehr verbunden fühlt. Der Sport deckte damals auf, was man als tiefsitzendes Problem der australischen Gesellschaft bezeichnen könnte: Viele junge Menschen, deren Vorfahren nicht aus dem britischen Raum eingewandert sind, fühlen sich noch heute mehr dem Land ihrer Eltern und Großeltern verbunden, als ihrer Geburtsnation. In der logischen Konsequenz liegt ihnen im Fußball vor allem das Team des Herkunftslandes am Herzen und weniger das des Heimatlandes. Dieses fehlende Identifikationsgefühl mit dem australischen Sport und der Nation in Gänze offenbarte sich beim Aufeinandertreffen mit Italien im Achtelfinale. Doria erinnert sich an 2006 zurück und berichtet:
„Für andere Italo-Australier bedeutete die Squadra Azzurra alles und die Socceroos repräsentierten sie trotz der ethnischen Vielfalt des Teams nicht angemessen. Die Socceroos werden nach wie vor von vielen – wenn nicht gar den meisten – Azzuri-Fans als ein Team für die Menschen britischer Herkunft, oder, um es abfällig zu sagen, die ehemaligen Häftlinge und Verurteilten, angesehen. Ich wurde dazu erzogen, stolz auf mein italienisches Erbe zu sein, die Azzuri waren ein starkes Team als ich aufwuchs.“
Die damalige Fehlentscheidung und das Ausscheiden Australiens hätten schwerwiegende Folgen gehabt und die Sportnation Australien gespalten, da sich der Frust über das italienische Team beispielsweise in den sozialen Medien auf die Italo-Australier entlud, erzählt er weiter. Diese wiederum verteidigten ihren Nicht-Support der Socceroos damit, dass man ihnen abseits des Fußballs auch nicht die Chance einräumen würde, sich als Australier zu definieren. Dennoch wünscht sich Doria heute ein erfolgreiches Abschneiden der Socceroos im Sommer und dass dem Fußball in Australien in Zukunft eine größere Bedeutung zukommen möge. Dafür müssten jedoch Hemmnisse in Sport- und Investitionspolitik, sowie eine bewusste mediale Hegemonie anderer Sportarten beseitigt werden. Dann könne der Fußball es schaffen, die Gesellschaft zusammenzuführen und bestehende kulturelle Differenzen endlich zu überwinden. Obwohl Australiens Fußball lange nicht alle Menschen des Landes gleichermaßen in seinen Bann zieht, birgt er doch starkes Potential für die Zusammenführung verschiedener ethnischer Gruppen, denen es teilweise noch heute schwer fällt, sich als eine Gemeinschaft zu begreifen. Und vielleicht kann die Nationalmannschaft Australiens im Sommer in Russland einen wichtigen Schritt gehen und dazu beitragen, die Nation zusammenzuführen.
Zur Person: Lennart Birth schreibt seit 2017 für 120minuten. Er ist Fußballfan aus Sachsen-Anhalt, wirkte an den Kalenderblättern mit, schrieb bisher einen Longread und unterstützt die Redaktion bei weiteren Aufgaben. Er ist bei Twitter als @LennartBirth zu erreichen.
Peru – Ein Kapitän auf Abwegen?
von Lennart Birth (@LennartBirth)
In völlig romantisierender Verklärung eines Sportes, in dem der Wettkampf miteinander schon längst wirtschaftlichen Interessen und machtpolitischen Ränkespielen gewichen zu sein scheint, könnte man über eine Fußballweltmeisterschaft sagen: Es geht um internationale Verständigung und Fairplay. Auswahlspieler aus den unterschiedlichsten Nationen messen sich miteinander, der Beste gewinnt. Doch was, wenn sich ein Team oder ein einzelner Spieler einen ungerechten Vorteil zu verschaffen versucht?
Mit einem solchen Vorwurf sah sich der peruanische Fußball im letzten Jahr konfrontiert, genauer Perus Fußball-Star Paolo Guerrero. Einst kickte der 34jährige für die (ehemaligen) Größen im deutschen Fußball, den HSV und FC Bayern. Heute ist er beim brasilianischen Verein Flamengo Rio de Janeiro aktiv. Seit 2004 spielte der Südamerikaner über 80 Mal in der Nationalmannschaft seines Heimatlandes. Im Oktober 2017 dann der große Schock: Guerrero wird nach dem Qualifikationsspiel gegen Argentinien positiv auf einen Bestandteil von Kokain getestet. Der Internationale Sportgerichtshof nimmt Ermittlungen auf. Hat Guerrero versucht, sich durch die Einnahme illegaler Substanzen einen Vorteil zu verschaffen? Der Spieler selbst bestreitet diesen Vorwurf, ein verunreinigtes Medikament sei die Ursache für die auffälligen Blutwerte gewesen. Nachdem der CAS den Profisportler in einem milden Urteil für zunächst sechs Monate sperrt, was für die Teilnahme an der Fußballweltmeisterschaft in Russland gereicht hätte, folgt im Frühjahr 2018 die nächste herbe Überraschung für den Star, der die Einnahme von Drogen oder anderen verbotenen Substanzen nach wie vor vehement dementiert. Die Sperre wird auf 14 Monate ausgeweitet und Guerreros Traum von der WM 2018 scheint zerstört.
“‚Ich verstehe nicht, wie man mir eine 14-monatige Sperre geben kann, mir meinen WM-Traum raubt – und das ohne Rechtfertigung und Argumente‘, sagte Guerrero nach dem Urteil. Er beteuert nach wie vor ‚sauber‘ zu sein – bisher konnte er diesen Gegenbeweis jedoch nicht erbringen.“- Deutsche Welle
Zurück nach langer Turnierabstinenz
Bei all dem Wirbel um die Gerichtsverhandlungen des peruanischen Stars und Kapitäns gerät die sportliche Leistung des Nationalteams in den Hintergrund. Als letztes Team gelang es den Spielern unter Trainer Ricardo Gareca, sich für die Endrunde in Russland zu qualifizieren. Nach dem Sieg im Playoff-Rückspiel gegen Neuseeland feierte eine ganze Nation die erste Teilnahme an einer WM seit 1982. Erst vier Mal gelang es dem Land zuvor, sich in die Endrunde um den Weltpokal zu spielen. Nach dem Viertelfinaleinzug 1970 und der letzten Teilnahme vor 36 Jahren folgte eine lange Durststrecke für Mannschaft und Fans. Dass es nun wieder mit der Qualifikation geklappt hat, war für viele Experten eine Überraschung, konnte sich die Nationalelf doch anstelle der als stärker eingeschätzten Chilenen für die Playoff-Spiele qualifizieren, die anschließend erfolgreich bestritten wurden. Nach den Qualifikationsspielen landete Peru hinter Kolumbien und vor ebenjenen Chilenen auf Platz 5, woraufhin die Mannschaft in den Playoffs Neuseeland besiegte, was für die WM-Teilnahme reichte.
In der Gruppenphase warten nun Fußballschwergewicht Frankreich, sowie Australien und Dänemark. Zwischen letzteren beiden und der peruanischen Nationalmannschaft könnte sich ein interessanter und enger Kampf um den zweiten Platz entspinnen. Die Chancen stehen gut, dass es die Mannschaft in die K.O.-Runde schafft.
Der peruanische Fußball und Deutschland
Der peruanische Fußball dürfte hierzulande wohl nur Insidern ein Begriff sein. Erst ein einziges Mal trafen Deutschland und Peru auf internationaler Ebene aufeinander. 1970 schlug die BRD die Südamerikaner in der WM-Vorrunde mit 3:1.
Und auch die meisten Spieler der aktuellen Auswahlmannschaft werden dem deutschen Fußballfan wohl relativ unbekannt sein. Neben dem geschassten Kapitän Guerrero gibt es lediglich zwei andere Akteure, die sich im deutschen Profifußball einen Namen gemacht haben. Zweifelsohne sei da der Offensivspieler Jefferson Farfan zu nennen, der von 2008 bis 2015 für den FC Schalke 04 in der Bundesliga auflief und nun in der russischen Hauptstadt bei Lokomotive Moskau unter Vertrag steht. Und für einen hätte der Dopingskandal rund um Paolo Guerrero sogar sein Gutes haben können: Claudio Pizarro, Profi beim 1. FC Köln, hoffte auf eine Nachnominierung und kommentierte auf der Foto-Plattform Instagram:
„Egal was passiert, egal wie weit das Ziel, das du angepeilt hast, entfernt scheint, verliere niemals den Glauben, dass du es schaffen wirst“ – Claudio Pizarro
Mit Sicherheit malte er sich aus, mit diesem Leitmotiv gemeinsam mit den Kollegen der peruanischen Nationalmannschaft in Russland für ein kleines WM-Wunder zu sorgen. Doch es gab eine weitere Kehrtwende: ein Schweizer Zivilgericht schob die Sperre von Guerrero auf, der Spieler reist nun doch nach Russland. Der Kapitän auf Abwegen stiehlt seinen Landsmännern die Show.
Zur Person: Lennart Birth schreibt seit 2017 für 120minuten. Er ist Fußballfan aus Sachsen-Anhalt, wirkte an den Kalenderblättern mit, schrieb bisher einen Longread und unterstützt die Redaktion bei weiteren Aufgaben. Er ist bei Twitter als @LennartBirth zu erreichen.
Dänemark – Danish Dynamite Reloaded?
von Claus Røndbjerg-Christensen (@ClaudeInFrench)
Euphorie! Das war das Gefühl, das bei Christian Eriksen und der gesamten dänischen Nationalmannschaft an diesem Freitag, den 14. November zurückblieb. Sogar an einem kalten Abend waren die dänischen Fans erstens oben ohne und zweitens sprachlos aufgrund des Eindrucks, den das Nationalteam hinterlassen hatte, nachdem Dänemark die Republik Irland mit 5:1 überrollt hatte und nun voll für die Weltmeisterschaft in Russland qualifiziert war. Das an sich war schon ein Erfolg, der aber noch dadurch bedeutsamer wurde, dass das letzte Turnier, an dem Dänemark teilgenommen hatte, die WM 2010 war, und die vorherigen Ergebnisse bestenfalls noch als “düster” zu beschreiben waren.
Drei der Tore im Spiel gegen Irland wurden von jemandem erzielt, der bald zum Glücksbringer im dänischen Fußball werden sollte, von Christian Eriksen. Die Bühne war nun bereitet, während er seinen rechtmäßigen Platz als neue Größe im dänischen Fußball einnahm und damit die Nachfolge von Spielern wie den Laudrups, Elkjær und Olsen antrat.
Wenn man sich allerdings den Erfolg in Irland anschaut und ihn mit der Spielweise Dänemarks in der frühen Phase der WM-Qualifikationsgruppe E vergleicht, würde man kaum glauben, dass es sich hier um ein und dieselbe Mannschaft handelt. Dänemark startete mit Niederlagen sowohl gegen den späteren Gruppensieger Polen als auch gegen den kleinen Fisch Montenegro, die zu diesem Zeitpunkt auf dem 60. Platz der FIFA-Rangliste standen.
Wenn Menschen seinerzeit sagten, dass Dänemarks Chancen auf eine WM-Teilnahme gut standen, hätten sie wohl medizinisch versorgt werden müssen. Allerdings brachte ein zufriedenstellender 4:1-Erfolg über Kasachstan im nächsten Spiel ein wenig Optimismus zurück, der allerdings kurze Zeit später durch ein 0:0-Unentschieden in Bukarest gegen Rumänien komplett zerstört wurde.
Kleine Hilfe vom großen Bruder
Dänemark konnte sich nun aus eigener Kraft nicht mehr qualifizieren, mussten darauf hoffen, dass Polen und Montenegro Punkte liegen ließen UND durften selbst keine weiteren Punkte in den noch verbleibenden Spielen verlieren, wenn sie wenigstens noch eine Chance auf die Playoff-Spiele zur WM bewahren wollten.
“Eine Herausforderung war das, wofür ich hergekommen bin, und ich habe bekommen, was ich wollte”, waren die Worte des neu ernannten Nationaltrainers Aage Hareide auf der Pressekonferenz vor dem wichtigen Spiel gegen Polen. Hareide wusste, dass die Presse bereit war, einen vollen Angriff auf seine Person zu fahren, sofern sich die Spielweise und der Mangel an Punkten nicht ändern und die dänische Mannschaft die Qualifikation für die WM in Russland verpassen würde.
Der Umstand, dass Hareide Norweger ist, spielt dabei auch eine Rolle. Norwegen und Dänemark hatten schon immer so ein “Kleiner Bruder – großer Bruder”-Verhältnis zueinander, was auf historische Probleme zwischen beiden Ländern zurückzuführen ist. Der ehemalige Nationaltrainer Morten Olsen hatte sich oft darüber lustig gemacht, wie Norwegen unter seinem Trainer Egil ‘Drillo’ Olsen spielte. Morten Olsen nannte den norwegischen Fußball häufig “eine rückwärtsgewandte Art, zu spielen” und Norwegen nutzte nur lange Bälle auf einen großen Stürmer in der Hoffnung, dass andere Spieler von den Abprallern profitieren würden. Auch wenn Hareide selbst diesen Spielstil bei Malmö selbst nicht pflegte, wurde er weiterhin entsprechend beurteilt und musste zeigen, dass er tatsächlich in der Lage war, Dänemark zu einem dringend benötigten großen Turnier zu führen. Mit anspruchsvollen Siegen gegen Armenien (4:1) und Polen (4:0) änderte sich dann die öffentliche Meinung und durch Siege gegen Montenegro benötigte Dänemark nur noch einen Punkt gegen Rumänien und bekam ihn auch durch ein 1:1 in Kopenhagen. Dänemark wurde Zweiter in der Gruppe musste “nur noch” zwei Playoff-Partien spielen.
Entscheidung in Dublin
Die Ziehung ergab, dass Dänemark gegen Irland antreten musste. Eine Mannschaft, gegen die Dänemark zuvor selten gespielt hatte. Das letzte Freundschaftsspiel datiert zurück auf das Jahr 2002, das war vor mehr als 15 (!) Jahren. Diese Partie hatte Dänemark seinerzeit mit 0:3 verloren. Davon abgesehen, gab es sieben weitere Vergleiche mit Irland, von denen Dänemark lediglich einen gewinnen konnte. Allerdings war Dänemark mit besseren Spielern vor der ersten Begegnung in Kopenhagen am 11. November 2017 leicht favorisiert. Das Spiel endete 0:0, obwohl Dänemark über 72% Ballbesitz hatte. Vor dem Rückspiel in Dublin sah es nicht gut aus. Hareide wusste, dass ihnen eine starke irische Defensive Probleme bereiten würde und dass Irland bei Standardsituationen stark war. Er entschied sich für einige Änderungen vor dem zweiten Spiel und brachte Jens Stryger-Larsen (Udinese) für Rechtsverteidiger Peter Ankersen (Kopenhagen) sowie für die Offensive den schnellen Leipziger Angreifer Yussuf Poulsen anstelle von Strafraumstürmer Andreas Cornelius (Atalanta). Die zweite Veränderung muss als Geistesblitz bezeichnet werden, weil Poulsens Geschwindigkeit und Agilität für Irland zu großen Problemen führte.
Das Spiel konnte dann für die Dänen nicht schlechter beginnen. Es waren gerade sechs Minuten gespielt, als Irlands bester Akteur des Hinspiels, Shane Duffy, nach einem schlimmen Fehler von Stürmer Nicolai Jørgensen zum 1:0 für die “Boys in Green” traf. Leicester Citys Torhüter Kasper Schmeichel kam nicht mehr an den Ball. Das Stadion in Dublin explodierte und die Iren feuerten ihr Team leidenschaftlich an, weil sie dachten, es würde ein traumhafter Abend für sie werden. Plötzlich wurde das Stadion in der 28. Minute mucksmäuschenstill. Chelsea-Verteidiger Andreas Christensen, zu dem Zeitpunkt erst 21 Jahre alt, traf zum Ausgleich. Aufgrund der Auswärtstor-Regelung musste Irland nun ein weiteres Mal treffen. Bevor Irland aber überhaupt einen Angriff aufbauen konnte, tauchte Tottenhams Christian Eriksen nur drei Minuten später auf und erzielte ein großartiges Tor. Ausgangspunkt war der neu in die Mannschaft gerückte Yussuf Poulsen, der einem irischen Verteidiger den Ball abjagte und Nicolai Jørgensen bediente, der schließlich Christian Eriksen mitnahm. Dieser versenkte den Ball in die obere Ecke hinter Irlands Torhüter Zach Randolph. Es stand nun 2:1 aus dänischer Sicht. Irland musste jetzt drei Tore schießen. Christian Eriksen bekam allerdings die Zeit und den Raum, zwei weitere Treffer zu erzielen, seinen Hattrick zu komplettieren und Dänemark fast im Alleingang zur WM zu schießen. Der frühere Arsenal- und jetzt Rosenborg-Stürmer Nicklas Bendtner erzielte das letzte Tor durch einen Elfmeter. Am Ende hieß es Irland: 1, Dänemark: 5.
Die Qualifikation Dänemarks für die Weltmeisterschaft in Russland bedeutete, dass sowohl die Medien als auch die Menschen ihre Meinung über Trainer Aage Hareide änderten. Sie wissen jetzt, dass der Mann in der Lage ist, das Team zu einem großen Turnier zu bringen, obwohl er die Nachfolge von Morten Olsen angetreten hatte.
1986: Danish Dynamite zündete zum ersten Mal
Die Weltmeisterschaft ist für Dänemark und den dänischen Fußball generell immer ein Mysterium gewesen. Die erste WM-Teilnahme gab es 1986 in Mexiko. Ein Turnier, in dem das dänische Angriffsspiel dazu führte, dass sie zu Favoriten auf den Gesamtsieg wurden.
1986 ist Dänemarks beste und gleichzeitig schlimmste WM-Erinnerung. Mit profilierten europäischen Stars wie Michael Laudrup, Søren Lerby, Frank Arnesen, Morten Olsen, Allan Simonsen und Preben Elkjær spielte die Mannschaft mit den besten Fußball, den Dänemark und sogar Teile der Welt je gesehen hatten zu dieser Zeit. Dänemark gewann das erste Spiel im Nezahualcóyotl-Stadion gegen Schottland mit 1:0, aber es war die nächste Partie, die den Dänen wirklich die Augen öffnete. Im Spiel gegen Uruguay gewann man nicht nur 6:1 (!), sondern die Spielweise war eine meisterliche Vorstellung, die nur durch das Europameisterschaftsfinale gegen Deutschland 1992 in Schweden noch übertroffen wurde. “Total Football” war holländisch, aber “Danish Dynamite” war geboren und Dänemark die Mannschaft, die die Leute unterstützten und die ihnen wichtig war.
Die Weltmeisterschaft 1986 war der Ort, an dem Dänemarks bestes und schlechtestes Spiel gespielt wurde. Von einigen wurde Dänemark als einer der Favoriten auf den WM-Sieg ausgemacht, was in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um Dänemarks erste WM-Teilnahme handelte, durchaus eine Leistung war. Nachdem man sich mit wehenden Fahnen qualifiziert hatte und die einzige Mannschaft war, die die maximale Punktzahl (6) in den Gruppenspielen erreicht hatte, ging es gegen Spanien. Später wurde Spanien in Dänemark als “Dänemarks Omen” bekannt. So gut, wie man in der Gruppenphase war, so schlecht schien man nun gegen Spanien zu spielen. Ein entfesselter Emilio Butragueño erzielte vier Treffer und einer davon resultierte aus einem schlechten Rückpass von Manchester Uniteds Innenverteidiger Jesper Olsen. Dieser Pass sollte Olsen noch lange verfolgen und zu einem geflügelten Wort im dänischen Fußball werden, das auch heute noch benutzt wird: der “Jesper-Olsen-Rückpass”. Die Unfairness ist auffällig, verglichen mit dem Umstand, dass Olsen in der englischen Meisterschaft als Innenverteidiger drei Tore erzielt hatte. Ein Fakt, der aufgrund dieses Rückpasses einfach in Vergessenheit geriet. Dänemark spielte dann noch in weiteren Weltmeisterschafts-Endrunden, wie 1998, 2002 und 2010, bevor es sich jetzt für die WM in Russland qualifizierte. Keine dieser Mannschaften reicht aber an das Team und die Spielweise von 1986 heran.
Zur Person: Claus Røndbjerg-Christensen ist Redakteur des @DanishFooty-Accounts auf Twitter, 33 Jahre alt, Jurist, und arbeitet als Anwalt bei einer privaten Versicherungsgesellschaft.
Argentinien – Jetzt oder Nie für Messi & Co.
von Christoph Wagner (@wagnerc23)
Argentinien: bei diesem Wort rollen einem Namen wie Alfredo di Stefano, Diego Maradona, Juan Román Riquelme und natürlich Lionel Messi von der Zunge. Hierbei fällt es auch auf, dass Argentinien bei Weltmeisterschaften nicht sonderlich beeindruckte außer bei der Heim-WM 1978 sowie 1986, als Maradona die Hand Gottes brauchte, um den Titel ein zweites Mal nach Buenos Aires zu holen. Selbst bei den Kontinentalmeisterschaften, der Copa América ist man gegenüber Uruguay mit 14 zu 15 Titeln im Hintertreffen. Einziges Trostpflaster: Brasilien, der Erzrivale kommt nur auf 8 Titel.
Wird es diesmal zum großen Wurf reichen? Auf dem Papier gehört Argentinien wie immer zum Kreis der Favoriten dazu; Messi, di Maria, Otamendi sowie Higuain untermauern diese These. Reichen aber Namen, um ein Turnier zu gewinnen? Die Beziehung zwischen der Nationalmannschaft und Lionel Messi ist eine schwierige. Zwischen 2014 und 2016 gab es drei Finalniederlagen: bei der WM in Brasilien, 2015 und ‘16 jeweils gegen Chile im Finale der Südamerikameisterschaft. DREI. In Folge. Mit Messi. Logisch, dass Oliver Ruggeri nun von ihm verlangt, sich ausschließlich auf die WM in Russland zu konzentrieren, um seiner Karriere die Krone aufzusetzen. Nach dem dritten Finale in Folge kam dann der logische Rücktritt im Juni 2016 und der ebenso logische Rücktritt vom Rücktritt nur wenige Wochen später.
Das Team steht und fällt mit Messi. Beispiel? Im März wurde die Albi-Celeste von Spanien 6:1 gedemütigt. Nun ist Fußball bekanntermaßen ein Teamsport und ein Spieler allein kann kein Turnier gewinnen, auch wenn es ein Lionel Messi und er der derzeit beste Spieler ist. Die Probleme gehen viel tiefer. In welcher Formation soll Argentinien auflaufen? Der Trainer Jorge Sampaoli bevorzugt eine Dreierkette, die hoch steht. Allerdings sind argentinische Verteidiger von Weltklasseformat derzeit Mangelware, sodass diese Option ausfällt. Wie für viele andere auch, ist Russland 2018 die letzte Chance für die Generation von Messi: Jetzt oder Nie.
Argentinien und die WM: Kontroversen
Abgesehen von den großartigen Spielern, die das Trikot der argentinischen Nationalmannschaft getragen haben, gibt es auch Momente, die sich ins kollektive Gedächtnis aller Fußballfans eingebrannt haben. Zwei sollen hier kurz erwähnt werden.
Die WM in 1966 in England hätte durchaus auch anders enden können, wenn nicht das Viertelfinale England-Argentinien gewesen wäre. Eine spannende Paarung auch damals schon. Es kam alles anders. Nach einer halben Stunde war das Spiel entschieden, obwohl kein Tor gefallen war. Was war geschehen? Der deutsche Schiedsrichter Rudolf Kreitlein hatte Antonio Rattin, den Kapitän, vom Platz gestellt. Dabei hatte er gar kein Foul begangen, sondern verlangte lediglich einen Übersetzer, da er Kreitlein nicht verstand. Dieser hatte ihn wegen ‘Violence of the Tongue’ des Feldes verwiesen. Rattins Reaktion: Unglaube. Mit den Händen in den Hüften und den Kopf schüttelnd stand er ruhig auf dem Platz und wollte es nicht wahrhaben. Er verwies auf seine Kapitänsbinde. Ohne Erfolg. Seine Mitspieler waren außer sich und hätten einen Platzverweis eher verdient als Rattin, der lediglich an einer guten Kommunikation interessiert war. Es dauerte geschlagene acht Minuten, bis er das Feld verließ. Aus Protest setzte er sich noch auf den roten Teppich, der eigentlich für die Queen reserviert war. Das Tor des Tages fiel erst in der 77. Minute. Geschossen hat es ein gewisser Geoff Hurst. Es war sein erster Treffer im Turnier und nicht sein letzter.
Die Konsequenz dieser Episode: Die Einführung von gelben und roten Karten bei Weltmeisterschaften war damit unausweichlich und 1970 in Mexiko, als das Gros der Spiele in Farbe im Fernsehen übertragen wurde, hatten alle Unparteiischen einen kleinen gelben und roten Karton in ihrer Brusttasche.
Die Rivalität zwischen England und Argentinien war damit begründet und wurde in den folgenden Jahren durch weitere Vorfälle zementiert. Zum Beispiel 20 Jahre später, Mexiko 1986. Erneut ein Viertelfinale und wieder gab es eine Situation, die bis heute für Gesprächsstoff sorgt.
Es läuft die 51. Minute und Argentinien hat den Ball. Maradona spielt einen Pass auf Valdano, der misslingt. Steve Hodge versucht zu klären, sein Versuch scheitert: der Ball kommt als Bogenlampe gefährlich vor das Tor von Peter Shilton. Maradona unterdessen ist weitergelaufen, taucht frei vor dem Keeper auf und springt in die Luft, um den Ball zu treffen. Der Ball geht über Shilton hinweg ins Tor. Alle englischen Spieler protestieren, aber der tunesische Schiedsrichter gibt den Treffer. Es war klar. Maradona hatte Hand gespielt, aber das Schiedsrichtergspann hatte nichts gesehen. 1:0 für Argentinien durch die Hand Gottes. Nur wenige Minuten später zeigte Maradona, dass er es auch anders kann. Er bekommt den Ball an der Mittellinie und umdribbelt fünf seiner Gegenspieler und den Torhüter und schiebt ein. Dieses zweite Tor wird später als Tor des Jahrhunderts bezeichnet werden. Diego Maradona: der Dr. Jekyll und Mr. Hyde des Fußballs.
Zur Person: Christoph Wagner wuchs in Magdeburg auf; nach dem Abitur am dortigen Sportgymnasium verschlug es ihn über England nach Paris, wo er seit einigen Jahren lebt und arbeitet. Er ist nicht nur einer der Gründungsväter hinter 120minuten, sondern schreibt auch selbst regelmäßig über das schöne Spiel – entweder in seinem eigenen Blog (dort auf Englisch) oder auf 120minuten, wo er sich dem Fußball vor allem aus einer historischen Perspektive widmet.
Island – Vom Land des Eises und des Feuers, der moderne Wikinger-„Überfall auf Russland“
von Jim Hart (@Catenacciari)
Als die letzten Minuten der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018 herunterliefen, wurden einige Dinge Wirklichkeit, die für Fußballexpert*innen und Fans gleichermaßen nur schwer zu glauben waren. Einerseits, dass Italien nach einer katastrophalen Leistung in seiner Qualifikationsgruppe mit Spanien das von Russland ausgerichtete Turnier verpassen wird, andererseits, dass die winzige Inselnation Island einen beträchtlichen Prozentsatz ihrer Bevölkerung mitnehmen wird, um das Land auf der weltgrößten sportlichen Bühne in den Wettbewerb treten zu sehen.
Eine Fußballrevolution
Vor ungefähr 20 Jahren begann auf Island, einem kleinen, kaum bewohnten Stückchen Vulkanfelsen im Nordatlantik, kurz hinter dem Polarkreis und Heimat von knapp 330.000 skandinavischen Nachfahren der großen Wikingerstämme, die große Teile von Nordeuropa und vielleicht sogar Nordamerika überfallen hatten, eine Fußballrevolution, die nun Früchte trägt.
Isoliert für hunderte von Jahren, entwickelten die Isländer*innen einen echten Gemeinschaftssinn und kommunalen Geist, der sie ermutigte, sich während der langen, sonnenlosen Winter in der arktischen Umgebung auf das Kollektiv zu verlassen. Herzlich und gemeinschaftszentriert, blieben diese großartigen Isländer*innen ihrem kulturellen Erbe treu und wussten, dass sie aufeinander zählen können, sollten die Zeiten mal schwierig werden. Ihre gegenseitige Abhängigkeit ist die Grundlage derjenigen Qualitäten, die ihr Leben definiert haben und die gleichermaßen die definierenden Qualitäten der sehr speziellen Wikingerkrieger der Nationalmannschaft geworden sind.
Sie sind nicht die einzigen Debütanten bei der Weltmeisterschaft 2018, sondern werden von Panama begleitet, deren unwahrscheinlicher Weg nach Russland durch riesiges Versagen der US-amerikanischen Nationalmannschaft an einem Abend im Oktober 2017 unterstützt wurde, als der fußballerische Zusammenbruch in der Stadt Couva in der Inselnation Trinidad & Tobago endgültig wurde.
Am gleichen Abend hatten die Männer aus Feuer und Eis im Laugardalsvöllur in Reykjavik, dem eigentümlich fantastischen Stadion des isländischen Nationalteams, eine aufstrebende kosovarische Mannschaft zu Gast, die den großen Teil der Gruppe I durch ihr intensives Spiel und ihre solide Defensive überrascht hatten. Was nach einer recht einfachen Qualifikationsgruppe für die Ukraine und Kroatien ausgesehen hatte, wurde für jeden außer Island zum Albtraum. Letztere dominierten die Gruppe, und zwar mit ansehnlichem Spiel, und bestimmten ihre Position durch Autorität und mannschaftlichen Fokus.
Island hatte sich nicht nur für seine erste WM qualifiziert, sie hatten die Gruppe auch überzeugend gewonnen. Die Ukraine wurde in Reykjavik 2:0 besiegt, im Rückspiel gab es ein 1:1 in Kiew. Eine Punkteteilung gab es gegen das andere Land, dass sich aus der Gruppe normalerweise hätten qualifizieren müssen, Kroatien nämlich. In Zagreb wurde verloren, in Reykjavik gewonnen. Die andere große Nation in Gruppe I war die Türkei, mit nur zwei tatsächlich verfügbaren Qualifikationsplätzen war klar, dass es eng werden würde, und die Türkei zeigte, dass sie weniger als bereit waren für diese Aufgabe. Island war in der Qualifikation weit gekommen und die Messlatte für die Türken lag zu hoch. Beide Spiele gegen Island gingen verloren.
“Nur eins der Ziele entlang des Weges”
In dieser ganzen Zeit wurde die Liebesbeziehung, die die Mannschaft mit ihren Fans aufgebaut hatte, mit jedem Spiel intensiver, wenn das überhaupt möglich ist. Geht man zurück zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich, dann waren dort bis zu 15.000 Fans mit der Mannschaft gereist, trotz der unwahrscheinlichen Chance, noch Tickets für Island-Spiele zu bekommen. An die 10.000 Fans mussten draußen bleiben und Kneipen oder Parties finden, wo sie ihre geliebten Männer in Blau spielen sehen konnten.
Man glaubt, dass bis zu 30.000 Menschen, oder ganze 10% der isländischen Bevölkerung, zur WM nach Russland reisen werden. Auch wenn die Gruppe, in die Island gelost wurde, mit Argentinien, Kroatien und Nigeria als eine der schwierigsten, wenn nicht sogar als die schwierigste gesehen wird: Der Umstand, dass die isländische Nationalmannschaft in ihrem ersten Weltmeisterschaftsspiel überhaupt, noch dazu in Moskau, dem von Lio Messi angeführten Argentinien gegenüberstehen wird, ist einfach zu aufregend für viele der isländischen Anhänger*innen.
Wenn Island am 16. Juni das Feld betreten wird, um gegen Argentinien zu spielen, wird das die Verwirklichung eines Ziels sein, von dem der Technische Direktor des isländischen Fußballverbandes, Arnar Bill Gunnarsson, sagt, dass es „nur eins der Ziele entlang des Weges“ sei. Arnar Bill weigert sich, zu sagen, ob Island über dem Plan liegt, gibt aber immerhin zu, dass „Island auf dem Zenit einer goldenen Generation um Gylfi und Aron und einige andere“ ist. Damit trägt er dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Gruppe an Spielern um eine sehr spezielle Sorte Männer handelt, die zur richtigen Zeit um die Ecke kamen.
Die Idee der „Goldenen Generation“ wurde viel diskutiert, besonders mit Spielern wie Gylfi Sigurdsson in der Mannschaft. Gylfi ist ein Star in der englischen Premier League und ist erst kürzlich für viel Geld, 45 Millionen Pfund nämlich, zu Everton gewechselt. Ganz nach typisch isländischer Art ist Gylfi aber nicht der Kapitän der Mannschaft; diese Ehre wird Aron Gunnarsson zuteil, der allerdings mit Arnar Bill nicht verwandt ist. Island hält sich nach wie vor an die skandinavische Tradition der Vaternamensgebung. Eine Ausnahme ist der berühmte Barcelona- und Chelsea-Star Eidur Smári Gudjohnsen, Sohn des Fußballers Arnór Gudjohnsen.
Arnar Bil erklärt: „Unser Kapitän wurde ausgewählt, weil er derjenige ist, der am härtesten arbeitet und dem Team das meiste gibt und nicht unbedingt, weil er der „beste“ Spieler ist. Unsere Kapitäne sollen dem Rest des Teams als Beispiel dienen und ein Zeichen für jüngere Spieler setzen.“
Fußball made in Island
In Island geht es stets um Teamwork und eine einheitliche Vision. Fragt jede/n beliebige/n Isländer*in, wie die Philosophie des Nationalteams aussieht und ihr werdet eine sehr konsistente Antwort bekommen, was sich von meisten anderen Nationen weltweit unterscheidet. Sie sind sehr selbstbewusst, was ihren Fußball angeht, sie haben definiert, was es heißt, ein isländischer Fußballspieler zu sein und sie wissen, was funktioniert und was nicht.
Wenn es in das Turnier in Russland 2018 geht, wird Island sein Spiel spielen. Sie mögen gewinnen, sie mögen verlieren, aber sie werden immer ihr Spiel spielen. Sie haben die Disziplin und werden ihren Trainern vertrauen, genau wie dem System, das sie dorthin gebracht hat, und sie wissen, dass sie es an jedem beliebigen Tag mit den besten Nationen der Welt aufnehmen können. Solange sie das alles auf den Rasen bringen, werden ihre Anhänger*innen von den Ergebnissen nicht enttäuscht sein. Komme, was wolle.
Argentinien und Nigeria sollten sich vorsehen, was sie da zugelost bekommen haben, und Island nicht unterschätzen. Kroatien weiß ja bereits, was sie erwartet und wird bereit sein für Island. Ich denke, dass uns das erste Spiel alles sagen wird, wenn Messi und Co. am 16. Juni in Moskau das Spielfeld betreten; sie sollten besser mental vorbereitet sein auf die extrem gut organisierten Männer in Blau… Falls nicht, haben sie vielleicht schon drei Punkte verloren und sind quasi bereits ausgeschieden, bevor der Wettbewerb überhaupt Fahrt aufgenommen hat.
Meine Vorhersage für Gruppe D:
1 > Argentinien
2 > Island
3 > Kroatien
4 > Nigeria
Leider würde Island in der ersten Runde der K.O.-Phase höchstwahrscheinlich auf Deutschland treffen, es sei denn, in der Gruppenphase passiert irgendetwas radikales. Das könnte für die Isländer eine frühe Katastrophe bedeuten.
Zur Person: Jim Hart ist Redakteur bei These Football Times.
Kroatien – Für eine Minute im Finale
von Anthony Zoric (@AnthonyZoric)
Kroatien wird in diesem Sommer in Russland an seiner vierten Weltmeisterschaft teilnehmen. Die derzeitige Stimmung ist nicht mal ansatzweise so aufregend wie 1998, als Kroatien die erste WM-Teilnahme verzeichnen konnte. Drei Jahre war der Unabhängigkeitskrieg gerade her, das ganze Land stand in Frankreich hinter der Mannschaft. Es gab einige bekannte Namen in diesem 1998er-Team: Zvonimir Boban, Davor Šuker, Robert Prosinečki und Robert Jarni, um nur einige zu nennen. Kapitän Boban führte Kroatien zu einem magischen dritten Platz mit einem Sieg über die Niederlande im Pariser Parc Des Princes. Was die Sache noch besser machte: Davor Šuker erzielte sein sechstes Turnier-Tor und gewann den Goldenen Schuh als bester Torschütze. Šuker gewann außerdem den Silbernen Ball und die ganze Welt wusste, wer das Team in Rot und Weiß war.
Alle Kroat*innen sind stolz auf dieses Team der WM 1998, aber alle fragen sich auch, was wohl gewesen wäre, wenn Lilian Thuram nicht kurz nach Šukers Führungstor gegen Frankreich im Halbfinale den Ausgleich erzielt hätte. Šukers Tor bedeutete für Frankreich den ersten Rückstand überhaupt im gesamten Turnier. Die Kroaten wähnten sich für nur eine Minute schon im Finale, bis Thuram unseren karierten Traum zerstörte. Unglücklicherweise erzielte der gleiche Thuram später das Siegtor und sorgte so für den Finaleinzug gegen Brasilien. Kroatien war so kurz davor, die WM zu gewinnen, was als eine der größten Überraschungen in die Sportgeschichte eingegangen wäre.
…zu Querelen im Verband 2018
Derzeit sorgt die Politik im kroatischen Fußball dafür, dass sich viele Menschen in Kroatien vom Spiel abgewendet haben. Es gibt eine starke Spaltung zwischen den Fans und denjenigen, die im HNS (dem kroatischen Fußballverband) das Sagen haben. Besonders stark sind die Animositäten zwischen dem Verein Hajduk Split und dem Verband. Davor Šuker ist im Moment Verbandspräsident, aber diejenigen, die den kroatischen Fußball verfolgen, werden wissen, dass Zdravko Mamic der Chef ist. Mamic leitet zufällig außerdem den Verein Dinamo Zagreb, während er gleichzeitig im Verband den Ton angibt, was ein klarer Interessenkonflikt ist. Viele sagen, dass er das Nationalteam als Werbeplattform für Spieler von Dinamo nutzt, um deren Marktwert zu erhöhen. Darüber hinaus ist Mamics Sohn Mario Spielervermittler und hat die meisten der Talente unter Vertrag, die aus der Jugend von Dinamo stammen. Mamic ist sehr erfolgreich gewesen damit, Spieler wie Luka Modric, Mateo Kovacic, Dejan Lovren, Eduardo Da Silva und viele andere zu verkaufen. Durch Transfers konnte Dinamo Zagreb in den letzten Jahren über 200 Millionen Euro einnehmen.
Mamic steht derzeit wegen Korruption vor Gericht. Er wird beschuldigt, illegal über 40 Millionen Euro von Dinamo Zagreb abgezweigt zu haben. Spieler wie Luca Modric und Dejan Lovren sind involviert und wurden erst kürzlich wegen Meineids angeklagt, weil sie vor Gericht gelogen haben sollen. Offensichtlich haben sich ihre Aussagen gegenüber Offiziellen sehr von denen unterschieden, die sie vor Gericht getätigt haben.
Der Traum von einem magischen Turnier
Dies ist nur eine weitere Ablenkung, die die Mannschaft nach Russland begleiten wird. Kroatien hatte sich glücklich qualifiziert, nachdem sie sich in ihrem letzten Qualifikationsspiel in eine schwierige Situation gebracht hatten. Ein Unentschieden gegen Finnland veranlasste den Verband dazu, Trainer Ante Cacic zu entlassen und Zlatko Dalic als Nachfolger zu benennen. Der Trainer nahm ein paar Veränderungen vor und Kroatien konnte einen 2:0-Sieg landen; Andrej Kramarić erzielte beide Treffer. In den Playoffs mit Hin- und Rückspiel bekam Kroatien dann Griechenland zugelost. Das erste Spiel endete in Zagreb 4:1, wodurch die zweite Begegnung, die 0:0 endete, nur noch eine Formalie war.
Kroatien wird in diesem Sommer mit einem Trainer in die WM starten, der bisher erst für fünf Spiele an der Seitenlinie stand. Die Spieler scheinen Dalić zu respektieren und seine Taktik wirkt besser als die des letzten Trainers Ante Cačić. Auf dem Papier hat Kroatien eins der besten Teams der Welt, weil die Spieler bei einigen der besten Mannschaften der Welt spielen: Real Madrid, Barcelona, Juventus, Liverpool, etc.. Gleichzeitig ist Kroatien seit 1998 nie wieder über die erste Runde hinausgekommen (man scheiterte 2002, 2006 und 2014). Dies ist die letzte Chance für eine talentierte Generation von Spielern, die wahrscheinlich zu alt sein wird, um 2022 noch einmal anzutreten. Die Kroaten träumen von einem weiteren langen Turnier wie 1998. Einem magischen Lauf, der dem kleinen Land einmal mehr Einheit und Stolz bringt.
Zur Person: Anthony Zoric schreibt für das Magazin Croatiansports. Er unterstützt Hajduk Split und Real Madrid. Außerdem ist er ein Anhänger des US-Fußballs und Vorsitzender des Hajduk-Fanclubs in Los Angeles.
Nigeria – Einmal Favorit
von Endreas Müller (@endreasmueller)
Nigeria ist eines der wenigen, vielleicht sogar das einzige afrikanische Team, das gefühlt zum Inventar der WM gehört. Seit 1994 haben sich die Super Eagles mit Ausnahme von 2006 immer für die Endrunde qualifiziert. Dennoch sind die Erfolge auf der großen Fußballbühne weitestgehend ausgeblieben. Turnier um Turnier wird den Nigerianern etwas zugetraut.
1994 sorgten die Debütanten für Aufsehen. In den Gruppenspielen schlug man Griechenland sowie mit Bulgarien den späteren Halbfinalisten und zog ins Achtelfinale ein. Dort war gegen Italien Schluss. Man haderte damit, dass man schwächere und gleichstarke Gegner dominierte, Trainer Westerhof gegen die ganz großen Fußballnationen aber zu vorsichtig spielen ließ.
Vier Jahre später in Frankreich war die Ausgangssituation noch besser. Die Nigerianer waren inzwischen amtierende Olympiasieger. Elf von vierzehn im Olympiafinale (gegen eine hervorragend besetzte argentinische Mannschaft) eingesetzten Spieler standen im WM-Kader. Bora Milutinovic, der mit seinen Mannschaften immer für einen Achtungserfolg bei den Endrunden gut war, saß auf der Trainerbank. In seinem Kader hatte er gestandene Profis von europäischen Topklubs – Taribo West und Kanu (Inter Mailand), Sunday Oliseh (Ajax), Finidi George (Betis) und viele andere. Aus dem Überraschungsteam von 1994 war 1998 ein Geheimfavorit geworden.
Die Gruppenphase lief vielversprechend. Nach Siegen gegen Bulgarien und Spanien ging Nigeria als Gruppenerster in die K.O.-Spiele. Die Mannschaft schien ihr Versprechen einzulösen und es war alles angerichtet für ein gutes Abschneiden im Turnier.
Im Achtelfinale wartete Dänemark und die zweite Viertelfinalteilnahme eines afrikanischen Teams schien zum Greifen nah. Wenn man sich die K.O.-Runden-Spiele afrikanischer Nationalmannschaften bei WM-Turnieren vor Augen führt, dann fällt auf, welche besondere Konstellation das Achtelfinale gegen Dänemark mit sich brachte: Wann ging ein afrikanisches Team als glasklarer Favorit in ein K.O.-Spiel?
Die Nigerianer hatten genau diese Favoritenrolle gegen die Dänen inne. In der Auswahl der Dansk Boldspil-Union spielten die Laudrup-Brüder ihr letztes Turnier und in den Gruppenspiele hatte das Team eher bieder aufgespielt.
Im Lager der Nigerianer war man siegesgewiss und schielte schon aufs Viertelfinale. Dort wartete der Turnier-Favorit Brasilien.
Als auf der Pressekonferenz vor dem Dänemark-Spiel die Frage zu den Stärken des Gegners aufkam, fing Trainer Milutinovic an, über Rivaldo & Co. zu schwärmen. Das Achtelfinale war quasi schon gewonnen.
Die Geschichte des Spiels ist schnell erzählt und nahm keinen guten Ausgang für die Nigerianer. Das Team um Brian und Michael Laudrup ging in der 3. Minute in Führung, erhöhte noch vor der Pause auf 2:0 und siegte überraschend ungefährdet mit 4:1.
Die Super Eagles hatten eine historische Chance verpasst und konnten seitdem nicht mehr an die Erfolge aus den USA und Frankreich anknüpfen. Der afrikanische Fußball musste nach Kamerun 1990 noch bis 2002 warten, bis wieder ein CAF-Team ins Viertelfinale einer WM einzog.
Zur Person: Endreas Müller heißt in Wirklichkeit ganz anders und beschäftigt sich schon länger mit Fußball im Allgemeinen und dem Bloggen im Besonderen. Vor einiger Zeit stellte er sich gemeinsam mit Christoph Wagner die Frage, warum es eigentlich in der deutschen Blogosphäre noch keine Plattform für lange Fußballtexte gibt – die Idee von ‚120minuten’ war geboren. Auf seinem eigenen Blog beschäftigt er sich mit Medien, Zahlenspielereien, Historischem und allerlei Dingen abseits des Platzes, aber doch immer irgendwie mit Fußball. Hier auf 120minuten schreibt er in erster Linie über eigene Erlebnisse auf den Plätzen der Kreisklasse und Fußball in Osteuropa.
Brasilien – Noch ein Tor für Deutschland
von Alex Schnarr (@ersatzbank)
Wisst Ihr noch, wo Ihr am 8. Juli 2014 wart? Oder anders gefragt: Wo wart Ihr, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Landesauswahl Brasiliens beim Turnier im eigenen Land sage und schreibe sieben Tore einschenkte? Im Halbfinale! Während die Treffer von Müller (11.), Klose (23.), Kroos (24., 26.), Khedira (29.) und Schürrle (69., 79.) im Land des späteren Weltmeisters gut und gerne als Sensation durchgingen, dürften sie bei den Gastgebern für nicht weniger als ein kollektives Trauma gesorgt haben. Ein Trauma, das inzwischen sogar in Form einer Redewendung in den brasilianischen Sprachschatz Eingang gefunden hat. Und da half es dann auch nichts mehr, dass Oscar in der 90. Minute noch der Ehrentreffer gelang.
Fragt man nach dem schlimmsten WM-Ereignis der Brasilianer, dürfte in neuneinhalb von zehn Fällen eben jenes Spiel gegen Deutschland als Antwort kommen. Nicht nur, dass diese Partie den Traum vom WM-Sieg im eigenen Wohnzimmer für über 200 Millionen Menschen auf brutalste Weise zerstörte; das Ergebnis taugt außerdem noch für einen Eintrag in die Geschichtsbücher. Nie zuvor hatte eine Mannschaft in einem Weltmeisterschafts-Halbfinale höher verloren – dass es an jenem Tag ausgerechnet Rekordweltmeister Brasilien traf, ist wieder eine dieser Geschichten, die vermutlich nur der Fußball schreiben kann. Und wo wir gerade schon bei Superlativen sind: die Partie sorgte noch für manch anderen Rekord, wie man auf der entsprechenden Wikipedia-Seite nachlesen kann.
“Die Mannschaft war gar nicht auf dem Platz”
Was macht so ein Ergebnis in so einem Turnier mit einem Land, in dem der Fußball quasi Staatsreligion ist? Nun, zunächst einmal sorgte es für blankes Entsetzen, das dann aber relativ schnell – und anders kann man mit so einer historischen Niederlage vermutlich kaum umgehen – in Selbstironie und Sarkasmus umschlug. Kurze Zeit nach der Partie tauchte ein Video in den Weiten des Netzes auf, bei dem es ein brasilianischer Fan mit der Redewendung “Die Mannschaft war gar nicht auf dem Platz” nur allzu genau nahm: Aus den gezeigten Spielszenen hatte er die brasilianischen Akteure einfach herausretuschiert. Im Ergebnis sieht man eine deutsche Elf, die den Ball ohne jegliche Gegenwehr ins Tor bugsieren kann:
“Gol da Alemanha”
Auch aus dem Alltag der Menschen wird das Weltmeisterschafts-Halbfinale 2014 so schnell wohl nicht wegzudenken sein. Längst ist nämlich der Ausdruck “7:1” zur Metapher für eine krachende Niederlage, ein großes Unglück oder eine Katastrophe geworden. “Der Triumph des aufmüpfigen Koalitionspartner gegen [Ex-]Präsidentin Dilma Rousseff wird kommentiert mit „PMBD 7 x 1 Dilma“; die Verhaftung von Fifa-Funktionären in der Schweiz wird zum 7-1 des FBI”, schrieb David Klaubert für faz.net anlässlich des ersten Jahrestages der Niederlage 2015. Überschrift: “Brasilien feiert 365 Tage ohne deutsches Tor”. Möchte man ausdrücken, dass etwas Missliches passiert ist, sagt man in Brasilien inzwischen einfach: “Noch ein Tor für Deutschland” (gol da Alemanha). “Die Ehefrau brennt mit einem neuen Liebhaber durch – gol da Alemanha. Auf der Autobahn platzt ein Reifen – gol da Alemanha. Auf der Arbeit wird rationalisiert und Sie sind mit dabei – gol da Alemanha.” (LeseHalle.com)
Man lehnt sich vor diesem Hintergrund sicherlich nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn man sagt, dass die Halbfinalniederlage des Nationalteams 2014 bei den Brasilianerinnen und Brasilianern wohl den bleibendsten WM-Eindruck hinterlassen hat – toller Versprechen der FIFA, luxuriöser Wohnkomplexe, großer Infrastrukturprojekte und neuer Stadien (die inzwischen kaum noch jemand braucht) zum Trotz.
Das Fußballspielen hat man in Brasilien natürlich trotzdem nicht eingestellt und sich in der Qualifikation zur Weltmeisterschaft in Russland recht souverän als Gruppenerster durchgesetzt. Gut möglich, dass man 2018 bereits im Achtelfinale wieder auf Deutschland trifft – nämlich dann, wenn eins der beiden Teams die eigene Gruppe gewinnt und das andere Zweiter wird. Spätestens dann wäre es Zeit für eine Revanche – oder es heißt am Zuckerhut einmal mehr: “Noch ein Tor für Deutschland”.
Zur Person: Schon in seiner Schulzeit verfiel Alex Schnarr dem 1. FC Magdeburg und damit dem einzigen Klub der ehemaligen DDR, der je einen Europapokal erringen konnte. Auf seinem Blog begleitet er die Magdeburger Mannschaft mit Obsession und Augenzwinkern. Hier bei 120minuten schreibt er regelmäßig und widmet sich dabei gern den gesellschaftlichen Zusammenhängen in und um den Fußball.
Schweiz – Das Turnier spielen, die Welt erträumen
von Philippe Vonnard
Als ich noch ein Kind war (in den 1980ern) und dann als Teenager (in den 1990ern) kam es einem Wunder gleich, die Spiele der Schweizer Nationalmannschaft bei einer Weltmeisterschaft zu sehen. Tatsächlich nahm die Nati von 1966 bis 2006 nur an einer einzigen WM-Endrunde teil. Aus diesem Grund blieb den Schweizer Bürger*innen wenig anderes übrig, als entweder die unglaubliche Leidenschaft der französischen, italienischen, portugiesischen oder spanischen Einwanderer für deren Nationalmannschaft zu beobachten oder einem Team als Ersatz anzuhängen; ich kann mich erinnern, dass die Niederlande und Argentinien für die WM 1990 meine Favoriten waren und dass ich Frankreich und wieder die Niederlande während des Turniers 1998 unterstützte.
Im Gegensatz zur anhaltenden Frustration kann ich mich sehr gut an den Enthusiasmus im Land während der WM 1994 erinnern und besonders an den Schock, der durch eine multikulturelle Nati, die zur Hälfte aus Söhnen italienischer und spanischer Einwanderer bestand, ausgelöst wurde, als die Spieler das große Rumänien (mit Dumitrescu, Petrescu, Popescu und natürlich den “Maradona der Karpaten”, Gheorge Hagi) mit 4:1 schlugen.
Im Aufwärtstrend
Die Zeit der Frustration scheint vorbei zu sein, denn die Schweizer Nationalmannschaft hat seit 2006 an allen Weltmeisterschaften teilgenommen, was die anstehende Veranstaltung 2018 miteinschließt. Ein Rest an Frustration existiert noch aufgrund der Unfähigkeit des Teams, in den späten Phasen des Turniers erfolgreich zu sein. Fast wäre es der Schweiz tatsächlich gelungen, bei den Turnieren 2006 und 2014 den Schritt ins Viertelfinale zu machen; allerdings wurde die Mannschaft 2006 von der Ukraine im Elfmeterschießen besiegt und von Argentinien zwei Minuten vor dem Ende der Verlängerung im Jahr 2014. Daher zählt die Nati zwar nicht zu den Topteams, definitiv aber auch nicht mehr zu den kleinen Mannschaften. Um aber noch einen Schritt weiter zu kommen und von der Fußballwelt auch anerkannt zu werden, ist es notwendig, über sich hinauszuwachsen und auch mal das Viertelfinale zu erreichen.
In Russland wird die Nati in der ersten Runde Brasilien gegenübersehen, das, wie immer, zu den Turnier-Favoriten gehört. Mit einer Zusammenstellung phantastischer Spieler, wie Neymar, Coutinho, Dani Alvès, Gabreil Jésus und anderen, wurde Brasilien ohne Probleme Erster in der Qualifikation in Südamerika, auch wenn die Spiele immer schwierig waren, etwa aufgrund der vielen Reisen derjenigen Spieler, die bei europäischen Teams spielen, durch die Atmosphäre, die die Anhänger schaffen und auch durch die klimatischen Bedingungen, wie beispielsweise in Bolivien. Auch wenn die Aufgabe schwierig ist, kann ein Blick in die Geschichte den Schweizer Spielern Hoffnung geben. Acht Partien wurden seit 1950 zwischen den beiden Mannschaften ausgetragen. Mit zwei Siegen, drei Niederlagen und drei Unentschieden, insbesondere während der WM 1950 in Brasilien, kann die Schweiz statistisch gesehen mit Brasilien mithalten.
Außerdem kann der Umstand, dass es sich um das erste Gruppenspiel handelt, den Schweizer Spielern Selbstvertrauen geben. Tatsächlich konnte die Nati in der jüngeren Vergangenheit zu diesem Anlass gute Resultate gegen großartige Mannschaften erreichen (1:1 gegen Gastgeber England bei der EM 1996, 0:0 gegen den späteren Finalisten Frankreich bei der WM 2006, 1:0 gegen Spanien, den Europameister und späteren Gewinner des WM-Turniers 2010). Andererseits, so ehrlich muss man sein, ist der erste Platz in der Gruppe wohl Brasilien versprochen, sodass die Schweiz realistischerweise um den 2. Platz kämpfen muss. Schwere Spiele stehen an gegen Serbien, das mit technisch sehr versierten Spielern gespickt ist und Costa Rica, einer der stärksten Mannschaften Zentralamerikas, die es außerdem gewohnt ist, bei WM-Turnieren teilzunehmen. Diese Spiele werden mit Sicherheit leidenschaftlich!
Fußball im Herzen, Politik im Kopf
Ein WM-Jahr ist für einen Fußballfan wie mich immer ein besonderes, weil es viele Möglichkeiten bietet, zu Beginn des Sommers zahlreiche Partien zu sehen, viele Momente mit Kollegen und Freunden zu teilen, vielleicht bei einem Grillabend mit gutem Bier oder in den Bars und Fanzonen in Genf oder Lausanne; und weil man die Leidenschaft der Fans erleben kann (beim letzten Turnier etwa kreierte eine Gruppe ecuadorianischer Fans eine unglaublich freundliche und aktive Atmosphäre in einer Bar in der Nähe meiner Wohnung).
Trotz dieser Momente voller Freude und Aufregung muss ich gestehen, dass ich seit nunmehr 10 Jahren ob dieses Megaevents auch ein wenig durcheinander bin. Ohne Frage hat mir mein sozialwissenschaftlicher Hintergrund zu einem etwas kritischeren Blick verholfen. Dementsprechend habe ich auch die Besorgnis erregenden Zustände der Stadionbauarbeiter (insbesondere in Deutschland und Südafrika), die soziale Bewegung während der letzten WM in Brasilien, als gegen die hohen Kosten des Turniers und generell gegen die Korruption im Land demonstriert wurde (ein gutes Beispiel ist das Stadion in Brasilia, dessen Kosten künstlich in die Höhe getrieben wurden und das derzeit nicht in Benutzung ist), die städtischen Projekte, die Gentrifikation fördern und natürlich die diversen Umweltprobleme, die durch diese Art von Veranstaltung verursacht werden, im Hinterkopf, während ich diese Zeilen schreibe.
Was diese ganzen Probleme betrifft, ist mir die Schweizer Spielergeneration Mitte der 90er Jahre nicht nur wegen der Ergebnisse auf dem Platz in Erinnerung, sondern auch, weil sich die Spieler entschieden hatten, sich über den apolitischen Diskurs im Fußball hinwegzusetzen. Im September 1995 zeigten die Spieler vor einem Spiel gegen Schweden in der Qualifikation für die Euro 1996 ein Banner mit der Aufschrift “Stop it Chirac”, mit dem sie den französischen Präsidenten Jacques Chirac darum baten, die Atombombentests im Pazifischen Ozean zu beenden.
Fußball hat eine große Macht, sehr beliebt zu sein und viele Menschen auf der Welt anzusprechen. Daher kann das Spiel auch manchmal, bei aller großen Unterhaltung, in Zeiten der WM durch Massenmedien, aber auch durch Führungsfiguren und Spieler dazu genutzt werden, einige Diskussionen über unsere Welt anzustoßen. Das ist sicher eine Utopie, aber im Zuge einer WM haben wir doch sicher das Recht, zu träumen und zu hoffen, oder?
Zur Person: Philippe Vonnard kommt aus Lausanne. Er ist Historiker und Sozialwissenschaftler. Seine Forschung widmet sich der Entstehung der UEFA und ihrer Pokalwettbewerbe.
Costa Rica – Navas denn, Niederlande?
von Alex Schnarr (@ersatzbank)
Costa Rica also. Dass im ersten Moment bei mir so gar nichts klingelt, wenn ich an das zentralamerikanische Land und Fußball denke, sagt vermutlich deutlich mehr über mich als über die sportlichen Erfolge der “Sele”, wie die Menschen in Costa Rica ihre Nationalmannschaft nennen. Bei genauerem Überlegen lande ich dann bei einem gewissen Philipp Lahm, der im Eröffnungsspiel eines gewissen “Sommermärchens” 2006 den ersten Treffer des Turniers erzielte – gegen, genau, eben jenes Costa Rica.
Zu meiner Ehrenrettung kann ich aber immerhin anführen, dass es erstens zwischen Deutschland und Costa Rica noch nicht so wahnsinnig viele Fußballspiele gab (der Vergleich zum Auftakt in die WM 2006 war bisher tatsächlich der einzige) und sich die Nationalmannschaft zweitens vor dem Turnier in Russland erst viermal überhaupt für die interkontinentale Endrunde qualifizieren konnte. Soll heißen: Wenn man jetzt nicht unbedingt der riesige Zentralamerika-Experte ist (bin ich nicht), kam man mit dem Fußball im Land zwischen Nicaragua, Panama, der Karibik und dem Pazifik hierzulande bisher nur sehr sparsam in Berührung.
Das kleine Land setzt sportliche Ausrufezeichen
Dass Costa Rica in Russland zum fünften Mal am Start sein wird und seit der Jahrtausendwende lediglich die Qualifikation für die WM in Südafrika nicht schaffte, ist durchaus bemerkenswert. Knapp 5 Millionen Menschen lebten laut Wikipedia am Stichtag 30. Juni 2017 in dem Land – also genauso viele wie in Berlin und München zusammengenommen. Klar, das bevölkerungstechnisch kleinste Land ist Costa Rica damit nicht, dieser Titel dürfte mit weitem Abstand an die Isländer gehen. Trotzdem beeindruckt auf den ersten Blick die Konstanz, mit der man es seit 2002 immer wieder schaffte, sich in der CONCACAF-Qualifikation durchzusetzen. Auffällig auch: bei der ersten WM-Teilnahme 1990 waren alle Spieler des Kaders im Heimatland aktiv, bei den Endrunden 2002, 2006 und 2014 steigerte sich die Zahl der Legionäre dann von 3 (2002) auf zuletzt 14, die ihr Geld außerhalb der heimischen “Liga de Fútbol de Primera División” verdienten. Durch die erste WM-Teilnahme 1990 fiel in Costa Rica übrigens – zum dritten Mal in der Liga-Geschichte – eine komplette Saison aus. Außerdem nutzte man die Gelegenheit, gleich mal von einer Spielzeit im Kalenderjahr auf eine Saison von Juli bis Mai umzustellen.
In Italien schlug man sich dann durchaus beachtlich und erreichte nach Siegen gegen Schweden und Schottland sowie einer Niederlage gegen Brasilien das Achtelfinale. Die ČSSR waren dann allerdings eine Nummer zu groß, sodass die Mannschaft von Trainer Bora Milutinović nach einer 1:4-Niederlage die Heimreise antreten musste. Auf dem Platz stand damals unter anderem auch Oscar Ramirez, der das Team nun in Russland als Cheftrainer betreuen wird. Einen Deutschland-Bezug gibt es außerdem noch: Schiedsrichter der Begegnung war nämlich Siegfried Kirschen aus der DDR.
Große Dramatik bei der WM 2014
Ob der Empfang der “Ticos” in ihrem Heimatland nach diesem doch sehr ordentlichen Ergebnis genauso euphorisch ausfiel wie 2014, als man erst im Viertelfinale im Elfmeterschießen an den Niederlanden scheiterte, ließ sich für diesen Text hier nicht ermitteln; das Turnier in Brasilien 2014 dürfte allerdings als bisher größter Erfolg der Nationalmannschaft Costa Ricas durchgehen. In der Vorrunde siegte man gegen Uruguay (3:1) und Italien (1:0), gegen England reichte dann ein 0:0-Unentschieden, um die Gruppe zu gewinnen und ins Achtelfinale einzuziehen. Dort wartete Griechenland. Nach der Führung durch Bryan Ruiz (53.) spielte man ab der 66. Minute in Unterzahl, weil Óscar Duarte die gelb-rote Karte gesehen hatte, und musste in der Nachspielzeit noch den Ausgleich hinnehmen. Die Verlängerung dominierten die Griechen, das bessere Ende hatte dann im Elfmeterschießen allerdings Costa Rica für sich: Torhüter Keylor Navas, inzwischen in Diensten von Real Madrid, hielt einen Elfmeter gegen Theofanis Gekas und wurde so direkt mal zum Nationalhelden in einem ohnehin fußballverrückten Land.
“Als 2014 die WM-Euphorie ihren Höhepunkt erreicht hatte, gingen in der Hauptstadt San Jose die Männer im Trikot der “Ticos” ins Büro, Mütter schminkten ihren Kindern die Nationalflagge ins Gesicht – selbst die Bäume in den Straßen wurden rot-weiß-blau bemalt. “Es ist wie im Märchen”, schrieben die Zeitungen.” – RP Online
Auch im Viertelfinale ging es, wie gesagt, ins Elfmeterschießen, nachdem es abermals Navas war, der die niederländischen Nationalspieler mit seinen Paraden verzweifeln ließ. Letztendlich setzte sich dort dann aber der Favorit aus Europa durch – auch durch einen Wechseltrick des damaligen Bondscoaches Louis van Gaal, der kurz vor Ende der Verlängerung Tim Krul für Stammkeeper Jasper Cillessen brachte. Krul hielt schließlich die Elfmeter von Ruiz und Umaña, “Man of the Match” wurde dennoch Keylor Navas.
2018 bekommt es die “Selecao” nun mit Brasilien, der Schweiz und Serbien zu tun – eine knifflige Gruppe, bei der zumindest der erste Platz bereits vergeben scheint. Aber wer weiß? Wenn alles passt und Costa Rica gegen Serbien ein guter Start ins Turnier gelingt, wird dort vielleicht eine neue Generation Helden geboren.
Zur Person: Schon in seiner Schulzeit verfiel Alex Schnarr dem 1. FC Magdeburg und damit dem einzigen Klub der ehemaligen DDR, der je einen Europapokal erringen konnte. Auf seinem Blog begleitet er die Magdeburger Mannschaft mit Obsession und Augenzwinkern. Hier bei 120minuten schreibt er regelmäßig und widmet sich dabei gern den gesellschaftlichen Zusammenhängen in und um den Fußball.
Serbien – Alte Gewohnheiten
von Dejan Zec (@Arbeitmann)
Serbiens steiniger Weg zur Weltmeisterschaft in Russland
Der Auftakt in die WM-Qualifikation war kein Grund zur Freude für Serbien, sah man sich doch in einer Gruppe mit Wales, Irland und Österreich gleich drei EM-Teilnehmern von 2016 gegenüber. In einer unheimlichen Atmosphäre vor nur 5000 Zuschauern in einer Schüssel, die normalerweise 50000 fasst und auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, gelang Serbien ein Unentschieden gegen Irland. Das Spiel an sich war ziemlich unterhaltsam und objektiv betrachtet schaffte es die Mannschaft, eine disziplinierte irische Mannschaft in Schach zu halten.
Doch die Fußballmedien und die Öffentlichkeit waren nicht überzeugt, geschweige denn enthusiastisch. Eine bedrückte und pessismistische Stimmung, inzwischen so charakteristisch für den serbischen Fußball, überwog. Noch vor zwei Jahren hätten viele Fachleute, Experten und Fans zugestimmt, dass der serbische Fußball stagniert, ja dekadent geworden ist. Die Nationalmannschaft hat es nicht geschafft, sich für eines der Turniere zwischen 2012 und 2016 zu qualifizieren und die Teilnahme an der WM 2010 in Südafrika war keine Sternstunde des serbischen Fußballs.
Hausgemachte Probleme
Den heimischen Wettbewerben mangelt es an Popularität: einige der Top-Mannschaften spielen in leeren Stadien; Vorwürfe der Manipulation von Spielen und die Bestechung von Schiedsrichtern galten nicht mehr als Skandal sondern waren die Regel. Die Clubs litten unter lang anhaltenden und hausgemachten Problemen: Ineffizienz, permanente Geldprobleme, schlechtes Management sowie ein stetiger Einfluß von gewalttätigen und extremen Anhängern einerseits. Andererseits waren da die sehr eigensinnigen Interessen von Agenten und Spielerberatern und andere dubiose Charaktere. Der Nationalmannschaft fehlte es an Visionen und einem guten Management, Trainer wie beispielsweise Dick Advocaat oder Radovan Curicic, kamen und gingen in schneller Folge, dem Team gelang es nicht, aus dem Potential der Spieler etwas herauszuholen.
Wie die Dinge standen, würde sich nichts ändern in der unmittelbaren Zukunft. Und dennoch schien sich in den Monaten vor Beginn der WM-Qualifikation etwas zu ändern, auch wenn viele diese Änderungen vorerst nur als pure Kosmetik abtaten. Zuallererst ist da die Wahl von Slavisa Kokeza zum Präsidenten des Serbischen Fußballverbandes im Mai 2016 zu nennen, die lang anhaltende Konflikte innerhalb des Verbandes beendete. Der Geschäftsmann mit guten Kontakten in die Politik versprach eine Stabilisierung und Ergebnisse. Als Ziel setzte er die Qualifikation für die WM 2018 aus.
Muslin mit Anlauf
Die Berufung von Slavoljub Muslin als Nationaltrainer war eine Enttäuschung, wegen des vielen Pomp der veranstaltet wurde, als es um die Ausrufung der gesteckten Ziele ging. Muslin ist ein altmodischer und konservativer Trainer und schien nicht das Wissen und die Ausdauer zu besitzen, die es brauchte, um das Team nach Russland zu bringen. Trotz des anfänglichen Optimismus kehrte die bedrückte Atmosphäre zurück und es sah so aus als würde sie so schnell nicht weggehen. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, die Dinge haben sich geändert. Muslins taktsicher Ansatz mag altmodisch sein aber die rigorose Umsetzung machten die Mannschaft kohärenter und effizienter.
Er machte ebenso den andauernden Experimenten seiner Vorgänger ein Ende: es wurden viele Spieler getestet, viele von ihnen waren nicht von internationalem Format. Muslins Auswahl war klein dafür war klar, was man erwarten konnte. Obendrein wurde seine Menschenführung von den Spielern gelobt, was natürlich half aus einem Haufen Spieler ein Team zu formen.
Der große Schock
Auch die Ergebnisse ließen nicht auf sich warten: von zehn Spielen der Qualifikation gewann Serbien sechs, verlor nur einmal gegen Österreich in einem Thriller von einem Spiel in Wien. Am Ende gewann Serbien souverän die Qualifikationsgruppe mit 21 Punkten. Viel wichtiger war noch, dass das Selbstvertrauen zurückkam und junge Spieler wie Mitrovic, Kostic oder Gacinovic konnten ihr volles Potential abrufen. Die Leistungen und die Ergebnisse holten auch die Fans zurück ins Stadion. Zum letzten Spiel der Qualifikation im Oktober 2017 kamen 40.000 ins Rajko Mitic-Stadion in Belgrad um die Mannschaft anzufeuern und zu feiern, dass sie es geschafft hatten.
Doch als es gerade lief und man der Zukunft frohlockend entgegensah, kam es wie so oft im serbischen Fußball: Slavoljub Muslin trat zurück. Schock. Es war damals nicht klar, warum er zurücktrat und ist es bis heute nicht. Es scheint, dass alte Gewohnheiten nur schwer abzulegen sind: Der Verbandspräsident soll versucht haben, seinen Einfluss geltend zu machen und Spieler ins Team zu holen, was der Trainer nicht mitgemacht hat. Als Konsequenz war alles Selbstvertrauen, welches sich das Team so hart erarbeitet hat, über Nacht kollabiert.
Die WM steht vor der Tür und in der Mannschaft und im Verband herrscht Chaos. Das macht es sehr schwer, wenn nicht unmöglich, die öffentliche Meinung einzufangen bzw. Erwartungen zu identifizieren. Vor dem Rücktritt von Muslin herrschte ein vorsichtiger Optimismus. Unter seiner Leitung hat das Team bewiesen, dass es auch gegen schwere Gegner mithalten und sogar gewinnen kann. Es gab leise Hoffnungen, dass das Team die Gruppenphase überstehen würde. Nun, nach dem Rücktritt ist nicht sicher, was zu erwarten ist von dieser Mannschaft. Das Gesicht der Mannschaft ht sich auch unter Muslins Nachfolger, Mladen Krstajic, seinem ehemaligen Assistenten nicht verändert.
Es gab und wird keine radikalen Änderungen in der Zusammenstellung des Teams oder der Taktik geben. Wichtiger als taktische oder personelle Änderungen ist jedoch eine positive Atmosphäre im und um das Team herum. Auch wenn die serbischen Fans sehr froh sind, dass ihr Team bei der WM dabei sein wird, mussten die Erwartungen doch etwas zurückgeschraubt werden. Die meisten würden froh sein, wenn sich die Mannschaft nicht blamiert in den Gruppenspielen. Denn drei Spiele auf diesem Niveau ist mehr als sich viele erträumt haben noch vor einigen Jahren.
Zur Person: Dejan Sec kommt aus Belgrad, arbeitet inzwischen in Grenoble an der dortigen Universität.
Deutschland – Sieben Spiele, sieben Orte
von Oliver Leiste (@LeisteO)
Die WM 2014 war für den Autoren eine besondere – schließlich war es für ihn der erste Titelgewinn als Fan der Deutschen Nationalmannschaft. In Erinnerung geblieben ist ihm die Weltmeisterschaft in Brasilien aber auch, weil er jedes Deutschland-Spiel in einer völlig anderen Umgebung geschaut hat. Ein Rückblick in sieben persönlichen Anekdoten.
Sind wir ehrlich, meine Fankarriere als Deutschlandfan ist eine überaus erfolgreiche. Es gibt vage Erinnerungen an das 98er-Turnier in Frankreich und die EM-Schmach von 2000. Wirklich bewusst kann ich mich aber erst an die WM 2002 erinnern. Damals wurde Deutschland Vizeweltmeister. Es folgten zwei dritte Plätze 2006 und 2010, auch bei den Europameisterschaften spielte das DFB-Team, mit einer Ausnahme, immer hervorragende Rollen. Die Heim-WM verfolgte ich mit großer Begeisterung, in den Folgejahren verpasste ich vor dem Fernseher kaum ein Länderspiel. Vor der WM in Südafrika versprach ich mir selbst ein Original-Trikot im Falle eines Titelgewinns. Was sicher daran lag, dass mir die damalige Spielkleidung in ihrer Schlichtheit sehr gut gefiel. Aber auch daran, dass mein in Ungarn gekauftes Podolski-Jersey allmählich in die Jahre kam. Der Titel wurde verpasst, das Versprechen blieb im Hinterkopf.
Vor der WM 2014 bemerkte ich, wie ich mich verändert hatte. Wollte ich in den Vorjahren am liebsten jedes Spiel bei einem großen Public-Viewing schauen, wurden mir nun kleinere Runden lieber. Vorfreude und Erwartungshaltung waren 2014 seltsamerweise bis zum Turnierbeginn gar nicht vorhanden. Aber da ging es mir wie der Deutschen Mannschaft oft in der Vergangenheit. Man kann sich in so ein Turnier auch rein finden.
16.06.14 Deutschland – Portugal 4:0 – Fußball mit Freunden
Die Deutsche Mannschaft half mir dann auch, schnell in das Turnier zu kommen. Zum Auftakt ging es gegen Portugal. Eine Mannschaft, die uns in den Vorjahren oft in Turnieren begegnet war. Deutschland führte schon zur Halbzeit mit 3:0, Portugal war einer weniger. So geht ein perfekter Start. Während ich die Tore nicht mehr so recht vor Augen habe, muss ich immer noch über Cristiano Ronaldo lachen. Der bei einem Freistoß mit 30 Metern Anlauf die Ein-Mann-Mauer Philipp Lahm traf.
Das Spiel verfolgte ich in kleiner Runde mit Freunden in Leipzig. So ein klassischer Fernsehabend mit ein paar Snacks und ein paar Bier. Vorher hatten wir noch in der Leipziger Uniliga gekickt – und, wenn ich mich recht erinnere, gewonnen. Was bei unserem Uniliga-Team nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit war. Die Freude in unserer Fernseh-Runde war groß, von Euphorie zu sprechen wäre sicher übertrieben. Aber viel wichtiger: Deutschland war im Turnier und ich war es auch.
21.06.14 Ghana – Deutschland 2:2 – Im Trainingslager
Das zweite Spiel der Deutschen sollte ich in Pockau schauen. Grob zur Einordnung auf der Weltkarte: Pockau liegt im Erzgebirge, irgendwo zwischen Zwickau und Dresden, nahe der tschechischen Grenze. Dort verbrachte der Hallesche FC in jener Zeit regelmäßig sein Sommertrainingslager. Als aufstrebender Sportjournalist war ich 2014 mit dabei. Morgens Waldlauf, Vormittagstraining und nachmittags Training oder ein Spiel. So sah täglich der Ablaufplan aus. Abends wurden dann immer in Gemeinschaft die Spiele der Weltmeisterschaft geschaut. Das Deutschlandspiel gegen Ghana schaute ich gemeinsam mit einigen Spielern und dem Trainerteam im Mannschaftshotel. Durchaus eine skurrile Erfahrung. Schließlich war meine Aufgabe, Fußballern dabei zuzuschauen, wie sie Fußball schauen. Und anschließend darüber zu schreiben. Das Spiel selbst war vor allem in der zweiten Halbzeit recht wild und auch die Stimmung vor dem Fernseher wurde zunehmend unterhaltsamer. Das lag vor allem an zwei Spielern mit afrikanischen Wurzeln, die Ghana lautstark anfeuerten. Dadurch wurden auch die deutschen Spieler nach und nach lockerer. Am Ende stand ein gerechtes 2:2 und eine kleine Geschichte für den nächsten Tag war auch noch abgefallen. DFB-Torwart Manuel Neuer machte mit einem missglückten Abwurf auf sich aufmerksam. Am nächsten Tag ließ ich diese Szene von Tom Müller, der damals als Nachwuchskeeper mit im Trainingslager war, nachspielen.
26.06.14 USA – Deutschland 0:1 – Gruppenfinale bei Störtebeker
Vom Tag des Tag letzten Gruppenspiels ist vor allem eine ewig lange Autofahrt in Erinnerung geblieben. Es ging nach Rügen, zu den Störtebeker-Festspielen. Dass Deutschland am gleichen Tag gegen die USA spielte? Nunja, war bekannt. Aber wie bereits erwähnt, hatte ich mich vorher nicht sonderlich mit möglichen Spielterminen auseinandergesetzt. Ein Umstand, der sich später im Turnier noch als deutlich nachteiliger erweisen sollte, als diesmal. In Ralswiek auf Rügen angekommen, war das Spiel schon in vollem Gange. Doch zumindest an den Versorgungsstationen vor dem Freiluft-Theater hatte man mitgedacht und Fernseher aufgehängt. Das reichte, um einen Eindruck von dem Spiel zu gewinnen. Und das einzige Tor – für Deutschland, von Thomas Müller – fiel genau in dieser Phase. Deutschland stand im Achtelfinale und ich hatte offenbar alles richtig gemacht.
30.06.14 Deutschland – Algerien 2:1 n.V. – Polka in Polen
Nächste Runde, nächste Station: In den Folgetagen verschlug es mich nach Polen, genauer gesagt nach Gdansk. Die WM machte natürlich nicht extra dafür Pause und so kam ich in den Genuss, einige Spiele im polnischen Fernsehen zu schauen. Durchaus eine interessante Erfahrung, verbunden mit der Erkenntnis, dass Kommentatoren bisweilen recht entbehrlich sind. Auch das Spiel der Deutschen gegen Algerien fiel in diese Zeit. Das DFB-Team tat sich schwer. Doch die Begeisterung des polnischen Kommentators für Manuel Neuer war trotz der Sprachbarriere unmissverständlich. Mit zahlreichen Rettungstaten außerhalb des Strafraums sorgte der Torwart auch international für Aufsehen. In der Verlängerung setzte sich Deutschland schließlich mit 2:1 durch. Im Gedächtnis geblieben sind mir anschließend zwei journalistische Sternstunden. Zum einen natürlich das legendäre Eistonnen-Interview von Per Mertesacker. Anderseits aber auch ein Interview mit Hans Meier, in dem er anhand dieses Spiels die Stabilität einer Mannschaft und die Bedeutung einzelner Spieler erklärte.
04.07.14 Frankreich – Deutschland 0:1 – Wird schon gut gehen
Zurück in Leipzig stand schon das nächste Spiel an. Frankreich hieß der Gegner. Am Morgen des Duells traf ich mich mit einem Freund zum Frühstück. Natürlich sprachen wir auch über die Viertelfinalpartie und erörterten die Aussichten. Wir waren uns einig, dass Frankreich eine der stärksten Mannschaften in diesem Turnier stellte. “Das kann schon schief gehen”, meinte der Kumpel. “Es kann aber auch gut gehen”, erwiderte ich. Das Spiel sollte ich dann in einer der Leipziger Messehallen schauen. Ein befreundeter Event-Manager hatte eingeladen. Er sollte sich an diesem Tag um das Public-Viewing für mehrere hundert Werbeagenturen-Mitarbeiter kümmern. Es war zweifellos der Schland-Moment bei diesem Turnier. Bunt geschminkt und beflaggt zeichnete sich das Publikum nicht unbedingt durch Fußballsachverstand aus. Es ging ja mehr um das Event, klar. Aber es gab sicher Zeiten, da hätte ich einem Großteil der Anwesenden das Recht abgesprochen, Weltmeisterschaftsspiele zu schauen. Doch die Zeiten ändern sich ja zum Glück. Deutschland gewann schließlich mit 1:0 und rückblickend war die Partie mein Lieblingsspiel bei dieser WM. Wie schon am Morgen gespürt, war es tatsächlich gut gegangen. Wer sollte uns auf dem Weg zum Titel nun noch stoppen?
08.07.14 Brasilien – Deutschland 1:7 – Fußball pur
Aus Gründen, die ich nicht mehr nachvollziehen kann, sollte ich das Spiel gegen Brasilien alleine zu Hause schauen. Höchste Zeit also, mal etwas neues auszuprobieren. Die Idee war, das Spiel nur mit Stadionatmosphäre, ohne jeglichen Kommentar, zu schauen. Fußball pur. Leider wurde bei dieser Option nicht das normale Fernsehbild gezeigt. Vielmehr entpuppte es sich als Taktikstream aus der Hintertorperpektive. Oder sollte ich besser sagen, aus der Hinter-dem-Stadion-Perspektive? Zu erkennen war bei dieser Option jedenfalls nicht viel. Auch die zweite Idee ging schief. Die Differenz zwischen Fernsehbild und Radiokommentar war einfach zu groß. Dann also doch Bela Rethy. Ton und Bild passten nun also zusammen. Zumindest halbwegs. Denn die Witterung machte es unmöglich, die Fenster zu schließen. Und der Fernseher der Nachbarn war ein paar Sekunden voraus. Beim bekannten Spielverlauf war das aber kein Nachteil. So war man schließlich gewarnt, dass schon wieder ein Tor im Anmarsch war, wenn man doch mal kurz die Aufmerksamkeit abschweifen lassen wollte. Am Ende stand ein unfassbares 1:7. Ein historischer Moment. Fußball pur eben.
13.07.14 Deutschland – Argentinien 1:0 n.V. – Der Schrei
Sonntag, Finaltag. Doch ich hatte bereits erwähnt, dass die Vorbereitung auf dieses Turnier eher mittelmäßig war. Und so war dieser Tag auch ein Arbeitstag. Für einen Sonntag waren wir dann auch ungewöhnlich viele im Büro. Aber es sollten ja auch Berichte über Fanfeste in 15 Lokalredaktionen bearbeitet werden. Die Chefredaktion ließ zur Feier des Tages ein Buffet springen. Und die Reporterkollegen stellten kurz vor dem Anpfiff die Arbeit ein. Wer sollte es ihnen verdenken, schließlich wollten auch sie das WM-Finale Deutschland gegen Argentinien sehen. Wenige Minuten vor Spielbeginn ergriff mich eine Aufgeregtheit, die ich als Fan eines mittelmäßigen Drittligisten lange nicht gespürt hatte. Zum Glück konnten auch wir das Spiel einigermaßen störungsfrei schauen. Denn Partyberichte waren ja erst nach Abpfiff wieder zu erwarten. Mit zunehmender Spieldauer wurde die Spannung in mir immer unerträglicher. Dieses Turnier, für das ich mich im Vorfeld so wenig interessiert hatte, es war längst meins geworden. Und an diesem Abend wünschte ich mir nichts sehnlicheres als den Weltpokal für Deutschland.
In der 113. Minute war es endlich soweit. Sololauf Schürrle auf links. Flanke. Götze, Tor. In diesem Moment war auch jede journalistische Zurückhaltung vergessen. Ein Schrei, dessen Intensität mich selbst überraschte, entlud sich ins Büro. In dem ich glücklicherweise in diesem Moment alleine saß. Wenige Minuten später war das Glück vollkommen. Zumindest fast, denn Spielende bedeutete auch, dass die Arbeit wieder losging. Oder eher: losgehen sollte. Denn pünktlich zur Übergabe des WM-Pokals gab es einen Systemabsturz, der eine Fortführung der Aufgaben für den Rest der Nacht unmöglich machte. Früher Feierabend olé. Es gibt Tage, wo einfach alles klappt. Dieser 13. Juli 2014 war zweifellos so ein Tag.
Zur Person: Aufgewachsen im schönen Landsberg (bei Halle) und in Leipzig erwachsen geworden, wohnt Oliver Leiste mittlerweile in Magdeburg. Dort arbeitet er als Journalist und beschäftigt sich dabei ausgiebig mit dem 1. FC Magdeburg und dem Halleschen FC. Doch der Fußball erzählt überall spannende Geschichten, nicht nur in der 3. Liga Deutschlands. Diese Storys sucht Oliver Leiste und schreibt einige von ihnen für 120minuten.github.io auf.
Mexiko – Die grünen Mäuse
von Sergio Varela (@Soy_El_Varela)
Die Geschichte der mexikanischen Fußballnationalmannschaft bei Fußballweltmeisterschaften kann in zwei Perioden eingeteilt werden. Die erste begann desaströs 1930 und endete noch schlimmer 1990. Die zweite seit 1994 war nicht unbedingt brillant, bietet dafür aber bessere Resultate. Die Leistung der Mannschaft in der ersten Phase kann man getrost als die schlechteste im Hinblick auf die Ergebnisse bezeichnen. Eben wegen der Resultate, aber auch wegen der ängstlichen Spielweise, wurde die Mannschaft von dem Journalisten Manuel Seyde als die ‘Grünen Mäuse’ bezeichnet. Der folgende Text ist eine Zusammenfassung der Auftritte Mexikos während dieser Zeit.
Die WM und Mexiko von 1930 bis 1990
Bei der ersten Auflage des Weltturniers war Mexiko die erste Mannschaft im ersten Spiel, die ein Tor kassierte. Die Partie ging 4:1 gegen Frankreich verloren. Man beendete das Turnier auf dem letzten Platz. Für die zweite Endrunde konnte man sich nicht qualifizieren, weil die USA in der Qualifikation stärker waren. Vier Jahre später, 1938, nahm man aus politischen Gründen nicht teil. Die Weltmeisterschaft 1950 endete für Mexiko wie die von 1930: auf dem letzten Platz. Es wurde auch 1954 nicht besser: wieder war Mexiko am hinteren Ende des Teilnehmerfeldes zu finden und auch 1958 war das Bild das Gleiche. Erst 1962 wurde gegen den späteren Finalisten CSSR der erste Sieg bei einer WM für Mexiko eingefahren. In England 1966 standen dann schon zwei Unentschieden zu Buche: sowohl gegen Frankreich (1:1) als auch Uruguay (0:0) wurden 2 Punkte geholt, was einen sicheren Mittelfeldplatz am Ende bedeutete.
Vier Jahre später bei der Heim-WM 1970 gelang der große Wurf: Siege gegen Belgien (1:0) und El Salvador (4:0) bescherten Mexiko die erste Viertelfinalteilnahme überhaupt, allerdings war Italien zu stark und man unterlag deutlich mit 4:1. Vier Jahre später gab es einen Rückfall in alte Muster: Mexiko war 1974 bei der WM in der BRD nicht am Start und 1978 wurde zwar die Qualifikation geschafft und das Team flog nach Argentinien, wo man dann erneut einen letzten Platz belegte. Es wurde auch 1982 nicht besser für Mexiko, als erneut die Qualifikation verpasst wurde. Bei der zweiten Heim-WM 1986 erzielte die Mannschaft das bis dato beste Ergebnis in seiner WM-Geschichte: Gruppenerster und ein Sieg gegen Bulgarien in der ersten Runde der K.O.-Spiele. Erst im Viertelfinale gegen Westdeutschland war im Elfmeterschießen Feierabend. Diese erste Phase endete mit dem Cachirulazo-Skandal von 1988, welcher eine Teilnahme 1990 in Italien verhinderte. Der mexikanische Verband hat wissentlich Spieler in der U-20 eingesetzt, die nicht spielberechtigt waren, woraufhin FIFA den Verband für zwei Jahre von ALLEN Wettbewerben sperrte. Heute wird der Cachirulazo-Skandal als Wendepunkt im mexikanischen Fußball betrachtet.
Seit 1994: Die Suche nach dem fünften Spiel
Die zweite Phase hat 1994 begonnen und dauert an. Sie unterscheidet sich von der ersten durch die regelmäßige Teilnahme Mexikos an den Weltmeisterschaften seither, hat aber auch einen Haken: Mexiko schaffte es noch nie, ein fünftes Spiel bei einer WM zu spielen. Immer war im Achtelfinale Schluss. Es gab einige Höhepunkte in dieser Phase, jedoch fehlte der absolute Knaller.
Für die WM in Russland gibt es einige Neuerungen bei der Nationalmannschaft, jedoch erwartet die Öffentlichkeit kein fünftes Spiel und es wird eine frühe Rückkehr der Mannschaft von Nationaltrainer Juan Carlos Osorio erwartet. Die Qualifikation war relativ einfach, jedoch ist die Leistung bei Turnieren unter Osorios Leitung absolut katastrophal. Das 0:7 gegen Chile in der Copa America erhöhte die Zweifel, ob El Tri in Russland wirklich wird mithalten können. Dazu kommen die drastischen Änderungen und das konstante Experimentieren mit der Startaufstellung, die es unmöglich machen, die Mannschaft sportlich einzuordnen.
Zusammengefasst bleibt zu sagen, dass El Tri 2018 die internationalste Mannschaft in der Geschichte ist. Viele Spieler stehen in Europa unter Vertrag. Die bekanntesten davon sind Chicharito, Lozano und Fabián. Es ist eine Mannschaft, die sich in einem Zwiespalt befindet: Zum einen droht eine frühe Rückkehr und ein Rückfall in alte Muster. Zum anderen ist da die Hoffnung auf ein fünftes Spiel, auf die Teilnahme am Viertelfinale einer Weltmeisterschaft. Und warum sollte man dann nicht auch von einem Halbfinale träumen können und den Mythos der Grünen Mäuse zu beerdigen?
Zur Person: Sergio Varela stammt aus Mexico City und ist Professor für Anthropologie und Soziologie an der Fakultät für Sozial- und Politikwissenschaften der Autonomen Universität Mexiko.
Schweden – 1958 steht über allem
von Oliver Leiste (@LeisteO)
Die WM 58 in Schweden bot reichlich Stoff für Legenden. Die ersten Capos, ein Halbfinale mit Folgen und Pelés Geburtsstunde im Weltfußball. Doch obwohl die WM noch heute omnipräsent ist, glauben manche, dass sie nie gespielt wurde.
Menschen aus Schweden, sofern sie nicht Zlatan Ibrahimovic heißen, verbindet man gemeinhin mit sehr positiven Eigenschaften, Bescheidenheit und Freundlichkeit etwa. Zudem gelten sie sie als trink- und feierfest, wenn sie bei großen Fußballturnieren zu Tausenden eine Stadt einnehmen und sind eigentlich immer gern gesehene Gäste. In Deutschland war das nicht immer so. Nach der Fußball-Weltmeisterschaft 1958 hatten die Nordeuropäer in der Bundesrepublik quasi Hausverbot. Tankstellen und Werkstätten weigerten sich, schwedische Autofahrer zu bedienen. In Aachen wurde bei einem Reitturnier die schwedische Fahne geklaut. In Hamburg verschwanden die Schwedenplatten aus den Restaurants, die Prostituierten auf der Reeperbahn wiesen Schweden mit Pappschildern ab. Eine Kneipe in der Hansestadt führte einen Sonderpreis ein. Während eine Flasche Bier normalerweise eine Mark kostete, sollten Schweden fünf Mark dafür bezahlen. Und auf der Kieler Woche wurde sogar ein schwedischer Kinderchor bepöbelt. Doch was hatte diesen Unmut ausgelöst?
Ein Halbfinale mit Folgen
Es war, wenig überraschend an dieser Stelle, ein Fußballspiel. Und nicht irgendeins, sondern das Halbfinale der WM, die in Schweden stattfand. Darin hatten die Gastgeber den amtierenden Weltmeister Deutschland mit 3:1 besiegt. Viel mehr als die Niederlage erzürnten die Deutschen die Umstände des Spiels. Denn die Blau-Gelben hatten ihre Spieler unermüdlich und lautstark nach vorne gepeitscht. Heutzutage würde diesem Umstand wohl keinerlei Beachtung mehr geschenkt, damals war es eine Neuheit. Lärm von den Rängen kannte man damals, zumindest in Deutschland, in der Form nicht. Die schwedischen Organisatoren trieben diese Form der Unterstützung noch auf die Spitze, in dem sie sogenannte Einpeitscher einsetzten. Männer in blau und gelb, die die Zuschauer mit Megafonen animierten, immer wieder einen Satz zu brüllen: “Heja Sverige friskt humör, det är det som susen gör, Sverige, Sverige, Sverige.” Frei übersetzt bedeutet das so viel wie: “Auf geht’s Schweden, mit frischem Mut immer voran, Schweden, Schweden, Schweden.” Das Magazin “11Freunde” nennt die Anheizer die ersten Capos – Männer, die diese Rolle ausfüllten, lange bevor der Begriff “Capo” Eingang in die Fußballkultur fand. Die Deutschen ließen sich von der ungewohnten Atmosphäre beeindrucken.
In der 59. Minute riss Erich Juskowiak die Hutschnur. Nach einem Foul sah er Rot, weigerte sich aber zunächst, den Platz zu verlassen. Kurz darauf verletzte sich auch noch Fritz Walter. Auswechslungen gab es damals noch nicht, so dass Deutschland effektiv zu neunt zu Ende spielen musste. Schweden nutzte die Überzahl und erzielte spät im Spiel die entscheidenden Treffer. Es folgte die geschilderte Erregung in Deutschland, die bis in hohe politische Kreise Wellen schlug. Der DFB-Präsident verstieg sich gar zu der Aussage, nie wieder gegen Schweden spielen zu wollen. Doch die WM 58 ist nicht nur wegen des “Skandalspiels” in Erinnerung geblieben, sondern auch und vor allem wegen sportlicher Großtaten.
Dafür sorgte vor allem das Finale. Schweden traf darin auf Brasilien. Auf die gewohnte Unterstützung mussten die Schweden dabei verzichten. Weil auch die Fifa Bedenken ob der Lärmkulisse hatte, kamen die Einpeitscher im Endspiel nicht zum Einsatz. Statt der Fans sorgte dann ein junger Mann für Aufsehen, der die Fußballwelt danach viele Jahre in Atem halten sollte und als einer der Größten in die Geschichte des Sports einging: Pelé!
Pelés Traumtor
Pelé war bei der WM in Schweden gerade mal 17. Von seiner Nominierung erfuhr der junge Mann, der mit bürgerlichem Namen Edson Arantes do Nascimento heißt, im Radio. Gemeinsam mit seinen Mitspielern sollte er die Schmach von 1950 tilgen. Damals verpasste Brasilien im eigenen Land den Titel durch eine Niederlage gegen Uruguay. Schon gegen die Sowjetunion, Wales und im Halbfinale gegen Frankreich wirbelte er die Abwehrreihen durcheinander und erzielte vier Tore. Im Finale gegen Schweden, so schreibt es Der Spiegel, krönte sich Pelé dann zum König des Fußballs.
“Ich stand mit dem Rücken zum Tor, stoppte den Ball mit dem Oberschenkel, kickte ihn mir selbst über den Kopf, drehte mich um und schoss. Svensson reagierte zu spät, alles war viel rascher abgelaufen, als man es hier erzählen kann – er lag ausgestreckt am Boden, als der Ball ins Netz flog.”
So erinnerte sich der Weltstar später an seinen Treffer. Brasilien setzte sich am Ende mit 5:2 durch und gewann zum ersten Mal die Weltmeisterschaft.
Die ausgedachte WM
Trotz der Niederlage im WM-Finale waren auch die Schweden sehr stolz auf ihre Mannschaft. Die Silbermedaille ist bis heute der größte Erfolg, denn die Nordeuropäer im Fußball erringen konnten. Doch Jahre nach der WM entwickelte sich eine skurrile Verschwörungstheorie. Derzufolge hatte das Turnier gar nicht in Schweden stattgefunden. Vielmehr sei es eine Inszenierung von amerikanischen Geheimdiensten gewesen, die im Kalten Krieg zeigen wollten, wie manipulierbar Menschen vor dem Fernseher sind. Eine Gruppe von Menschen versuchte, diese Story zu belegen. Sie beriefen sich auf alte Fotos. Darauf ist angeblich eine Skyline neben dem Göteborger Stadion zu sehen, die es so nie gab. Auch sollen die Schatten nicht zur skandinavischen Sonneneinstrahlung gepasst haben. Aus den Schatten ließe sich angeblich ableiten, dass die Spiele in Kalifornien stattgefunden hätten.
Die komplette “Beweissammlung” ist im Film “Konspiration 58” aufgeführt, der 2002 erschien. Und dessen Plot eine reine Erfindung der Drehbuchautoren war. Viele Schweden nahmen die Handlung aber für bare Münze. Andere, vor allem ältere, beschwerten sich, dass sie die Spiele 1958 ja im Stadion gesehen hätten. Die Geschichte des Films ist frei erfunden. Die Macher wollten die Menschen für mediale Fälschungsmöglichkeiten sensibilisieren. Ein Plan, der nur teilweise aufging.
Wie 58 bis heute nachwirkt
Der Film zeigt jedoch nicht nur, wie leichtgläubig manche Menschen sind. Er dient vor allem als Beleg dafür, welche Strahlkraft die WM 58 noch immer hat. Das bestätigt auch Viktor Veigurs. Der 40-Jährige verfolgt die Entwicklung der schwedischen Nationalmannschaft seit 25 Jahren. Und immer, wenn aktuelle schwedische Teams die Gruppenphase bei einem Turnier überstehen, beginnen die Vergleiche mit den 58ern. “Jeder Schwede, der sich für Fußball interessiert, kennt die Mannschaft von damals”, sagt Veigurs. Die erste WM, an die er sich bewusst erinnert, war 1994. Schweden wurde damals überraschend Dritter. “Jede Position und jeder Spieler wurde dann mit der Mannschaft von 58 verglichen. Für mich war es eine interessante Erfahrung, weil ich so die alten Helden kennengelernt habe”, erinnert sich Veigurs.
Schweden seien sehr schüchtern und nicht mit übermäßigem Selbstvertrauen ausgestattet, gibt der Fußballfan zu. Doch die Mannschaft von 58 gibt Spielern und Anhängern jedes Mal aufs Neue Hoffnung. “Weil es schon mal passiert ist, glauben alle, dass wir wieder so einen Erfolg landen können.” Trotzdem ist Veigurs vor dem anstehenden Turnier sehr pessimistisch. “Ich wäre schon glücklich, wenn wir überhaupt ein Tor schießen.” Doch irgendwo trägt jeder Schwede das Gefühl in sich, dass eine Überraschung möglich sei. “Also sei lieber vorsichtig, Deutschland”, sagt Viktor Veigurs lachend.
Für Schweden schließt sich bei der WM in Russland gleich in verschiedener Hinsicht der Kreis. Die legendäre Heim-WM von 1958 jährt sich zum 60. Mal. Das Turnier damals war auch die letzte Weltmeisterschaft, für die sich Italien nicht qualifizieren konnte. In den Play-offs im November scheiterten die Azzuri an Schweden. Und schließlich kommt es auch zu einem Wiedersehen mit Deutschland. Doch die Umstände werden diesmal wohl etwas freundlicher sein als beim Aufeinandertreffen damals in Göteborg. Selbst wenn Schweden wieder gewinnen sollte.
Zur Person: Aufgewachsen im schönen Landsberg (bei Halle) und in Leipzig erwachsen geworden, wohnt Oliver Leiste mittlerweile in Magdeburg. Dort arbeitet er als Journalist und beschäftigt sich dabei ausgiebig mit dem 1. FC Magdeburg und dem Halleschen FC. Doch der Fußball erzählt überall spannende Geschichten, nicht nur in der 3. Liga Deutschlands. Diese Storys sucht Oliver Leiste und schreibt einige von ihnen für 120minuten.github.io auf.
Republik Korea – Selfies beim Supermatch
Die südkoreanische Fußball-Nationalmannschaft wird in Russland an ihrem 10. WM-Turnier teilnehmen. Wir sprachen im Vorfeld des Turniers mit Christian, der sich seit 5 Jahren mit dem südkoreanischen Fußball beschäftigt und unter anderem bei transfermarkt.de und der Wikipedia im Bereich „Fußball in Südkorea“ aktiv ist.
Welche Erfahrungen hast Du bisher mit dem Fußball in Südkorea gemacht?
Wenn ich den südkoreanischen Fußball mit einem Wort beschreiben soll, dann würde ich sagen: schräg. Einfach in dem Sinne, dass viele Dinge, die wir aus Deutschland gewöhnt sind, so in Südkorea nicht vorhanden sind. Ich nenne mal ein Beispiel, das größte südkoreanische Fußball-Derby, das Supermatch zwischen den FC Seoul und Suwon Samsung Bluewings. Das Derby ist vergleichbar mit den Ruhrpottderby zwischen Dortmund und Schalke oder dem Sachsenderby zwischen Dynamo Dresden und Erzgebirge Aue. Beide Fanlager können sich absolut nicht leiden. Obwohl sie sich hassen, machen Suwon- und Seoulfans immer wieder Fotos zusammen, stellen sie z.B. auf Facebook online und feiern sich dann dafür. Stell dir das mal in Deutschland vor, wenn Dortmunder und Schalker zusammen Fotos machen und diese hochladen würden! Das ist total undenkbar – in Südkorea aber kein seltenes Ereignis.
Es ist auch so, dass man bei Derbys nie Polizeistaffeln antrifft, da es in Südkorea nahezu keine Auseinandersetzungen gibt – auch nicht beim Supermatch. Ich weiß noch, als ich mir mein letzten Supermatch angeschaut hatte, war ich mit Freunden noch vor dem Stadion einkaufen. Dort drin gab es extremst viele Suwon- und Seoulfans, sogar die Ultras beider Lager waren dort, aber es gab keine Auseinandersetzungen. In Deutschland wäre so etwas undenkbar. Eine andere Erfahrung, die ich machen musste, war die des Spielstils. Ich bin eigentlich an den deutschen/europäischen Spielstil gewöhnt und wenn man sich die Spiele der K-League, der südkoreanischen Profiliga, anschaut, muss man starke Nerven haben. Die meisten Spieler trauen sich z.b. nicht, einfach mal abzuschließen. Die spielen sich den Ball vor der Strafraumgrenze hin und her, ohne mal auf das Tor zuschießen. Da werde ich immer wahnsinnig.
Welchen Stellenwert hat der Fußball im Land überhaupt?
Der Fußball in Südkorea hat nicht den Stellenwert wie in Deutschland. In Deutschland ist der Fußball die unumstößliche Nummer 1 und dahinter kommt lange nix. Dafür ist Deutschland auch sehr gut im Fußball. Anders aber in Südkorea, dort gibt es keine klare Nummer 1. Es gibt dort keine Sportart, in der die Südkoreaner richtig gut sind (wie Deutschland mit dem Fußball), sie sind in der Regel in allen Sportarten eher mittelmäßig. Der Fußball muss sich in Südkorea zusammen mit Baseball den 1. Platz teilen, allerdings sinkt die Bedeutung des Fußball immer mehr durch die nahezu erfolglosen Teilnahmen an verschiedenen Turnieren.
Wie lässt sich für jemanden, der in Südkorea noch nie im Stadion war, die Fußball- und Fankultur dort beschreiben?
Sie ist vor allem schräg. Dinge, die wir in Deutschland aus den Stadien kennen, gibt es so praktisch nicht, z.B. die Pyrotechnik-Thematik. In Südkorea wird sehr selten Pyrotechnik im Block gezündet, da man Stadionsperren befürchtet. Oder Choreographien sieht man ebenfalls auch sehr selten, da niemand die Kosten allein tragen will, aber niemand dort bereit ist, auch Geld in die Hand zunehmen. Der Support selber ist ganz ok. Je nach Verein hat man gute Ultras, allerdings auch schlecht Ultras, das kommt dann darauf an, welchen Verein man sich konkret anschaut.
Was ist die abgefahrenste Geschichte, die Du im Zusammenhang mit Fußball in Südkorea bisher erlebt hast?
Ich war bei einem Auswärtsspiel des FC Seoul bei den Pohang Steelers mit dabei. Das Stadion war ganz gut gefühlt. Nachdem das Spiel begann, unterstützten wir unser Team und die Pohangfans das ihre. Nach ca. 10 Minuten wurde es aber leise im Pohang-Block, daher sangen wir noch lauter, um sie zu brüskieren. Zum gleichen Zeitpunkt war die Marine Pohangs mit im Stadion und schaute sich das Spiel. Sie fingen dann plötzlich an zu supporten und versuchten, uns zu übertönen. Daraus wurde sehr schnell ein “Kampf um den lauteren Block”. Die eigentlichen Pohang-Fans hat man die ganze Zeit fast nicht gehört, ganz im Gegensatz zu uns und der Marine. Nach dem Spiel quatschten wir noch ein wenig, als uns Seoul-Fans Videos auf Facebook zeigten, wie die Marine im “Wettstreit” mit den Seoul-Fans sang. Einige TV-Zuschauer nahmen diesen “Wettstreit” auf und veröffentlichten das Video dazu auf Facebook. Es gab sehr viel Gelächter, da es für die Poyang-Ultras total peinlich war, dass die Marine deutlich lauter war als sie selbst.
Die Nationalmannschaft Südkoreas wird bei der Fußball-WM in Russland an den Start gehen. Wie präsent ist die WM in Südkorea (in den Medien, bei den Menschen…) eigentlich?
Eigentlich gar nicht so wirklich. Aktuell gibt es in Südkorea wichtigere Dinge, wie z.B. die Annäherung zwischen Nord- und Südkorea. Aber auch ohne die anderen wichtigen Themen wäre die WM nicht so präsent, da es in Südkorea für dieses Turnier keine richtige Euphorie gibt. Man geht davon aus, dass man gegen die anderen Teams keine Chance hat und dass für Südkorea selbst die WM relativ schnell vorbei sein wird.
Welche Erwartungen gibt es an die Nationalmannschaft mit Blick auf Russland 2018?
Eigentlich gar keine. Man hofft eigentlich nur darauf, dass man die Spiele gut übersteht und sich nicht blamiert.
Wer sind die drei Topspieler der Nationalmannschaft und welcher südkoreanische Spieler wird beim Turnier in Russland überraschen?
Die besten drei sind ganz klar Son Heung-min von Tottenham, Hwang Hee-chan und Ki Sung-yong. Kim Min-jae wäre ein Spieler, der überraschen könnte. Er ist gerade mal 21 Jahre alt und hat schon in Asien für viel Wirbel gesorgt. Gut möglich daher, dass er bei der WM eine Überraschung sein und sich dort nochmal steigern kann. Bei seinem Verein Jeonbuk Hyundai Motors ist er schon Stammspieler.
Jede Fußball-Nation hat ja so einen ganz besonderen WM-Moment. Welcher wäre das für Südkorea und warum?
Das Spiel gegen Deutschland. Bei der WM 2002 verlor man das Halbfinal-Spiel zuhause und dafür möchte man gern Revanche nehmen. Gegen Deutschland spielen sie sehr gern, da man von der Fankultur und dem Fußball, der in Deutschland gespielt wird, sehr angetan ist.
Wir danken ganz herzlich für das Gespräch!
Zur Person: Unser Interviewpartner Christian beschäftigt sich seit 5 Jahren mit dem südkoreanischen Fußball und ist unter anderem bei transfermarkt.de und der Wikipedia im Bereich „Fußball in Südkorea“ aktiv. Auf Twitter findet man ihn als @Yanikor95.
Belgien – Die Goldene Generation
von Christoph Wagner (@wagnerc23)
Das Schlagwort goldene Generation hat schon so mancher Mannschaft das Genick gebrochen. Die Fans der englischen Nationalmannschaft können ein Lied davon singen. Auch in Belgien gibt es derzeit eine solche Spielergeneration, denen in Russland der ganz große Wurf zugetraut wird. Namen wie Romelu Lukaku, Marouane Fellaini, Kevin de Bruyne, Eden Hazard sind in aller Munde und das zu Recht, denn alle spielen bei Topklubs und sind dort jeweils gesetzt.
Nach dem Aus im Viertelfinale der Europameisterschaft 2016 musste Nationaltrainer Marc Wilmots gehen. Er hat eine sehr starke Mannschaft aufgebaut, konnte sie aber nicht auf das nächste Level heben. Mit Roberto Martinez wurde ein neuer Trainer verpflichtet, der die englische Liga gut kennt, denn dort spielen die meisten seiner Spieler und ihm wird die Qualität zugetraut aus eben jener Goldenen Generation Weltmeister zu machen.
Für ihn, Martinez ist das eine Herausforderung. Zwar wollte er nicht unbedingt eine Nationalmannschaft trainieren aber bei Belgien konnte er nicht ablehnen, denn er war einfach nur neugierig auf diese Mannschaft. Er sagt, dass er die Favoritenrolle gern annimmt und dass dies logischerweise Druck mit sich bringt, mit dem die Spieler umgehen müssen. Es ist klar für Martinez, dass die Spieler während eines Turniers wachsen und eine psychologische Schwelle überschreiten müssen, um Weltmeister zu werden. Er widerspricht dem Gedanken, dass nur Mannschaften den Titel gewinnen können, die schon einmal gewonnen haben.
Die Revolution des Roberto Martinez – Zuviel des Guten?
Um das große Ziel, den WM-Titel, zu erreichen hat Martinez das Spiel der Mannschaft umgestellt. Statt Viererkette wird nun im Dreierverbund verteidigt. Im Mittelfeld kommen die Offensivkräfte wie Fellaini und Nainggolan zum Zuge. Mit letzterem hatte Martinez einen Machtkampf auszufechten. Dabei ging es um Disziplin: Nainggolan kam regelmäßig zu spät zum Training und kann dem Rauchen nicht abschwören. Während der Qualifikation kommt er auf nur 96 Einsatzminuten. Diese schließt Belgien äußerst erfolgreich ab: bereits zwei Spieltage vor Schluss ist das Ticket nach Russland gesichert und das Team hat 43 Tore geschossen und ist gemeinsam mit Deutschland das torgefährlichste in Europa. Jede Medaille hat eine Kehrseite, so auch das belgische Sommermärchen.
Nach der WM wird Martinez voraussichtlich seinen Posten räumen. Grund sind die Sprachen: er spricht keine der drei (!!!) Amtssprachen und für das chronisch erfolglose Belgien ist Roberto Martinez vielleicht ein wenig zu revolutionär. Er hatte sich eine herzlichere Reaktion erhofft, die aber ausblieb. Die Spieler und die erfolgreiche Qualifikation machen Belgien zu einem der Favoriten auf den WM-Titel in Russland. Das war auch schon 2016 der Fall und im Viertelfinale war dann Schluss.
Für die goldene Generation Belgiens heisst es also im Sommer 2018: Jetzt oder Nie! Passiert das nicht, ist diese Generation verloren, viele Spieler werden ihr letztes Turnier spielen und der Nachwuchs gibt wenig Grund zur Hoffnung.
Zur Person: Christoph Wagner wuchs in Magdeburg auf; nach dem Abitur am dortigen Sportgymnasium verschlug es ihn über England nach Paris, wo er seit einigen Jahren lebt und arbeitet. Er ist nicht nur einer der Gründungsväter hinter 120minuten, sondern schreibt auch selbst regelmäßig über das schöne Spiel – entweder in seinem eigenen Blog (dort auf Englisch) oder auf 120minuten, wo er sich dem Fußball vor allem aus einer historischen Perspektive widmet.
Panama – Phantomtor bringt einen Feiertag
von Alex Schnarr (@ersatzbank)
Ausgerechnet die USA! Beschäftigt man sich ein wenig mit der Geschichte Panamas, stolpert man eigentlich ständig über enge Verbindungen des mittelamerikanischen Landes zu den Vereinigten Staaten. Nach der Unabhängigkeit von Kolumbien im Jahr 1903 stand man lange, genauer: bis 1999, unter US-amerikanischem Einfluss, was wiederum mit dem Panama-Kanal zu tun hat. Der verbindet die Karibik im Norden mit dem Pazifischen Ozean im Süden, wurde von 1904 bis 1914 von den USA gebaut und finanziert, ist eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt und ein maßgeblicher Grund dafür, dass Panama in der Form, wie wir es heute kennen, überhaupt existiert.
Und ausgerechnet jene USA müssen die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 nun vor dem Fernseher verfolgen, während an ihrer Stelle eben Panama seine erste WM-Teilnahme zelebriert. Das Pikante dabei: Die Qualifikation kam letztlich aufgrund eines irregulären Treffers zustande, der die Vereinigten Staaten am allerletzten Spieltag trotz einer recht guten Ausgangsposition noch das WM-Ticket kostete. Vor dem letzten Spieltag in der 5. Runde der CONCACAF-Qualifikation war die Ausgangslage einigermaßen klar: Mexiko und Costa Rica waren bereits qualifiziert, Panama, Honduras und die USA kämpften um den dritten direkten Qualifikationsplatz sowie die Teilnahme an den interkontinentalen Playoffs, die der Viertplatzierte spielen würde. Die vermeintlich einfachste Aufgabe hatten dabei die US-Boys, die in Couva beim bereits abgeschlagenen Trinidad und Tobago antreten mussten. Honduras hatte Mexiko zu Gast, Panama ein Heimspiel gegen Costa Rica.
Fußball als Randsportart
Anders als Liga-Spiele sind Begegnungen der Nationalmannschaft in Panama (inzwischen) eine große Sache und locken schon auch mal eine ordentliche Anzahl an Zuschauern in das 32.000 Menschen fassende “Estadio Rommel Fernández”. Benannt ist es nach Rommel Fernández Gutiérrez, dem ersten panamaischen Spieler, dem der Durchbruch im bezahlten europäischen Fußball gelang. 1989/1990 wurden er in Diensten von CD Teneriffa in der Primera División als “bester Spieler Südamerikas” ausgezeichnet, später spielte er noch für Valencia und Albacete Balompié. Als Fernández Gutiérrez 1993 bei einem Autounfall ums Leben kam, wurde das Nationalstadion zu seinen Ehren umbenannt.
Von den Kulissen, die der Namensgeber des Nationalstadions auf seinen europäischen Stationen kennengelernt haben dürfte, können die heutigen Nationalspieler, die ihr Geld noch in der heimischen Liga verdienen, nur träumen. So verlieren sich beim Tauro FC, dem erfolgreichsten Club aus Panama City, nur selten mal mehr als 200 (!!!) Zuschauer bei den Heimspielen; Konkurrent CD Plaza Amador, der älteste Proficlub des Landes, eröffnete 2014 ein neues Stadion mit 5.500 Plätzen und teilt sich selbiges noch mit dem Lokalrivalen Chorillo FC.
Das geringe Zuschauerinteresse hat im Wesentlichen zwei einfache Gründe: Einerseits wird in Panama erst seit 1988 unter professionellen Rahmenbedingungen in einer nationalen Liga (die sich aber vor allem um den Panama-Kanal konzentriert) Fußball gespielt, andererseits stand der Sport sehr, sehr lange im Schatten der eigentlichen Nationalsportarten Boxen und vor allem Baseball.
Per Phantomtor zur WM
Dass das inzwischen etwas anders ist, hat viel mit eben jenem letzten Qualifikationsspieltag im Oktober 2017 zu tun. Zur Halbzeit lagen sowohl Honduras als auch Panama gegen die Favoriten aus Mexiko und Costa Rica zurück. Die USA waren in Trinidad und Tobago zwar auch bereits mit 0:2 im Rückstand, was aber egal war: Würde es bei den anderen Ergebnissen bleiben, wären die Vereinigten Staaten direkt qualifiziert gewesen, da sie mit zwei Punkten Vorsprung in die letzte Runde gegangen waren. In der 55. Minute war es in der Partie zwischen Panama und Costa Rica Gabriel Torres, der den Ball nach einer Ecke und reichlich Verwirrung in der Hintermannschaft Costa Ricas ins Tor zu drücken versuchte. Der Abschluss wurde allerdings auf der Linie geklärt, Panamas Verteidiger Blas Perez schob den Ball anschließend am Pfosten vorbei. Und der Schiedsrichter? Entschied dennoch auf Tor!
Plötzlich stand es 1:1 und bekam Panama die zweite Luft. In der 88. Minute wurde schließlich Roman Torres zum Helden. Er erzielte den viel umjubelten Siegtreffer, der, weil auch Honduras seine Partie gedreht hatte und die USA tatsächlich in Trinidad und Tobago mit 1:2 den Kürzeren zogen, zur ersten WM-Teilnahme Panamas führte, während die USA noch auf den 5. Platz rutschte. Allerdings bescherte dieser Sieg dem kleinen Land zwischen Costa Rica und Kolumbien nicht nur die erste Teilnahme an einer Fußball-Weltmeisterschaft überhaupt, sondern prompt auch noch einen freien Tag:
Im Trainingsanzug der Nationalmannschaft unterzeichnete Staatspräsident Juan Carloz Varela noch in der Nacht des Triumphs ein Dekret über einen nationalen Feiertag. Was bei der ersten WM-Teilnahme möglich ist, vermag im Vorfeld natürlich niemand seriös zu prognostizieren, wenngleich die Erwartungen im Land nicht unbedingt die kleinsten sein dürften. Aber wer weiß? In einer Gruppe mit Belgien, Tunesien und England könnten “Los Canaleros” durchaus für die eine oder andere Überraschung sorgen. Und somit vielleicht ja auch für den einen oder anderen zusätzlichen Feiertag im Heimatland.
Zur Person: Schon in seiner Schulzeit verfiel Alex Schnarr dem 1. FC Magdeburg und damit dem einzigen Klub der ehemaligen DDR, der je einen Europapokal erringen konnte. Auf seinem Blog begleitet er die Magdeburger Mannschaft mit Obsession und Augenzwinkern. Hier bei 120minuten schreibt er regelmäßig und widmet sich dabei gern den gesellschaftlichen Zusammenhängen in und um den Fußball.
Tunesien – Im Schatten der Großen
von Jérôme Grad (@Mr_Degree)
Tunesien wird in Russland zum 5. Mal bei einer Weltmeisterschaft teilnehmen. Nur Kamerun und Nigeria vertraten den afrikanischen Kontinent häufiger. Dennoch nimmt kaum jemand Notiz von den Nordafrikanern. Der Versuch einer Ursachenforschung.
Im Sommer 2018 wird Tunesien an der Weltmeisterschaft in Russland teilnehmen. Neben Nigeria, Ägypten, Marokko und dem Senegal. Und doch scheinen die anderen vier Länder, genauso wie Kamerun, Ghana, die Elfenbeinküste oder auch Südafrika weitaus präsenter im Bewusstsein der Menschen zu sein als der östliche nordafrikanische Staat. Aber warum ist das so? Immerhin wird Tunesien aktuell an Nummer 14 der FIFA Weltrangliste geführt, als bestplatziertes afrikanisches Land und noch vor Kolumbien und Kroatien und Uruguay. Senegal, das nächstplatzierte afrikanische Land taucht an Rang 28 auf, Marokko auf 42, Ägypten auf 46. Zur Erinnerung: In Russland werden nur die besten 32 Teams antreten.
Man könnte nun zurecht auf den geringen Haltbarkeitswert dieser Rangliste verweisen. Richtig. Dann lohnt vielleicht ein Blick auf die sogenannten „ersten Male“, die sich gerne wie ein Denkmal in die Köpfe der Menschen brennen. Ägypten war zwar der erste afrikanische WM-Teilnehmer, aber den ersten Sieg eines afrikanischen Landes holte – richtig – Tunesien. 1978 war das, gleich bei der eigenen WM-Premiere. Ein sportlicher Meilenstein. Das 2:1 zum Auftakt gegen Mexiko ließ damals sogar Hoffnungen auf ein Weiterkommen aufleben. Das 0:0 im letzten Gruppenspiel gegen Titelverteidiger Deutschland reichte knapp nicht. Für viele zu weit in der Vergangenheit? Als Argument akzeptiert, allerdings nicht, ohne das nächste Gegenargument, für die Jüngeren unter uns, anzuführen.
40 Jahre nach der ersten Teilnahme hat sich Tunesien nach 1998, 2002 und 2006 zum bereits fünften Mal für ein WM-Turnier qualifiziert. Nur Kamerun (7 Teilnahmen) und Nigeria (6 Teilnahmen) waren öfters vertreten. Wieso assoziiert man Fußball in Afrika also nicht mit Tunesien?
Sportliche Belanglosigkeit in den 80ern und frühen 90ern
Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen muss natürlich angezweifelt werden, in wie weit eine nur in Europa durchgeführte Umfrage des Autors, noch dazu bei Menschen, die die Weltmeisterschaft 1978 maximal als Jugendlicher verfolgt haben, repräsentativ ist. Andererseits gibt es durchaus Argumente, die dieses Bewusstsein bedingen. Die Vermarktung des Fußballs und damit die Omnipräsenz des Sports und Tunesiens Erfolg war 1978 noch nicht so weit fortgeschritten wie heute. Auch, dass Fußballfans vom Turnier in Argentinien andere Ereignisse in Erinnerung geblieben sind (Stichwort Junta) dürfte eine Rolle spielen.
Doch vielleicht könnte es auch damit zusammenhängen, was nach 1978 im tunesischen Fußball passierte. Denn die Adler von Karthago verschwanden für lange Zeit von der internationalen Bildfläche. Für die kommenden vier Endrunden konnte man sich nicht mehr qualifizieren. Erst 1998, also eine ganze Generation später, gelang wieder die Qualifikation. Die Wahrheit ist aber auch: Tunesien scheiterte stets in der Gruppenphase, während Marokko (Achtelfinale 1986) Nigeria (Achtelfinale 1998) und Ghana (Achtelfinale 2006) sowie Kamerun (Viertelfinale 1990) und der Senegal (Viertelfinale 2002) die große Bühne nutzten und teilweise mit bemerkenswertem Fußball die Herzen vieler Fans eroberten.
Beim Afrika-Cup, einem Wettbewerb, durch den man international auf sich aufmerksam machen kann, konnten die Nordafrikaner ebenfalls nicht glänzen. 1978 noch Vierter, schieden sie 1982 bereits in der Vorrunde aus und verfolgten die nächsten fünf Veranstaltungen als Zuschauer. Erst 1994 gelang wieder die Teilnahme, allerdings richtete der tunesische Verband auch den Wettbewerb aus. Sportliche Belanglosigkeit also von 1982 bis 1994.
Ein tunesischer Salah? Fehlanzeige!
Erfolgreicher waren die Adler von Karthago dann um die Jahrtausendwende mit dem, was man eine goldene Generation nennen kann. Nach zwei verlorenen Finalteilnahmen 1965 und 1996 holten die Nordafrikaner 2004 unter dem französischen Trainer Roger Lemerre erstmals den Afrika-Cup – der definitiv größte Erfolg Fußball-Tunesiens. Besonders auf das Spiel gegen den Senegal in der Runde der Letzten Acht blicken die Menschen im Land noch heute mit einem großen Lächeln zurück. So berichtet der heute in Deutschland lebende Jacem: „Der Jubel nach dem Treffer durch Jahwar Mnari in der 65. Minuten war unbeschreiblich und doch einfach nur schön. Ab diesem Zeitpunkt schien die Mannschaft unaufhaltbar Richtung Titel, der das Land in einen kollektiven Freudentaumel entließ.“ Doch an diesen Erfolg im eigenen Land konnten die Tunesier nicht anknüpfen. Abwechselnd waren das Viertelfinale und die Vorrunde das sportliche Maximum. Der kleine Boom hielt nicht lange an.
Dies könnte auch, an der zugegebenermaßen für afrikanische Verhältnisse nicht unüblichen Trainerfluktuation liegen. Nicht weniger als 30 Übungsleiter versuchten sich seit der Unabhängigkeit Tunesiens 1956, manche sogar mehrmals. So auch der aktuelle Übungsleiter Nabil Maaloul, der 2013 das Amt bereits innehatte und der vom Polen Henryk Kasperczak im April 2017 (ebenfalls seine zweite Amtszeit) übernahm. Insgesamt knapp ein Dutzend Übungsleiter versuchten sich seit Lemerres Ende 2006. Konstanz sieht wahrlich anders aus.
Damals wie heute sucht man vergeblich einen Spieler von absolutem Weltformat, einem „shining star“, der weltweit Fans in seinen Bann zieht, wie aktuell Mo Salah bei Ägypten. Der Ivorer Didier Drogba war seinerzeit einer der besten Stürmer des Planeten, gewann auch die ChampionsLeague. Der Ghanaer Mikael Essien beispielsweise sorgte u.a. bei Chelsea für Furore. Nigeria scheint einen schier unerschöpflichen Pool an Talenten zu haben. Jay-Jay Okocha, Nwankwu Kanu, Finidi George und aktuell Alex Iwobi von Arsenal oder Victor Moses bei Chelsea, der John Obi Mikel nachfolgte. Bei Südafrika erinnern sich einige vielleicht noch an Benny McCarthy und vor allem an die WM 2010 samt der ohrenbetäubenden Vuvuzelas. Roger Milla auf Kameruner Seiten mag vielleicht nicht nur aufgrund seiner sportlichen Leistungen bekannt sein.
Srafri und Ayadi – ein Versprechen für die Zukunft?
Natürlich gab es gibt es tunesische Spieler, die ihr Geld im Ausland verdienen. Aus der Bundesliga bekannt sein dürften noch der ehemalige Nürnberger Jahwar Mnari sowie die Freiburger Zoubaier Baya und Adel Sellimi. Hatem Trabelsi lief fünf Jahre für Ajax Amsterdam auf und stand sogar ein Jahr bei ManCity unter Vertrag, allerdings noch vor der Zeit des Scheichs und war dort mit 20 Spielen nicht der absolute Leistungsträger. Aus dem aktuellen Kader ragen Aymen Abdennour (ehemals Bremen, jetzt Marseille) und Whabi Kazri (Rennes) heraus. Ein Spieler mit der Strahlkraft eines Drogba, Salah oder Essien ist jedoch noch nicht in Erscheinung getreten.
Um sich dauerhaft in der Welt-Elite halten zu können, bedarf es mehr Talente, die den Sprung nach Europa schaffen und dort Leistungsträger sind, als es in den vergangenen Jahren der Fall war. Einer, der dies sein könnte, ist Bassem Srafri. Der 20-Jährige, aktuell bei Nizza unter Vertrag, ist zusammen mit Ghazi Ayadi, ebenfalls 20 Jahre alt, das Gesicht der neuen, jungen Generation. Einer Generation, von Spielern, die aus der verbesserten Nachwuchsarbeit auf der Vereinsebene hervorgegangen sind. Für die verbesserte Nachwuchsarbeit sei exemplarisch Sfaxien Sports Club School genannt, eine der renommiertesten Fußballschulen des Landes, in der u.a. auch Trabelsi ausgebildet wurde.
Doch dessen ungeachtet, dass der große sportliche Scheinwerfer noch nicht auf Tunesien gerichtet wurde, ist die Vorfreude im Land auf die erste Weltmeisterschaft nach zwölf Jahren riesig. Die Sehnsucht nach dem ersten Sieg seit 1978 ist groß. Mit einer guten Vorbereitung und etwas Glück in einer Gruppe mit England, Belgien und Panama wäre vielleicht sogar das Überstehen der Gruppenphase drin und wer weiß, vielleicht auch das Viertelfinale. Damit würde man zwar nicht das erste afrikanische Land sein. Kamerun (1990) als erste afrikanische Mannschaft, Senegal (2002) und Ghana 2010 kamen bereits unter die besten Acht. Wohl aber die erste nordafrikanische Mannschaft. Und so würde Tunesien aus dem Schatten der anderen Nationen treten.
Zur Person: Jérôme Grad bewegt sich zwischen Fußball und Kultur. Pendelt seit Jahren mit dem 1. FC Nürnberg zwischen den Ligen. Für 120 Minuten ist er seit 2018 im Einsatz. Bei Twitter ist er als @Mr_Degree zu verfolgen.
England – Angstgegner Deutschland
von Chris Lee (@CMRLee)
Im Englischen gibt es einen Begriff für Mannschaften, gegen die die eigene Mannschaft immer wieder verliert bzw. die immer wieder im Weg stehen wenn es denn mal gut läuft: „Bogey Team“ – Der Angstgegner. Englands Angstgegner seit 1966 ist Deutschland, die Verlierermannschaft im Finale von Wembley. Beide könnten im Sommer im Viertelfinale aufeinandertreffen.
Es war der 13. Juli 2014. Ich saß in einer Bar in Balham im Süden Londons und sah mir das WM-Finale Argentinien gegen Deutschland an. War das dieselbe deutsche Mannschaft, die nur wenige Tage vorher Brasilien mit 7:1 abfertigte? Was mich überraschte war die Tatsache, dass jeder in der Bar zu Deutschland hielt; Argentinien und Deutschland sind die Mannschaften, die jeder in England von den Three Lions geschlagen sehen will. Nur wenige Jahre zuvor war so etwas undenkbar. Vielleicht lag dieses Love-Fest am kosmopolitischen London.
Die Meinung der Englandfans zu Deutschland hat sich in den vorhergehenden Jahren grundlegend geändert, das ist nicht von der Hand zu weisen. Unter englischen Fußballfans genießt die Bundesliga einen hervorragenden Ruf und wird als nachempfindenswert betrachtet. Während englische Vereine an ausländische Eigentümer verkauft wurden und werden, die diese als Spielzeug betrachten, die als Geldmaschine herhalten sollen, stellen wir Fußballfans fest, dass es in Deutschland die 50+1 Regel gibt, die eben solchen Entwicklungen einen Riegel vorschieben soll. Die Fans können im Stadion ihr Bier genießen, die Eintrittspreise sind moderat und die Choreos umwerfend. Die Last eines Englandfans: während andere britische und englische Athleten erfolgreich waren, haben wir Fußballfans seit einem halben Jahrhundert in die Röhre geschaut. Die Schotten und die Waliser sind froh, England zu schlagen. Für England zählt, Argentinien und Deutschland zu schlagen. Diese Mannschaften waren sehr oft die Hürde auf dem Weg zum Erfolg für England, die zu hoch war. Deutschland mehr als jede andere Mannschaft.
Mexiko 1970
Als Titelverteidiger kam England nach Mexiko und schmolz in der Hitze. In der Gruppenphase unterlag die Mannschaft von Sir Alf Ramsey Brasilien mit 1:0. Dadurch kam es zum Viertelfinale gegen die DFB-Elf, die natürlich Wembley 1966 nicht vergessen hatte. Nach 50 Minuten führte England mit 2-0 nur um danach in der Hitze förmlich einzugehen. Beckenbauer und Seeler trafen und erzwangen die Verlängerung, in der Gerd Müller zum 3:2 traf. Das erträumte Finale England gegen Brasilien kam nicht zustande.
Spanien 1982
Nach der Niederlage von Léon 1970 verpasste England die zwei darauffolgenden Weltturniere, die Vereine jedoch dominierten im Gegenzug den Europapokal, besonders Liverpool und Nottingham seien hier erwähnt. Das Nationalteam jedoch spielte unter ferner liefen. Zur WM 1982 in Spanien kam England mit einer starken Mannschaft, die ungeschlagen die Gruppenphase überstand. In der zweiten Gruppenphase war dann wieder Endstation gegen Deutschland. Ein biederes 0:0 gegen die Derwall-Truppe und später gegen den Gastgeber Spanien bedeutete das Aus. England schied ungeschlagen aus.
Italien 1990
In einer eher durchschnittlichen WM traf England auf Deutschland. Es war die erste Halbfinalteilnahme seit 1968, seit der EM `68 in Italien. Die Nacht von Turin ist seither Teil der englischen Fußballfolklore: Linekers spätes Tor, vor allem aber Gascoignes Tränen nachdem er mit Gelb verwarnt wurde, was bedeutete, er würde in einem möglichen Finale nicht spielen dürfen. Zuletzt Chris Waddles Elfmeter, getreten in Uli-Hoeneß-Manier. Deutschland stand also wieder einmal im Weg, wie auch 1996, als wieder einmal ein Elfmeterschießen englische Herzen brach. Während der EM 2000 gewann England mit 1:0 gegen Deutschland, doch zu diesem Zeitpunkt waren beide Mannschaften schon ausgeschieden. Dieses Turnier war der Tiefpunkt für Deutschland und Ausgangspunkt für „Das Reboot“.
Südafrika 2010
Der 4:1-Sieg der deutschen Mannschaft hätte durchaus ganz anders aussehen können, denn kurz vor der Halbzeit traf Frank Lampard beim Stand von 2-1 die Unterseite der Latte und der Ball sprang ins Tor. Schockierenderweise hatte das Schiedsrichtergespann den Treffer als solchen nicht anerkannt. Deutschland war die klar bessere Mannschaft und zeigten schon damals das Potential welches sich 2014 als sie Weltmeister wurden, andeutete.
Der Neuanfang für England hat begonnen und 2017 haben die U-17 und die U-20 respektive ihre Weltturniere gewonnen. Es kann also sein, dass England bald wieder einmal gegen Deutschland in einem wichtigen Spiel gewinnt.
Zur Person: Chris Lee lebt in London und arbeitet in der Medienbranche. Er ist Herausgeber von Outside Write, einem Blog, welches sich Fußballkultur und Fußballreisen widmet.
Polen – Der verhasste Bruder
von Oliver Wiebe (@OlliWiebe)
Über 20.000 polnische Fans wollen zur WM nach Russland reisen. Die gemeinsame Geschichte wird dabei wieder für Konflikte unter Polen und Russen sorgen.
Polen und Russland. Zwei Staaten, die historisch ineinanderverwachsen sind und sich doch tief verabscheuen. Wenn während der Gruppenspiele der WM 2018 in Russland zusammen mit der polnischen Nationalmannschaft in Wolgograd, Moskau und Kasan zahlreiche Polen die Straßen säumen, erhält ein alter Konflikt neues Feuer. So war es schon während der Europameisterschaft 2012, die in Polen und der Ukraine stattfand. Damals zogen vor dem Spiel von Polen gegen Russland etwa 1.000 russische Fans durch die polnische Hauptstadt Warschau.
Das Spiel fand ausgerechnet am 12. Juni, dem russischen Nationalfeiertag, statt. Die russischen Hooligans und Ultras versuchten auf ihrem Marsch durch die Innenstadt ein Public Viewing zu stürmen. Auf der Poniatowski-Brücke, die über die Weichsel zwischen Warschauer Innenstadt und Nationalstadtion führt, schlugen sich hunderte Fans aus Polen und Russland die Köpfe ein. Die Polizei brauchte eine ganze Weile, um die Fans zu trennen. Angesichts der zahlreichen repressiven Kontrollmaßnahmen zur Einschränkung der Hooligan-Gewalt während der EM 2012, wie etwa Meldeauflagen und Betretungsverbote für polizeibekannte Randalierer, zeugten die Bilder dieser Massenschlägerei vom gegenseitigen Hass der oftmals noch jungen Fans aus Polen und Russland.
Historische Ereignisse auf Choreografien polnischer Fußballfans
Der Nationalstolz, der vom Fan-Marsch der Russen ausging, erinnerte an noch lange nicht vergessene Zeiten aus der polnisch-russischen Geschichte. Diese ist, gespickt von Krieg, noch heute omnipräsent unter der polnischen Bevölkerung. Das historische Bewusstsein unter polnischen Fußballfans äußert sich etwa in Form von Choreografien im Stadion, die historische Bilder zeigen. Gedenktage oder Jubiläen bilden die Anlässe für Inszenierungen zur Geschichte der polnischen Nation. In Bezug auf das polnisch-russische Verhältnis sind das etwa Choreografien in Erinnerung an die Wiedererlangung der polnischen Souveränität 1918, an die Schlacht um Warschau gegen die russische Armee 1920 (Wunder von der Weichsel), an den damaligen Staatsführer Piłsudski, die Unterdrückung Polens während des Zweiten Weltkriegs oder auch die Errichtung des Staatssozialismus bis 1989.
Diese historischen Ereignisse nehmen Ultras in Polen als Aufhänger, um ein einseitiges, triumphales, Polen zentriertes Narrativ der Helden- und Leidensgeschichte Polens zu vermitteln. Russland wird darin als Feind der Freiheit Polens dargestellt. Die genannten Choreografien polnischer Fans schaffen die Basis für gewalttätige Agressionen gegenüber russischen Fußballfans.
Positive Seiten der WM 2018 in Russland
Es gibt aber auch andere Geschichten rund um das gegenwärtige polnisch-russische Verhältnis. Der aktuelle Nationaltrainer Russlands, Stanislaw Salamowitsch Tschertschessow, wurde 2016 als Trainer von Legia Warschau polnischer Meister und trug sich damit als eine Ikone in die Vereinsgeschichte ein. Im russischen Oblast Kaliningrad, wo 4 Spiele der Gruppenphase stattfinden, wirbt die polnische Stadt Olsztyn (knapp 3 Auto-Stunden entfernt) unter den WM-Besuchern für einen Ausflug nach Polen. Die zahlreichen Berichte über gewalttätige Hooligans und Ultras in Russland, wie etwa die im Februar erschienene BBC-Doku „Russia’s Hooligan Army“, ähneln den Vorberichten zur EM 2012.
Dariusz Łapiński, der schon 2012 als Fan-Koordinator des polnischen Fußballverbands PZPN tätig war und aktuell alle Informationen für WM-Reisende aus Polen zusammenträgt, sieht die WM-Organisatoren in Russland als Leidensgenossen: „Die polarisierenden Berichte über russische Fans erinnern an die EM 2012. Damals gab es ähnliche Dokumentationen über Polen. Die Zeit lehrt mich, dass die dort gezeigten Szenarien überdreht sind und es am Ende nur halb so schlimm wird.“ Ob der Fan-Koordinator recht behält, wird sich spätestens zum ersten Spiel der polnischen Auswahl gegen Senegal am 19. Juni zeigen. Und das findet ausgerechnet direkt im Herzen des Landes, in der russischen Hauptstadt Moskau, statt.
Leseempfehlungen:
- Feindt, Gregor: Völkerfreundschaft auf dem Rasen? Fußball‐Länderspiele gegen die Sowjetunion 1957 im Spiegel der polnischen Presse. In: Dahlmann, Dittmar; Hilbrenner, Anke; Lenz, Britta (Hrsg.), Überall ist der Ball rund – Nachspielzeit. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Südost‐ und Osteuropa. Essen 2011
- Pankowski, Rafał: Rechtsextremismus in Polen – Gruppierungen, Narrationen, Gegenbewegungen. In: Polen-Analysen 131 (17.09.2013).
- Stoll, Katrin; Stach, Sabine; Saryusz-Wolska, Magdalena: Verordnete Geschichte? Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen. Eine Einführung. In: Zeitgeschichte-online (Juli 2016).
- Vetter, Reinhold: Mehr als ein Fußballfest – Die EM 2012; In: Polen-Analysen 115 (16.10.2012).
Zur Person: Oliver Wiebe ist 1992 in Magdeburg geboren. Er hat Geschichte, Kultur-, Sozialwissenschaften und Interdisziplinäre Polen-Studien studiert. Für seine Masterarbeit beschäftigte er sich mit historischen Bildern auf den Choreografien polnischer Fußballfans. Neben seiner Studien betreibt der Autor journalistische Arbeit in Wort und Bild und engagiert sich ehrenamtlich beim Fanhilfe Magdeburg e.V.. Zu erreichen ist er via Twitter und Facebook.
Senegal – 15 Minuten Ruhm
von Endreas Müller (@endreasmueller)
Als am 31. Mai 2002 das Eröffnungsspiel der WM in Seoul angepfiffen wurde, waren die Rollen klar verteilt: Auf der einen Seite der amtierende Welt- und Europameister Frankreich, der mit Thierry Henry, David Trezeguet und Djibril Cissé die besten Torschützen der Premier League, der Serie A und der Ligue 1 in seinen Reihen hatte. Auf der anderen Seite der Debütant aus dem Senegal, für den schon diese ersten 90 Minuten das mutmaßliche Highlight der Endrunde hätten sein können.
Das Spiel barg viele Narrative: Die übermächtigen Franzosen gegen die ehemalige Kolonie Senegal. Der Kader der Senegalesen, der sich fast ausschließlich aus Spielern rekrutierte, die in Frankreich ihr Geld verdienten, die aber nicht bei den Topklubs spielten – quasi eine französische B-Elf. Trainiert wurde das Team vom Franzosen Bruno Metsu, der bereits 2013 verstarb, und ebenfalls eher in der zweiten Reihe der französischen Trainergilde stand.
Der Ausgang des Eröffnungsspiels ist bekannt: der Außenseiter Senegal rang Frankreich überraschend mit 1:0 nieder. Bruno Metsu wusste genau, wie er den Franzosen, die ohne Zidane antraten, wehtun konnte – die Ü-30-Innenverteidigung der Franzosen hatte mit dem schnellen Spiel der Senegalesen zu kämpfen.
Wenn man an diese Begegnung zurückdenkt, fragt man sich rückblickend, wie und wo man das Eröffnungsspiel des wichtigsten Sportereignisses im Sommer 2002 verfolgt hat. Man versucht sich zu erinnern, wie man vorm Fernseher dabei zusah, wie die Sensation ihren Lauf nahm. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich mich eben nicht mehr an dieses Spiel erinnern kann. Sehr wahrscheinlich habe ich es nicht einmal live gesehen. Während des Anstoßs an einem Freitag um 13:30 Uhr deutscher Ortszeit drückte ich wohl sehr wahrscheinlich die Schulbank. Wer sich nicht beruflich mit Fußball beschäftigte oder über sehr viel Tagesfreizeit verfügte, der wird das Spiel wohl kaum live verfolgt haben.
Zweiter afrikanischer Viertelfinalist überhaupt
In meiner verklärten Erinnerung sehe ich mich dennoch mit den Senegalesen dem Schlusspfiff entgegenfiebern – alles Wunschdenken. In Wahrheit hatte ich von der WM 2002 vor der Recherche zu diesem Text nur noch das Abschneiden der DFB-Auswahl im Hinterkopf. Dabei gehörte die Mannschaft des Senegal zu den positiven Überraschungen des Turniers und setzte mit ihrem Abschneiden ein Ausrufezeichen. Ungeschlagen überstand das Team die Vorrunde, schlug Schweden im ersten K.O.-Spiel und scheiterte erst in der Verlängerung im Viertelfinale an der Türkei.
Das ausgerechnet dieses Team bei dieser Endrunde der zweite afrikanische WM-Viertelfinalist nach Kamerun 1990 sein sollte, war so nicht abzusehen. Der Sieg gegen Frankreich und das gute Abschneiden Senegals im Turnier waren typisch für die Endrunde in Japan und Südkorea. Bruno Metsus Team war eines der Puzzelteile, die zum großen Favoritensterben führten – Frankreich, Portugal, Argentinien, Kroatien als WM-Dritter 1998 – alle mussten nach der Vorrunde die Segel streichen.
Nach drei Wochen war die Zeit im Rampenlicht des Weltfußballs für die Senegalesen schon wieder vorbei. Was bleibt sind Erinnerungen, die außerhalb des Senegal schnell verblassten, und ein paar lukrative Verträge, die sich die Spieler im Anschluss an die WM sichern konnten. Dem Star des Teams, El Hadji Diouf, blieb noch die eindrucksvollste Laufbahn vorbehalten – mit Liverpool gewann er die Champions League und verdiente seine Brötchen bis 2011 in der Premier League. Bruno Metsu und seine Spieler hatten sich ihre 15 Minuten Ruhm hart erarbeitet. Der 2018er-Kader enthält einige bekannte Namen. Dennoch wird es wohl eine Mammutaufgabe, den Erfolg von 2002 zu wiederholen.
Zur Person: Endreas Müller ist Mitbegründer und Redakteur bei 120minuten.
Kolumbien – Fußball ist nur ein Spiel, oder?
von Jérôme Grad (@Mr_Degree)
Einzelne Momente entscheiden in einem Fußballerleben über Erfolg und Misserfolg, über einen neuen Werbevertrag oder ein Karriereende. Persönliche Schicksale hängen an bestimmten Situationen. Im Kolumbien Anfang der 90er Jahre hatte ein Fehler weitaus mehr Folgen.
Qualifiziert sich ein Land für eine Weltmeisterschaft, wünscht man dem Trainer und den Spielern vor der Abreise meist viel Erfolg. Man hofft, dass sie sich im Vergleich mit den Besten der Welt je nach eigener Stärke achtbar schlagen, in eine Finalrunde vorstoßen oder gar Weltmeister werden. Letzteres ist wohl der Traum jedes Fußballers und Fans, mag er noch so weit entfernt scheinen. Genährt wird die Hoffnung durch die zahlreichen „Wunder“, die es im Fußball gibt, wenn die vermeintlich Kleinen die Großen besiegen können. In Deutschland kennt jeder das „Wunder von Bern“, in Griechenland feiern sie noch heute Rehakles für dem EM-Erfolg.
In Kolumbien träumten sie auch schon mal vom Gewinn der Weltmeisterschaft. Das war 1994. Die Mannschaft um den exzentrischen Lockenschopf Carlos Valderama und den beiden Stürmer Adolpho Valencia vom FC Bayern München und Faustino Asprilla zählte zu den nicht mehr ganz geheimen Geheimfavoriten für das Turnier in den USA, auch aufgrund eines 5:0 in der WM-Qualifikation gegen das seit 33 Spielen unbesiegte Argentinien. Auch heute dürfte noch dem ein oder anderen bei der Erinnerung an die hohe Spielkunst ein Lächeln ins Gesicht entgleiten. „Ahora“, sagten sich die Kolumbianer, “jetzt”. Wurden sie doch weltweit nicht mehr nur als Drogen-Nation Nummer 1 gesehen, sondern auch für ihren Fußball wertgeschätzt.
2. Juli 1994 – der schwarze Tag im kolumbianischen Fußball
Doch was im Vorfeld verheißungsvoll klang, endete tragisch. Nicht wegen des Vorrunden-Aus’ der Cafeteros. Tragisch deshalb, weil der Kapitän der Nationalmannschaft, Andres Escobar im Anschluss an die Weltmeisterschaft in Kolumbien getötet wurde. Am 2. Juli 1994. Einfach erschossen, weil ihm im zweiten, und entscheidenden Gruppenspiel gegen die USA ein Eigentor in der 35. Minute zum 0:1 unterlief.
Es war sein erstes – und sein letztes. Weil Kolumbien das Spiel am 22. Juni 1994 mit 1:2 verlor, mussten die Cafeteros ihre Koffer packen. Vorrunden-Aus und dann auch noch gegen die ungeliebten Gringos. Zu viel für die Menschen in einem Land, in dem beim Fußball nur Siege zählen. Nachdem viele Experten Kolumbien eine ernsthafte Titelchance in Aussicht stellten, schwang die große Euphorie im gesamten Land vor dem Turnier in Empörung, Wut und Hass um. Die Helden waren auf einmal die größten Versager und Andres Escobar, der nur zufällig den gleichen Namen wie der Drogen-Boss Pablo hatte, ihr Anführer.
Unliebsame Ablenkung vor dem Spiel
Dass die Mannschaft vor dem entscheidenden Spiel Morddrohungen erhielt, der Trainer wurde sogar aufgefordert, den Spieler Barabas Gomez nicht aufzustellen – unvorstellbar. Verständlich, dass die vielgepriesenen Asprilla und Valderamas nicht ihre sportlichen Höchstleistungen abliefern können, wenn sie um die körperliche Unversehrtheit ihrer Verwandten und Freunde bangen müssen. Wer könnte das schon?
Woher die Morddrohung kam, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Vieles spricht dafür, dass sie aus den Kreisen der Drogenkartelle kam, die, so wird berichtet, eine erhebliche Summe auf den Titel Kolumbiens gesetzt hatten. Die Welt sah wieder das hässliche Gesicht Kolumbiens, das von den Narcos kontrolliert wird. Viele Kolumbianer waren nach dem Tod Escobars nicht nur traurig, sondern auch beschämt. Das Vorurteil, alle Kolumbianer seien Drogendealer, es hatte neue Nahrung erhalten.
Zur falschen Zeit am falschen Ort
So absurd, unfassbar und unbeschreiblich es auch ist, dass jemand für einen Fehler in einem Fußballspiel sein Leben lassen muss: Zur Wahrheit gehört auch: Kolumbiens Gesellschaft ist geprägt von einer Armen-Reichen-Schere, die nicht auseinander gehen kann, weil sie zwei unabhängige Schneidekanten hat. Für einen großen Teil der armen Bevölkerung besteht das Leben aus dem täglichen Überleben. Was zählt da schon ein Menschenleben, wenn ich durch den Raub von Wertsachen meine Familie einen Monat ernähren kann? Auch wenn Armut wohl nicht das Motiv für den Tod Esocbars war, sie ist Teil der Mentalität der Kolumbianer.
Zur falschen Zeit am falschen Ort ist ein viel zu häufig ausgesprochener Satz bei Todesopfern. Auch heute noch, 24 Jahre später. Dieser berüchtigte Satz galt für Andres Escobar in der 35. Minute des Spiels, als er den Ball nach einer Flanke aus dem linken Halbfeld vor dem heranstürmenden US-amerikanischen Angreifer klären wollte und stattdessen seinen Torwart Oscar Cordoba überwand. Und er galt an jenem Abend des 2. Juli 1994, als er in seiner Heimatstadt Medellin nach sechs Schüssen durch den Schützen sein Leben ließ. Ob es ein Mitglied der Drogenkartelle war oder ein frustrierter Fan, ist bis heute nicht endgültig geklärt.
Fußball nur ein kleiner Strohhalm
Klar ist hingegen, dass die Narcos ebenfalls fußballverrückt waren. Die Rodriguez-Brüder aus Cali, spätestens seit der Netflix-Serie ein Begriff, hielten die Geschicke von Deportivo Cali in Händen. Pablo Escobar, Strippenzieher bei Atletico Nacional, wo auch Andres spielte, bestellte seinerzeit kolumbianische Nationalspieler in sein eigens gebautes Gefängnis, um mit ihnen zu kicken. Der Kult-Keeper René Higuita erntete viele negative Schlagzeilen, als er sich mit dem Drogen-Boss ablichten ließ. Doch wer weiß schon, aus welchen Stücken der Mann handelte, der gegnerische Torversuche mit spektakulären Fußabwehr-Flugeinlagen entschärfte.
Zwar hat sich das Land nach den blutigen Bürgerkriegs-Jahren von Pablo Escobar Ende der 80er und Anfang der 90er rehabilitiert. Es sei beispielhaft das vor kurzem geschlossene Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC erwähnt. Doch Armut und Kriminalität spielen gerade in Kolumbiens Großstädten Bogota, Medellin und Cali weiterhin eine viel zu große Rolle. Fußball ist da nur ein kleiner, zu oft abgeknickter Strohhalm, an dem man sich klammern kann.
2014 – Erstmals im Viertelfinale
Nach 1994 gab es aber nicht viel zum Klammern. Grund zur Freude über ihre Cafeteros hatten die Kolumbianer erst 2001 wieder, als sie die Copa America beim Heimturnier erstmals gewannen. Bei der WM 2014 zeigte die kolumbianische Nationalmannschaft, dass wieder mit ihr zu rechnen ist. Dem argentinischen Trainer Jose Pekerman, der einst als Taxifahrer die WM 1978 in Argentinien erlebte, war es gelungen, den verletzungsbedingten Ausfall des Stars Falcao zu kompensieren. Die talentierte Mannschaft um James Rodriguez scheiterte erst im Viertelfinale an Gastgeber Brasilien. Übrigens das erste Mal, dass die Cafeteros in die Runde der letzten Acht kamen.
Bei der WM 2018 werden James und Pekerman wieder dabei sein. Dieses Mal müssen sie nicht auf Falcao verzichten. Ein ähnlicher Erfolg wie 2014 ist durchaus denkbar, viele Spieler sind in den europäischen Topligen beschäftigt. Doch egal wie weit Kolumbien kommt. Am Ende des Tages ist und bleibt Fußball doch nur ein Spiel. Oder?
Zur Person: Jérôme Grad bewegt sich zwischen Fußball und Kultur. Pendelt seit Jahren mit dem 1. FC Nürnberg zwischen den Ligen. Für 120minuten ist er seit 2018 im Einsatz. Bei Twitter ist er als @Mr_Degree zu verfolgen.
Japan – Späte Trainerentlassung nimmt den Druck
von Ken Matsushima (@JSoccerMagazine)
Japan hat sich im letzten Herbst das sechste Mal in Folge für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Einige Leser*innen in Europa mögen das als ein Zeichen von Stabilität und Konsistenz deuten und annehmen, dass Japan sich mit dem Thema „Weltmeisterschaft“ inzwischen recht gut auskennt. Schaut man aber genauer hin, zeigt sich, dass Japans Aufstieg zur Fußballnation erst kürzlich erfolgte. Fußball ist in den letzten beiden Jahrzehnten nur eine der Topsportarten der Nation gewesen und sogar heute nimmt ein großer Teil des Landes kaum Notiz von diesem Sport, ein Weltmeisterjahr mal ausgenommen. Es gibt eine kleine, aber sehr enthusiastische Fan-Basis, die die J.League und das Nationalteam verfolgt, allerdings weiß der Großteil der Öffentlichkeit weniger über japanische Spieler als viele Deutsche.
Regelmäßige Konfusion
Zum Beispiel ist Kölns Yuya Osako hierzulande noch kein großer Name und auch Hamburgs Tatsuya Ito wird nur echten Fans etwas sagen. Viele Menschen kennen die großen, internationalen Stars wie Honda, Kagawa, Hasebe und Okazaki, allerdings ist die Aufmerksamkeit für neue Entwicklungen, die Form der Spieler oder die Namen von vielversprechenden Talenten nicht sehr hoch. Im Ergebnis gibt es große Unterschiede in den Vorhersagen zu den Aussichten Japans bei der diesjährigen WM. Leute, die den Fußball verfolgen und die Samurai Blue gut kennen, haben vermutlich etwas vorsichtigere Erwartungen als der durchschnittliche japanische Fan.
Diese Entwicklungen sind bei den letzten Weltmeisterschaften regelmäßig der Grund für Konfusion gewesen. 2014 beispielsweise wussten die Fans, die Japan eng verfolgen, dass die Nationalspieler über ihren Zenit waren und dass die Mannschaft in Brasilien Schwierigkeiten haben würde. Die normalen japanischen Bürger aber hatten überzogene Erwartungen, die vorrangig auf den Erfolgen weniger Spieler in Europa und dem Abschneiden bei den Asienmeisterschaften vor mehr als drei Jahren beruhten. Als Japan in der Gruppenphase ausschied, war das für echte Fans keine Überraschung, für das Land als solches aber ein Riesenschock. Das Gleiche passierte in Deutschland 2006, als es ein in die Jahre gekommenes Team mit einer schwachen Defensive verpasste, die Gruppenphase zu überstehen.
Allerdings kann es manchmal auch genau anders herum laufen. Im Jahr 2010 hatten nur die wenigsten Menschen in Japan von Keisuke Honda oder Yuto Nagamoto gehört und die Erwartungshaltung war, dass man gegen die Gruppengegner Dänemark, die Niederlande und die Elfenbeinküste keine Chance haben würde. Japan beeindruckte allerdings in den Gruppenspielen und erreichte beinahe das Viertelfinale. Durch eine Niederlage im Elfmeterschießen im Spiel gegen Paraguay, von dem viele der Meinung waren, dass man es eigentlich hätte gewinnen müssen.
Auf der Trennlinie zwischen Generationen
Aus diesem Grund gibt es mit Blick auf 2018 eben große Unterschiede zwischen den Erwartungen der “durchschnittlichen Japaner*innen” und den Meinungen der Leute, die das Nationalteam interessiert verfolgen. Das Problem ist dieses Jahr sogar noch größer, weil sich die Samurai Blue direkt an der Trennlinie zwischen verschiedenen Generationen befinden. Sogar diejenigen, die recht nah dran sind am Team, sind sich nicht sicher, wer im finalen Kader stehen wird, der nach Russland reist. Würde man 100 Personen in den Straßen von Tokio fragen, wären die häufigsten Antworten wohl Keisuke Honda, Shinji Kagawa, Shinji Okazaki, Maya Yoshida, Makoto Hasebe und Yuto Nagamoto. Tatsächlich ist es aber recht wahrscheinlich, dass es mehrere dieser Namen nicht in das WM-Aufgebot schaffen werden. All das galt vor der dramatischen Demission von Vahid Halilhodzic Anfang April, allerdings könnte der Wechsel auf der Trainerposition die Unsicherheit eher reduzieren, als dass sie sie erhöht.
Experimente kosten Trainerjob
Ich schrieb die vorherigen Absätze vor Halilhodzics Entlassung, und obwohl die Ernennung des früheren Olympia-Team-Trainers Akira Nishino das Raten, wie Japan bei der WM wohl abschneiden könnte, komplizierter macht, wird die personelle Unsicherheit, wie gesagt, eher kleiner. Halilhodzic hatte eine gewisse Geschichte in Sachen “schlechte Spielerauswahl”. Seine Unfähigkeit, sich auf einen festen Kern zu verlassen und seine anhaltenden Experimente haben sich bis zu den letzten beiden Testspielen im März fortgesetzt. Die Teams, die er gegen Mali und die Ukraine jeweils aufs Feld schickte, hatten zuvor noch nie zusammengespielt und bestanden aus vielen Spielern, die ihr Nationalmannschaftsdebüt gaben oder seit Jahren zum ersten Mal wieder dabei waren. Obwohl die Ergebnisse (ein 1:1-Unentschieden und eine 1:2-Niederlage) die allgemeine Öffentlichkeit enttäuschten, waren diejenigen, die die Samurai Blue eng verfolgen, wenig überrascht – beide Male waren die Aufstellung eher experimenteller Natur und nur wenige glaubten, dass der Trainer diese Spieler auch bei der WM einsetzen würde.
Unglücklicherweise hatte Halilhodzic zu diesem Zeitpunkt bereits einiges an schlechter Stimmung verursacht und seine Beziehung zu den Spielern und den anderen Trainern war nie sehr eng. Im Endeffekt nutzte der japanische Verband dann die sieglose Vorstellung in Belgien als Vorwand, ihn zu entlassen. Das war ohne Frage ein großer Schock für den Trainer selbst, allerdings hätten sich die moisten Fans gewünscht, dass die JFA diese Entscheidung sechs Monate eher getroffen hätte. Halilhodzic konnte Talente offenbar nie gut einschätzen. Er war nicht gut in der Kommunikation mit seinen Spielern oder deren Motivation in Schlüsselmomenten. Auch wenn seine taktischen Vorgaben vorsichtig erfolgreich waren, waren viele echte Fans der Ansicht, dass sie den Fähigkeiten der japanischen Spieler nicht gerecht wurden. Auch wenn sie möglicherweise von der Last-Minute-Entlassung angewidert waren, fragt sich niemand, warum Halilhodzic eigentlich entlassen wurde. Tatsächlich posteten einige Witzbolde Nachrichten im Internet, als der Ex-Trainer Ende April nach Japan zurückkehrte und “eine Erklärung” verlangte, die die auf der Hand liegende Antwort enthielten: “Weil Du ein lausiger Trainer warst”.
Geniestreich oder einfache Ausrede
Weil die JFA so lange wartete, um Halilhodzic zu ersetzen, ist Nishino nun in einer sehr schwierigen Position. Es wird sehr schwer sein, in nur zwei Monaten eine Mannschaft zu formen, die SEINER Philosophie entspricht. Andererseits werden Nishino und sein Team auch profitieren, weil es absolut keinen Druck gibt. Egal, wie schlecht die Mannschaft in Japan abschneidet, es wird einfach sein, Halilhodzic und der JFA die ganze Schuld zu geben. Wenn es andererseits aber gut läuft, wird jeder denken, dass die Spieler großartig sind und Nishino ein Genie, der Widerstände überwinden konnte.
Die große Frage ist nun also: Wen nimmt Nishino mit nach Russland? Wie vorher schon ausgeführt, ist eine Antwort schwierig, weil sich Japan “zwischen den Generationen” befindet. Veteranen wie Honda, Kagawa, Okazaki und Yoshida nähern sich dem Ende ihrer Karrieren und waren unter Halilhodzic längere Zeit schon nicht mehr im Kader. Einige werden möglicherweise noch einmal berufen, aber junge Spieler wie wie Anderlechts Ryoto Morioka, Getafes Gaku Shibasaki und Portominenses Stürmer Shoya Nakajima, genau wie die einheimischen Akteure Junya Ito, Gen Shoji und Naomichi Ueda könnten sich als wettbewerbsfähiger erweisen. Sie könnten sich gegen die genannten Veteranen durchsetzen, bevor die Mannschaft nach Russland aufbricht. Torhüter Kosuke Nakamura wird fast sicher Eiji Kawashima ersetzen, der in dieser Saison in Metz einige Probleme hatte.
Offensivere Spielidee
Nishinos Spielansatz ist deutlich offensiver als der von Halilhodzic. Er könnte sich dafür entscheiden, dass es mehr Sinn macht, Jüngere zu berufen und den Neubeginn für die Zukunft zu beginnen, als Honda, Kagawa, Okazaki und die anderen zurück in die Mannschaft zu holen. Aufgrund der personellen Unsicherheiten haben auch sehr gut informierte Fans Schwierigkeiten, vorherzusagen, wie sich Japan bei der WM 2018 schlagen wird. Wenn man sich die Gruppengegner anschaut, könnte es für die Samurai Blue schwierig werden, die Gruppenphase zu überstehen. Kolumbien wird sicher der härteste Test und Japan spielt gegen dieses Team zuerst. Polen und Senegal werden herausforderungsreiche Gegner sein. Sollte sich Trainer Nishino für seine Veteranen entscheiden, könnte Japan ohne einen einzigen Punkt nach Hause fahren. Andererseits könnte der Mangel an Erfahrung zum Problem werden, sofern er zu viele junge Spieler beruft. Wenn man die Situation optimistisch betrachtet, haben die jungen Spieler, die jetzt nachrücken, viel Energie und jede Menge technischer Fähigkeiten.
Es wird für gegnerische Trainer nicht einfach sein, sie zu scouten, weil sie einfach noch nicht so viele Einsätze hatten. Außerdem werden gegnerische Mannschaften keine Ahnung haben, was sie erwartet, weil Nishinos taktischer Ansatz sich vom dem seines Vorgängers völlig unterscheidet. Der Schlüssel für den Trainer wird darin liegen, sich schnell für eine erste Elf zu entscheiden und über die nächsten zwei Monate bis zur WM hart zu arbeiten, um eine gute Chemie zu entwickeln. Natürlich ist es schwierig, bei einer Mannschaft, die erst zwei Monate vor der Weltmeisterschaft zusammengestellt wurde, optimistisch zu sein. Allerdings gibt es definitiv einiges an Talent, mit dem man arbeiten kann. Viele Leute glauben, dass Halilhodzic das Team eher gebremst hat und dass sie das Potential hatten, viel bessere Ergebnisse zu erzielen.
50:50-Chance auf das Achtelfinale
Wenn Nishino seine Karten clever spielt, könnte Japan in Russland zur großen Überraschung werden. Die Frage, die jeder im Kopf hat, ist jetzt: Wen wird Nishino auswählen? Und wird er genug Zeit haben, ein effektives Team zusammenzustellen? Keine andere Mannschaft sieht sich so viel Unsicherheit gegenüber. Aber angenommen, der Trainer sucht die richtigen Spieler aus, denke ich, dass Japan genug Qualität besitzt, eine 1-1-1-Bilanz in der Gruppenphase zu erreichen. Kolumbien wird der schwerste Gegner, und Japan spielt gegen diese Mannschaft zuerst. Allerdings sind Polen und der Senegal zwei Teams, die Japan schlagen kann. Das heißt, es gibt eine 50:50-Chance, dass die Mannschaft das Achtelfinale erreicht, und wenn das Team Kolumbien im ersten Spiel bei einem Unentschieden hält, wird sich diese Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen. Vorhersagen werden einfacher sein, wenn wir wissen, welche Spieler dem Kader angehören werden.
Japans WM-Geschichte reicht nur bis zum Jahr 1998 zurück und die einzigen echte Erfolge gab es 2002 und 2010, als die Mannschaft die Runde der letzten 16 erreichte. Aus diesem Grund stammen auch die denkwürdigsten Erinnerungen japanischer Fans eher aus der Qualifikation als dem WM-Turnier selbst. Die Szene, die im japanischen Fernsehen immer wieder gezeigt wird, wenn es um die Samurai Blue geht, ist das Golden Goal im Playoff-Spiel zwischen Japan und Iran auf neutralem Platz in Malaysia 1997. Als Masayuki Okano abstauben konnte, nachdem der iranische Keeper einen Schuss von Hidetoshi Nakata nicht festzuhalten vermochte, sprintete Okano wie ein Verrückter in Richtung japanischer Bank, mit wehendem Haar und wild gestikulierend. Die pure Freude und die Begeisterung seines Jubels sind Dinge, an die sich alle Fans der Samurai Blue erinnern.
Die Leiden von Doha
Ein noch berühmterer Moment ist allerdings die Szene am Ende des Qualifikationsspiels im Jahr 1993, als ein Tor des Irak Japan in letzter Minute daran hinderte, sich für die erste WM-Teilnahme überhaupt in den USA 1994 zu qualifizieren. Dieses Ereignis bleibt japanischen Fans für immer als “Leiden von Doha” in Erinnerung. Japan spielte in den ersten Partien dieses Qualifikationsturniers sehr gut (die gesamte Finalrunde der Qualifikation wurde mit 6 Teams in 14 Tagen in Doha, Katar ausgetragen). Nach dem ersten Sieg über Südkorea nach mehr als zwei Jahrzehnten sah alles danach aus, als wäre Japan auf dem Weg zu seiner ersten WM. Eine Konzentrationsschwäche in der Endphase ihres letzten Spiels gegen den Irak sollte dann aber fatal werden. Nachdem man in der 90. Minute noch mit 2:1 geführt hatte, konnte Japan die kurze Ausführung einer Ecke nicht verhindern und wurde die Flanke knapp über die Fingerspitzen des Torhüters geköpft. Als der Ball die Innenseite des Netzes traf, sanken die japanischen Spieler zu Boden, als hätte ein versteckter Scharfschütze sie einer nach dem anderen niedergestreckt.
Während Fans im ganzen Land das Spiel im Fernsehen verfolgten, lagen die Spieler leidend auf dem Rasen und vergossen Tränen der Scham. Dieses Ereignis wurde allerdings zu einer Schlüsselinspiration für Generationen an Spielern, die folgten. Viele werden das “Leiden von Doha” als den entscheidenden Moment für den fußballerischen Erfolg Japans über die letzten 25 Jahre ausmachen. Das starke Verlangen, sich als Weltklasse-Fußballnation zu beweisen, hat das Wachstum der J.League genau so inspiriert wie die erfolgreichen Spieler, die Japan nun in den meisten europäischen Top-Ligen repräsentieren. Sogar heute, wenn Japan ein Spiel bestreitet, das unbedingt gewonnen werden muss, halten Fans Plakate mit einer simplen Botschaft hoch: “10/29/93 – Never Forget!”
Zur Person: Ken Matsushima ist ein bekennender “Narr für das schöne Spiel”. Er verfolgt die J.League, seit sie in den Augen des Verbandes nur ein Schimmer war. 1999 startete er “The Rising Sun News”, um seine Leidenschaft für japanischen Fußball darzulegen und Informationen über die J.League, die Samurai Blue und Nadeshiko Japan mit den Menschen weltweit zu teilen. 15 Jahre lang, bis zur Schließung 2015, war es die verständlichste Quelle für englischsprachige Informationen über die J.League, sei es in gedruckter Form oder im Internet. Derzeit steuert er Texte zum JSoccer Magazine bei und ist für die entsprechende Webseite, www.jsoccer.com, verantwortlich.
Bildnachweis Beitragsbild: Kremlin.ru [CC BY 3.0, CC BY 4.0 or CC BY 3.0], via Wikimedia Commons
drei Turniere ohne Niederlage? Nicht ganz. 2010 verlor Spanien in der Gruppenphase 0:1 gegen die Schweiz.
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