Württembergische Revolution

Im Jahr 1984 warfen die Amateure des SC Geislingen den großen Hamburger SV aus dem DFB-Pokal. 35 Jahre später gewann Deutschland das WM-Halbfinale gegen Brasilien mit 7:1. Was hat das miteinander zu tun? Sehr vieles, wenn man die Geschichte der Spielstrategie kennt. Die These, dass der Grundstein zum Weltmeisterschaftstitel unter der Schwäbischen Alb gelegt wurde, ist gar nicht so abwegig. Eine Spurensuche an fünf Schauplätzen.

Von Bernd Sautter, www.sauttersbücher.de 

Nur wenige Wochen nach der Weltmeisterschaft in Brasilien erscheint im ZEIT Magazin ein Artikel, in dem untersucht wird, warum so viele Bundesligatrainer schwäbisch reden. Tatsächlich starteten sechs Übungsleiter aus Baden-Württemberg als Cheftrainer in den ersten Spieltag der Spielzeit 2014/15: Jens Keller, Tayfun Korkut, Robin Dutt, Markus Gisdol und Jürgen Klopp aus dem Schwäbischen, dazu kam der Südbadener Christian Streich. Es mag vielleicht Zufall gewesen sein, dass plötzlich zum selben Zeitpunkt ein Drittel der Bundesligatrainer aus dem Südwesten stammten. Und trotzdem: Dass eine solche Vielzahl an guten Strategen in Württemberg ausgebildet wurde, das hatte durchaus Methode. Doch folgen wir dem Artikel in der ZEIT noch für einen kurzen Moment. Die Autorin Heike Faller wählte die Überschrift „Geislingen an der Steige“. Tatsächlich ein guter Ort, um die Spurensuche zu beginnen.

Schauplatz 1: Geislingen, 1984

DFB Pokal 1.9.1984 Geislingen – Hamburger SV (HSV) Jubel Geislingen Gerhard Helmer
copyright by Pressefoto Baumann

Gerade mal so passt das SC-Stadion ins enge Tal zwischen zwei Höhenzügen der Schwäbischen Alb. Die Fläche zwischen Eybach und den steilen Hängen reicht gerade aus, um ein Fußballfeld anzulegen. Hoch überm Stadion ragen die Felsen aus dem Wald. Die Szenerie schafft eine malerische Kulisse für einen kleinen Spaziergang, das Tal entlang. Das dachte sich auch SC-Trainer Jakob Baumann. Vor dem Spiel ging er mit der Mannschaft noch ein paar Schritte, um sie auf das kommende Pokalspiel einzustimmen. Baumann, Vater des 5000-Meter-Olympiasiegers Dieter Baumann, musste die Mannschaft im Grunde nur ins Laufen bringen. Wohin sie laufen sollten, das wussten die Spieler bereits von seinem Vorgänger Helmut Groß.

Stadion Geislingen

Dass der HSV gleich in der ersten Pokalrunde ausscheidet, mag heute keine Überraschung mehr sein. 1984 ist es noch eine. Schließlich gelten die Hamburger als europäische Extraklasse. Ihr legendärer Europapokaltriumph ist noch gar nicht lange her. Heute gehört der Geislinger Erstrundensieg gegen Hamburg in den klassischen Reigen legendärer Pokalsensationen. Allerdings lohnt es sich, genau hinzuschauen: denn für die Geislinger Spieler kommt der Sieg überhaupt nicht überraschend. SC-Stürmer Wolfang Haug erinnert sich: „Der Alex hat eigentlich gar nicht viel halten müssen.“ Damit ist der Torwart gemeint. Auch Felix Magath ist das aufgefallen: „Die eigentliche Katastrophe“, sagt er nach dem Spiel, „war, dass wir überhaupt keine Siegchance hatten.“

Tatsächlich ist der Triumph komplett verdient. Der Oberligist presst mit hoher Intensität. Die taktischen Grundlagen wurden von Helmut Groß gelegt. Groß, der den SC zuvor trainiert hatte, ist für die spieltaktische Entwicklung Deutschlands eine der wichtigen Figuren. Obwohl ihn bis heute nur die Insider kennen. Jahre später wird er mit einem gewissen Herrn Rangnick eine württembergische Revolution auslösen. Stichwort: Ballorientiertes Pressing. Die Grundzüge erkennt man beim SC Geislingen deutlich. SC-Verteidiger Bernd Breitenbach wundert sich hinterher, wie hilflos sich der große HSV anstellt: „Wir hatten uns schon während des Spiels gefragt, irgendwann müssen sie doch mal angefangen.“ Haben sie aber nicht. Wie stark die schwarz-weißen Geislinger sind, zeigen auch die folgenden Pokalrunden. Kickers Offenbach war in der zweiten Runde so chancenlos wie der HSV. Selbst beim Ausscheiden gegen den späteren DFB-Pokalsieger Bayer Uerdingen sind die perfekt eingespielten Geislinger total auf Ballhöhe. Über die merkwürdigen Entscheidungen des Schiedsrichters, die zur unverdienten Niederlage führt, wundern sich manche noch heute.

 

Warum in Württemberg so viele gute Trainer wachsen, könnte man mit den vorherrschenden Klischees leicht erklären: Fleiß, Erfindergeist, Beharrlichkeit und ein Hang zur Besserwisserei sind die Eigenschaften, die man den Menschen im Ländle gerne zuordnet. Alles sind prächtige Zutaten für die Grundqualifikation zum Fußballtrainer. Doch selbst wenn die Theorie der passenden Mentalität stimmt, kommt noch ein weiterer, wichtiger Punkt hinzu: Die Schwaben haben sehr genau gewusst, bei wem man sich Strategie und Trainingslehre am besten abschauen kann. Wir wechseln den Schauplatz und wagen einen Blick ins Außer-Württembergische.

Fußballheimat Württemberg - 100 Orte der Erinnerung

Im Oktober 2019 ist beim Arete Verlag “Fußballheimat Württemberg” von Bernd Sautter erschienen. Neben der in diesem Text beschriebenen taktischen Weiterentwicklung des Fußballs, arbeitet der Autor weitere Entwicklungen in der Region heraus, die den Fußball maßgeblich beeinflusst haben, aber auch kuriose Begebenheiten, die in dieser Form noch nicht erzählt wurden. Beim Arete Verlag findet sich eine Leseprobe.

Schauplatz 2: Ukraine

In der taktischen Geschichte des Weltfußballs kommt Deutschland kaum vor. Aufgeschrieben hat sie der Brite Jonathan Wilson. „Revolutionen auf dem Rasen“ heißt sein Standardwerk, etwa 500 Seiten dick. Wilson taxiert die Geburt der spieltaktischen Moderne auf die Sechziger Jahre. Das Zauberwort lautet Pressing. Wilson wundert sich: „Die Idee ist derart simpel, dass man sich fragt, warum sie nicht alle übernahmen, nachdem die erste Mannschaft erfolgreich Pressing gespielt hatte. Und doch verbreitete sich diese Spielweise erst nach und nach. In Deutschland konnte Pressing gar erst in den 1990er-Jahren Fuß fassen.“ Als Geburtsort der Moderne gibt Wilson Kiew an, wo Trainer Wiktor Maslow mit Dynamo als Erster mit Pressing erfolgreich war, übrigens lange vor dem Totaalvoetbal von Ajax Amsterdam oder dem AC Milan unter Arrigo Sacchi. Maslow, in Deutschland bis heute völlig unbekannt, gewann mit einem 4-4-2 unter ständigem Attackieren des Gegners drei sowjetische Meistertitel. Die Abwehr spielte im Raum, also ohne feste Zuteilung. „Durch Manndeckung“, urteilt Maslow, „werden die Spieler gedemütigt, beleidigt und sogar moralisch unterdrückt.“ Dies, wohlgemerkt, äußerte er bereits in den sechziger Jahren. Im Team von Maslow spielten viele begabte Talente unter anderem ein gewisser Walerij Lobanowskyi.

Rund 10 Jahre später sollte Lobanowskyi das Erbe Maslows weiterführen. Während Maslow seinem taktischen Instinkt folgte, arbeitete Lobanowskyi mit wissenschaftlicher Präzision. Schon in der Schule erhielt er für seine mathematischen Fähigkeiten Auszeichnungen. Er studierte am polytechnischen Institut und ging auch den Fußball systemtheoretisch an. Lobanowskyi achtete auf Verschieben der Abwehr und darauf, dass übers gesamte Spielfeld hinweg Überzahl in Ballnähe geschaffen wird. Im Spiel mit dem Ball übte er eine Vielzahl von Kombinationen, die der Mannschaft je nach Situation zur Verfügung standen. Auch die schonungslose Analyse der Einzelspieler war neu. Am Tag nach dem Spiel hing in der Umkleidekabine eine statistische Aufschlüsselung der Partie. Jeder Spieler wusste genau, wie viele Aktionen er auf dem Platz gezeigt hatte. Auf diese Weise gewann Lobanowskyi mit Dynamo Kiew acht sowjetische Meisterschaften.

Abwehrketten ohne Libero, Verschieben und ballorientierte Spielweise konnte man nicht nur in der Sowjetunion lernen. Die neue Flexibilität entstand zeitgleich an vielen Orten auf der Welt. Nur in Deutschland setzte sie sich zaghaft durch. Vielleicht lag es auch an einer Lichtgestalt, die hierzulande das Spiel prägte, und zwar aus einer Position heraus, die in modernen Systemen nicht mehr vorgesehen war. Libero Beckenbauer sollte sich dementsprechend täuschen als er nach der WM 1990 prophezeite, dass die deutsche Mannschaft auf Jahre hinaus unschlagbar sei.  Für die zukünftige Entwicklung des Spieles war der Schauplatz Ruit deutlich wichtiger als der heilige WM-Rasen in Rom. Ruit liegt nur wenige Kilometer südöstlich von Stuttgart. Die Sportschule des Württembergischen Fußballverbandes ist unser nächster Schauplatz.

Schauplatz 3: Ruit

Franz Bartholmes, Leiter der Sportschule Ruit, bemühte sich bereits zur U17-Europameisterschaft 1984 darum, die russische Jugend-Nationalmannschaft in seiner Schule zu beherbergen. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um die Spielstrategien. Der Schulleiter hatte einfach ein Faible für den Osten. Er war ein guter Gastgeber und bemühte sich den internationalen Ruf der Sportschule auszubauen. Trotzdem war sein erster Anlauf noch nicht von Erfolg gekrönt. Die russische Jugendauswahl entschied sich für ein anderes Quartier. Aber Bartholmes blieb dran, und pflegte den Kontakt zu den russischen Verantwortlichen. Prompt wurde er im folgenden Jahr von Dynamo Kiew angefragt. Dort wusste man, dass an der Sportschule ein beheizter Kunstrasenplatz wartete – und ein freundlicher Gastgeber ohne jede ideologische Scheuklappe. Dafür fuhr Dynamo Kiew sogar 2.000 km quer durch Europa – mit einem klapprigen Bus, der schon auf der Hinfahrt dreimal seinen Geist aufgab. Lobanowskyi fand trotzdem Gefallen an der Reise. Vielleicht auch, weil sich zwischen ihm und Bartholmes eine typische Männerfreundschaft entwickelte. So besuchte Bartholmes seinen Freund von Zeit zu Zeit auch in Kiew. Dabei wunderte er sich manchmal, wie unkompliziert die Einreise war. „Wahrscheinlich gab es beim KGB eine Akte mit meinem Namen, aber viel Schlimmes kann nicht darin gestanden haben“, vermutet er. Von Lobanowskyi erfuhr er auch, dass dieser wegen seiner Besuche in Ruit sogar in Moskau antanzen musste. Warum er denn dauernd zum Klassenfeind gehe, wollte man dort wissen. „Ich gehe nicht zum Klassenfeind“, antwortete der Trainer patzig, „ich gehe zu meinem Freund Franz in die Sportschule.“ Lobanowskyi hatte sich bereits das notwendige Renommee für Eigenmächtigkeiten erarbeitet. Es war sowieso nicht seine Art, lange Erklärungen abzugeben – selbst wenn die Prawda oder andere staatliche Medien um ein Interview baten, blieb er wortkarg. Auch in Deutschland verweigerte er sich den Interviewwünschen. In der Öffentlichkeit sprach er wenig. Mit Journalisten noch weniger. Und Deutsch schon gar nicht. Nur auf das Trainingslager in Ruit bestand er, auch wenn er in den folgenden Jahren den Flieger bevorzugen sollte.

Sportschule Ruit

Im Laufe des ersten Ruiter Trainingslagers absolvierte Dynamo ein Spiel gegen Viktoria Backnang, das zu diesem Zeitpunkt vom 28-jährigen Ralf Rangnick trainiert wurde. Für den angehenden Fußball-Professor war es ein Schlüsselerlebnis. Rangnick verstand die Welt nicht mehr: „Ich habe während der Partie angefangen, die Kiew-Spieler zu zählen. Ich dachte, die hätten zwei Mann mehr auf dem Platz. Wir hatten zwar schon gegen Profis gespielt, aber so was hatten wir noch nicht erlebt: Man hatte ständig zwei, drei Gegenspieler. In unserem Fußball gab es das nicht. Wir spielten in Manndeckung – ein Mann gegen den anderen.“ Fortan pilgerte Rangnick nach Ruit, um genau zu studieren, wie es Dynamo seinen Spielern beibrachte, den Raum so verdammt eng zuzustellen. Dort, am Rande des Trainingsplatzes, traf Rangnick auf Helmut Groß, damals Trainer des VfL Kirchheim. Die Beiden studierten ausdauernd die Übungen der russischen Mannschaft. Lobanowskyi stand dabei schweigend am Spielfeldrand. Etwa so regungslos, wie er auch die Spiele seiner Mannschaft verfolgte. Absolut regungslos. Dagegen besaß jede Wachsfigur ein lebendiges Minenspiel. Auf diese Weise bis zur völligen Erstarrung konzentriert ließ der russische Großmeister der Taktik seinen fünfköpfigen Trainerstab arbeiten. Erst in der zweistündigen Besprechung am Abend wurde der Schweiger lebhaft. Dann definierte er sehr präzise das Programm für den nächsten Tag, und zwar bis ins feinste Detail.

Bis dato gab es in Deutschland kein Lehrmaterial zur ballorientierten Raumdeckung. Warum auch? Hierzulande deckte man den Mann – und das war auch gut so. Bei den Versuchen ein ballorientiertes System einzuführen sollten Groß und Rangnick bemerken, wie beharrlich man hierzulande dem Gegenspieler hinterher laufen wollte. Rangnick und Groß unternahmen die ersten Schritte, dies zu ändern. Sie legten den Grundstein zu einer neuen Spielphilosophie. Darin steckte eine Menge Lobanowskyi – und manch eigene Gedanken. Helmut Groß, der mit seinen Analytikern viel zum neuen System beitrug, erklärte es in einem Interview wie folgt: „Meine Vorstellung war, dass man den Ball so schnell es geht erobern sollte. So entstand die Idee der ballorientierten Raumdeckung. Sprich: Beim gegnerischen Angriff müssen sich die Spieler so verschieben, dass sie in Überzahl den ballführenden Gegenspieler angreifen und ihm so den Raum und die Zeit nehmen für eine vernünftige Aktion.“ Jährlich im Januar nutzen Rangnick und Groß die Möglichkeit, in Ruit Anschauungsunterricht zu nehmen.

Als Lobanowskyi dann die sowjetische Nationalmannschaft übernahm und zur Europameisterschaft in Deutschland führte, war das Domizil von vornherein klar. Natürlich Ruit. Bei der Euro 88 sollte die UdSSR bzw. Russland sein bis heute bestes Turnier spielen. Spieltaktisch waren sie den anderen Mannschaften eine Nasenlänge voraus. Das wollten jedoch nicht alle ohne Weiteres erkennen: „Fußball wie vor zwanzig Jahren“, attestierte Franz Beckenbauer. Die Diagnose des Kaisers steht beispielhaft für das Unverständnis, auf das man in Deutschland stößt, wenn man alte Systeme aufbricht. Ein paar Tage später sollten sich die Russen für das Finale qualifizieren. Zuvor waren sie über Italien hinweggefegt – nach allen Regeln der ballorientierten Kunst. Danach brach sogar Lobanowskyi sein Schweigen. Er habe in Ruit am „universellen System“ des Fußballs gebastelt, teilte er den staunenden Journalisten mit. Und das war nicht einmal gelogen. Lobanowskyi arbeitete schon seit Jahrzehnten daran, auch wenn er es selten so bezeichnete. Seine Auswahl kam einem großen Titel niemals näher als in diesem Turnier. Das Problem bestand vor allem in der zweiten gelben Karte für Oleg Kusnetsow, dem Taktgeber der Russen. Ohne den Schlüsselspieler des Systems Lobanowskyi verlor Russland das Finale mit 0:2 gegen die Niederlande. Auch das Spielglück trug an diesem Tag oranje. Marco van Bastens wahnsinniger Volley und ein verschossener Elfmeter der Russen verhinderten den verdienten Titel des Kult-Trainers.

FC PlayFair! e.V.

 

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit dem FC PlayFair! e.V. entstanden. Autor Bernd Sautter engagiert sich im weit verzweigten Netzwerk des Vereins. PlayFair setzt sich für Fußballkultur und die Nutzung der integrativen und sozialen Kraft des Fußball zum Wohl unserer Gesellschaft ein. Der Verein hat bereits mehrere beachtenswerte Initiativen in die Tat umgesetzt und engagiert sich, passend zum Text von Bernd Sautter, im Nachwuchsfußball.

In Zusammenarbeit mit dem Nachwuchsleistungszentrum des FSV Frankfurt, bringt PlayFair Nachwuchsfußballer*innen und -trainer*innen den Fairplay-Gedanken näher. Im Rahmen einer Veranstaltung mit den FSV-Nachwuchsteams, sprachen PlayFair-Vertreter im Oktober nicht nur über Fairplay auf dem Platz sondern auch über Aspekte abseits des Rasens: Umwelt, Integration und die Vorbildfunktion von Sportler*innen und Trainer*innen.

Beim Halbfinale in Stuttgart saß der komplette Trainerlehrstab des Württembergischen Fußballverbandes auf der Tribüne. Das Spiel erbrachte den endgültigen Beweis: Dieses System war einfach überlegen. Also machte man sich an die Arbeit, es seinen Trainern an die Hand zu geben. Ein halbes Jahr später waren die theoretischen Grundlagen gelegt. Im Sommer wurden die praktischen Übungen präsentiert. Im Spiel gegen den Ball etablierte der Verband Pressing und ballorientiertes Verteidigen. Im Spiel mit dem Ball wurden neue Prinzipen erarbeitet. Mit dem Ball ging es vor allem darum, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Onetouch-Fußball, schnelles Umschaltspiel, Blickrichtung Tor nach Balleroberung – das waren für deutsche Verhältnisse innovative Ansätze. Rangnick selbst machte den ersten Praxistest. Als Trainer des Landesligisten TSV Korb stellte er schon in der Winterpause auf Raumdeckung um. Korb verlor anschließend nur noch zwei Mal. Rangnick war klar: „Wenn es mit den Amateuren geht, funktioniert das mit jeder Mannschaft.“ Auch der Verband machte zielstrebig weiter. In den Auswahlmannschaften konnten die Württemberger die neue Strategie etablieren und anhand der praktischen Erfahrungen weiterentwickeln. Nur den großen DFB schien es nicht zu interessieren. Schließlich wurden die Deutschen unter Beckenbauer Weltmeister. Und warum Bitteschön, sollte sich ein Weltmeister nach russischen Ideen richten? Der Kaiser war sowieso davon überzeugt, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung auf Jahre hinaus unschlagbar wäre. Auf diese Art und Weise kassierte der deutsche Fußball einen spieltaktischen Rückstand, dem er mehr als ein Jahrzehnt hinterherlief. Oft waren gute Einzelspieler in der Lage, die taktischen Mängel zu überdecken. So war der Titelgewinn bei der Europameisterschaft 1996 Wasser auf die Mühlen der Manndecker. „Taktik ist eben nicht alles“, relativiert wfv-Trainer Wolfgang Kopp. „Was aber, wenn zwei Mannschaften aufeinandertreffen, die am Ball und in der Physis gleich stark sind? Dann entscheidet die Taktik!“

Kopp arbeitete als Mitglied des württembergischen Trainerlehrstabes beharrlich am neuen System weiter. „In den ersten Jahren hat man wenig bis nichts gesehen,“ räumt er ein. Viele Widerstände waren zu überwinden. So war es durchaus eine Herausforderung plausibel zu machen, dass es für die Verteidiger in bestimmten Situationen besser wäre, die Stürmer alleine zu lassen. „Des geht bei uns net,“ sagten die schwäbischen Trainer. Aber mit der Zeit funktionierte es eben doch. Langsam setzten sich die neuen Prinzipien durch. In den Länderpokal-Turnieren, der Jugendverbandsauswahlen belegten die Württemberger plötzlich reihenweise die ersten Plätze. Auch beim DFB fanden sich offene Ohren. Tina Theune-Meyer, Trainerin der Damen-Nationalmannschaft übernahm die neue Philosophie – und das mit großem Erfolg. Die Ausnahmestellung der Nationalmannschaft in den Neunziger Jahren ist fraglos ihr Verdienst – und das Resultat eines besseren Systems.

„Vieles haben wir bei Lobanowskyi gelernt“, resümiert Kopp. „Er hat oft 11 gegen 11 spielen lassen. Diese Spiele hat er immer wieder unterbrochen, um die Positionen zu verbessern. Außerdem hat er in seinen Trainingsformen Taktik und Kondition immer gemeinsam entwickelt. Das haben wir uns zum Vorbild genommen.“ Von den Innovationen sollten die Württembergischen Trainer noch lange profitieren. Die Liste ist lang: Tayfun Korkut, Jürgen Klopp, Peter Zeitler, Michael Feichtenbeiner, Robin Dutt, Thomas Schneider, Markus Gisdol, Marc Kienle, Alexander Zorniger und viele andere – von all diesen Trainern lässt sich eine Linie ziehen, die schlussendlich auf den zurückgeht, der am liebsten gar nicht darüber reden wollte: auf Walerij Lobanowskyi.

Bleiben wir noch einen kurzen Moment in den achtziger Jahren und folgen dem großen Spieltüftler Helmut Groß. Der Mann im Hintergrund trainierte damals den VfL Kirchheim/Teck. Wir sind im Mittelbau der großen Fußballpyramide: an unserem vierten von fünf Schauplätzen der württembergischen Revolution.

Schauplatz 4: Kirchheim/Teck

Helmut Groß liebte die Sicherheit. Trainer im Profi-Fußball? Das war dem bodenständigen Ingenieur bei weitem zu abenteuerlich. Der Schwabe Groß mochte die Sicherheit, die ein guter Ingenieur hatte, der im Regierungspräsidium in der Abteilung Brückenbau angestellt war. Groß trainierte auf Amateurniveau, unter anderem einige Spielzeiten in Kirchheim/Teck. Mit dem Aufstieg in die Oberliga Baden-Württemberg begann im Jahr 1986 die beste Phase unter der Burg Teck. Ein Aufstieg in die dritthöchste Spielklasse ist zwar kein großes Ding – und trotzdem bemerkenswert. Der Grund: Auch auf diesem überschaubaren Niveau bewährte sich bereits das ballorientierte System.

Stadion Kirchheim

Auch bei der Videoanalyse war Groß weit vorne. Er profitierte von einem frühen TV-Kabelprojekt, kaufte sich zwei Videorekorder und studierte Begegnungen ausländischer Ligen. Mit diesen Ideen übernahm Helmut Groß den VfL Kirchheim/Teck im Jahr 1985. Bereits in der ersten Saison stiegen die Blauen auf. Der Gegner hatte bereits die Aufstiegsparty organisiert. Ein Kirchheimer Spieler sagte später, es wäre schon fast unfair gewesen, weil die Südbadener nichts wußten vom neuartigen Spielsystem. Nach seiner Zeit in Kirchheim wurde Groß Jugendkoordinator beim VfB Stuttgart. Später folgte er seinem Kumpel Rangnick zu vielen Stationen – unter anderem nach Hoffenheim und Leipzig.

Nicht wenige Bundesligisten begannen in den Neunzigern mit dem ballorientierten Verschieben. Der Schweizer Ottmar Hitzfeld führte die Idee bei Borussia Dortmund ein. Auch als Hitzfeld zu den Bayern ging, entschied sich der BVB für eine Fortsetzung der Spielidee, in dem man in Nevio Scala den nächsten innovativen Trainer verpflichtete. Auch nahe der Schweizer Grenze, in Freiburg, wurde längst ballorientiert gespielt, angeleitet zwar vom Nordlicht Volker Finke, aber durchaus inspiriert von der Eidgenössischen Trainerschule, die damals weit voraus war, und irgendwie auf der selben Fährt wie die Kolleginnen und Kollegen aus Württemberg.

Nur beim VfB Stuttgart gingen die Experimente schief. Dort scheiterte der Schweizer Meistertrainer Rolf Fringer an den verkrusteten Strukturen der Mannschaft mit dem Brustring. Danach übernahm sein vormaliger Assistent, den Fringer vom FC Schaffhausen mit nach Stuttgart gebracht hatte, ein gewisser Joachim Löw. Etwa zur selben Zeit taucht im Osten von Württemberg ein Klub auf, der zuvor nie aufgefallen war. Willkommen an der Donau.

Schauplatz 5: Ulm

Die Mannschaft verstand nicht, was dieser Trainer wollte. Keine Manndeckung? Auf dem Platz verschieben, statt dem Gegenspieler bis in die Umkleidekabine zu folgen? Der Trainer verstand zumindest soviel: Sein neues Konzept einer Abwehrkette, die sich je nach Position des Balles verschob, würde er am besten schrittweise einführen. Also ließ Ralf Rangnick zu Beginn seiner Ulmer Zeit als Absicherung einen Libero hinter der variablen Dreierkette spielen. Andere revolutionäre Grundsätze galten vom Fleck weg mit radikaler Konsequenz: zum Beispiel hohes Verteidigen und aggressives Pressing. Weil dafür viel mehr Laufarbeit nötig war, trainierte der SSV Ulm intensiver als je zuvor. „Ich war nie im Leben so fit wie unter Ralf Rangnick“, gesteht Oliver Unsöld, der damals die linke Seite beackerte. Die Konditionsarbeit überließ Rangnick einem Experten: seinem Co-Trainer Rolf Baumann, Bruder des 5000-Meter-Olympiasiegers Dieter Baumann. Auch in punkto Ernährung wurden neue Regeln eingeführt. Rangnicks Ernährungsplan hing in allen Küchen – auch am Kühlschrank der Freundin von Oliver Unsöld. Dass dort noch gegen elf Uhr in der Nacht das Telefon klingelte – auch keine Überraschung. Das war dann der Trainer höchstpersönlich, der nur mal schauen wollte, ob sein Mittelfeldspieler schon im Bett war. Übrigens: Ulm spielte noch Regionalliga. Aber in dem, was Rangnick auf die Beine stellte, war er weiter als die meisten Bundesligaklubs.

Donaustadion Ulm

In der Saison 97/98 gönnte der Trainer seinem linken Mittelfeldspieler nur wenige Einsätze. Weil Unsöld seine Chancen auf einen Stammplatz schwinden sah, wollte er nach Aalen wechseln. Eigentlich war es bereits ausgemachte Sache. Aber dann passierte Zweierlei: Die Mannschaft belohnte sich mit dem Aufstieg in die zweite Liga. Und auf der linken Seite verletzte sich Offensivspieler Uwe Rösler. Die Chance wollte sich der gebürtige Ulmer Unsöld dann doch nicht entgehen lassen. Zähneknirschend stimmte der VfR Aalen zu, dass der Wechsel noch ein halbes Jahr auf Eis gelegt wurde. Stattdessen wollte Unsöld versuchen, einen Stammplatz bei den Ulmer Profis zu erkämpfen. Das erschien auch deshalb verlockend, weil Mannschaft und Trainer zusammen gewachsen waren. Rangnick war die unumstrittene Autorität. Die Spieler hielten zusammen wie Pech und Schwefel – so wie eben  Mannschaften funktionieren, wenn sie einen Lauf haben. Unsöld konnte nichts Besseres passieren, als wieder richtig dazu zu gehören. Beim SSV rannten alle für alle, sogar die Älteren. Bei Dauerläufer Janusz Gora war das sowieso keine Frage, der lief noch mit 35 Jahren – zuverlässig wie das Uhrwerk im Ulmer Münster. Einzig bei Stürmer Dragan Trkulja (36) gab es Aussetzer, aber die waren eingeplant. Trkulja war für die Tore zuständig – und die waren bitter notwendig. Mit seinem hohen Verteidigen nahm Rangnick in Kauf, dass hinten ein paar reingehen konnten. Doch die Mannschaft wusste genau: Spätestens ab Mitte der zweiten Halbzeit würde sich die gute Kondition bemerkbar machen. Je älter ein Spiel wurde, um so häufiger trafen die Ulmer. „Wir wussten immer, dass noch was geht“, sagt Unsöld. Und weil immer öfter noch was ging, konnte die namenlose Ulmer Mannschaft die 2. Bundesliga perfekt machen.

„Ulm? Wer bitteschön ist denn das? Die gehen doch sicherlich wieder runter!“ Für alle Experten war es klar: Vier gehen runter – Ulm und drei andere. Ein Vorbereitungsspiel gegen den Grazer AK schien diese Annahme zu unterstreichen. Ulm kam glatt mit 0:6 unter die Räder und GAK-Trainer Augenthaler wunderte sich: „Was wollt’ denn ihr in der zweiten Liga?“ Tatsächlich bot allein das Auftaktprogramm Grund zur Beunruhigung. Unter den ersten vier Gegnern befanden sich drei Bundesliga-Absteiger – Bielefeld, Karlsruhe und Köln. Am Tag vor dem Auftakt gegen Wattenscheid entdeckte Unsöld seinen Namen in Rangnicks Startformation. „Ich hatte Puls 200 und habe die ganze Nacht keine Auge zugetan.“ Jetzt war Unsöld Zweitligaspieler. Mit Ulm! Schnell sollte sich zeigen, dass die Rangnick’schen Mechanismen auch in dieser Liga funktionierten. Beim Premierenauftritt trug sich Unsöld als erster Torschütze ein. Er nagelte den Ball einfach ins Kreuzeck. Erstes Spiel, erstes Tor. Wahnsinn! Das hätte niemand erwartet – Unsöld nicht – und die 7.000 Zuschauer schon gar nicht. Der 2:0-Sieg gegen Wattenscheid 09 war am Ende völlig verdient. Der SSV war in allen Belangen überlegen. Möglicherweise die Anfangseuphorie, so vermuteten die Experten. Doch sie sollten bald ihre Meinung ändern. Nach einem 2:1-Auswärtssieg gegen den KSC, einem furiosen 6:2-Heimsieg gegen Arminia Bielefeld und einem 1:1-Unentschieden gegen den 1. FC Köln begannen die Kommentatoren genauer auf das zu schauen, was in Ulm vor sich ging. Inzwischen führte dieser turmhohe Außenseiter sogar die Tabelle an. Was auch so bleiben sollte, die gesamte Vorrunde zumindest. Die erste Niederlage setzte es erst im Dezember gegen die SpVgg Greuther Fürth. Der eigentliche Schock war allerdings ein anderer: der Abgang von Ralf Rangnick. Er war dem Ruf des VfB Stuttgart gefolgt. Der Schweizer Martin Andermatt übernahm zur Rückrunde. Gewiss ein guter Trainer, gewiss absolut auf der Höhe der Zeit – aber eben nicht so genial, nicht so visionär und nicht so akribisch wie der große „Professor“ Rangnick.

Sparen wir uns an dieser Stelle das Kasperltheater, das in Ulm zur Aufführung kam und dazu führte, dass der SSV auch postwendend wieder dort versank, wo er herkam. Vor dem Hintergrund der Trainergeschichte ist jedoch interessant, dass es mit Martin Andermatt wieder ein Schweizer war, der in Ulm fortführen sollte, was Rangnick begann. Schweizer und Württemberger waren damals in besonderer Weise offen für moderne Spielstrategien. Ganz im Gegensatz zum DFB.

Der deutsche Fußballverband produzierte bei der EM im Jahr 2000 ein eindrucksvolles Debakel, das man als Komplettversagen aller Systeme interpretieren konnte. Als die Dinge während des Turniers unter Traineropa Erich Ribbeck schief zu laufen drohten, wurde von allen Seiten beschworen, man solle bittschön den 39-jährigen Lothar Matthäus als Libero installieren, um der Abwehr Sicherheit zu geben. Matthäus kickte damals bereits als Fußballrentner bei den New York Metro Stars. So viel Retro musste schief gehen. Deutschland ging als letztes Team in die Geschichte der Sportart ein, das in einem großen Turnier mit einem Libero antrat. Das desaströse 0:3 gegen eine portugiesische B-Auswahl gilt noch heute als eine der schwärzesten Stunden deutschen Fußballschaffens.

Das EM-Debakel gilt heute als endgültiger Auslöser für eine komplette Neuausrichtung des Verbandes – von den Jugendauswahlen bis zur Nationalmannschaft. Rudi Völler übernahm. Deutschland wurde Vize-Weltmeister 2002. Doch anschließend wurde das EM-Turnier vor der Heim-WM vergurkt. Völler nahm seinen Hut. Plötzlich erschien der Württemberger Jürgen Klinsmann und der Badener Jogi Löw auf der Bildfläche. Apropos Baden-Württemberg. In fast 100 Jahren hat der DFB lediglich acht Bundestrainer und Teamchefs benötigt. Genau die Hälfte von ihnen stammen aus Baden-Württemberg. Vermutlich ist das kein Zufall.

Eine abschließende Bemerkung noch zu Ralf Rangnick. Nach seiner Zeit in Ulm scheiterte auch Rangnick beim VfB Stuttgart. Dort zu scheitern ist eine Auszeichnung für jeden ambitionierten Revoluzzer. Aus seiner Stuttgarter Zeit zog Rangnick die Schlussfolgerung, dass ihm Aufbauarbeit bei aufstrebenden Projekten besser liegt, als die Hauptverantwortung bei turbulenten Traditionsclubs. In der Folge führte der Fußballprofessor Hoffenheim, Salzburg und Leipzig zu erstaunlicher Größe. Dabei beschäftigte er viele ehemalige, aus Württemberg stammende Kollegen, die er an seine Wirkungsstätten delegierte. Darum wird bis heute in Leipzig breites Schwäbisch gesprochen. Andersrum fällt bei der Spurensuche in der Sportschule Ruit auf: In steter Regelmäßigkeit begegnet man Jugendmannschaften aus Leipzig. Die württembergische Trainerschule wurde jüngst großzügig ausgebaut. Die schwäbischen Bauherren sind nach wie vor emsige Taktiktüftler. Man weiß nie, ob sie gerade wieder etwas Neues aushecken.

 


Autoreninfo: Bernd Sautter wurde geboren, als das Wembley-Tor fiel. Seine Mutter berichtet, dass er im Alter von vier Jahren die Aufstellung von Uruguay auswendig aufsagen konnte. Mit Fußballheimat Württemberg legt der Fußballautor (Heimspiele Baden-Württemberg) und Blogger (www.propheten-der-liga.de) sein zweites Buch vor.

Bildnachweis: 

Beitragsbild: BAU // Fussball Herren DFB Pokal 1.9.1984 Geislingen – Hamburger SV (HSV), Jubel Geislingen Gerhard Helmer, copyright by Pressefoto Baumann, D-71638 Ludwigsburg, Königsallee 43, Telefon 07141 440087 Fax 07141 440088, KSK Ludwigsburg (60450050) Konto Nr. 58014, email: pressefotobaumann@gmx.de

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