Zielkonflikte, Schulterzucken und die Suche nach der Wahrheit

Investigative Recherchen im Fußball

Doping, Steuerhinterziehung und sportpolitische Missstände im Fußball zu enthüllen, sind eine Herausforderung für die Sportberichterstattung. Wie funktioniert das investigative Arbeiten im Sport? Wir sprachen darüber mit den Journalisten Hajo Seppelt, Ken Bensinger und Jonathan Sachse.

120minuten.github.io | Januar 2018

Investigativer Journalismus gehört nicht zum Tagesgeschäft der Sportberichterstattung. Doch Enthüllungen wie rund um die Football Leaks zeigen, welche Wirkung Veröffentlichungen im Sportbereich entfalten können. Bei Recherchen dieser Art geht es darum, gesellschaftlich oder strafrechtlich relevante Sachverhalte mit Hilfe exklusiver Quellen aufzudecken und die Öffentlichkeit über Missstände zu informieren. In den Ressorts Politik und Wirtschaft sind Investigativrecherchen weiter verbreitet als bei Sportthemen. Der Zündstoff, der Enthüllungen über die Machenschaften wichtiger Politiker, global agierender Konzerne oder potentieller namhafter Steuersünder innewohnt, ist meist von größerer Tragweite als die Irrungen und Wirrungen im Fußballkosmos. Doch je mehr Geld und Macht im Fußball steckt, desto relevanter wird auch die Sportpolitik. Fußballer sind Promis mit Vorbildfunktion, die jedes Jahr Millionen verdienen und viele Fußballvereine verstehen sich schon längst selbst als international agierende Unternehmen. Steuerhinterziehung, Sportpolitik und sonstige Hinterzimmermachenschaften von Spielern, Vereinen und Beratern und nicht zuletzt Doping sind daher weit mehr als Bagatelldelikte, die “nur” einen sportlichen Wettstreit beeinflussen. Mit der wachsenden Bedeutung des Sports in den vergangenen Jahrzehnten steigt auch die Dringlichkeit, Fehlentwicklungen aufzudecken.

“The football world is at a tipping point. The football associations have weakened themselves through corruption and bureaucracy. The biggest clubs have reached unprecedented power and might just decide to start their own revenue-driven show, neglecting years of tradition and what is called football culture.”

Christoph Winterbach, beteiligt an den Veröffentlichungen des Spiegel zu den Football Leaks via Reddit

Wie funktioniert investigatives Arbeiten – insbesondere im Fußball?

Investigatives Arbeiten ist zunächst eine Frage der Ressourcen. Quellen aufzutun, zu analysieren und zu prüfen erfordert Zeit. Gegenstand dieser Form der Berichterstattung sind zwangsläufig unangenehme Angelegenheiten. In der Fußballbranche redet kaum ein Akteur freiwillig über unerlaubte Leistungssteigerung oder krumme Deals, denn Spieler, Verbände, Berater und Vereine sind aufeinander angewiesen.

Jonathan Sachse arbeitet als Journalist seit 2014 für das gemeinnützige Recherchezentrum CORRECTIV. Dort recherchiert er auch zu Sportthemen. Schon länger widmet er sich dem Thema Doping. Sein Fokus liegt dabei auf Leistungsmanipulation
(u.a. fussballdoping.de).

Bei Fällen wie den durch die Football Leaks aufgedeckten sehr konkreten und intransparenten Planungen zu einer Super-Liga möchte man meinen, dass sich andere Vereine als eindeutig Benachteiligte kritisch dazu äußern oder die beschuldigten Vereine sich inhaltlich mit den Vorwürfen auseinandersetzen. Genau das bleibt aber aus bzw. unsichtbar für die Öffentlichkeit. Investigative Stücke zu Fußballthemen müssen damit für sich stehen können und Quellen in einem so verschlossenen Umfeld aufzutun, bedarf Zeit. Jonathan Sachse arbeitet bei Correctiv, einer seiner Schwerpunkte ist die Berichterstattung zu Doping im Fußball und anderen Sportarten – er fasst es zusammen:

“Quellen müssen aufgebaut werden. Wer etwas aus dem Inneren erfahren möchte, muss Vertrauen bei seinem Gegenüber aufbauen. Das geht nicht mit einem Telefonat. Die Profis in den großen Sportarten sind zudem maximal abgeschirmt. Allein der Weg zum ersten Anruf oder einen ersten Kontakt per E-Mail kann ein weiter Weg sein. Zudem reicht es nicht mit drei oder vier Personen zu sprechen. Nehmen wir an, dass ich herausfinden möchte, ob in der Bundesliga systematisch gedopt wird. Dann muss ich mit mindestens 50 Fußballern in Ruhe ohne Pressesprecher oder Berater im Hintergrund gesprochen haben.”

Jonathan Sachse, Correctiv

Ken Bensinger, der im Sportbereich schon mit mehreren investigativen Recherchen für Aufsehen gesorgt hat und den Korruptionsprozess gegen ranghohe Fußballfunktionäre in den USA intensiv begleitet, durchkämmt öffentliche und nicht-öffentliche Verzeichnisse auf der Suche nach Informationen. Der richtige Umgang mit solchen Quellen und das Wissen um Auskunftsrechte gegenüber Journalisten können ein wichtiger Aspekt bei der Umsetzung von Recherchen sein, sind aber für die alltägliche Sportberichterstattung wenig relevant:

“As a reporter, I rely very heavily on different databases of public and court records. Some of them are free and can be accessed by anyone, but others require a subscription and I’m fortunate that my employer, BuzzFeed News, provides me access to those critical tools, such as PACER, which is for looking up U.S. federal court files, or Nexis, for looking up news articles and running background checks on individuals.”

KEN BENSINGER, BUZZFEED NEWS

In anderen Fällen haben es Journalisten mit riesigen Datenbergen zu tun, die gesichtet werden müssen und nach relevanten Inhalten und Querverbindungen durchkämmt werden müssen. Die so genannten Leaks sind Datenhalden bestehend aus Abermillionen Dokumenten – die Football Leaks, aber auch die Paradise und die Panama Papers, um zwei sportfremde Beispiele zu nennen, basieren auf solchen Datenlecks.

“First we do a broad brush through the data, then we concentrate on particular issues, topics, names that we came across and found interesting. We have a special investigation software that’s been used by financial auditors who also have to look through massive amounts of data.”

Christoph Winterbach via reddit

Die Geschichten hinter den Dokumenten liegen nicht auf der Hand, sondern müssen mühsam zusammengesucht und rekonstruiert werden. Dafür kommen spezifische Arbeitstechniken und Software zum Einsatz, die in Sportredaktionen ansonsten eher keine Verwendung finden.

Seit 2017 ist Hajo Seppelt Chefautor bei EyeOpening Media und übernimmt im Auftrag der ARD die Berichterstattung über Doping und Sportpolitik.

Das Handwerkszeug für investigatives Arbeiten gehört nicht zum Arbeitsalltag von Sportjournalisten. Fußball ist für seine Konsumenten ein Zeitvertreib und genau genommen Unterhaltung.

So liegt es nahe, dass sich Berichterstattung oft um eben diese Unterhaltung und die damit einhergehende Einordnung der Ereignisse auf dem Platz dreht.

“95% der Fußballreporter konzentrieren sich auf das Spiel, Vereinswechsel, Trainer oder Taktik.”

Hajo Seppelt

Diejenigen, die tagtäglich über Spieler, Vereine und die neuesten Entwicklungen berichten sollen und am nähsten an den Akteuren dran sind, verfügen selten auch über die Kompetenzen und die Ressourcen, langwierige Recherchen umzusetzen. Ken Bensinger beschreibt es so:

“There is some expectation that sports beat reporters should be conducting months-long investigations of corruption in sports while still attending to the daily grind of covering a team, league, etc. It’s a bit unfair, I think. We don’t ask that of political campaign reporters who are chasing politicians around the country as they run for office, for example. They have enough on their plates already! But I think sports reporters are held to a bit of a higher standard on this because there is a feeling that they are forced to play the access game to do their jobs and thus are disinclined to be critical of those that give them access. It’s true that sports reporters depend on access (to the players, coaches, etc) to do their jobs, but I think it’s unfair to suggest that they would avoid good stories just to protect that access.”

Ken Bensinger

Ein Transfergerücht (und sei es noch so belegbar) zu verbreiten ist keine investigative Enthüllung – ihm fehlt schlicht die eingangs geschilderte gesellschaftliche, also moralische oder strafrechtliche, Relevanz. Im Fußball sind solche heiklen Themen eher an der Schnittstelle von Sport und Politik bzw. Wirtschaft zu finden. Das erfordert einen ganz anderen Fokus und eine andere Arbeitsweise.

“Für mich ist Journalismus immer eine Dienstleistung gegenüber der Öffentlichkeit, bei der ich für die Allgemeinheit interessantes Verborgenes an die Öffentlichkeit bringe, wozu sich diese dann verhalten kann. Für andere ist Sportjournalismus einfach nur Unterhaltung. Wenn ich meine Definition als Grundlage nehme, glaube ich, dass noch viele Sportjournalisten handwerkliches lernen können, ja. Ich sollte auch als Sportjournalist das 1×1 der Auskunftsrechte lernen. Ich sollte wissen, wie ich Informationen aus Registern erhalte. Wie ich mir Quellen über längere Zeit aufbaue. Und gerade im Sport, wann und wie ein Undercover-Einsatz als Recherchemethodik funktioniert.”

Jonathan Sachse

Wie wenig Berührungspunkte es im Sportjournalismus mit heiklen Themen gibt, zeigt eine Studie der TU München aus dem Jahr 2012, bei der 875 Journalisten zum Thema Dopingberichterstattung befragt wurden. Die Ergebnisse bestätigten den Eindruck vom fehlenden Handwerkszeug: drei von vier der befragten Sportjournalisten fühlen sich nicht ausreichend ausgebildet und über 60% halten sich für „nicht kompetent“ genug, was Dopingfragen betrifft.

Hajo Seppelt, der mit seinen Recherchen immer wieder Missstände im Sport enthüllt und Praktiken wie das staatlich organisierte Doping in Russland aufdeckt, stellt fest:

“Unter Journalisten sind etliche Sportfans, die mit klassischem Journalismus nicht viel am Hut haben, Teile des Sportjournalismus sind ein Armutszeugnis bezüglich des intellektuellen Niveaus.”

Hajo Seppelt

Auch andere kontroverse Themenfelder sind nur bedingt im Fokus der täglichen Berichterstattung, die von rein sportlichen und oder unterhaltenden Themen dominiert wird. “Der Sportjournalismus hat strukturell ein Riesenproblem, aber es ist nicht so, dass es keinen interessiert,” stellt Hajo Seppelt fest. Er sieht ganz klar, dass es eine ganze Reihe von Redaktionen und Kollegen gibt, die investigative Themen ernst nehmen und weist gleichzeitig darauf hin:

“Von der Sportberichterstattung kann man, wenn sie Randthemen bearbeitet, nicht gleichzeitig erwarten, dass sie dieselbe Aufmerksamkeit bekommt wie die Liveübertragung eines Fußballspiels.”

Hajo Seppelt

Ein Aspekt, der bei investigativen Recherchen Ressourcen beansprucht, ist die rechtliche Absicherung. Das Hinzuziehen einer Rechtsabteilung und dir Durchführung eines Faktenchecks sind gängige Praxis, um Regressforderungen oder sonstigen rechtlichen Schritten vorzubeugen. So werden Veröffentlichungen des Spiegel im Rahmen der Football Leaks behandelt:

“We check if the information in the documents is plausible, we have a fact-checking department at Der Spiegel who look at literally every single word of a story before publishing it. If we don’t have convincing sources for our claim, they cut it out of the article. So we do make very sure that we report is accurate.”

Christoph Winterbach via reddit

Eine sehr mühsame aber wohl notwendige Praxis, um nicht Gefahr zu laufen, dass ein aufwändig recherchierter Text angreifbar ist oder Formulierungen über den eigentlichen Sachverhalt hinausgehen. Im Fall der Football Leaks kann sich der Spiegel zudem immer auf konkrete Dokumente berufen, falls es hart auf hart kommen sollte.

Das Versprechen der Spiegel-Dok

Der Fall Relotius hat in den vergangenen Wochen nochmal ein anderes Licht auf die Abteilung Dokumentation beim Spiegel geworfen, die verspricht, jedes Wort und jede Zahl zu verifizieren. Dieser lesenswerte Twitter-Thread gibt einen Einblick in die Arbeit der Dokumentare und dieser Thread schildert die Gepflogenheiten bzgl. fact checking bei US-Magazinen. Medienjournalist Stefan Niggemeier hat einige Zeit für den Spiegel gearbeitet und sich bei Übermedien damit befasst, wie es sein kann, dass bei Claas Relotius Reportagen nicht Wort für Wort geprüft wurde. Mit Bezug auf die Football Leaks hat die Redaktion des Spiegel festgestellt: “Bei heiklen investigativen Recherchen, die auf einer Fülle von Daten und schriftlichem Material beruhen, wie etwa bei den Enthüllungen zu “Football Leaks”, ist die Arbeit der Dokumentare paradoxerweise einfacher als bei Reportagen, die von Beobachtungen und Empfindungen des Redakteurs leben.”

Das Win-Win-Dilemma

“Die Sportlobbyisten haben in der Regel immer das gleiche Interesse – sie wollen das Produkt Leistung verkaufen. Athleten betrügen sich zwar vom Grunde her gegenseitig, wenn sie dopen, aber irgendwie geschieht es oft zugleich im stillschweigenden Einvernehmen. Entscheidend für das Kalkül aller daran Beteiligten: Doping an sich erhöht den Wert des Produktes Leistung im Hochleistungssport, so lange keiner weiß wie die Leistung zu Stande gekommen ist.”

Hajo Seppelt

Es gibt einen Zielkonflikt bei der Enthüllung unangenehmer Details über den Fußball: jeder, der wirtschaftlich vom Fußball profitiert, hat ein Interesse daran, dass dieser unbefleckt ist. Ob dies explizit oder nur implizit dazu führt, dass seltener über Skandale berichtet wird, ist nicht messbar, aber das Spannungsfeld liegt auf der Hand. Grundsätzlich nehmen die Medien im Sport eine andere Position als in anderen Themenkomplexen ein. In Wirtschaft und Politik steht der Erfolg oder Misserfolg eines Mediums selten in direkter Verbindung zur Reputation des Gegenstands der Berichterstattung. Aber vor allem TV-Übertragungsrechte stellen eine Investition für Medienhäuser dar, deren Rentabilität durch negative Berichterstattung beeinflusst werden könnte.

“Es liegt nicht nur daran, dass [kritische Berichterstattung] nicht gewünscht ist, das ist das eine. Man sucht Leute, die Sport als Produkt attraktiv verkaufen.”

Hajo Seppelt

Nicht zu vergessen sind die nationalen und internationalen Fußballverbände und andere Interessengenmeinschaften wie die European Club Association. Sie gerieren sich als Gatekeeper, Regelhüter und moralische Instanzen des Fußballs, erlassen Regeln, die Missständen vorbeugen und diese auf lange Sicht beseitigen sollen. Allein, vielen dieser Instanzen fehlt die Integrität, ihrem hehren Anspruch gerecht zu werden. Sie profitieren ebenfalls, wenn das Hochglanzprodukt Profifußball frei von Kratzern bleibt, da sie Rechtepakete zur Vermarktung an den Höchstbietenden verkaufen. Verbände und auch Vereine verfügen selten über eine in anderen Bereichen der Wirtschaft ausgeprägte und praktisch umgesetzte Corporate Governance oder Transparenz nach außen. Über Jahrzehnte hinweg hat sich im Fußball eine Kultur der Hinterzimmerdeals entwickelt und bis in die heutige Zeit erhalten. Anstatt Spieler und Vereine zu Transparenz zu verpflichten und Vorwürfe aufzuklären, hebeln Verbände sogar eigene Regeln aus, wie im Fall der Verstöße von Manchester City und PSG gegen das Financial Fair Play oder sie setzen eigene Ziele nur halbherzig um und in der Praxis bleibt alles beim Alten. Die eigene Verstrickung der Verbände in zahlreiche Skandale und Enthüllungen macht aus ihnen keine Advokaten für Aufklärung und Transparenz im Sport, sondern zu weiteren Akteuren, die etwas zu verbergen haben und an der Integrität des Sports zweifeln lassen.

Vereine, Verbände, Berater und Medien, insbesondere Rechteinhaber – sie alle möchten erfolgreiche Sportler sehen und ein Unterhaltungsprodukt vermarkten, dem negative Schlagzeilen nur schaden und dessen Wert die Aufdeckung struktureller Missstände und krimineller Machenschaften nur schaden kann.

Das Schulterzucken der Öffentlichkeit

“Es besteht für die Fans überhaupt kein Grund für einen Aufschrei. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Sogar der Aufschrei der Fans gehört zum Geschäftsmodell des Fußballs. Der Sport ist – aus der Sicht der Fans jedenfalls – zuallererst eine Unterhaltungsmaschine. Die Moralität der Akteure, zumal der Akteure im Hintergrund, spielt dabei überhaupt keine Rolle.”

Prof. Johannes Heil im Interview mit der Stuttgarter Zeitung

Man möchte meinen, dass Enthüllungen über krumme Deals und Doping der Reputation des Fußballs nachhaltig schaden. Bei jeder neuen Geschichte ist da dieses latente Gefühl, dass Fans und die Öffentlichkeit sich nun endgültig vom Sport abwenden könnten, angeekelt von den Auswüchsen des Profifußballs. Der große Aufschrei scheint aber ein ums andere Mal auszubleiben. Für die meisten Konsumenten steht das im Vordergrund, was auf dem grünen Rasen passiert – die Unterhaltung. Negative Berichterstattung geht im Medienrauschen zwar nicht unter, aber sie bedient eine Nische. Der gemeine Fan interessiert sich eher weniger für Sportpolitik. Ken Bensinger sieht sogar eine gewisse Ignoranz bei einem Teil der Sportfans:

“I find that while there is a definite appetite for big investigative stories among sports audiences, that hunger isn’t universal and some sports fans seem to actively not want to know about such things. It’s puzzling: some stories that one would think would be huge and explosive get very little traction, yet they are as difficult to report and write as articles in the realm of politics or business.”

Ken Bensinger

Ken Bensinger schreibt seit 2014 für BuzzFeed News und hat u.a. die Ermittlungen im Fifa-Korruptionsprozess intensiv begleitet und zu diesem Themenkomplex das Buch “Red Card” geschrieben, Photograph courtesy of BuzzFeed News

Wussten wir denn nicht alle schon immer, dass der Fußball korrupt und die Sportler gedopt und notorische Steuerhinterzieher sind? Hat sich die Öffentlichkeit nicht schon längst eine Meinung gebildet und jubelt den Sportlern dennoch um der guten Unterhaltung willen zu? Investigative Recherchen können den feinen Unterschied machen, sie können vage Vermutungen mit Fakten belegen und so zu handfesten Problemen für die beschuldigten Akteur*innen machen. Diesen Unterschied herauszuarbeiten, ist eine Gratwanderung. Publikationen müssen die entscheidenden Puzzelstücke, meist Details, so kommunizieren, dass Konsument*innen diese wahrnehmen und den größeren Kontext verstehen sowie gleichzeitig ausreichend Aufmerksamkeit generieren, um die aufwändigen Recherchen zu rechtfertigen.

Die Grenze zwischen Indizien und handfesten Beweisen, zwischen moralisch verwerflichem Verhalten und Straftatbeständen ist dabei fließend. Werden die Regeln eines ohnehin als nicht besonders integer geltenden Verbandes gebrochen oder ist die Recherche für Gerichte relevant?

“Wir als Journalisten haben der Rechercheleistung auch immer die Aufgabe komplexe Sachverhalten so zu erzählen, dass sie möglichst viele Menschen verstehen. Mit der Herausforderung haben investigative Enthüllungen im Wirtschaftsbereich, was den Sport ja auch unmittelbar betrifft, ebenso zu kämpfen. Da gibt es genügend Beispiele von Geschichten, die das erfolgreich gemeistert haben und aufwühlende Geschichte geschrieben haben, obwohl der Kontext reiner Steuerbetrug war.”

Jonathan Sachse

Die Enthüllungen des Spiegel zur geplanten europäischen Super-Liga kann man bei oberflächlicher Betrachtung als bereits lange umherwaberndes Thema mit bedingtem Neuigkeitswert wahrnehmen. Worauf es ankommt, sind die Details: anhand der Aussagen und Kommunikation der Vereinsverantwortlichen im zeitlichen Ablauf und der Aufdeckung von konkreten Vorbereitungen beweist der Spiegel nicht nur, dass es die Pläne zu einer solchen Liga gibt. Der Mehrwert ist der Detailgrad der Planungen, die konkreten Absprachen der Vereine und das gleichzeitige Vorspiegeln anderer Tatsachen gegenüber der Öffentlichkeit, außenstehenden Vereinen und Verbänden. Durch die Enthüllung wird Sportpolitik transparent und das Abhängigkeitsverhältnis und die damit verbundenen Zugeständnisse der UEFA an die großen Klubs verständlicher.

Der Spiegel betitelte diese Enthüllung in der ihm typischen Weise etwas boulevardesk mit “Der Verrat”.

Investigative Recherchen müssen Aufmerksamkeit erregen, um in der täglichen Berichterstattung wahrgenommen zu werden. Teils wird der Fußball im Zuge dessen mit einer moralischen Fallhöhe versehen, die an die Ideale des Amateursports erinnert und Profisportler mit einer Vorbildfunktion auflädt, die sie nicht erfüllen können. Diese Heroisierung ist ein generelles Manko der Sportberichterstattung, kann dazu führen, das Standards an Fußballer und Verbände angelegt werden, die unrealistisch sind:

“Die Grenze zwischen Steuerbetrug und der bürgerlichen List der Steuervermeidung wird in diesem Buch (Football Leaks) immer wieder verwischt. Meist werden gerade legale Methoden der Steuervermeidung als noch perfider und bösartiger beschrieben als die dreisten illegalen. Allein die Tatsache, dass Vereine sich mit Leuten einlassen, die ein wirtschaftliches Interesse am Fußball haben, gilt hier als Skandal. Hohe Spielergehälter werden mit der gleichen Empörung verurteilt wie Korruption. Recht und Unrecht sind hier moralische Begriffe.”

Autor Mischa in seinem 120minuten-Text “Ein positiver Begriff von Fußball” 

Das Einordnen von Themen und das Aufladen mit einer gewissen Bedeutung ist einerseits verständlich angesichts des moralischen Vakuums, das undurchsichtige Sportverbände entstehen lassen und spiegelt zum Teil auch die öffentliche Wahrnehmung wieder. Andererseits schmälert es die Relevanz der Enthüllung, wenn eine Abgrenzung zwischen moralisch fragwürdigem Verhalten, das auf unverbindlichen Wertvorstellungen basiert, potentiell strafrechtlich relevanten Vorgängen und der Verletzung von zivilrechtlich belanglosen Verbandsregeln schwer fällt.

“It might be a thin line between “just” FFP breaches and misrepresentation of annual accounts, which also might result in tax issues. Additionally, we found hints for contracts being backdated. But these stories have just now come to life, so to say, and it’s the job of other, more, journalists and the general public to keep asking questions and demanding a proper investigation. Ultimately, it’s the authorities’ job to judge if there were laws broken.”

Christoph Winterbach via reddit

Aufmerksamkeit ist die Währung, in der oft der Erfolg von Veröffentlichungen gemessen wird und Zuspitzung ist nötig, um mehr Interesse zu wecken oder die Öffentlichkeit aufzurütteln. Medien und Journalisten müssen sich dabei ein ums andere Mal die Frage stellen, was die vorliegenden Fakten hergeben und an welchem Punkt die Interpretation einsetzt oder gar überhandnimmt. Wenn die Berichterstattung sachlich bleibt und Leser*innen komplexe Sachverhalte einfach zugänglich gemacht werden, können Recherchen gelingen, obwohl es selbst ein Journalist wie Ken Bensinger mit langjähriger Erfahrung schwer findet, vorherzusagen, was funktioniert und was nicht:

“I find it’s very hard to predict ahead of time what will succeed in the realm of public outrage and for me it becomes a fool’s errand to try to work with that in mind. I’m better off focusing on what interests me and my editors and what we think is important, and hopefully the public will agree after the fact.”

Ken Bensinger

Die Wirksamkeit von Enthüllungen durch Journalisten, auch wenn sie nur einen kleinen Teil dessen ausmachen, was täglich publiziert wird, sollte man nicht unterschätzen. Gerade im Fußball, wo sich viele Interessen überschneiden und Akteur*innen lieber dementieren oder ablenken, anstatt auf Transparenz zu setzen, ist kritischer Sportjournalismus ein wichtiges Korrektiv, welches Missstände aufzeigen und komplexe Vorgänge begleiten und einordnen kann:

“Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Behörden aus anderen Kontinenten mehr Hebel nutzen über Missstände in Europa zu berichten. Vielleicht haben sie die notwendige kritische Distanz. Ich denke an die FIFA-Untersuchungen oder den Armstrong Fall, der durch US-Behörden angestoßen wurde. Ich finde, dass das nicht unbedingt am Journalismus liegt. Klar würde ich mir wünschen, wenn mehr Recherche im Sport passiert und weniger Field Interviews oder Pressekonferenzen begleitet werden. In Deutschland gibt es aber eine Reihe von kritischen Kolleginnen und Kollegen, die hervorragende Arbeit abliefern. Ich denke
an den Spiegel mit der Football-Leaks-Berichterstattung, das ganze ARD-Doping-Team rund um Hajo Seppelt, freie Journalistinnen wie Grit Hartmann und Anne Armbrecht. Die Autoren der SportInside-Sendung im WDR, Kollegen bei der Süddeutschen Zeitung und noch einige weitere, die ich hier in wenigen Zeilen nicht alle aufgezählt bekomme.”

Jonathan Sachse

Den Integrität des Profifußball wiederherstellen und erhalten ist letztendlich Aufgabe der Institutionen und Akteur*innen, die ihm vorstehen und ihn nach außen hin vertreten. Kritische Berichte reichen oft nicht aus, um bei diesen Institutionen etwas in Gang zu bringen.

“It’s pretty clear that international sports organizations such as FIFA, the IOC, etc, have over the past four or five decades developed an attitude that they are beyond accountability and disinterested in transparency. I think, sadly, they provide an example of institutions that are often able to ignore pressure from the media in a way that politicians or corporations are not. There were nearly two decades of exposés in the European and South American press about corruption in FIFA, yet other than vigorous denials, it’s hard to see that the organization took any serious action to change things. Ditto with the IOC, which operated with absolute impunity. For both institutions, what finally created change was criminal investigations by government law enforcement. […] Which isn’t to say that journalists should stop looking into the problems at these outfits. Not at all! But until FIFA, IOC, etc, are really open to the public and truly responsive to their millions of constituents, they can simply deny and ignore negative coverage, unfortunately.”

Ken Bensinger

Investigative Recherchen können den Leidensdruck auf Verbände und andere Akteur*innen jedoch erhöhen und Öffentlichkeit herstellen in einer Branche, die sich in der Regel gern bedeckt hält. Dem Fußball kann es nicht schaden, wenn engagierte Journalisten regelmäßig den Scheinwerfer auf die dunklen Ecken richten und uns genauer erklären, wie das zustande kommt, was wir im Stadion und am Bildschirm ganz selbstverständlich und oft unbedarft konsumieren.


Beitragsbild: Photo by AbsolutVision on Unsplash

 

In unserer Reihe zum Sportjournalismus sind außerdem erschienen:

Kategorie q 120minuten

Endreas Müller heißt in Wirklichkeit ganz anders und beschäftigt sich schon länger mit Fußball im Allgemeinen und dem Bloggen im Besonderen. Vor einiger Zeit stellte er sich gemeinsam mit Christoph Wagner die Frage, warum es eigentlich in der deutschen Blogosphäre noch keine Plattform für lange Fußballtexte gibt – die Idee von ‚120minuten’ war geboren.

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